Schwesterntod - Eva-Maria Silber - E-Book + Hörbuch

Schwesterntod Hörbuch

Eva-Maria Silber

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Beschreibung

Ein wahres Verbrechen, dessen Aufklärung die Öffentlichkeit über Jahrzehnte fesselte
Der neue True Crime Thriller von Eva-Maria Silber und Kirsten Wilczek

Eine Nacht, die das Leben einer Familie in einen Trümmerhaufen verwandelt: Zwei Schwestern werden an einem Sommertag als vermisst gemeldet und drei Tage später ermordet aufgefunden. Die Mutter wird wegen Doppelmordes verurteilt. Ein Justizirrtum?
Dann der Paukenschlag: 23 Jahre nach dem Mord gesteht der Vater gegenüber Zeugen die Tat. Zwei pensionierte Richterinnen rollen als Judges find Justice nach amerikanischem Vorbild den zwanzig Jahre alten Mordfall wieder auf. Er oder sie, welches Elternteil hat die unfassbare Tat begangen? Oder war alles doch ganz anders?

Eva-Maria Silber und Kirsten Wilczek, beide mit dem Justizwesen bestens vertraut, verarbeiten einen Fall, der die Öffentlichkeit über Jahrzehnte fesselte, zu einem schockierend authentischen Thriller.

Erste Leserstimmen:
„Ein spektakulärer Fall, der einen so schnell nicht loslässt.“
„True Crime vom feinsten – gut recherchiert und mitreißend bis zum Schluss.“
„dramatisch, fesselnd und authentisch“
„Eine unglaubliche Geschichte, die dadurch, dass sie auf wahren Begebenheiten beruht, besonders erschüttert.“

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Zeit:8 Std. 23 min

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Über dieses E-Book

Eine Nacht, die das Leben einer Familie in einen Trümmerhaufen verwandelt: Zwei Schwestern werden an einem Sommertag als vermisst gemeldet und drei Tage später ermordet aufgefunden. Die Mutter wird wegen Doppelmordes verurteilt. Ein Justizirrtum? Dann der Paukenschlag: 23 Jahre nach dem Mord gesteht der Vater gegenüber Zeugen die Tat. Zwei pensionierte Richterinnen rollen als Judges find Justice nach amerikanischem Vorbild den zwanzig Jahre alten Mordfall wieder auf. Er oder sie, welches Elternteil hat die unfassbare Tat begangen? Oder war alles doch ganz anders?

Eva-Maria Silber und Kirsten Wilczek, beide mit dem Justizwesen bestens vertraut, verarbeiten einen Fall, der die Öffentlichkeit über Jahrzehnte fesselte, zu einem schockierend authentischen Thriller.

Impressum

Erstausgabe April 2021

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96817-326-9 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96817-327-6 Hörbuch-ISBN: 978-3-96817-331-3

Covergestaltung: Anne Gebhardt unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com: © Stock-Studio, © Unholy Vault Designs Lektorat: Birgit Förster

E-Book-Version 01.06.2023, 14:51:05.

Der Thriller basiert auf realen Ereignissen. Einige darin vorkommende Personen existieren wirklich, ihre Handlungen und Gespräche sind jedoch rein fiktiv.

Schwesterntod

Jetzt auch als Hörbuch verfügbar!

Schwesterntod
Eva-Maria Silber, Kirsten Wilczek
ISBN: 978-3-96817-331-3

Ein wahres Verbrechen, dessen Aufklärung die Öffentlichkeit über Jahrzehnte fesselte Der neue True Crime Thriller von Eva-Maria Silber und Kirsten Wilczek

Das Hörbuch wird gesprochen von Kevin Kasper.
Mehr Infos hier

Zwei Wahrheiten können sich nie widersprechen.

Aber eine Lüge kann zu viel sein!

Prolog

„Hängt das Tommy-Flittchen!“

„Monster!“

„Neger-Hure!“

Die dunkelblonde Frau hielt schützend ihre Arme über den Kopf. Auch die sie umgebenden Polizisten konnten die auf sie herabsausenden Fäuste nicht abhalten. Wollten es vielleicht auch gar nicht. Hatten sie bereits vor dem Gericht verurteilt, als herauskam, dass sie ihren Mann betrogen hatte. Noch dazu mit einem „Neger“.

Noch klingelten die Worte des Vorsitzenden Richters des Schöffengerichts am Landgericht Krefeld in Heidrun Mulders Ohren: „Im Namen des Volkes werden Sie des Mordes an ihren Töchtern Susanne und Claudia Bosman für schuldig befunden. Es wird die besondere Schwere der Schuld festgestellt.“

Heidrun hatte fassungslos ihren Strafverteidiger Dr. Jung angestarrt. Bis zuletzt hatte er beteuert, dass das Verfahren nur in einem Freispruch enden könnte. „Die haben kein Motiv, warum Sie das gemacht haben sollten. Ohne das kann man Sie nicht wegen Mordes verurteilen.“

Durch ihre Verwirrung und Panik drangen die Wörter „Hörigkeit“, „Heimtücke“, „Arglosigkeit“. Sie konnte sie nicht in einen sinnvollen Zusammenhang bringen. Was sollte das bedeuten? Was hatte das mit ihr zu tun?

Einen Siegeszug hatte sie sich erträumt. Menschenmassen, die vor ihr, der Rehabilitierten, eine ehrfurchtsvolle Gasse bilden würden, ihr auf die Schultern klopfen würden. Von Blumen hatte sie geträumt.

Davon, vielleicht doch noch ein neues Leben mit ihrem Geliebten beginnen zu können. Vielleicht wirklich in England. Obwohl er sie verraten hatte. Obwohl er ihr nicht beigestanden hatte. Dabei hatte er ihr immer seine Liebe beteuert. Und sie fest daran geglaubt.

Und nun das!

Kapitel 1

2010

„Erde zu Erde, Asche zu Asche, Staub zu Staub.“ Bei jedem dieser Worte prasselte Erde Hagelkörnern gleich auf den Sargdeckel des dunklen Eichensarges. Mit jeder Schippe, die der Pfarrer auf den Sarg warf, schien ein Teil von Marie-Louise Rebell ebenfalls in das Grab zu fallen. Zutiefst bereute sie, nicht einer Einäscherung zugestimmt zu haben. Alles war besser, als in der Erde versenkt den Würmern zum Fraß serviert zu werden.

Zweiundzwanzig Jahre Ehe, von denen ihr Mann sie nur die ersten achtzehn erkannt hatte, fielen mit in das Grab. Sie hatte es gewusst, schon lange gewusst. Und doch war der Moment unerträglich gewesen, als das geliebte Gesicht zu einem Eisblock erstarrte, in dem sie nur noch undeutlich das liebenswerte Lächeln ihres Mannes erkannte. Das Lächeln, mit dem er sie bei jeder Gelegenheit bedacht hatte. Es war vor seinem Körper gestorben. Jahre zuvor. Ebenso wie ihre Ehe, deren Versprechen bis zur Scheidung durch den Tod nur sie eingehalten hatte.

Ein Schluchzer stahl sich aus Marie-Louises Mund, ganz unbeabsichtigt und doch unaufhaltsam. Sie spürte die Hand ihrer Schwester auf ihrem Arm.

Der Blick der sonst so spröden Richterin am Oberlandesgericht Düsseldorf war seltsam weich. Ganz ungewohnt. Auch deren Leben würde sich ändern. Nächste Woche würde sie in Pension gehen. Neben ihrem Beruf hatte eine eigene Familie keinen Platz gefunden. Dann hatten sie beide das Wichtigste im Leben verloren. Marte hatte zwar noch ihre Arbeit bei der Stiftung, deren unsäglichen Namen sich Marie-Louise einfach nicht merken konnte, aber sie glaubte nicht, dass die das Loch, das die Pensionierung in Martes Leben riss, füllen konnte.

