Nightblood Prince - Molly X. Chang - E-Book

Nightblood Prince E-Book

Molly X. Chang

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Beschreibung

Wer mit dem Schicksal spielt, riskiert mehr als nur das eigene Herz Ihr ganzes Leben wurde Fei auf ein einziges Ziel vorbereitet: Siwang, den Kronprinzen des mächtigsten Reiches der Welt, zu heiraten. Siwang ist seit Kindheitstagen Feis bester Freund und würde alles für sie tun, doch Fei will nur eines: frei sein. Als sie die Chance bekommt, aus dem Palast zu fliehen, trifft sie ausgerechnet auf Yexue, den geheimnisvollen Prinzen des verfeindeten Königreichs. Mit seiner gefährlichen Magie der Nacht könnte er der Schlüssel zu Feis Freiheit sein – und vielleicht noch viel mehr. Doch als schreckliche Visionen Fei heimsuchen, muss sie erkennen, dass keiner der beiden Prinzen ist, wer er vorgibt zu sein, – und dass bald nicht nur Feis Herz auf dem Spiel steht.

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Seitenzahl: 489

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Über das Buch

Wer mit dem Schicksal spielt, riskiert mehr als nur das eigene Herz

 

In der Nacht von Feis Geburt prophezeite eine Sternenseherin: Eines Tages wird sie die Kaiserin aller Kaiserinnen sein.

Fei wächst im Palast auf, wo sie darauf vorbereitet wird, den Sohn des derzeitigen Kaisers zu heiraten, doch dieses Leben hat sie nur Einsamkeit gelehrt. Als sie die Chance bekommt, ihr Schicksal endlich selbst in die Hand zu nehmen, begibt sie sich auf die gefährliche Jagd nach einem legendären Tiger – wohl wissend, dass sie dabei alles verlieren könnte.

Was sie nicht erwartet: dass sie ausgerechnet Yexue begegnet. Gesegnet von der Nacht, mit einer gefährlichen Magie begabt und Anführer einer tödlichen Armee, könnte er ihr zur Freiheit verhelfen.

Um ihrem vorhergesagten Schicksal zu entkommen, muss Fei eine Kette von Ereignissen in Gang setzen, die die Welt, wie sie sie kennt, für immer verändern wird.

 

Der Auftakt einer epischen Fantasyreihe voller Spannung, Intrigen und Verrat

Molly X. Chang

Nightblood Prince

Band 1

Roman

Aus dem Englischen von Julia Schwenk und Kira Wolf-Marz

 

 

Für alle, die Trost bei Tinte und Papier suchen und tausend Leben als Helden und Bösewichte und allem dazwischen leben.

 

Ich schreibe, um euch die Flucht zu ermöglichen – immer.

Prolog

Ich wurde in der Mitternachtskluft zwischen zwei Mondjahren geboren.

Das Feuerwerk am sternendurchwobenen Nachthimmel übertönte meine ersten Schreie. Leider war es nicht laut genug, um auch die Weissagung des Schicksals zu übertönen, die tausend Meilen entfernt hinter den Palastmauern ausgesprochen wurde.

Eine gefallene Göttin, die das Zeichen des Phönix trägt, wird über ein geeintes An’Lu herrschen.

Ein Fluch, getarnt als Prophezeiung, die in unserem Kaiser ein Verlangen von so gewaltigem Ausmaß entbrennen ließ, dass das ganze Land bis zum Sonnenaufgang davon verschlungen wurde.

Er befahl, das Mädchen zu suchen und zu ihm zu bringen. Drei Tage später fanden sie mich durch das blutrote Zeichen des Phönix zwischen meinen Augenbrauen unter dem Dach eines Beamten des Siebten Ranges in einer vergessenen Ecke des Kaiserreiches.

»Die Kaiserin eines vereinten Kontinents kann nur die Kaiserin von Rong sein, die am Arm meines Sohnes herrscht«, wandte sich der Kaiser einige Tage darauf an seinen Hofstaat. Tränen schimmerten in seinen Augen, als er den Säugling in seinen Armen sanft an seiner Brust wiegte.

Ein kleiner Junge, der zwischen denselben Mondjahren geboren worden war wie ich. Das einzige noch lebende Kind seiner geliebten Kaiserin, die ihren letzten Atemzug gab, als ihr Sohn seinen ersten tat.

Gerüchten zufolge hallten meine Schreie ohne Unterlass in den goldenen Korridoren wider, während der Kaiser Prinz Siwangs und meine kurzen Fingerchen durch eine geweihte rote Schnur, eine Schicksalskette, miteinander verband.

»Mit ihrer Prophezeiung an Siwangs Seite«, verkündete der Kaiser triumphierend, »wird mein Sohn vollbringen, was die Ahnen vor uns nicht vermochten: den Kontinent einen und endlich Frieden in diese Lande einkehren lassen.«

Der Hofstaat brach in lauten Jubel und Beifall aus; niemand wagte, seinen Fantasien von Sieg und Ruhm zu widersprechen.

Außer mir, deren Schreie einfach nicht verstummen wollten.

Teil Eins

Die von den Sternen versprochene Kaiserin

1

Ich verbrachte mein Leben gefangen hinter den karmesinroten Mauern des Palastes, in dem ich durch goldene Korridore und prächtige Pavillons tollen und alles tun und lassen konnte, was ich wollte – außer in die Welt hinauszugehen.

»Du bist die zukünftige Kaiserin. Du musst beschützt werden«, ermahnte mein Vater mich am letzten Tag jedes Mondzyklus.

Da es mir nicht gestattet war, den Palast ohne schriftliche Erlaubnis des Kaisers zu verlassen, durften meine Eltern nur an diesem einen Tag im Monat einige wenige Stunden mit mir verbringen.

Wir spazierten oft durch die Gärten, wenn die Pfingstrosen blühten, schlenderten an den Koi-Teichen entlang. An Regentagen tauschten wir Höflichkeiten in meinem Pavillon aus, wenn wir keine anderen Ablenkungen fanden, um das Schweigen zwischen uns zu füllen. Ich hatte so viel zu erzählen und sehnte mich danach, sie zu umarmen und mit ihnen zu lachen wie eine normale Tochter. Doch das konnte ich nicht unter den aufmerksamen Blicken der Palastdamen, die mir nicht nur alle Wünsche erfüllten, sondern auch jede meiner Bewegungen überwachten.

Ihre Augen beobachteten alles, ihre Ohren lauschten immer.

Wenn meine Eltern sich danach erkundigten, wie ich meine Tage verbrachte, zwang ich mich zum Lächeln und gab vor, glücklich zu sein. Im Gegenzug erkundigte ich mich danach, wie es ihnen erging, als wäre mir nicht schon alles über ihr Leben wie ausgeschmückte Märchen von den Dienstmädchen zugetragen worden, die sich am liebsten mit Tratsch über die Familien der Hauptstadt beschäftigten. Kurze Lichtblicke, die wie Sonnenstrahlen das endlose Grau des Palastlebens durchdrangen.

Aus meinem goldenen Käfig heraus lauschte ich voller Neid, wie meine Schwester aufwuchs und meine Eltern alterten. Ich lauschte voller Neid den Geschichten über neugierige Nachbarn und die adeligen Damen, mit denen Mutter Brettspiele spielte. Über die Beamten, mit denen mein Vater debattierte, oder die Männer, die um die Hand meiner großen Schwester anhielten.

Ich wollte dieses Leben nicht nur erzählt bekommen. Ich wollte es selbst leben.

Doch ich war in erster Linie die zukünftige Kaiserin von Rong und erst danach die Tochter meiner Eltern. Daher blieben ihre Äußerungen spärlich und oberflächlich, ihr Lächeln angespannt und stets überaus höflich. Meine Eltern verneigten sich zur Begrüßung vor mir und sie verneigten sich, wenn sie sich von mir verabschiedeten.

Sie wussten nicht, wie sie mit der zukünftigen Kaiserin umgehen sollten, die ihren Armen entrissen worden war, noch bevor ich alt genug war, von der Milch meiner Mutter entwöhnt zu werden. Ich wusste auch nicht, was ich zu ihnen sagen sollte. Vor allem zu meinem Vater.

Siebzehn Jahre und ich konnte mich an keinen einzigen Moment mit ihnen erinnern, in dem ich mich nicht wie eine Fremde fühlte, die von draußen durchs Fenster schaute.

Ein gestohlenes Kind, von Dienstboten aufgezogen, die nur auf die Knie fallen und um Vergebung flehen konnten, wenn ich unter Tränen nach meiner Mutter, meinem Vater und meiner Schwester verlangte.

Ein Mädchen, dessen einziger Daseinszweck darin bestand, einen Jungen zu heiraten, weil die Sternseherin behauptet hatte, dass ich dazu bestimmt war, über die geeinten Streitenden Reiche zu herrschen. Aber wenn ich wirklich von den Göttern für dieses Schicksal auserkoren war, warum suchten mich dann jedes Mal Visionen von Blutvergießen und Elend heim, sobald ich die Augen schloss?

2

Eine Vorahnung kitzelte meine Sinne am Rand meines Bewusstseins.

Eine kurze Vision, ein drängender Impuls.

Ich sah den Moment voraus, bevor ich ihn erlebte.

Magie.

Ich hätte nach meinem Bogen gegriffen, wäre da nicht Vaters Warnung gewesen.