Marie-Louise war kurz nach der Erkrankung ihres Mannes in den vorzeitigen Ruhestand gegangen. Auch sie war Richterin gewesen, wenn auch nie so erfolgreich wie ihre Schwester. Dafür stand auf ihrer anderen Seite Tom, ihr Sohn, und hatte seinen Arm um sie gelegt. Doch der würde morgen wieder nach London verschwinden, um sein Auslandssemester zu beenden. Dass ausgerechnet ihr Sohn BWL studieren musste, konnte sie noch immer nicht fassen. Richtig fremd war er ihr geworden. Mit der Krankheit seines Vaters war er nicht zurechtgekommen und hatte ihn am Ende nur noch selten besucht. Sie fühlte sich von ihm alleingelassen. Trotzdem war sie nun froh, dass er sie stützte.

Ab morgen musste sie wieder alles allein bewältigen. Und sich auf Sinnsuche begeben. Überlegen, was sie mit ihrem restlichen inhaltslosen Leben anfangen wollte. Sie hatte keine Idee.

Der Pfarrer drückte ihr die Schaufel in die Hand. Verstört starrte sie auf das Ding. Auch sie sollte ihrem Herold Dreck auf den Kopf werfen? Nein, das würde sie nicht tun.

Sie reichte die Schippe weiter an ihren Sohn.

Das Wohnzimmer füllte sich mit immer mehr Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten. Die Kollegen ihres Mannes waren zahlreich erschienen. Wieder wurde Marie-Louise bewusst, wie wenige Verwandte sie noch hatte. Nur ihren Sohn und die ältere Schwester.

Michael Strättges, Staranwalt der Düsseldorfer Szene und langjähriger Freund, wenn auch hauptsächlich ihres Mannes, schüttelte ihre Hand und verkündete, wie furchtbar ihr Verlust sein müsse. Dabei ahnte er noch nicht einmal, wie tief das Loch tatsächlich war, das sich vor Marie-Louise aufgetan hatte.

Kaum ließ er ihre Hand los, fuhr seine an seinen Kragen und rückte die schicke schwarz-weiße Krawatte in die Mitte. Dabei glitzerte die brillantbesetzte Krawattennadel auf. Immer korrekt, immer schnieke, der Mann. Sie mochte ihn nicht, obwohl er zugegebenermaßen ein kluger Kopf war. Wenn ein hoffnungsloser Fall eine neue Chance bekommen sollte, dann schaffte Strättges das Wunder.

„Übrigens, das muss ich dir erzählen. Mich hat ein anonymer Anruf erreicht. Ein Mann behauptete, er kenne eine Zeugin, der gegenüber Bosman sich offenbart habe. Ich habe ihn erst mal aufgefordert, Ross und Reiter zu nennen. Er sagte mir daraufhin zu, er werde Rücksprache mit der Zeugin nehmen und die Erlaubnis einholen, ihren Namen und Adresse weiterzugeben. Außerdem sprach er von neuem Beweismaterial, das er beschaffen könne. Der kannte viele Details, die er nur von Bosman selbst oder aus Vernehmungsprotokollen kennen konnte. Ich habe das gecheckt, Akteneinsicht hat nach mir und dem Abschluss der letzten Instanz niemand mehr beantragt und gewährt bekommen. Die Akten sind inzwischen auch unter Verschluss im Staatsarchiv und dort nur mit Sondergenehmigung einsehbar. Auch hier Fehlanzeige. Klingt also zunächst mal seriös und nach einer neuen Spur.“

„Was?“, entfuhr es Marie-Louise. Ihr Gau, ihr größtes Versagen, ihr Desaster, ihr Fiasko, gleich in jungen Jahren. Ihr erster Job, den sie versaut hatte.

Das Blut sackte aus ihrem Kopf in Richtung Füße, ihr wurde schwindelig.

***

Da hatte ihr Schwager erst die Welt um sich herum vergessen, zuletzt das Atmen, und lag gerade unter der Erde, da pumpte dieser Tungara-Frosch schon seine Schallblasen auf, um im Teich des Verblichenen Balzrufe auszusenden. Oder traf herumzuquaken es besser?

Ob es eigentlich genauso hübsch knallte, wenn man mit Pfennigabsätzen auf einen aufgeblasenen Frosch trat, wie wenn man mit dem spitzen Fingernagel in ein Luftpolsterkissen stach? Fragen über Fragen, die Marte Campferbrinck wie lästige Mücken ansteuerten, seit sie Strättges erspäht hatte, der auf ihre Schwester einredete. Ein possierliches kleines Männlein in knapp sitzendem, dreiteiligem Konfirmationsanzug, bei dem die Weste offenbar die Funktion eines Korsetts übernommen hatte, um die Primitivo-Pasta-Plauze zu kaschieren, die es über die Jahre kultiviert hatte. Und wie es sich spreizte und dehnte, den Rücken durchdrückte, das Männlein, um die ganzen ein Meter sechzig und ein paar zur Geltung zu bringen. Lächerlich. Vermutlich trug Strättges auch Einlagen.

Kleine Männer waren ihr ein Gräuel. Und der Fußpilz der Schöpfung waren kleine Strafverteidiger. Schon während ihres Studiums in Köln und Münster hatte sie – gewissermaßen im Nebenfach und gänzlich unfreiwillig – Freilandstudien über die Akademisierung der Durchschnittlichkeit des Homo sapiens betrieben. Sie war zu dem Ergebnis gelangt, dass das Strafrecht in seiner intellektuellen Übersichtlichkeit Kommilitonen mit Veranlagung zur Hirnstarre begünstigte – unter großzügigem Ausschluss ihrer Schwester Marie-Louise als Ausnahme von der Regel. Bei Strättges war dieses Phänomen sicher inzwischen ausgeprägter als im Endstadium der Demenz ihres Schwagers, der noch sabbernd Haltung und Würde ausgestrahlt hatte.

Es war ein Jammer, wie das Leben mit diesem brillanten Geist umgesprungen war. Und nun saß er noch nicht ganz auf seiner Wolke, da musste er mit anschauen, wie sein „Freund“ Strättges sich mit ausladenden Gesten um seine Mary Lou bemühte, die plötzlich unangenehm berührt wirkte.

Dem Spuk würde sie jetzt Herold zuliebe ein Ende bereiten, zumal sie noch eine Rechnung mit Strättges offen hatte. Gut war Marte seine Bemerkung in Erinnerung, dass sie in ihrer schwarzen Robe mit dem Samtkragen aussähe wie eine altersschwache Fledermaus, die nicht mehr fliegen könne. Ihr Beisitzer, eine Blitzbirne mit Veranlagung fürs Strafrecht, hatte ihr davon – vordergründig empört, jedoch verräterisch grinsend – berichtet. Sie hatte die Bemerkung mit einem sibyllinischen Lächeln quittiert und ihrem geschwätzigen Kollegen bei nächst passender Gelegenheit den Steigbügel gehalten, damit er den Vorsitz in dem Zivilsenat übernehmen konnte, der sich vorwiegend mit Streitigkeiten über die außervertragliche Haftung von Trägern der öffentlichen Gewalt wegen Verletzung ihrer Verkehrssicherungspflicht sowie der Wiedergutmachung für Bergschäden befasst. Da konnte er in der Rechtsfortbildung nicht allzu viel anrichten. Im Übrigen waren in den dort zu verhandelnden Fällen die Schäden ja bereits eingetreten.