»Der erste Erfolg einer Jagd steht dir nicht zu.«

3

Niemand jubelte, als Prinz Yexues Pfeil die erste Beute der Saison zur Strecke brachte.

Der Wald hielt den Atem an und wartete darauf, wie Siwang reagieren würde.

Lan Yexue war zwar ebenfalls ein Prinz, jedoch kein Prinz von Rong. Milde ausgedrückt: Er war von seinem Onkel als Mündel hergeschickt worden, um in unserem großartigen Kaiserreich ausgebildet zu werden.

Hart ausgedrückt: Er war aus einem unserer vielen Tributländer als Gefangener hierher entsendet worden, um seinen Onkel, den derzeitigen Herrscher von Lan, an der kurzen Leine zu halten, sollte er eine Rebellion wagen.

Ein Prinz nur dem Namen nach, unwürdig, die erste Jagdbeute für sich zu beanspruchen.

Nachdem er inzwischen zwei Jahre lang am Hof von Rong, unter dem Dach des Feindes, überlebt hatte, sollte Prinz Yexue das eigentlich wissen. 人在屋檐下不得不低头. Wer der Gnade anderer ausgesetzt ist, muss sich vor ihnen verneigen.

»Will mir denn keiner gratulieren?« Prinz Yexue sprang vom Pferd, um seine Trophäe genauer in Augenschein zu nehmen – ohne den geringsten Anflug von Angst in seiner Stimme.

Wie prinzlich von ihm: zu ignorieren, was von ihm erwartet wurde, und stattdessen zu tun, was er wollte.

Eifersucht durchströmte mich.

Prinz Yexue von Lan war ein junger Mann, der durch einen wohlgeformten Körper und porzellanfarbene Haut auffiel. Mit seinen dichten Augenbrauen, dem kantigen Kinn und den rehbraunen Augen verdrehte er selbst den anständigsten Töchtern den Kopf. Zu allem Überfluss war er auch noch hochgewachsen und überragte fast jeden in seiner Umgebung, mit Ausnahme von Siwang. So viel Schönheit und dazu die arrogante, rebellische Ader, die man nur Prinzen durchgehen ließ – kein Wunder, dass er bei seiner Ankunft in der Hauptstadt vor zwei Jahren für derart viel Aufsehen gesorgt hatte. Sämtliche unverheirateten Frauen waren bei seinem Anblick ins Schwärmen geraten – und eine Handvoll der kaiserlichen Konkubinen und der adeligen Söhne der Stadt ebenfalls. Gerüchten zufolge hatte der halbe Hofstaat bereits versucht, seine vernarrten Töchter mit ihm zu verheiraten, trotz des desolaten Zustandes seines Königreiches und seines ungewissen Schicksals.

Menschen des ganzen Kontinents besuchten Yong’An und hübsche Gesichter sah man in dieser Stadt seit jeher zur Genüge, doch seines ließ einen nicht mehr los. Lan Yexues himmlisches Antlitz reichte beinahe aus, um über seinen merkwürdigen Namen hinwegzusehen und die kursierenden Gerüchte zu vergessen. Angeblich praktizierte seine Familie dunkle Magie und er entstammte einer Ahnenreihe einst grausamer Herrscher aus dem Süden, die vor Jahrhunderten Siwangs Vorfahren beinahe ausgerottet hatten.

Reiche steigen auf und Reiche gehen unter. Jetzt war Yexues Heimat eins unserer Tributländer und ihr schöner Prinz unser Mündel.

»Du hast ein gutes Auge.« Die angespannte Stimmung löste sich ein wenig, als endlich ein Lächeln über Siwangs Gesicht huschte.

»Ich hatte Übung«, erwiderte Yexue so kalt wie die eisige Landschaft um uns herum. »Nicht jeder kann der verwöhnte Erbe des mächtigsten Kaiserreiches weit und breit sein, der nichts zu befürchten hat und dem keine Wünsche unerfüllt bleiben.«

Caikun, der Sohn eines Generals des Ersten Ranges und Siwangs persönlicher Leibwächter, verzog das Gesicht. Er ließ die Hand auf seinem Schwert und den Blick auf Siwang ruhen und wartete auf ein Zeichen zum Angriff.

Auf den Lippen anderer zeigte sich der Anflug eines Lächelns, auch auf meinen. Es geschah nicht jeden Tag, dass jemand den Mut besaß, sich über unseren geliebten Kronprinzen lustig zu machen, so töricht das auch sein mochte.

Unserer in Pelzumhänge und lederne Reitstiefel gekleideten Jagdgesellschaft, die mit Gold, Silber und atemberaubenden Edelsteinen besetzte Bögen bei sich trug, gehörten einige der einflussreichsten Erben des Kaiserreiches an. Kinder von Generälen, Beamten des Ersten Ranges und der reichen Kaufleute, deren Geldsäckel die kaiserliche Schatzkammer füllten und die Mittel für die endlosen Feldzüge zur Eroberung von noch mehr Land, zur Sicherung von noch mehr Macht bereitstellten.

Alles im Namen meiner Prophezeiung.

Abgesehen von ihrer gesellschaftlichen Stellung, dem Reichtum und der Tatsache, dass sie mit silbernen Löffeln im Mund geboren worden waren, hatten diese Erben allesamt eins gemeinsam: den zwanghaften Drang, den Boden unter Siwangs Füßen anzubeten, als würde ihr Leben davon abhängen.

Weil es das in gewisser Art und Weise tat.

君要臣死臣不得不死. Wenn der Kaiser den Tod eines Untertanen beschließt, so muss der Untertan sterben.

Gesellschaftlicher Stand, Familienname oder wer ihre Väter waren, spielte keine Rolle, denn ihre Leben bestanden für Siwang aus hauchdünnem Porzellan, das an seidenen Fäden in der Luft hing. Wenn er es wünschte, konnte er dafür sorgen, dass jeder von uns oder sogar wir alle in den Tod stürzten und in unzählige Scherben zerschellten. Mich eingeschlossen – auch wenn er das nie zugeben würde und der gesamte Hofstaat das Gegenteil annahm.

Ich war die zukünftige Kaiserin, aber selbst eine Kaiserin musste sich dem Willen eines Mannes beugen.

»Die kaiserliche Jagd beginnt erst morgen«, mischte ich mich ein, bevor die Situation eskalieren konnte. »Wir vertreiben uns hier die Zeit und nutzen die Gelegenheit, uns mit dem Gelände vertraut zu machen, bevor wir morgen auf die Pirsch nach größeren Trophäen gehen.«

An Siwangs Kiefer zuckte ein Muskel, der seine Verärgerung verriet, aber dann lächelte er gelassen und charmant, wie man es Prinzen lehrte. »Möge der beste Mann morgen den ersten Beiying-Tiger töten und sich im echten Ruhm sonnen.«

Yexue verzog die Lippen, doch es wirkte mehr wie ein abfälliges Lächeln als ein freundliches Grinsen. »Der beste Mann«, wiederholte er.

Mein Blick wanderte zu dem erlegten Hirsch, ein kleines Ding, das sein Kitzfell noch nicht vollständig abgeworfen hatte, und so jung, dass sein Geweih noch nicht voll ausgebildet war. Der Pfeil hatte das Tier direkt ins Auge getroffen, wodurch sein wunderschönes Haarkleid unversehrt geblieben war. Dunkelrotes Blut erblühte im weißen Schnee wie Winterrosen. Wie eine vergebliche Warnung.

Obwohl ich den Hirsch vor den beiden Prinzen wahrgenommen hatte, hatte ich nicht nach meinen Pfeilen gegriffen. Weil Vater mich dafür getadelt hätte.

Frauen erlegten keine Trophäen. Unsere Aufgabe war es, in fügsamer, anmutiger Schönheit zu existieren, während Prinzen wie Siwang in Ruhm und Bewunderung schwelgten – zumindest hörte ich das seit jeher von allen Seiten.

Niemand darf von diesen Visionen erfahren, ermahnte ich mich zum zehntausendsten Mal.

Magie gab es auf unserem Kontinent schon seit Jahrhunderten nicht mehr. Sollte der Kaiser je herausfinden, dass ich in die Zukunft blicken konnte, würde er das umgehend als Zeichen sehen, dass die Prophezeiung der Wahrheit entsprach und mir diese Visionen zuteilwurden, um Siwang in seinen Kriegen zu unterstützen.

Denn in seinen Augen existierte ich nur, um den Plänen seines Sohnes zu dienen.

Wenn ich wirklich eine gefallene Göttin war und mein Schicksal vorsah, dass ich meinem Ehemann Ruhm bescherte, warum träumte ich dann immer nur von Blutvergießen und einer in Flammen stehenden Hauptstadt, aber nie von Ruhm?

Ich warf einen langen Blick in Richtung der verschneiten Berge. Irgendwo tief in diesem Gebiet verbargen sich die Beiying-Tiger mit ihrem schneeweißen Fell und den mitternachtsblauen Streifen, die im Sonnenlicht glänzten. Sie waren doppelt so groß wie normale Tiger und dreimal so stark. Legenden besagten, dass diese Bestien von den Göttern selbst während eines der himmlischen Kriege erschaffen und anschließend in der Welt der Sterblichen vergessen worden waren.

In diesen Landen gab es kein gefährlicheres Tier – außer den Menschen.

Wenn ich es schaffte, einen aufzuspüren, meine Hände mit seinem Blut zu tränken und seinen Pelz dem Kaiser zum Geschenk zu machen, konnte ich mein Schicksal vielleicht ein für alle Mal selbst in die Hand nehmen.