Ob Strättges wusste, dass Tungara-Frösche auf dem Speiseplan der gemeinen Fledermaus standen, besonders jene Angeber-Exemplare, die mit ihrer Schallblase besonders viel heiße Luft produzierten? Sie machten Wellen im Teich, wodurch auch altersschwache Fledermäuse noch lange ihre Peilung aufnehmen konnten.

Schon flatterte Marte Campferbrinck los – ohne Robe, aber in einem neuen, schwarzen Kostüm, in dem sie auch nicht mehr hermachte. Sie war immer noch die hochgewachsene, hagere Frau, die in der Pubertät dem Pummelchen, in dem sie ursprünglich gesteckt hatte, entwachsen war. Die Wechseljahre hatten ihr nicht die fehlenden Pfunde für die fehlenden weiblichen Rundungen gebracht, aber eine fehlende Taille und Cellulitis an den Oberschenkeln. Sie nahm es sportlich und erfreute sich an ihrem fehlenden Hängebusen. Wo nichts war, konnte auch nichts dem Gesetz der Schwerkraft folgen.

„Michael Strättges, dich habe ich ja schon lange nicht mehr persönlich übersehen. Hoch an Jahren bist du geworden. Formidabel! Las ich doch, dass es deinem Berufsstand früh an den Kragen geht. Best before 57 ½, richtig? Wie bedauerlich. Andererseits, die jungen, hungrigen Kräfte drängen ja in hoher Zahl nach.“

Strättges schnaubte wie ein genervter Gaul.

„Ach, verehrte Frau Doktor Campferbrinck, ich bin entzückt, dass stellvertretende Aushängeschild des Oberlandesgerichts Düsseldorf anzutreffen, wenn auch der Anlass ein trauriger ist. Ich war ja völlig perplex, dass der Justizminister dich nach dem Ausscheiden von Clausener bei der Nachfolge für das Präsidentenamt übergangen hat.“

Dieser kleine Wichtel wusste um ihren wunden Punkt, wenn er ihn auch zehn Jahre und einen Nachfolger zu spät traf. „Günther, unser geschätzter Justizminister, war auch ganz perplex, von meinem geplanten Ausscheiden aus dem Richteramt und Wechsel in den Vorstand der Alwin Knapp von Dielen und Lautburg-Stiftung zu erfahren.“

„Ach.“ Strättges wirkte auf interessierte Weise überrascht.

Marie-Louise war während des Geplänkels von einem Fuß auf den anderen getreten, was Marte durchaus bemerkt hatte. Sie nahm ihre Schwester beiseite und überließ Strättges seinem Staunen. „Meine Liebe, wenn du austreten musst, begleite ich dich gerne. Nur weg von diesem Mann.“

„Du hast uns unterbrochen. Und eure Giftpfeile, könnt ihr die nicht ein anderes Mal aufeinander abfeuern? Muss das ausgerechnet heute sein?“

„Nein, natürlich nicht. Entschuldige bitte.“

„Wobei habe ich euch denn unterbrochen?“ Ihr Gewissen regte sich nicht allzu lange.

„Wir sprachen über den Fall Bosman.“

„Bitte?“, zischte sie. Der Name Bosman war in ihrem Wortschatz als Synonym für Schmähung zersetzenden Ausmaßes abgelegt. Alles, wo Bosman draufstand, drin war, was mit Bosman in Verbindung stand oder auch nur vorgab, damit etwas zu tun zu haben, war böse. Bosman war das erste und letzte große Ermittlungsverfahren ihrer Schwester, als sie frisch von der Uni in der Abteilung für Kapital- und Leichensachen gelandet war. Und prompt wurde sie mit dem Doppelmord an den Kindern Susanne und Claudia Bosman konfrontiert. Keine Sekunde hatte sie an die Täterschaft von Heidrun Bosman, der Mutter der beiden Mädchen, geglaubt. Beinahe besessen hatte sie die Täterschaft des Vaters nachweisen wollen, wurde dann aber nach einem Aufstand der ermittelnden Polizeibeamten abgesetzt. Verwunden hatte sie das nie und schließlich der Staatsanwaltschaft ganz den Rücken gekehrt. Ihr semi-erfolgreicher Nachfolger war heute Leitender Oberstaatsanwalt – ein Schattenparker mit schlaffem Händedruck, aber bestens vernetzt.

„Roland Bosman soll ein Geständnis vor Zeugen abgelegt haben. Ich hatte also doch recht.“ Marie-Louise wirkte wie ein jugendlicher Trotzkopf, dessen sich endlich jemand erbarmt hatte, die Funktionsweise einer Klinke zu erklären, damit er nicht länger versuchte, mit dem Kopf durch die Wand zu gehen.

„Und du findest es taktvoller, dir das heute unter die Nase zu reiben?“

„Ich finde das tröstlich.“

„Dass deine damaligen Kollegen Dilettanten waren und einen Mörder nicht unter Anklage gestellt haben?“

„Nein. Dass ich mich nicht geirrt habe.“

„Dass der Bosman inzwischen aktenkundig ballaballa ist und vielleicht nur wirr vor sich hin fabuliert hat, ziehst du aber schon noch ins Kalkül, nicht?“

„Warum sollen Bekloppte immer lügen?“

„Weil sie bekloppt sind?“

„Marte, deine Argumentationsketten waren schon mal schlüssiger.“

„Das mag sein. Aber was willst du jetzt tun?“

„Strättges hat mir angeboten, ihn bei der Vorbereitung eines Wiederaufnahmeverfahrens zu unterstützen.“

„Noch eins? Er ist doch bereits grandios gescheitert. Wie oft will er sich das noch geben? Und kommt die Bosman nicht sowieso demnächst raus? Sie müsste die Strafe doch längst abgesessen haben.“

„Mulders heißt sie wieder seit der Scheidung. Und nein, es ist auf besondere Schwere der Schuld erkannt worden.“

„Marie-Louise, ich bitte dich inständig, lass es. Das wird dir nicht guttun.“

„Danke für deine Fürsorge. Aber das entscheide ich.“

Marte wusste, dass ihre Schwester Feuer gefangen hatte und nicht mehr zu stoppen war. Nur noch aus Interesse fragte sie nach: „Was macht dich nur so sicher, dass sie es nicht war?“

„Lies dir bloß mal das Wuppertaler Urteil durch, das nach der Wiederaufnahme, dem Freispruch, der Revision und Rückverweisung durch den Bundesgerichtshof nach wie vor Bestand hat, dann wirst selbst du dir an den Kopf fassen.“

Was? Wie? Wollte ihre Schwester sie gerade in etwas hineinquatschen?

„Dazu habe ich keine Zeit, meine Liebe. Morgen früh steige ich in meinen Zug und kehre zurück in mein Leben. Da stehen genug Veränderungen an. Sorry, keine freie Frequenz für Heidrun Mulders.“

„Genau. Morgen, meine Liebe, morgen. Und bevor du dich um die Dielen des Alwin von und zu Lautburg kümmerst, hat Strättges noch einiges zu berichten. Und das hörst du dir jetzt an.“

Ehe Marte sich versah, hatte ihre Schwester sich untergehakt und zerrte sie zu dem Männlein im Konfirmationsanzug, das mit der linken Hand ein Lachshäppchen vom Tablett angelte, hastig in sich hineinstopfte und mit der rechten das fest umklammerte Glas Rotwein zum Nachspülen an den Mund führte.

Na, denn Prost, dachte Marte Campferbrinck.