Oder ich starb bei dem Versuch.

»Lasst uns aufbrechen!«, rief Siwang und brachte sein Pferd Beifeng mit den Hacken dazu, sich in Bewegung zu setzen. »Der Tag ist noch jung und ich glaube nicht, dass das der einzige Hirsch im ganzen Wald war.«

Ich wollte ihm gerade folgen, als ich ein Brennen am Rand meiner Sinne spürte. Keine Vision. Ich sah auf und erwischte Lan Yexue dabei, wie er mich anstarrte.

Sein Blick ließ mich nicht zusammenzucken, noch wich ich ihm aus wie eine keusche Jungfer, die noch nie mit der Beachtung eines Mannes und ihrer Hitze in Berührung gekommen war. Zu viele Männer schauten mich an, Phönixmal hin oder her. Insbesondere nachdem meine Monatsblutung eingesetzt hatte und die Rundungen meiner Brust und Hüften ausgeprägter geworden waren.

Mit Lust war ich vertraut. Ich sah sie auf den Gesichtern von Männern und Jungen gleichermaßen. Wie ihre Blicke ein bisschen zu lang verweilten, wenn Siwang nicht in Sicht war. Wie sie sich über die Lippen leckten und in meiner Nähe herumlungerten, als wäre ich ein Objekt, bei dessen Anblick es ihnen in den Fingern juckte, es zu berühren oder an sich zu bringen. Solche Männer weckten in mir das Bedürfnis, jeden Fingerbreit meines Körpers zu bedecken und nie vor die Tür zu gehen.

Aber wenn ich das tat, wenn ich jedes Mal den Blick abwandte und mich versteckte, sobald ich jemanden beim Starren ertappte, würde ich mein Leben fernab aller Blicke in meinem Pavillon verbringen und mich mit der Gesellschaft der seidenbespannten Wandschirme und lackierten Wände begnügen.

Dass Männer mich begafften, war also nicht überraschend für mich. Sehr wohl aber, dass Prinz Yexue nicht wegschaute, als ich ihn erwischte. Und das Funkeln in seinen Augen war keine Lust, sondern etwas Scharfsinnigeres.

Neugier?

Ich ließ mein Pferd antraben, bevor Siwang diesen flüchtigen Moment bemerkte.

4

Meine frühesten Kindheitserinnerungen waren Fragen, die ich meinem Vater gestellt hatte.

»Welchen Nutzen hat Macht ohne Freiheit? Worin liegt die Schönheit im Leben einer Kaiserin, wenn sie eine Gefangene ist, gefesselt durch Regeln und Traditionen und die Meinung anderer?«

Fragen, auf die mein Vater keine Antworten hatte.

Fragen, die seiner Meinung nach irgendwann gefährlich für mich werden konnten und die ich nie wieder stellen sollte, nicht Siwang und ganz sicher niemandem, der sie vielleicht dem Kaiser weitertrug.

»Das Schicksal hat dich zur zukünftigen Kaiserin über die Streitenden Reiche auserkoren«, hatte er geflüstert. »Deine Bestimmung wurde von den Göttern selbst verfügt. Sterbliche können sich dem Willen der Götter nicht widersetzen, Fei. Versuchst du, von dem Pfad abzuweichen, mit dem die Götter dich gesegnet haben, riskierst du, dass ihre Liebe sich in Zorn verwandelt.«

Aber wenn das hier mein Leben, mein Körper war, sollte ich dann nicht ein Mitspracherecht haben, was damit geschah und wie ich leben wollte?

Warum sollten Götter und Kaiser über mein Schicksal entscheiden? Warum war meine Stimme die leiseste in diesem von Männern bevölkerten Raum, die fest entschlossen waren, über jeden Aspekt meiner Existenz zu bestimmen?

Wer gab ihnen das Recht dazu?

Hunderte von Fragen brodelten und schwelten in mir, winzige Funken, die nur darauf warteten, ein Feuer zu entfachen.

5

»Hast du keine lobenden Worte für mich?«, flüsterte Siwang, als er nach unserer Rückkehr im Stall an meinem Unterstand vorbeikam.

»Wofür? Weil du hingenommen hast, dass ein anderer den ersten Hirsch der Saison erlegt hat?«, erwiderte ich so leise, dass die anderen Reiter uns nicht hörten. »Es ist nicht einfach, so weit weg von seiner Familie und seinem Zuhause aufzuwachsen.«

Der Ausdruck in Siwangs Augen wurde weicher. Er kannte meine Narben besser als irgendwer sonst.

Seine Hand strich über meinen Rücken, als er mich in eine kurze Umarmung zog. »Wenn wir verheiratet sind, werde ich meinen Vater bitten, deiner Familie Zugang zu meinem Palast zu gestatten, wann immer sie es wünscht.«

Seinem Palast.

Etwas schimmerte in Siwangs Augen, als würde er Dankbarkeit von mir erwarten. Er meinte es gut, aber er war immer noch ein Prinz.

Ich zwang mich zum Lächeln, entgegnete nicht, dass ich nicht um seine Erlaubnis bitten müssen sollte, um Zeit mit meiner Familie zu verbringen. So waren Männer eben. Als Töchter waren wir Eigentum unserer Väter. Als Ehefrauen waren wir Eigentum unserer Ehemänner. Und sollten wir diese überleben, wurden wir irgendwann zum Eigentum unserer Söhne.

Ob Kaiserin oder Bäuerin, wir Frauen gehörten nie uns selbst.

»Sieh sich einer die Turteltauben an«, meinte ein junger Mann mit kurzen Haaren und einer Narbe quer über der rechten Wange lachend. Ein Erbe aus einem unserer Tributländer, aber da ich seinen Namen nicht kannte, war er niemand von Bedeutung. »Wie lange lasst Ihr ihn noch warten, Kaiserin aller Kaiserinnen? Solltet ihr beide nicht schon letztes Jahr heiraten?«

Siwang stellte sich vor mich und musste wohl finster dreinblicken, denn der junge Mann neigte rasch den Kopf und murmelte: »Ich bitte um Entschuldigung, Euer Hoheit.«

Siwang machte eine Kopfbewegung. Die im Stall verweilenden Gaffer verschwanden zügig.

Er wandte sich wieder mir zu. »Hör nicht auf sie.«

Ich rang mir ein weiteres Lächeln ab. »Er ist nicht der Einzige, der fragt, wann wir heiraten. Wir werden achtzehn zum Jahreswechsel, sind also keine Kinder mehr.«

Früher oder später würde der Kaiser ein Datum für unsere Hochzeit ansetzen. Er wartete einfach nur auf eine günstige Gelegenheit. Wenn Siwang den Hof beeindruckte, indem er zwei Jahre in Folge einen Beiying-Tiger erlegte, wäre das der perfekte Anlass, mich ihm offiziell zu offerieren wie einen Siegespreis.

»Wir werden heiraten, wenn du es willst.«

»Nicht, wenn dein Vater unsere Hochzeit wünscht?«

»Überlass ihn nur mir.« Siwang strich sacht über meine Wange, als wollte er mich beruhigen.

Er hatte Wort gehalten und unsere Hochzeit Jahr um Jahr hinausgezögert, hatte darauf gewartet, dass ich bereit war. Sein Vater dagegen war nicht so geduldig. Der Kaiser wollte, dass sein Sohn den Kontinent eroberte und die Prophezeiung damit in Erfüllung ging. Solange ich nicht verheiratet war, betrachteten unsere machthungrigen Nachbarn mich und meine Bestimmung als etwas, das man stehlen konnte.

Ein kalter Windstoß fegte durch die Stalltüren und wehte eine Wolke Schneeflocken herein.

»Ich muss gehen«, sagte ich. »Ich muss mich für das Festessen heute Abend umziehen.«

»Ich begleite dich zurück zu deinem Zelt.«

»Nein. Ist schon in Ordnung. Ich glaube, ich brauche ein bisschen Ruhe nach dem Durcheinander heute.«

Falls meine Worte Siwang verletzten, zeigte er es nicht. Er nickte und machte mir Platz, damit ich den Unterstand meines Pferdes verlassen konnte.

Auf dem langen Marsch durchs Lager zurück zu meinem Zelt kam ich an etlichen Männern vorbei. Unbekannte Gesichter, gekleidet in prächtige Pelze, wahrscheinlich Adelige aus einem von Rongs Tributländern.

Sie machten große Augen, als sie mich entdeckten – oder vielleicht, als ihr Blick auf das Muttermal zwischen meinen Brauen fiel. Seine leuchtend roten, geschwungenen Umrisse stellten angeblich einen Phönix im Flug dar, doch für mich sah es eher wie ein hochkant stehendes Auge aus.

»Die gefallene Göttin, der es bestimmt ist, die Kaiserin aller Kaiserinnen zu werden …«, flüsterte einer hinter vorgehaltener Hand, aber nicht leise genug.

»Oder ein Landei, das als Kindsbraut an den Hof gebracht wurde«, gab ein anderer kichernd zurück.

»Erstaunlich, wie ein Mal auf der Haut das ganze Leben verändern kann. 想不到一只山鸡都能飞上枝头变凤凰.« Kaum zu glauben, dass selbst ein Berghuhn auf einen so hohen Ast fliegen kann, dass es zum Phönix wird.

Ich beschleunigte meine Schritte. Beleidigungen wie diese hörte ich schon mein ganzes Leben lang. Ich musste nicht auch noch mitbekommen, was ihnen unweigerlich folgen würde.

Woher wissen wir, dass sie nicht einfach nur ein Bauernkind mit einem merkwürdigen Muttermal ist?

Warum sollte eine Göttin mitten im Nirgendwo als Bauernmädchen wiedergeboren werden?

Beinahe wünschte ich mir, ich hätte Siwangs Angebot angenommen und mich von ihm begleiten lassen. Wenn er bei mir war, traute sich wenigstens niemand, mich so anzusehen oder so vorlaut zu tuscheln.

In Siwangs Gegenwart verbargen die Frauen ihre Gesichter hinter Fächern oder Taschentüchern, viel zu sehr damit beschäftigt, sittsam zu Boden zu sehen, um Notiz von mir zu nehmen. Und die Männer verbeugten sich; ebenso schweigend wie die Frauen.

In dieser Welt waren nicht alle Menschen gleich. Das war mir bewusst, seit ich denken konnte. Sie wurden unterschiedlich behandelt, je nachdem aus welcher Region des Kaiserreiches sie stammten und welche Familie sie hervorgebracht hatte. Erst sehr viel später, in den kaiserlichen Schulräumen, in denen ich mit Siwang und den anderen adeligen Kindern unterrichtet wurde, lernte ich, dass nicht einmal die Kinder von ein und demselben Vater gleich waren.

Lijian war eines von ihnen: der Sohn einer Mätresse statt einer offiziellen Ehefrau, dem seine Familie und unsere Lehrer kaum Beachtung schenkten, obwohl er stets der klügste Mensch im Raum war. Deswegen wurde er wie ein Außenstehender behandelt.

Damit hatten wir wohl etwas gemeinsam.

Ich unterhielt mich gern mit ihm. Er war nett, lustig und dazu geduldig genug, mir die Gedichte zu erklären, die ich im Unterricht nicht verstand.

Doch als Siwang Lijian und mich vor drei Jahren in einer Ecke der Bibliothek erwischt hatte, wo wir saßen, über etwas lachten, an das ich mich inzwischen nicht mehr erinnerte, und uns die Rote-Bohnen-Küchlein teilten, die er von den kaiserlichen Köchen jeden Morgen für mich backen ließ, wurde mir zum ersten Mal wirklich bewusst, dass Siwang auch eine dunkle Seite besaß.

Nie zuvor hatte ich miterlebt, dass er derart die Beherrschung verlor.

Seitdem hatte niemand in der Hauptstadt Lijian gesehen. Und vielleicht würde das auch nie wieder jemand.

Es war nicht das erste Mal, dass Siwang jemanden bestrafte, der mir zu nahekam. Es war jedoch das erste Mal, dass er jemanden aus der Hauptstadt verbannte.

Siwang war die Sonne, um die der Kontinent laut der Gelehrten kreiste. Seine Güte war das Licht. In ihrem Schein fühlte sich alles warm an, als wäre es mit Gold getränkt. Sobald diese Güte jedoch wich, hüllte ihre Abwesenheit alles in unvergleichlich bittere Dunkelheit.

Der Hofstaat kämpfte um sein Licht. Vater sagte, dass ich mich ebenfalls bei ihm einschmeicheln sollte. Denn je mehr Siwang mir zugetan war, desto einfacher würde mein Leben werden … Desto einfacher würde das Leben aller werden.

Aber was, wenn ich sein Licht nicht haben wollte? Was, wenn ich mein eigenes Licht sein wollte?

Als ich die schwere Schafsfellklappe meines Zelts aufschob und meine Schwester entdeckte, die im Inneren hektisch auf und ab marschierte, hätte ich beinahe auf dem Absatz kehrtgemacht und meinen Körper lieber der winterlichen Wildnis als Opfergabe dargeboten.

Doch Fangyun bemerkte mich, bevor ich mich davonmachen konnte.

»Fei.« Mein Name hing wie ein Flehen in der kalten Luft.

Als ich mich Fangyun wieder zuwandte, hatte sie die Finger ineinander verkrallt und rang die Hände. Angst schimmerte in ihren Augen wie frisch vergossene Tränen.

Ich ließ das Schafsfell hinter mir zufallen und hielt angespannt die Luft an. Wie sehr ich mir wünschte, ich hätte meine Jagdkompendien besser versteckt, wenn sie mich besuchte. »Ich habe mich entschieden und nichts, was du sagst, wird mich davon abbringen.«

»Nicht jeder Kampf lohnt sich«, zischte meine Schwester leise. Ich zuckte zusammen, als hätte sie mich geschlagen. »Du hast ein gutes Leben, Fei. Du bist mit einem guten Prinzen verlobt, der dich liebt. Manchmal …«

»Du solltest auf meiner Seite stehen, Fangyun.«

Von meinen Eltern trennte mich ein tiefer Abgrund, aber bei Fangyun war das anders. Sie war meine Schwester, die dadurch das Privileg des Zutritts zum Palast erhielt, wo sie zusammen mit mir und den adeligen Kindern unterrichtet wurde. Obwohl unsere gemeinsame Zeit stets zu kurz war, waren es immer noch mehr Stunden als mit unseren Eltern. Auch wenn wir den Großteil von ihnen damit verbrachten, still dazusitzen und den Ausführungen der Gelehrten über die Gedichte toter Männer zuzuhören.

»Was ist denn so schlimm daran, Siwang zu heiraten?«, fragte Fangyun. Als ich nicht antwortete, seufzte sie und umfing mit ihren warmen Händen meine kalten, um sie dicht an ihre Lippen zu heben und sie anzuhauchen. »Ich hatte doch gesagt, dass du Handschuhe zur Jagd anziehen sollst. Deine Finger sind eisig!«

Der Albtraum der vergangenen Nacht blitzte vor meinem inneren Auge auf.

Feuer.

Schreie.

Yong’An, das in Flammen stand.

Meine Schwester, die rannte, rannte, rannte. Ihre Robe war zerrissen und sie weinte und …

Ich blinzelte die Bilder fort.

»Alles in Ordnung, Fei?«

Du weißt nicht, was ich gesehen habe, Schwester, wollte ich ihr so gern sagen. Du weißt nicht, was ich weiß. »Mir ist nur ein bisschen kalt von der Jagd.«

Der Gesichtsausdruck meiner Schwester wurde sofort weicher. »Beiying-Tiger sind Raubtiere. Fähige Jäger sind für ihre Pelze gestorben. Was lässt dich glauben, dass die verwöhnte Braut des Prinzen, die im Palast von Dienern umgeben und von Wächtern beschützt aufgewachsen ist, das Unmögliche vollbringen kann? Selbst wenn du Erfolg hast – kannst du dir sicher sein, dass der Kaiser dir deinen Wunsch gewährt?«

»君子一言驷马难追«, erwiderte ich. Gesagtes kann nicht zurückgenommen werden, die Worte eines ehrenhaften Mannes holen nicht einmal die schnellsten Pferde ein. »Wenn ein Kaiser auch nur ein Versprechen bricht, werden all seine anderen Versprechen wertlos.«

»Aber deine Prophezeiung ist kein schnelles Pferd. Sie ist das Versprechen, den Kontinent für seinen Sohn zu einen.«

Ich presste die Lippen aufeinander. Sie hatte recht; ich wusste nicht, ob der Kaiser sein Versprechen halten würde. Aber ich konnte auch nicht einfach herumsitzen und darauf warten, dass Yong’An von Tod und Zerstörung heimgesucht wurde. Eine Prophezeiung war nicht mehr als aneinandergereihte Worte. Wenn mein Schicksal in die Sterne geschrieben stand, würde ich zum Himmel hinauffliegen und es neu bestimmen.

Als Siwang mich im Nahkampf unterrichtete, hatte ich jede seiner Bewegungen durch meine Visionen vorausgesehen, und wenn ich mich entsprechend anpasste, konnte ich den Ausgang verändern, jedes Mal. Wollte er mir die Beine unterm Körper wegziehen, ging sein Tritt ins Leere, weil ich wusste, wohin ich ausweichen musste. Was, wenn es sich mit den Visionen der Sternseherin ebenso verhielt?

Ich konnte die Zeit nicht zurückdrehen und dafür sorgen, dass die Prophezeihung nicht ausgesprochen wurde. Aber ich besaß Einfluss auf die Gegenwart, die bestimmte, was morgen passieren würde. Zeit war ein Fluss, der endlos dahinströmte. Und mit genug Beharrlichkeit konnte Wasser Steine brechen. Wenn ich mich nur genug anstrengte, konnte ich die Zukunft ändern und meine Stadt vor dem Untergang bewahren.

»Die kaiserliche Jagd ist zu heilig und dem Jäger, der den ersten Beiying-Tiger der Saison erlegt, einen Wunsch zu gewähren, ist eine Jahrhunderte alte Tradition. Der Kaiser kann seine Worte vielleicht zurücknehmen, aber keine Traditionen.«

Die kaiserliche Jagd wurde in den Tagen vor der Wintersonnenwende zu Ehren der nördlichen Wurzeln Rongs abgehalten. Auf diese Art zollte man den Ahnen Respekt, die als Jäger und Sammler Hunderte von Jahren überlebt hatten, als Rong noch ein kleines Tributland der größeren, vermögenderen Reiche des Südens war.