Kapitel 2

2010

Marie-Louise war über sich selbst verblüfft, wie schnell das abgrundtiefe Elend in der Senke verschwunden war, das der Tod ihres Mannes in ihr ausgelöst hatte. Fast hatte sie ein schlechtes Gewissen. Aber nur fast. Seit Jahren hatte sie gewusst, was auf sie zukam. Hatte Nächte mit sich gerungen, wie sie das langsame Verschwinden von Herold ertragen sollte. Irgendwann war ihr Selbstmitleid abgelöst worden von dem Mitleid, ihn so zu sehen. Ihn leiden zu sehen, als er nicht mehr allein essen konnte, Infusionskatheter die Venen in seinem Arm entzündeten und er zum Schluss Windeln tragen musste. Bei klarem Bewusstsein hätte ihr stolzer Mann das nicht über sich ergehen lassen. Doch sie war zu schwach für eine solche Entscheidung in seinem Namen gewesen.

Der lange Abschied Herolds aus allen Rollen, die er in ihrem Leben gespielt hatte, als Liebhaber, Partner, Vater ihres Sohnes, war einhergegangen mit ihrem eigenen Abschied aus all diesen Rollen. Am Ende befiel sie die Furcht, dass von ihr nur der Restmensch übrig geblieben war, der sich im und mit dem Erhalt seiner Vitalfunktionen erschöpfte. Was geblieben war, war die Angst vor der Einsamkeit, vor dem Nicht-mehr-gebraucht-Werden, vor der Sinnlosigkeit und Leere eines Lebens ohne ihn.

Sie war Strättges dankbar, dass er sie zumindest im Moment davor gerettet hatte. Marte allerdings würde das niemals sein, sie konnte den kleinen Mann nicht ausstehen und ließ ihn das auch ausgiebig spüren. Wenigstens hatte sie wegen ihr eingelenkt und sich bereit gezeigt, halbwegs vernünftig mit ihm zu reden. Ein Fortschritt, der nur Marie-Louises Trauer zu verdanken war.

Ihr wurde ganz anders bei der Vorstellung, dass Marte in Kürze in ihre Wohnung nach Düsseldorf heimkehren würde und sie allein zurückließ. Zumal Marte dort ebenfalls nur Einsamkeit erwartete. Ob ihr das noch nicht klar war? Nächste Woche sollte sie verabschiedet werden, mit allem Pomp. Aber auch der änderte nichts daran, dass ihr Lieblingslebensabschnittspartner, wie sie scherzhaft ihren Beruf nannte, von jetzt auf gleich verschwunden sein würde. Sie würde nicht mehr auf der Richterbank thronen und ihre geballte Erfahrung, ihr imponierendes Fachwissen an Anwälten oder Beisitzern auslassen können.

Marie-Louise holte tief Luft. Manchmal hatte sie sich ernsthaft gefragt, ob sie tatsächlich von den gleichen Eltern abstammten. Unterschiedlicher konnten Schwestern kaum sein. Wirklich verblüfft hatte sie allerdings gestern Abend Martes Geständnis – anders konnte man das nicht nennen, kam es doch völlig unvorbereitet, als endlich alle Trauergäste verschwunden waren. Marte, ihre Schwester Marte, gefürchteter Senatsdrache des OLG und über den Gerichtsbezirk hinaus bekannter Referendarsschreck, hatte sich in einen Mehrgenerationen-Öko-Hof nahe Düsseldorf eingekauft. Die armen anderen WG-Mitglieder. Ob sie ahnten, was auf sie zukam? Sicherlich nicht, sonst hätten sie den Hof in einen Öko-Hof ohne Generation 60 plus umgewandelt.

Nein, sie wollte nicht so hart über ihre Schwester urteilen. Immer wenn sie sie gebraucht hatte, war sie da gewesen. Und das war ziemlich einseitig gewesen. Marte war nie eine Schönheit und hatte das mit Fleiß und Disziplin kompensiert. Wenn sie nicht die Schönste sein konnte, wollte sie wenigstens die Beste sein. Liebeskummer schien sie nicht zu kennen. Ihre Affären hatte sie stets vor dem Frühstück verabschiedet. Sie wollte sich an niemanden gewöhnen; hasste Erwartungshaltungen, in deren Zentrum sie stand; glaubte nicht an eine Bestimmung füreinander und sah in Beziehungsarbeit die fortgesetzte Buße eines Auswahlverschuldens. Da war Marie-Louise bisher als Schulter, an der Marte sich hätte ausheulen wollen, nicht gebraucht worden. Ob sich das ändern würde, wenn ihr nur die Stiftungsarbeit und ihre neue Rolle als Teilzeit-Bäuerin blieb? Marie-Louise konnte sich ihre Schwester so gar nicht in Latzhose und Gummistiefeln mit Forke in der Hand vorstellen. Kannte sie Marte so wenig? Oder kannte ihre Schwester sich selbst so wenig?

Nun denn, wenigstens einen weiteren Tag Beistand hatte Marte ihr versprochen, nachdem sie von Michael Strättges die ganze Geschichte über Bosmans angebliches Geständnis gehört hatte.

Schon um acht hatte Strättges angerufen und ihnen mitgeteilt, dass Heidrun Mulders sie heute Nachmittag in der Justizvollzugsanstalt Willich II empfangen würde.

Kapitel 3

2010

Als wäre diese zarte Frau für irgendjemand anders als sich selbst eine Gefahr, hatte die Gefängnisverwaltung auf einen Trennscheibenbesuch bestanden. Das würde ihnen das Gespräch nicht gerade vereinfachen.

Umrahmt von der blau gestrichenen Fensterlaibung saß Heidrun Mulders, geschiedene Bosman, wie eine leblose Puppe vor ihnen. Tiefe Zornesfalten teilten ihr Gesicht in zwei Hälften. Dabei strahlte sie Demut aus, die ebenso wenig zu dem hellen Trauerschnäppereierblau ihrer Augen passte wie die Zornesfalten. Diese eisigen Augen waren es, die sie, verpackt in die obligatorische Gefängniskleidung aus Jeans mit Gummizug und waschgrauem Pullover, ausmachten. Die Züge verwaschen, dabei hübsch. Dieses Gesicht, diese Augen hatten den Mob in Krefeld vor dem Gerichtsgebäude zum Toben gebracht, hatten ihn „Hängt sie auf, dieses Tommy-Flittchen!“ im Chor brüllen lassen. Nun saß sie also vor ihnen, dreiundzwanzig Jahre nach der Ermordung ihrer beiden Töchter. Für die sie verurteilt worden war, obwohl sie ihren Mann der Tat bezichtigt hatte. Durch drei Instanzen und ein Wiederaufnahmeverfahren – einmalig in der deutschen Rechtsgeschichte.

Ihr Haar war länger als Marie-Louise in Erinnerung hatte. Mit merkwürdig hoher, fast gläserner Stimme gab sie nur kurze Antworten, meistens jedoch antwortete sie nur mit der Bewegung ihres Kopfes, mal rauf und runter, mal nach links und rechts. Die Information, dass Roland Bosman den Doppelmord gegenüber Zeugen, die zur Aussage bereit waren, gestanden haben solle, führte zu keinem Nicken oder Schütteln des Kopfes. Zu überhaupt keiner merklichen Regung oder gar einem Gefühlsausbruch.

Doch Marte ließ nicht locker. Marie-Louise tat Heidrun Mulders fast leid.

„Wie alt waren Ihre Töchter, als sie ermordet wurden? Sechs und acht? Wie alt wären Ihre Töchter jetzt?“

„31 und 29.“

„Und Sie sind jetzt 59 Jahre alt, richtig?“

„Ja.“

„Statistisch liegt nur noch das letzte Lebensviertel vor Ihnen. Wann, wenn nicht jetzt, wollen Sie für Klarheit sorgen, wer Ihren Töchtern die Erfahrung von erster Verliebtheit, Liebeskummer, Sexualität, Mutterschaft vorenthalten hat? Bald wird Ihnen vielleicht die Kraft dazu fehlen. Und ein weiteres Bald später sind Sie tot.“

Marte belauerte Heidrun Mulders regelrecht. Die starrte stumm auf den Boden.