»Unsere Gesellschaft entwickelt sich weiter und unser Kaiserreich floriert, doch wir dürfen nicht vergessen, woher wir stammen. Die kargen Zeiten, in denen volle Bäuche abhängig waren von der Gnades des Landes und dem, was wir mit bloßen Händen töten konnten …« Das waren die Worte, die der Kaiser vor jeder Jagd sprach.

Damit die Rong-Dynastie und ihr Volk nie vergaßen, wie glücklich wir uns schätzen konnten, in einer Zeit des Überflusses zu leben, in der Landwirtschaft und Viehzucht unsere Schüsseln mit Reis, Gemüse und allem Fleisch füllten, um das wir beteten.

Im Jahrhundert des langen Winters gefror das angestammte Land der Rong-Dynastie und ihre Vorfahren waren von allen Seiten eingekesselt. Das Volk musste sich den Nachbarreichen beugen und sich an ihre Gebräuche anpassen, um zu überleben. In dieser Zeit hatten sie so viel verloren.

Ihre Kultur.

Ihre Namen.

Ihre Sprache.

Also klammerten sie sich mit aller Macht an das bisschen, was ihnen von ihren Ahnen geblieben war.

Die Jagd war jedoch nicht nur eine Möglichkeit, die Strapazen aller zu ehren, die vor uns kamen. Sie war eine wichtige Heeresübung für die herausragendsten Soldaten des Kaiserreiches. Hier konnten Männer ihre Fähigkeiten im Kampf unter Beweis stellen und Krieger 出人头地. Sich aus der Menge abheben und über Nacht über ihren Stand hinaus aufsteigen.

Schaffte man es, den Kaiser während der Jagd zu beeindrucken, spielte es keine Rolle, aus welcher Familie man stammte, welche Region man seine Heimat nannte, ob man von edlem Geblüt oder ein Leibeigener war.

Der Kaiser schätzte echtes Können höher als unwichtige Kleinigkeiten wie den Familiennamen, Stand und die Familienabstammung.

Zeigte man dem Kaiser seinen Wert, wurde man dafür belohnt. Und nichts beeindruckte den Herrscher mehr als der König dieser verschneiten Berge.

Der legendäre Beiying-Tiger – die begehrteste Trophäe jeder Jagd.

Viele waren für seinen Pelz gestorben und solange es verzweifelte Seelen auf der Welt gab, die sich nach mehr sehnten, würden noch viele mehr sterben.

Letzten Winter hatte jemand zum ersten Mal seit drei Jahren wieder einen Beiying-Tiger im Rahmen der Jagd erlegt.

Der Held, der ihn niedergestreckt hatte? Kein Geringerer als der Lieblingsprinz des Reiches.

Und Siwang, der Narr, hatte seinen Wunsch an schöne Worte verschwendet. »Ich wünsche mir, dass Rong weiter wachsen und gedeihen wird. Damit unser Kontinent eines Tages endlich Frieden erlebt, wie es sich unsere Vorfahren immer erträumt haben.«

Worte, die seinen Vater zu Tränen rührten. »Verwende deinen Wunsch auf etwas anderes, mein Sohn«, antwortete der Kaiser. »Etwas für dich selbst, etwas, das du dir nicht für unser prachtvolles Reich erhoffst, sondern für dich selbst begehrst. Ganz egal was es ist. Alles nur Erdenkliche will ich dir schenken. Selbst wenn du um das Blut der Götter bittest, werde ich es dir geben.«

Die Erinnerung ließ mich das Gesicht verziehen.

»Ist es das wirklich wert, Fei?«, fragte meine Schwester erneut. »Weißt du eigentlich, wie selten es ist, dass ein Mann seiner Verlobten so zugetan ist wie Siwang dir?«

»Von seinem Ehemann geliebt und geschätzt zu werden, sollte eine Grundvoraussetzung sein und nichts, was es zu bewundern gilt«, gab ich zurück, doch im gleichen Moment wurde mir bewusst, wie herablassend ich klang.

Die meisten jungen Frauen besaßen nicht das Privileg der Wahl. Ihnen blieben nur die Wünsche ihrer Väter und die Münzen, die ihre Ehemänner für sie bezahlten.

»So viele Mädchen würden sich die rechte Hand abhacken, um Siwangs Braut zu werden. Und du schlägst das alles aus, wofür?«

Damit alle ein langes, zufriedenes Leben führen können,wollte ich antworten. Fangyun hatte die Schrecken meiner Albträume nie durchlebt und hatte nicht alle, die ihr je begegnet waren, hundertfach sterben sehen, immer und immer wieder, jedes Mal, wenn sie die Augen schloss.

Von den Visionen konnte ich ihr nicht erzählen, also entschied ich mich für eine Halbwahrheit. »Ich will ein Leben jenseits der Palastmauern, in dem ich mehr bin als Ehefrau und Mutter. Und wenn ich dafür sterben muss, dann sei es so.«

»Du wirst Siwang das Herz brechen. Wenn die Tributzahlungen der eroberten Gebiete eintreffen, schickt er dir immer die beste Seide und die edelsten Juwelen. Weißt du noch, wie er letztes Jahr zehn Männer auf den schnellsten Pferden in nur fünf Tagen aus Lan im Süden zurück nach Yong’An hat reiten lassen, damit er dir an deinem Geburtstag die frischesten Lychees überreichen konnte?«

»Diese Geschenke bedeuten ihm gar nichts. Er ist der Kronprinz von Rong, er kann alle Seide und schönen Steine für sich beanspruchen, die sein Herz begehren. Nur weil er mir hübsche Dinge schenkt, heißt das noch lange nicht, dass er mich liebt.«

»Fei’er, du …«

»Siwang nimmt an, dass ich Seide und Juwelen mag«, unterbrach ich sie, bevor sie den Satz beenden konnte, weil ich wusste, was sie sagen würde. Das Gleiche wie Mutter und Vater, als ich sie angefleht hatte, die Verlobung aufzulösen und mich nach Hause kommen zu lassen. Du bist so undankbar, Fei’er. »Wusstest du, dass drei Hengste wegen seiner kleinen Eskapade gestorben sind? Und wofür? Ein paar Dutzend Früchte, die nur ein wenig süßer geschmeckt haben.«

Fangyun schwieg und ich seufzte. Die Beherrschung zu verlieren, ist nicht sehr damenhaft.

»Der innere Palast ist nicht das Paradies, für das alle ihn halten. Du wurdest nicht von seinen Regeln erdrückt oder hast die Schreie gehört, die nachts durch die Gänge hallen. Selbst die Konkubinen von hoher Geburt entkommen dem Zorn des Kaisers nicht. Was lässt dich glauben, dass ein Mädchen wie ich dort überlebt?«

Meine Schwester öffnete den Mund, als wollte sie nachhaken, hielt sich dann aber zurück. Wenn ich bereit wäre, mich ihr anzuvertrauen, müsste sie nicht nachfragen oder mir diese Andeutungen der Wahrheit abringen.

Für den Moment mochte Siwang mir gewogen sein, doch ich hatte zauberhafte junge Frauen in den Harem seines Vaters kommen und gehen sehen, hatte beobachtet, wie sie durch die Gärten streiften wie Geister, mit hellem Balsam und Schminke auf der Haut, um ihre Blutergüsse zu überdecken; immer so wunderschön zurechtgemacht und still … und voller Angst.

Liebe und Hass waren zwei Seiten derselben Münze. Bei Männern wie Siwang war das Einzige, das gefährlicher als ihr Hass war, ihre Liebe. Für nichts ahnende Augen war er ein Traum, zu schön und perfekt, um wahr zu sein. Makellos in seinen mitternachtsschwarzen Seidenroben, die spielend leicht das Dunkelrot des Blutes verbargen, das ihm an den Händen klebte.

»Was, wenn Siwang nicht mich liebt, sondern die Prophezeiung?« Meine größte Angst, in einem kaum hörbaren Wispern ausgesprochen.

Der Zorn wich aus den Augen meiner Schwester und stattdessen schimmerte etwas wie Mitleid in ihnen. »Die Hochzeit mit Siwang würde Ehre für unser Haus bringen.« Damit gab sie die Worte wieder, die Vater schon unzählige Male wiederholt hatte, die sich wie Eisenmanschetten eng um meine Fußknöchel legten und mich jedes Mal ihr schweres Gewicht spüren ließen, wenn ich an Flucht dachte. »Der Traum von zehntausend anderen jungen Frauen ist für dich in greifbarer Nähe. Als Kaiserin von Rong hast du al …«

»Alles, außer gehen zu dürfen.« Etwas stieg in meiner Kehle auf, doch ich schluckte es hinunter. Ich würde nicht weinen. Nicht vor Fangyun. »Was nützen mir Reichtum und alle Annehmlichkeiten, wenn meine Welt auf dieses Gefängnis beschränkt ist, das sie als Palast hergerichtet haben? Wenn ich nur herumsitzen und lesen und sticken kann, während ich darauf warte, dass Siwang mich besucht? Zu Beginn wird das vielleicht noch einmal die Woche sein, dann irgendwann einmal im Monat, dann einmal im Jahr, sobald er seinen Harem mit Schönheiten aus allen Ecken des Kontinents gefüllt hat. Frauen, die er sich selbst ausgesucht hat oder ihm von den hohen Beamten oder Tributländern aufgedrängt wurden, weil sie einen der ihren eines Tages auf dem Thron von Rong sehen wollen.«

»Das ist das Leben, das Frauen seit Jahrhunderten erdulden, Schwester. Wir …«

»Was, wenn ich das nicht erdulden will? Die Welt ist so viel größer als der Palast oder unsere von Klatsch erfüllte Hauptstadt, in der jeder dem anderen in den Rücken fällt, und sogar größer als Rong! Hast du je darüber nachgedacht, was wir noch nicht gesehen oder gehört oder geschmeckt oder gefühlt haben? Über die Freuden, über die Gelehrte Gedichte schreiben? All die Schönheit, die Künstler dazu bringt, ihre Pinsel in die Hand zu nehmen und mit ihren Strichen Meisterwerke zu erschaffen? Dinge, die Farbe und Würze ins Leben bringen, das Staunen, das jeden Tag lebenswert macht … Dinge, die wir nie selbst erleben werden, weil Männer von uns erwarten, dass wir unser Zuhause nicht verlassen, dass wir hübsch und keusch und gute Töchter sind, und uns all die anderen Ideale aufzwingen, die uns zu Gefangenen in unseren eigenen Körpern machen.«

Der Ausdruck in den Augen meiner Schwester verlor noch mehr an Härte. Sie trat zu mir und legte einen Arm um mich.

Schweigend setzten wir uns auf die Kante meines Bettes. Es spielte keine Rolle, wie oft Vater Fangyun seine sorgsam formulierten Lehren wiederholen ließ – meine Schwester verstand, warum ich das hier tun musste.

Sie hatte nichts gegen meinen Plan als solchen oder gegen das, was ich wollte. Es war nur … »Es ist zu gefährlich, Fei’er.«

Darauf lief es immer hinaus. »Ich schaffe das.«

»Du könntest sterben.«

»Wenn ich mein Leben lasse, werden wenigstens keine weiteren Kriege mehr im Namen meiner Prophezeiung geführt. Unsere Nachbarn würden aufhören, unsere Grenzen anzugreifen, um mich als Symbol ihrer eigenen Macht an sich zu bringen. Vielleicht wäre das eine bessere Zukunft für uns alle. Vielleicht wird der Kontinent durch meinen Tod …«

Fangyun legte mir einen Finger auf die Lippen, um mich daran zu hindern, das Unaussprechliche weiter von mir zu geben. »Du wirst nicht sterben, Schwester.« Sie zog etwas aus ihrem Ärmel. »Nimm das mit. Schenk mir wenigstens dieses bisschen Seelenfrieden.«

Sie reichte mir einen juwelenbesetzten Dolch mit Elfenbeingriff, der in einer aus Gold getriebenen Scheide steckte. Schwungvolle Linien auf der Oberfläche formten Federn und Blüten um einen Phönix im Flug. »Er sollte dein Geburtstagsgeschenk werden, aber da du darauf bestehst, einen Handel mit dem Tod einzugehen, bekommst du ihn eben jetzt. Ich hoffe, dass er dich beschützt, wenn ich es nicht kann.«

Tränen fluteten meine Augen und Erleichterung breitete sich wie kribbelnde Nadelstiche in mir aus. »Yun’er …«

»Es wird auffallen, wenn du heute Abend beim Festessen fehlst.«

»Ich gehe, nachdem ich mich dort habe blicken lassen.«

»Das ist gut.« Fangyun wandte sich ab und blinzelte gegen ihre eigenen Tränen an. »Versuch, nicht zu sterben.«

Ich lachte und mein Blick wanderte zu dem silberbeschlagenen Kriegsbogen, eine Hälfte des Paars, das Siwang uns während der letzten Jagd angefertigt hatte.

Einen für ihn und einen für mich.

»Ich gebe mein Bestes.«

6

»Trinken wir auf den Sieg!«

Eine einzelne Stimme durchbrach das aufgeregte Geplauder und das Knistern der Flammen. Jubel wurde laut. Süßer Winterwein schwappte aus erhobenen Bechern und tropfte über die zarten Hände von Rongs verehrtesten Erben. Überheblichkeit und Gier übertünchten bitteren Groll und die jahrhundertealte Blutschuld zwischen den Dynastien. Die jungen Männer warfen sich in Pose, alle legten es darauf an, nach Siwang der wichtigste Mann im Raum zu werden. Auch wenn die Frauen ihr sittsames Lächeln lediglich hinter den Ärmeln durchblitzen ließen, wusste ich, dass sie genauso ehrgeizig waren wie die Männer.

Die Feierlichkeiten vor der Jagd wurden normalerweise in bescheidenem, vertraulichem Rahmen abgehalten – so vertraulich Feste mit hundert Gästen und doppelt so vielen Dienern eben sein konnten.

Dieses Jahr ging es geschäftiger zu als sonst. Der Kaiser hatte aus jedem tributpflichtigen Land Gäste eingeladen, die die Kampfstärke unseres Kaiserreiches bezeugen sollten. Um sie daran zu erinnern, womit sie es zu tun haben würden, sollten sie es je auf einen Aufstand ankommen lassen.

Und während der Kaiser Hof hielt, um mit den Erwachsenen heikle politische Themen zu besprechen, lag es in Siwangs Verantwortung, den Nachwuchs zu unterhalten.

Ich hatte gehört, was der Kaiser zu Siwang gesagt hatte: »Sie sind die Zukunft deines Reiches, mein Sohn. Lern sie kennen, bau eine Beziehung zu ihnen auf, aber mach dich vor allem mit ihren Schwächen vertraut. Lass sie spüren, dass du das Leittier bist. Du bist die menschgewordene Macht. Du bist der Erbe des großartigsten Reiches, das dieser Kontinent je sehen wird. Sei menschlich, sei charmant, aber lass sie nie vergessen, wer du bist.«

Über fünfzig junge Erwachsene – manche kaum mehr als Jugendliche, andere bereits Anfang zwanzig – saßen in zwei Reihen an niedrigen Tischen vor den Feuergruben, über denen die geschicktesten Köche schwitzend Fleisch anbrieten und würzige Eintöpfe zubereiteten; Köstlichkeiten aus jedem Winkel des Reiches, meisterhaft zu einer Geschmackssinfonie zusammengestellt und auf goldenen Tellern angerichtet.

Die Rong-Dynastie war weit gekommen, seitdem ihre Vorfahren im Winter Hunger gelitten hatten. Ganz zu schweigen von den ständigen Überfällen der Kriegsfürsten aus dem Süden.

Der Aufsicht der Eltern entkommen herrschte ausgelassene Stimmung, es wurde sich laut unterhalten und noch lauter gelacht. Doch dies war keine unschuldige Zusammenkunft. Dies war ein Spiel der Macht.

Siwang saß am Kopf der Tische auf einem Podest, das ihn über uns andere erhob.

Die Frauen bedachten ihn mit sehnsüchtigen Blicken, für die Männer galt dasselbe. Alle hatten es auf seine Gunst abgesehen und damit auf jenen Preis, der noch kostbarer als der Pelz eines Beiying-Tigers war. Und je näher man bei Siwang sitzen durfte, desto höher der eigene Rang.

»Wie schmeckt dir das Essen, Fei?«, fragte Siwang. Auch wenn alle Gäste ihn beobachteten, war sein Blick auf mich gerichtet. Ich saß an dem Tisch direkt zu seiner Linken.

Ich unterbrach mich darin, dünn geschnittenen Kohl und Hammelfleisch auf dem Teller umherzuschieben, und zwang mich, ihm sanft zuzulächeln. Mir war vor Aufregung übel und das einzige Essen, das mir verlockend erschien, waren die Lammspieße, die über den Feuern gebraten wurden. Sie waren mit Kreuzkümmel und Chiliflocken bestreut und mit Öl beträufelt, sodass jeder Bissen saftig und voller Geschmack sein würde. Die mochte ich am liebsten, doch leider gehörten sie zu den vielen Speisen, deren Verzehr in der Öffentlichkeit für adelige Frauen als undamenhaft galt. Und das Fleisch schmeckte einfach anders, wenn man es von den Spießen entfernte, um es in Schüsseln zu servieren. Schließlich war es Teil des Vergnügens, es mit den Zähnen vom Spieß zu reißen.

»Gepriesen sei unser Reich!«, rief jemand von einem Tisch weiter unten. Ein unverhohlener Versuch, Siwangs Aufmerksamkeit zu erregen. »Fulin ist die letzte große Festung im Nordwesten. Alles, was nun noch zwischen uns und den eisigen Ödlanden steht, sind ein paar kümmerliche Dynastien, deren Heere aus kaum mehr als hochgelobten Bauern bestehen. Schon bald wird Rong über den ganzen Norden herrschen und niemand wird sich uns in den Weg stellen! Und damit rückt das Ziel Eurer Hoheit, die Prophezeiung zu erfüllen und der Kaiser aller Kaiser zu werden, wieder ein Stück näher!«

»Auf den Kaiser aller Kaiser!«, jubelte eine andere Stimme. »Auf den Kaiser aller Kaiser!«

»Den Kaiser aller Kaiser, den Kaiser aller Kaiser!«

Davon ist in der Prophezeiung gar nicht die Rede, wollte ich sie erinnern.

»Auf das größte Heer von ganz An’Lu!« Ein Gast erhob seinen Weinpokal, weitere Trinksprüche folgten.

Wortlos hob ich meinen Becher. Es hätte von schlechten Manieren gezeugt, sich nicht anzuschließen, auch wenn meine Haut wie üblich unangenehm kribbelte.