„Haben Sie mich verstanden?“, fasste Marte harsch nach.

„Ja.“

„Würden Sie also bitte meine Frage beantworten.“

„Es ist doch klar.“

„Geht es auch in zwei Sätzen?“ Marte wurde ungeduldig.

„Bitte?“ Heidrun Mulders wirkte abwesend.

„Was ist klar?“

„Meine Töchter und ich wissen, dass ich Ihnen das Leben nicht genommen habe.“

„Und das reicht Ihnen? Sie wollen nicht, dass Gerechtigkeit hergestellt und der wahre Täter zur Rechenschaft gezogen wird?“

„Gerechtigkeit. Was soll das jetzt noch sein?“

„Dass Ihr geschiedener Mann vor Gericht gestellt und für das, was er getan hat, abgeurteilt wird.“

Heidrun Mulders schwieg. Marte schüttelte den Kopf.

Angespannt hatte Marie-Louise die Befragung, die eher einem Verhör glich, verfolgt. Vor sich sah sie zwei völlig desillusionierte Menschen, die trotz der gleichen Gemütslage keine gemeinsame Basis fanden. Die Abgeurteilte hatte den Glauben an den Rechtsstaat und ihre Schwester an Heidrun Mulders als hilfebedürftiges Opfer aufgegeben, der bei Marte ohnehin schwach ausgeprägt war.

„Was ist los mit Ihnen? Sie müssten doch Genugtuung empfinden.“

„Genugtuung?“, wiederholte Heidrun Mulders lahm.

„Ja, eine innere Befriedigung, dass Ihre Unschuld endlich festgestellt werden kann.“

„Meine Kinder bleiben tot. Und das ist meine Schuld.“

„Wie meinen Sie das?“, fragte Marte scharf nach.

„Ich war nicht da.“

Zum ersten Mal hob Heidrun Mulders ihren Blick und schaute Marte an.

Und dann zuckte sie wieder nur mit den Schultern. Marte verfiel in ein undurchdringliches Schweigen, das sie erst aufgab, als die Gefängnistore sich hinter ihr, Strättges und Marie-Louise geschlossen hatten.

„Tja, damit hat sich die Sache wohl erledigt. Ob nun gefühlte oder tatsächliche Schuld, Heidrun Mulders sitzt nach eigener Auffassung zu Recht ein. Belassen wir es dabei.“

„Auf gar keinen Fall!“, protestierte Marie-Louise, „Ihre Skepsis muss man doch verstehen. Sie hat das schon einmal alles durchgemacht und am Ende verloren. Geben wir ihr die Zeit, die Neuigkeiten sacken zu lassen.“

Strättges, der sich eine Zigarette angezündet und einen tiefen Zug getan hatte, nickte. „Ich spreche morgen noch mal mit ihr. Sie ist nicht der spontanste Mensch.“

„Ach“, hatte Marte Strättges’ Feststellung kommentiert.

Den ganzen Abend konnte sich Marie-Louise nicht beruhigen. Dieses Lamm. Dieses vergeudete Leben. Für was opferte sich Heidrun Mulders? Hatte sie tatsächlich aufgegeben, resigniert? Das durfte nicht sein.

„Wenn wir unbedingt darüber reden müssen, dann hilf mir wenigstens auf die Sprünge, wie das damals genau war“, fragte ihre Schwester irgendwann genervt.

Kapitel 4

1987

„Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Seit heute Mittag gegen 12.00 Uhr werden die beiden Schwestern Susanne und Claudia Bosman aus Brüggen-Swalsen vermisst. Beide wurden zuletzt auf dem Spielplatz vor ihrem Elternhaus gesehen. Die achtjährige Susanne ist etwa ein Meter vierzig groß und schlank. Sie hat rotblonde Haare und ist bekleidet mit einem weißen T-Shirt, roten Shorts, gelben Socken und Sandalen. Die sechsjährige Claudia ist etwa ein Meter zwanzig groß und hat dunkelblonde schulterlange Haare. Zum Zeitpunkt ihres Verschwindens trug sie ein pinkfarbenes T-Shirt, eine kurze gelbe Strickhose sowie blaue Socken und Sandalen. Sachdienliche Hinweise werden von jeder Polizeidienststelle entgegengenommen.“

Marie-Louise Campferbrinck, frisch ernannte Staatsanwältin bei der Staatsanwaltschaft Krefeld, hörte die Suchmeldung auf WDR 2 auf dem Rückweg vom Gericht.

Zufrieden mit sich, dachte sie an diesen widerlichen Kinderschänder, den sie eben noch im Gerichtssaal hatte verhaften lassen. Erinnerte sich an das Verschwinden seines selbstgefälligen Grinsens, als die fünfjährige Haftstrafe verkündet worden war, und das Erblassen, als ihm die Handschellen angelegt wurden.

Ein guter Tag, fand Marie-Louise, als sie mit unter ihrem Arm eingeklemmten Akten die Treppe zu ihrem winzigen und nach modrigen Akten muffenden Dienstzimmer hochstürmte. Sie hatte es eilig, wollte die Verhandlungstermine für den nächsten Tag vorbereiten, bevor sie ausnahmsweise früher Schluss machte. Auf dem Nachhauseweg musste sie einkaufen, üppiger als üblich und zusätzlich eine Flasche Spumante. Sie wollte Herold, ihren Freund, überraschen. Nein, beeindrucken. Um sieben wollte er kommen, sie hatte versprochen, zu kochen. Was noch nie vorgekommen war. Was sie auch nicht sonderlich gut beherrschte. Doch als Herold angezweifelt hatte, dass sie ein ordentliches Schnitzel zustande brächte, hatte sie das nicht auf sich sitzen lassen können und ihn eingeladen. Das erste Mal in ihre Mansardenwohnung, die sie erst vor vier Wochen bezogen hatte. Überall standen noch die Umzugskisten herum, die auszupacken Marie-Louise noch nicht geschafft hatte. Ihr neuer Job hatte sie völlig beansprucht. Das wollte sie alles erledigen, bevor er kam.

Sie saß noch nicht auf ihrem knochenharten Schreibtischstuhl, als das Telefon klingelte.

„Sie müssen nach Swalsen“, krächzte Herta Breuer, die Justizangestellte aus ihrer Geschäftsstelle.

„Was ist los?“

„Sie sind zuständig für die vermissten Kinder. Haben Sie das noch nicht mitbekommen?“

Irgendwann musste sich Marie-Louise diese Frau zur Brust nehmen. Nur weil sie jung war und die Breuer kurz vor der Pensionierung stand, durfte sie sich diesen Ton nicht gefallen lassen, wenn sie ernst genommen werden wollte. Doch heute war nicht der Tag dafür, die Verhältnisse zurechtzurücken.

„Meinen Sie die Kinder, nach denen im Radio gesucht wurde?“

„Ja. Die Polizei ist schon vor Ort, aber Reinhardt, Sie wissen schon, Kriminalhauptkommissar Reinhardt, hat Sie, also richtiger einen Staatsanwalt, angefordert. Er meinte, da steckt mehr hinter.“

Marie-Louise verkniff sich das „Muss das sein?“. Sie kannte Reinhardt gut genug, um zu wissen, dass der einen ausgezeichneten Riecher hatte, auch wenn er menschlich ein Arschloch war. Sie holte tief Luft.