Auf was genau tranken wir? Auf eine weitere Stadt, die eingenommen und geplündert worden war? Darauf, dass die Überlebenden von nun an erdrückende Abgaben leisten mussten, damit Rong ausreichend Geldmittel für die nächste Eroberung zur Verfügung standen? Hatte auch nur einer dieser Männer je an der Front gedient und mit eigenen Augen die Grausamkeit des Krieges gesehen? Die vielen Toten in den Straßen?

Ich sah diese Bilder in meinen quälendsten Albträumen. Ausgemergelte Körper, die sich in den Trümmern zusammenkauerten, die einst ihr Heim gewesen waren. Ich konnte immer noch den Gestank verbrannten Fleisches riechen, nachdem unsere Soldaten Feuerbälle über die Mauern geschleudert hatten, um zu vernichten, was von ihrem Zuhause geblieben war, und die hungernden, verzweifelten Menschen zur Aufgabe zu treiben.

Ahnten diese verzogenen Erben, dass für jeden Fußbreit eroberten Landes zahllose Witwen und Waisen den Preis zahlen mussten? Dass wehklagende Eltern gezwungen waren, ihre Kinder zu begraben?

白发送黑发. Die Weißhaarigen begraben die Dunkelhaarigen. Es gab keine schlimmere Strafe.

Und je weiter unser Heer anwuchs, desto teurer wurde es, es zu verköstigen und zu bezahlen.

Wussten die anderen, woher dieses Geld stammte?

Abgaben. Immer mehr Abgaben, die die oftmals ohnehin verarmten Bürger der eroberten Städte aufbringen mussten.

Die meisten Gäste schienen nichts davon zu wissen. Ich hingegen schon, da mich die Sterne und das Schicksal zwangen, das Grauen Nacht für Nacht zu bezeugen.

Hinter Siwang erhob sich Rongs Banner und flatterte im Nordwind. Ursprünglich hatte es lediglich einen goldenen Drachen gezeigt, der sich von rotem Stoff abhob. Nach der Prophezeiung hatte der Kaiser es um einen blutroten Phönix erweitern lassen, der jedoch nur sichtbar war, wenn sich das Licht auf ihm fing. Er sollte alle daran erinnern, dass ihr Prinz laut Mandats des Himmels dazu bestimmt war, Kaiser aller Kaiser zu werden, weil er mit dem Mädchen mit dem Phönixmal verlobt war.

Rong schwenkte in meinem Namen sein Banner und führte genauso in meinem Namen Krieg. Aber wann hatte man mich zuletzt angehört? Wann hatte sich zuletzt jemand erkundigt, was ich wollte?

»Sie können sich glücklich schätzen, dass wir von jetzt an über sie wachen«, setzte einer der Gäste das Gespräch fort.

»Die Bevölkerung von Fulin sollte froh sein, dass sie nun unter unserem Schutz steht und nicht unter dem einer der südlichen Dynastien, die uns Nordländern nichts als Vorurteile und Hass entgegenbringen …«

»Mein Vater sagt, die südlichen Dynastien haben uns vor Rongs Aufstieg und unserer Befreiung schlechter behandelt als ihre Hunde …«

»Wo wir gerade bei den Bastarden aus dem Süden sind: Wo steckt der Prinz von Lan?«, fragte jemand.

»Er fühlt sich nicht wohl.« Nicht Siwang antwortete, sondern der Mann, der mir an den Feuergruben gegenübersaß.

Wu Caikun war Siwangs rechte Hand. Ihm war stets der Platz an der Seite des Prinzen vorbehalten, genau wie sein Vater zurzeit auf dem anderen Fest zur Rechten des Kaisers weilte. Caikun war wahrscheinlich Siwangs engster Vertrauter und einer der wenigen Männer bei Hofe, die alles taten, um mir aus dem Weg zu gehen. Vor ein paar Jahren hatte ich versucht, ihn zu küssen, um meinen ersten Kuss zu verschenken, bevor Siwang ihn für sich beanspruchen konnte. Seitdem schien Caikun geradezu Angst vor mir zu haben. Ein Teil von mir hatte es kurzzeitig genossen, gefürchtet zu werden. Doch um diese Selbstgefälligkeit war es geschehen, sobald mir bewusst geworden war, dass Caikun lediglich Angst gehabt hatte, Siwang könnte davon erfahren.

»Habt Ihr ihn etwa vom Fest ausgeladen, weil er Euch den Hirsch gestohlen hat, Prinz Siwang?«, fragte ein Mann lallend.

»Wegen des Hirsches sicher nicht«, warf jemand ein. »Aber vielleicht, weil Lan Yexue die Ehrenwerte Fei zu lange angeschaut hat?«

Die Menge lachte und ich verzog das Gesicht.

»Lan Yexue hat die Ehrenwerte Fei heute zum Lächeln gebracht. Beim letzten Mal, als das einem Mann gelungen ist, hat Siwang ihn zusammen mit seiner ganzen Familie in ein Dorf im hohen Norden verbannt.«

Ich legte die Stäbchen aus der Hand. Die Kerzen waren halb heruntergebrannt und ich hatte genug.

»Fei?«

Angesichts von Siwangs Stimme hielt ich inne.

Er reichte dem Eunuchen an seiner Seite eine Schüssel und flüsterte ihm etwas zu, das niemand außer den beiden hören konnte. Der Eunuch brachte die Schüssel zu meinem Platz.

Gewürfeltes Lammfleisch von den Spießen.

Siwang lächelte mir zu. Sein Blick war hoffnungsvoll und sanft. Mein Brustkorb zog sich schmerzhaft zusammen. Fangyun hatte recht: Ich würde ihm das Herz brechen. Wenn nicht heute Abend, dann eines Tages, denn solange ich in meinen Träumen vom Blutvergießen gequält wurde und mein Herz sich nach Freiheit sehnte, war ich dazu verdammt, ihn zu verlassen.

Sei es aus eigener Entscheidung oder weil ein anderer mich dazu zwang.

Das Feuer in meinem Bauch beruhigte sich.

»Wo wir gerade von unserer Prinzessin reden: Ich habe gehört, die Ehrenwerte Lifeng hat diese Kaninchen selbst erbeutet?« Die Stimme erklang von der anderen Seite der qualmenden Feuergruben. Ich war versucht, dem Mann zu empfehlen, sich mit dem Wein zurückzuhalten und ein wenig auszunüchtern. Sonst würde er noch etwas sagen, was er bereute. »Mir war gar nicht bewusst, dass unsere zukünftige Kaiserin über so heldenhafte Fähigkeiten verfügt.«

»Die Frauen meiner Vorfahren waren ebenso fähige Jäger wie die Männer«, warf Siwang ein, bevor ich etwas erwidern konnte. »Sie waren diejenigen, die die Stämme versorgt haben, wenn die Männer im Krieg waren. Und wer bist du überhaupt, meine Verlobte auf diese Weise zu tadeln?«

»Jeder weiß, dass die Schönheit der Ehrenwerten Lifeng einem Wunder gleichkommt. Anscheinend vergisst nur mancher zu erwähnen, dass ihre Fähigkeiten als Bogenschützin ebenso außergewöhnlich sind«, sagte ein Gast hastig. Es handelte sich um den Sohn eines besiegten Kriegsfürsten.

Er sah mich beim Sprechen nicht an. Weder sein strahlendes Lächeln noch sein wohlüberlegtes Kompliment waren für mich bestimmt. Sie galten Siwang.

打狗还要看主人. Selbst wenn du den Hund schlägst, vergiss nie, wer sein Herr ist.

Erneut zwang ich mich zu einem Lächeln. Es schmeckte bitter wie nie.

»Es ist wahrhaftig ein einzigartiges Glück, die Ehrenwerte Lifeng in all ihrer Schönheit und mit all ihren Fähigkeiten bewundern zu dürfen, Euer Hoheit«, merkte ein anderer Gast an.

Am liebsten hätte ich gelacht. Was hatte Schönheit für einen Sinn? Welchen Sinn hatte all das hier?

Mein Blick fiel auf die wunderschönen jungen Frauen, die am Fest teilnahmen. Jede einzelne war in kunstvoll bestickte Roben gekleidet, in Felle gehüllt und trug goldene Anhänger mit schimmernden Edelsteinen zur Schau. Einige hatten rote Male zwischen den Augenbrauen aufgetragen, um das meine nachzuahmen. Andere waren sogar so weit gegangen, sich winzige Perlen auf die Stirn zu kleben, um den Phönix zu betonen.

Sie begehrten, was ich besaß, während ich mir nichts sehnlicher wünschte, als das Mal wie alten Puder abzuwischen und mit ihm die Prophezeiung auszulöschen.

Die Prinzessinnen und adeligen Töchter waren hier, um einen Blick auf die Söhne der Edelleute zu werfen. Um sich den reichsten oder mächtigsten Ehemann auszusuchen und dadurch ihren Vätern und Brüdern den Weg zu ebnen. Selbst diejenigen, die sich gar nicht zu Männern hingezogen fühlten.

Durch den Rauch der Feuerstellen beobachtete ich einen Mann, der offen die Hand einer jungen Dienerin mit großen Augen und seidigen Locken streichelte. Neben ihm saß in angespanntem Schweigen eine Frau mit hochgesteckten Haaren, wahrscheinlich seine Ehefrau.

Die Dienerin hastete davon und der Mann flüsterte dem Eunuchen in seiner Nähe etwas zu. Sein lüsterner Blick war so widerwärtig, dass es mir den Magen umdrehte. Seine Frau ließ es wortlos geschehen.