„Also gut, wie lautet die Adresse?“

Eine Stunde später stieg sie vor einem zweistöckigen Sechzigerjahrebau in verwaschenem Weiß aus. Drei der Prachtstücke standen nebeneinander an einer schmalen Straße, die Ortsunkundige wie Marie-Louise mühsam suchen mussten. Zweimal war sie an der schmalen Seitenstraße, die irgendwo im Nirgendwo abzweigte, vorbeigefahren. Dann endlich hatte sie die blinkenden Blaulichter entdeckt. Die Stichstraße, die vor die Häuser führte, war bereits vollgeparkt mit grün-weißen Polizeiwagen. Frech stellte sich Marie-Louise mitten auf den Weg und stieg aus.

„Fahren Sie beiseite, Sie können hier nicht einfach stehen bleiben“, polterte ein Polizist, der aus dem Hauseingang gestürzt kam.

Marie-Louise zückte ihren frisch gedruckten Ausweis und hielt ihn dem noch jungen Beamten im Vorbeigehen unter die Nase. „Wo finde ich Reinhardt?“

Der Polizist schluckte und zeigte am Haus vorbei. Marie-Louise folgte dem Finger und entdeckte eine Gruppe Uniformierter hinter dem Haus bei einem Spielplatz. Reinhardt stach durch seine Größe hervor wie ein bunter Hund. Er überragte alle um einen Kopf, und seine dreißig Kilo Übergewicht ließen ihn wie ein Nilpferd in einer Herde Gazellen erscheinen. Marie-Louise schluckte. Der Kommissar hatte ihr bei den seltenen Treffen zu verstehen gegeben, dass er nichts von jungen Staatsanwälten hielt. Und von weiblichen Exemplaren schon mal gar nichts. Mit durchgestrecktem Rücken marschierte sie auf ihn zu. Was wenig nutzte, um ihn zu beeindrucken. Sie reichte mit Absätzen gerade einmal bis zu seinem Kinn. Hinter ihm hätten sich vier Marie-Louises verstecken können.

„Was, Sie?“, kam auch prompt.

„Ja, ich“, konterte Marie-Louise wenig schlagfertig. Der Mann nahm ihr den Mut. Auch dagegen musste sie was unternehmen, wollte sie in ihrem Job ernst genommen werden.

„Sie haben einen Staatsanwalt angefordert, und da bin ich. Was wissen Sie schon?“ Trotzig reckte sie ihr Kinn vor bei der Frage.

Reinhardt schüttelte seinen Kopf, die ihn umgebenden Kollegen starrten sie neugierig an. Das konnte ja heiter werden.

„Zwei vermisste Mädchen, sind hier vom Spielplatz verschwunden. Seit heute Mittag um zwölf etwa. Ihre Mutter war einkaufen, und als sie zurückkam, waren sie weg. Ihr Mann war oben in der Wohnung, eine Nachbarin hat sie noch spielen sehen. Die Kollegen sind im Umkreis von zehn Kilometern unterwegs und suchen sie. Die Eltern, also der Vater, hat alle Verwandten in der Umgebung abgeklappert. Nichts. Jetzt haben wir Zoll, Bundesgrenzschutz und die freiwillige Feuerwehr von Viersen zur Unterstützung bei der Suche angefordert.“

„Und mich. Ist das nicht ein bisschen früh?“ Marie-Louise sah demonstrativ auf ihre Uhr. Es war jetzt kurz vor vier, die Kinder waren mittags verschwunden. Normalerweise wurde die Staatsanwaltschaft erst dann angefordert, wenn die Polizei davon ausging, dass ein Verbrechen passiert war.

Reinhardt trat vor, schnappte sie am Ellbogen und führte sie beiseite. Marie-Louise entriss ihm ihren Arm gröber als beabsichtigt. Sie konnte es nicht ausstehen, angefasst zu werden. Und von diesem Kerl schon gar nicht.

Der wies mit dem Kopf auf eine schlanke Frau, nur wenige Meter entfernt auf der Treppe des Hinterausgangs sitzend.

„Nicht so laut, die Mutter muss ja nicht gleich alles mitbekommen.“ Er räusperte sich. „Ja, ich denke, nein, fürchte, dass es hier nicht nur um zwei Mädchen geht, die abgehauen sind. Dazu sind die zu jung. Und verlaufen werden sie sich auch nicht haben. Sie waren immer ganz brav und haben hier gespielt. Nein, mein Riecher sagt mir was anderes.“

Marie-Louise nickte. Ob sie den Mann nun mochte oder nicht, er war gut in seinem Job, war bekannt für seine Intuition und Sorgfalt bei den Ermittlungen. Wenn auch ein wenig zu überzeugt von sich, wie man in der Staatsanwaltschaft munkelte.

„Okay. Dann machen Sie mal weiter. Ich spreche mit der Mutter.“

Das war ihre erste Begegnung mit Heidrun Bosman. Eine junge Frau mit stahlblauen Augen in einem erstarrten Gesicht, umrahmt von dunkelblonden Haaren im Stil der überschätzten Lady Di. Eine viel ältere und eine jüngere Frau umrahmten sie. Großmutter und Schwester, wie Marie-Louise erfuhr. Mehr erfuhr sie jedoch nicht. Alle schwiegen angstvoll.

Sie blieb eine Weile bei den Frauen sitzen und ließ die Umgebung auf sich wirken.

Die nächsten vier Tage wurden dominiert von hektischer Betriebsamkeit sowie über den Häusern kreisenden Polizeihubschraubern und Polizeiwagen mit sich ständig wiederholenden Lautsprecherdurchsagen im gesamten Gemeindegebiet von Brüggen, dessen Honschaft Swalsen war. Hundertschaften Bereitschaftspolizisten durchforsteten die Gegend und zogen immer größere Suchkreise um die drei Häuser. Und den ersten Gerüchten um die Ehe der Bosmans, sorgsam unauffällig gestreut von der Augenzeugin, die die Kinder kurz vor ihrem Verschwinden auf dem Spielplatz gesehen haben wollte. Eine rechteckige, fast quadratische Frau mit freundlichem Gesicht, das im deutlichen Kontrast zu ihrem Auftreten stand, hatte Marie-Louise anvertraut, dass sich die ach so hingebungsvolle und nun laut jammernde Bosmansche Schlonz, wie sie Heidrun Bosman nannte, Nacht für Nacht mit einem Engländer, noch dazu Neger, herumtrieb.

Kapitel 5

2010

An diesem Punkt ihrer Erzählung angekommen, konnte sich Marie-Louise nicht mehr bremsen. Das geballte Unvermögen, beschwerte sie sich bei Marte, die Einseitigkeit der Ermittlungsführung der Kripo, die frühe Solidarisierung mit Roland Bosman als gehörntem Ehemann, dem nicht auch noch der Doppelmord an seinen Töchtern untergejubelt werden sollte, all das empfände sie noch heute als unerträglich.

„Nun mach mal halblang! An ihrer Verurteilung trägt sie selbst nicht wenig Schuld, so oft, wie sie sich widersprochen und nachweisbar gelogen hat“, stoppte ihre Schwester Marie-Louises Tirade, die sie schon so unendlich oft gedacht und jetzt ausgesprochen hatte.

„Nein, ich lasse mich nicht wieder bremsen. Damals haben sie mich rausgeschossen, bevor ich Heidrun Bosmans Unschuld beweisen konnte. Das lasse ich kein weiteres Mal zu!“

„Und wie willst du das machen?“

„Ich beantrage meine Anwaltszulassung und nehme das Jobangebot von Strättges an.“

„In der Sache Bosman kannst du nicht tätig werden, weil du damit bereits als Staatsanwältin befasst warst. Das weißt du doch. Ich schiebe das mal auf deine Verwirrtheit nach Herolds Tod. Außerdem wage ich nach dem Termin bei Frau Mulders zu bezweifeln, dass sie dich als Anwältin auswählen würde. Und obendrein will sie gar nicht, dass auch nur irgendwer ihre vermeintliche Unschuld beweist. Du willst jemanden über die Straße führen, der sie gar nicht überqueren möchte.“

Marie-Louise spürte das Blut in ihrem Gesicht, das sie sicherlich zur Tomate einfärbte. „Dann eben anders. Wart mal, ich habe da vor ein paar Tagen was gelesen.“

Marie-Louise eilte in den Keller, wo sie alte Zeitungen stapelte. Im gleichen Kellerraum neben der Tür stand Herolds Rollator. Sie blieb stehen, starrte ihn an und schluckte. Dann sackte sie auf dem kalten Betonboden zusammen und ließ die Tränen fließen, die seit Tagen ihren Blick getrübt und ihr Gehirn vernebelt hatten. Irgendwann spürte sie Martes Hand auf ihrer Schulter.

„Ist ja gut. Wird schon wieder“, flüsterte Marte ihr ins Ohr, während sie auf Marie-Louises Schulter klopfte. Das war wohl das Maximum, das sie an Trost von ihrer spröden Schwester erwarten konnte. Aber es funktionierte. Sie schnappte das ihr angebotene Tempotaschentuch, schnäuzte ordentlich und rappelte sich wieder hoch.

„Was wolltest du hier eigentlich?“, fragte Marte.

„Komm mit.“ Marie-Louise eilte zu der Papiertonne und holte alle Zeitungen der letzten Tage heraus. Schon in der dritten fand sie es.

„Lies mal“, forderte sie ihre Schwester auf.

Doch Marte schüttelte den Kopf. „Ohne Brille geht das bei dem Licht gar nicht. Also lass uns wieder hochgehen, einen ordentlichen Holunderlikör trinken und lesen.“

„Und was soll ich jetzt damit?“, fragte Marte knappe zehn Minuten später mit erkennbarer Verblüffung, den Blick noch immer auf den Artikel über die Haftentlassung eines verurteilten Mörders aus der Todeszelle in Los Angeles gerichtet.

„Na da, lies doch weiter.“ Marie-Louise schnappte sich ungeduldig das Zeitungsblatt aus Martes Hand. „,Durch den Abgleich genetischen Materials‘ bla, bla, bla, warte mal, da unten geht es weiter. ,Nach verschiedenen erfolglosen Anträgen auf Wiederaufnahme des Verfahrens begann die Hilfsorganisation Judges find Justice nach Indizien für die Unschuld des verurteilten Mörders zu suchen. Als die pensionierten Richter die Videos der Polizeiverhöre auswerteten, fiel ihnen auf, dass der damals Dreißigjährige zu dem Geständnis überredet worden war.‘ Verstehst du jetzt?“

„Was?“, kam verständnislos von Marte.

„Nun sei nicht so begriffsstutzig. Wir gründen die erste Sektion Deutschlands der Judges find Justice, also Richter für Gerechtigkeit. Du bist Richterin, wenn auch nicht mehr lange, ich war es. Das passt doch.“

Kapitel 6

2010

Marte hörte wohl nicht richtig. Schnappte ihre kleine Schwester nun völlig über?

Es war ja zu begrüßen, dass der Tod wie ein Schließer gewirkt hatte, der Marie-Louise endlich aus der Haft – nichts anderes war die ambulante Rund-um-die-Uhr-Pflege für Herold gewesen – entlassen hatte. Aber dass sie sich gleich in einen Teenie mit verrückten Ideen im Kopf, zu viel Fantasie und noch mehr Energie zurückverwandeln musste, tat nun wirklich nicht not. Geduld für eine zweite Pubertät ihrer Schwester war Marte nicht gewillt aufzubringen. Die erste hatte ihr gereicht. Alle Anfänge mussten im Keim erstickt werden.

„Ja, wir brauchen derlei Nachhilfe aus den USA dringend, damit auch wir künftig Länder, deren Regime uns nicht passt oder dessen Präsident eine unschöne Knollennase im Gesicht trägt, mit faustdicken Lügen als Schurkenstaaten abstempeln lernen, um vorsätzlich einen völkerrechtswidrigen Präventivkrieg führen zu können. Und natürlich brauchen wir auch dringend Nachhilfe aus den Vereinigten Staaten, um mit einem Patriot Act unser Grundgesetz auszuhöhlen. Die Freiheit des Andersdenkenden ist bekanntlich für die innere Sicherheit gefährlich, könnte der Andersdenkende ja ein Terrorist sein und unsere Demokratie gefährden. Da hauen wir doch lieber nach US-amerikanischem Vorbild unseren Rechtsstaat selbst in Klump.“

„Was bitte hat das mit meiner Idee zu tun, die deutsche Ausgabe der Judges find Justice zu gründen? Deinen Assoziationsketten kann ich nicht mehr folgen.“

Marie-Louise wirkte eingeschnappt. Wie immer, wenn Marte nicht auf den Zug sprang, in dem ihre Schwester gerade unterwegs war, um dieses oder jenes Ziel zu erreichen. Meistens lag das Ziel im Dagegen: gegen den sauren Regen und das Waldsterben, gegen den NATO-Doppelbeschluss, gegen Atomkraft, gegen Birne und seine geistig-moralische Wende und so weiter und so fort. Nicht, dass Marte nicht auch gegen das ein oder andere gewesen wäre, aber sie nervte der kategorische Impetus ihrer Schwester.

Die kannte damals nur schwarz oder weiß. Grautöne kamen in dem Weltbild der jungen Marie-Louise nicht vor. Marte nahm dann nicht selten die Gegenmeinung ein, um durch Polarisierung einen Kompromiss zu finden. So hielt sie es bis heute, weswegen die Vergleichsquote ihres Senats seit Jahren die höchste beim OLG Düsseldorf war.

„Ich meine, dass unser Rechtssystem nicht so fehlerbehaftet ist, dass es einer Korrektur durch solch eine importierte Vereinigung braucht; zumal es bei uns keine Todesstrafe gibt.“

„Ach, weil wenigstens keiner zu Tode kommen kann? Und unsere Gerichte immer Recht sprechen und sich nie irren? Ja, auf dich trifft das bestimmt zu. Die Vorsitzende Richterin des 23. Senats des Oberlandesgerichts Düsseldorf, Frau Doktor jur. Marte Campferbrinck, ist unfehlbar. Aber du kannst ja nicht überall sein. Da passieren dann Fälle wie Mollath oder Wörz, um mal nur die prominentesten Justizskandale der jüngeren Vergangenheit herauszugreifen. Oder möchtest du mir diese Fälle als Aushängeschilder der Justiz verkaufen, weil die beiden am Ende doch noch freikommen könnten?“

„Erstens bin ich nicht der Papst. Ich beanspruche keine Unfehlbarkeit für mich. Zweitens kotzt es mich an, dass Ausnahmen von der Regel zur Regel hochgejazzt werden. Und schon wird geunkt, der Rechtsstaat sei auf dem Weg zum Unrechtsstaat. Plötzlich fühlt sich der rechtschaffene Bürger zum Recht schaffenden Bürger berufen und setzt sein Rechtsempfinden mit Recht gleich. Gerechtigkeit wird zum Abstimmungsgegenstand. Die Mehrheit spricht dann künftig Recht. Gott bewahre uns vor dieser Entwicklung! Aber ich fürchte, wir sind schon auf dem Highway to Hell. Ich leiste dieser Entwicklung jedenfalls nicht Vorschub durch Mitgliedschaft in einer Vereinigung, die kraft ihrer bloßen Existenz Zweifel an der Effizienz unseres Rechtsstaates schürt. So, und jetzt noch mal in der Kurzfassung auf gut Deutsch gesagt: Du kannst mich mal!“

„Du bist so verknöchert und eingefahren, so von dir eingenommen. In deiner kleinen Welt des Gesellschaftsrechts, in der sich die Schönen, Starken und Großen gelegentlich mit ihren Champagner-Flöten beim Anstoßen auf den nächsten Coup in die Quere kommen, mag ja noch alles in Ordnung sein. Aber schau mal über den Tellerrand! Hättest du an meinem Schreibtisch gesessen – ja, er stand nur im Sozialgericht Köln –, dann sähest du die Dinge anders. Wie oft musste meine Kammer Sozialhilfeempfängern unter die Arme greifen, um ihren ohnehin mickrigen Anspruch auf eine staatliche Transferleistung durchzusetzen, weil die Agentur für Arbeit und die Sozialämter zum Knausern angehalten sind und dabei oft gegen Artikel 1 unseres Grundgesetzes anrempeln.“

„Och Gottchen, kleiner hast du es wohl nicht? Ob bei der Bekleidungsbeihilfe noch eine Leggings abfällt, ist doch nicht gleich eine Frage der Menschenwürde.“

„Du bist so zynisch, du in deinem Elfenbeinturm. Es geht um Menschen, die das auf sie angewendete Recht als solches auch verstehen müssen, um es zu akzeptieren. Und wer, wenn nicht wir, sind die, die es erklären müssen?“

„Also jetzt schlägt es aber dreizehn! Ich muss doch einem Mörder nicht erklären, dass es verboten ist, einen anderen Menschen zu töten, damit der Abgeurteilte den Schuldspruch begreift. Gegenfrage: Was machst du, wenn er zu blöd ist, dir zu folgen? Ihn freilassen, damit er in seinem Vertrauen auf den Rechtsstaat nicht erschüttert wird?“

„Du und deine Polemik.“

„Ja, geschenkt. Menschen treffen Urteile auf der Basis eigener Vorurteile. Richter sind Menschen. Für sie gilt das also auch, Marie-Louise. Deswegen brauchen wir hier aber immer noch nicht diese Judges find Justice.“

„Und ob. Heidrun wurde verurteilt, weil sie nicht dem Stereotyp der biederen Mutter und Hausfrau entsprach, das damals noch die Denke blockierte. Auch die der Richter. Aber sie ist ausgebrochen aus der ihr zugedachten Rolle als Hausweibchen. Und das wurde ihr zum Verhängnis!“

„Du möchtest jetzt aber nicht aus jeder Ehefrau, die untreu ist, gleich eine Feministin machen, oder? Den Seitensprung als Mittel der Emanzipation feiern?“

„Verdammt, Marte! Du weißt genau, was ich meine.“

Kapitel 7

1987

„Willst du ihn wirklich heiraten? Ist es nicht verfrühte Torschlusspanik, die dich antreibt?“, fragte meine Mutter zum wiederholten Male. Dabei hatte ich gedacht, dass Roland als Schwiegersohn willkommen wäre. Dass meine Eltern ihn mochten. Schließlich war er das Abziehbild eines Wunschschwiegersohns. Fleißig, gefällig, gutmütig und sah ja auch gar nicht schlecht aus. Er machte schon was her. Groß, stattlich, mit dem Gemüt und dem Aussehen eines Bärs. Hatte was von Raimund Harmstorf, fand ich, nur eben nicht in Rotblond, sondern mit dunkelbraunen Locken.

Ich hatte ihn beim Kegeln kennengelernt. Er war ein Freund meines Schwagers Herbert. Nicht gerade mein Traummann, aber auch nicht schlecht für eine Flunder ohne Hintern in der Hose und Busen im BH. Die anderen Mädchen in der Berufsschule hatten mich damit aufgezogen. Und damit, dass ich auch das Gesicht einer Flunder habe. Einer Backflunder. Was auch immer das sein mochte.

„Mach langsamer als ich. Lebe erst mal dein Leben, bevor du dich bindest. Ich habe viel zu früh geheiratet. Hab mich nie ausleben können. Nie Erfahrungen gesammelt. Und jetzt ist es zu spät“, hatte ihre Mutter hinzugefügt.

Doch was sollte ich, was war ich ohne eigene Familie? Ohne Kinder? Roland war gut zu mir, treu, ehrlich, nahm sich Zeit. Nur nicht im Bett. Aber man konnte schließlich nicht alles haben, fand ich. Zum Schwangerwerden würde es reichen.

Wir hatten es gut miteinander, und das Schicksal meinte es noch besser mit uns. Keine vier Monate nachdem wir zusammengekommen waren, wurde in dem Haus in Swalsen, in dem meine Eltern und Schwestern mit Kind und Kegel lebten, eine Wohnung frei. Kurz entschlossen zogen wir zusammen ein. Richteten uns gemeinsam ein. Tapezierten gemeinsam und legten Teppichboden und Linoleum aus. Ein Wohnzimmer, ein Elternschlafzimmer und ein Kinderzimmer mit zwei Betten. Mehr brauchten wir nicht.

Anfangs begleitete ich Roland noch zum Kegeln und in den Schützenverein. Es klang so gut in meinen Ohren: mein Mann. Doch als die beiden Mädchen geboren waren, mochte ich nicht mehr. Blieb lieber zu Hause bei ihnen.

„Geh mit“, hatte mir meine Mutter immer wieder gepredigt. „Irgendwann fragt er nicht mehr.“ Doch ich mochte es, abends vor dem Fernseher zu sitzen oder im Sommer auf den Treppenstufen vor dem Haus in der Abendsonne.

Meine Mutter sollte recht behalten: Irgendwann fragte Roland nicht mehr, ob ich mitkommen wolle. War einfach gegangen, ohne zu sagen, wohin. Hatte nicht geholfen, die schreienden Kleinen zu beruhigen oder beim Einkaufen die schweren Sachen zu tragen. Nicht mal mehr die Bierkästen trug er hoch. Ich konnte von Glück reden, wenn ich den Familien-Opel nachmittags nutzen durfte, während Roland sich von der Nachtschicht ausruhte.

Ich fing an, wie meine Mutter und Schwestern in den langen einsamen Stunden Versandhauskataloge zu durchstöbern. Otto, Bader, Quelle. Alle ließ ich mir ins Haus liefern. Verbrachte Stunden mit der Suche nach Dingen, von denen ich zuvor nicht gewusst hatte, dass ich sie brauchen würde: beheizbare Lockenwickler, Shorts, die anzuziehen ich niemals wagen würde, Bodenläufer, grellbunte Bettwäsche.

Dabei war Roland am Anfang so zuvorkommend gewesen. Hatte sogar noch seiner Mutter im Schweinemastbetrieb geholfen, nachdem sein Vater früh gestorben war.

Irgendwann kam mir der Verdacht, dass er wegen seiner ihn ständig herumkommandierenden Mutter so früh zu mir in mein Mädchenzimmer gezogen war. Als wir ein paar Wochen zusammen waren, begann er, ständig über sie zu schimpfen. Dass sie ihn scheuchen und als kostenlose Aushilfskraft ausnutzen würde. Schließlich war er nur der Zweitgeborene, sein älterer Bruder würde den Hof erben. Er mochte die Arbeit nicht. Deshalb hatte er eine Ausbildung zum Maschinenführer gemacht und in einer Ziegelei in Brüggen gearbeitet. Trotzdem musste er, solange er noch zu Hause gewohnt hat, den Bruder unterstützen und morgens und abends mit anpacken.