Sie war gezwungen, es hinzunehmen. Er war ihr Ehemann und Frauen, die nicht unter dem Schutz eines mächtigen Vaters oder Ehemannes standen, waren in dieser Gesellschaft kaum etwas wert.

Keine Macht. Kein Stand.

Ich knirschte so sehr mit meinen herrlichen weißen Zähnen, dass ich hoffte, sie brechen und splittern zu spüren. Ich wollte, dass sie sich in die grässlichen, scharfen Reißzähne eines Tigers verwandelten und Angst in die Herzen der Männer säten, die es wagten, mich lüstern anzusehen.

Stattdessen lehnte ich mich zurück und winkte den obersten der Eunuchen zu mir. »Lass diesen Mann nicht in die Nähe der Dienerin. Lass überhaupt keinen dieser Männer in die Nähe der Frauen.«

Er sah mich einen Moment lang an. »Diese Belange sollten nicht Eure Sorge sein, Ehrenwerte Lifeng.«

Ich warf ihm einen strengen Blick zu. »Wenn ich eines Tages Kaiserin bin, ist es meine Aufgabe, mich um das Wohlergehen der gesamten Dienerschaft des inneren Hofes zu kümmern.«

»Fei? Ist alles in Ordnung?«, fragte Siwang von seinem Podest. Er runzelte besorgt die Stirn.

Ich zwang mich zu einem letzten Lächeln für den Abend. »Ich fühle mich ein wenig unpässlich. Vielleicht habe ich mich während der Jagd erkältet.«

Hastig erhob er sich, verließ das Podest und kam zu meinem Tisch. Das Summen der Gespräche um uns herum wurde ein wenig leiser. Sobald er an meiner Seite angekommen war, ging er auf ein Knie nieder, sodass wir auf Augenhöhe waren, und legte mir eine Hand an die Stirn.

»Du scheinst kein Fieber zu haben. Ich werde dem Koch trotzdem auftragen, dir etwas Ingwersuppe und …«

»Nein!«, erwiderte ich zu schnell und zu laut. Das Geplauder verebbte endgültig und die Aufmerksamkeit sämtlicher Gäste verbrannte mir die Haut. »Es geht mir gut. Ich brauche nur eine Nacht lang Schlaf. Bitte schick niemanden zu mir, der mich stört.«

Ohne Siwangs Antwort abzuwarten, stand ich auf, neigte vor den Gästen den Kopf und ging davon.

7

In den Ställen war es dunkel und kalt. Ich zog in Erwägung, Beifeng mitzunehmen, der nicht nur das schnellste Pferd im ganzen Reich war, sondern auch Siwangs erklärter Liebling. Doch es würde bestimmt auffallen, wenn der wertvolle Hengst des Kronprinzen verschwand. Dasselbe galt für mein eigenes Pferd, auch wenn es bei ihm etwas länger dauern würde, als es bei Beifeng der Fall wäre. Letztendlich entschied ich mich für einen Hengst mit dichtem Fell am anderen Ende des Stalles, der den Wachen vorbehalten und dazu ausgebildet war, auch auf frostigen Böden zurechtzukommen.

In der Ferne glommen die flackernden Feuer des Lagers, Stimmen wurden zu mir herübergetragen. Mit Voranschreiten der Nacht war der Wein immer reichlicher geflossen, bis die Gäste zur lauten Musik sangen und tanzten. Entsprechend hervorragend war dieser Zeitpunkt geeignet, sich davonzuschleichen.

Ich trieb den Hengst an und rückte die Kapuze meines Umhangs zurecht. Ja, es war Betrug, sich davonzustehlen, bevor die Jagd eröffnet worden war. Aber der Kaiser hatte nie festgelegt, dass der Tiger während der Jagd erlegt werden musste.

Zum Henker mit allen Prinzipien: Ich konnte es mir nicht leisten zu verlieren.

Im Lauf der vergangenen Monate hatte ich mir in der Bibliothek möglichst viel Wissen über die legendären Tiger angeeignet. Ein entscheidender Punkt wurde in allen Schriften erwähnt: Sie jagten nur bei Nacht. Daher würde ich unter dem gnädigen Mondlicht am ehesten auf einen treffen; allerdings war dies auch der gefährlichste Zeitpunkt, um sich in die Berge zu wagen.

Als Kind hatte ich Siwang angefleht, mit ihm die Kampfkunst und Bogenschießen erlernen zu dürfen. Nicht weil ich mich sonderlich darum scherte, sondern weil es wenig damenhafte Beschäftigungen waren. Und je mehr Begeisterung ich dafür heuchelte, desto wütender wurden die Kinderfrauen und hochrangigen Palastdamen, die Stunden um Stunden damit zubrachten, mich in der Kunst der Etikette und den althergebrachten Regeln zu unterweisen.

Ich sehnte mich nach ihrem Zorn und wollte in jeder Prüfung versagen, die sie mir auferlegten. Ich glaubte damals, dass man mich nach Hause schicken würde, wenn ich mich als unwürdig erwies, Kaiserin zu werden.

Sie ließen mich nicht gehen. Doch heute Abend würde sich der Unterricht hoffentlich auszahlen.

Während mein Hengst die Berge hinauftrabte, bemühte ich mich, mich zu sammeln, und flehte das Schicksal an, mir einen kurzen Blick auf die Zukunft zu gewähren. Irgendetwas, das ich zu meinem Vorteil nutzen konnte. Es kam nichts dabei heraus.

Es lag nicht an mir, meine Visionen zu beherrschen. Sie waren ein Geschenk der Götter und Sterbliche konnten den Göttern nicht ihren Willen aufzwingen.

Auch wenn ich die Albträume hasste, war jede Vision kostbar.

Sie waren die einzige Macht, die ich in dieser Welt besaß. Und vielleicht auch das Einzige, was wirklich mir gehörte.

Als ich noch klein war, hatten meine Visionen und Träume aus kaum mehr als aufblitzenden Farben und Lauten bestanden. Doch je älter ich wurde, desto lebhafter wurden sie. Es gab auch Nächte, in denen ich mich immer noch überzeugen wollte, dass es sich lediglich um umfangreiche Träume handelte, befeuert von meiner blühenden Vorstellungskraft und der Langeweile im Palast.

»Bitte«, flehte ich die Ahnen über mir an, während ich die von Graupel bedeckten Pfade in den schneeüberzogenen Wald hinaufritt. »Lasst meinen albernen, kleinen Plan aufgehen. Lasst mich das Leid dieses Kontinents beenden und zum ersten Mal in meinem Leben frei sein.«

Am liebsten hätte ich an die Sterne und Götter gewandt hinzugefügt: Ihr sorgt besser dafür, dass ich diese Nacht überlebe. Wenn ich tot bin, gibt es keine Prophezeiung mehr und auch keinen Kaiser aller Kaiser.

Aber alles, was ich zustande brachte, war: »Bitte … Lasst mich nicht im Stich.«

Nachts war es in den Bergen viel lauter als am Tag. Die wilden Tiere waren im Schutz der Dunkelheit mutiger als im hellen Sonnenlicht. Ich hatte keine Fackel mitgenommen, da ich nicht gesehen werden wollte. Aber je weiter ich ritt, desto mehr bereute ich diese Entscheidung.

Ich wartete auf einen Fingerzeig des Schicksals, aber nichts geschah.

Kein Funken, kein Licht. Nur die Kälte der winterlichen Luft, die über meinen dicksten Fellumhang strich, und das Geräusch des frischen Schnees, der unter den Hufen des Hengstes knirschte.

»Wenn meine Albträume eine Strafe für das sind, was Rong in meinem Namen anrichtet, solltet ihr mir dann nicht helfen, mein Schicksal zu wenden?«, knurrte ich in die Dunkelheit hinein.

Die Dunkelheit antwortete nicht.

Ich hielt die Augen nach einem Aufblitzen von weißen und mitternachtsblauen Streifen zwischen den Bäumen offen, was sich dank des Schnees und der Äste jedoch als unmöglich erwies. Sollte tatsächlich ein Beiying-Tiger im Wald lauern, könnte er sich mit Leichtigkeit an mich heranschleichen und mich töten, bevor ich auch nur etwas ahnte.

Schließlich ließ ich die schlanken Kiefern hinter mir und erreichte uralte, moosbedeckte Bäume, deren Stämme dicker als meine Taille waren. Manche von ihnen mussten Hunderte von Jahren alt sein. Herrschaftliche Lebewesen, die schon über diese Berge gewacht hatten, bevor Rongs Banner über dem Land wehten, und auch noch Jahrhunderte nach Rongs Untergang ihre Wacht fortführen würden. Wenn jede lebende Kreatur tot war, wenn unsere Knochen vergilbt und begraben waren, ersetzt durch eine andere Generation von Reichen und Dynastien, die in ihrer Gewalttätigkeit und ihrem unersättlichen Hunger nach immer mehr Macht, Reichtum und Überfluss miteinander wetteiferten.

Würde es in hundert Jahren eine andere wie mich geben, die nächste Prophezeiung? Eine andere junge Frau, die sich nach einer Wahl, Selbstbestimmung und Freiheit sehnte? Danach, ein Leben zu führen, das mehr zu bieten hatte, als Erben zur Welt zu bringen und auf etwas Wärme seitens eines Ehemannes zu hoffen?

Als der Wald ausdünnte und ich in ein verborgenes Tal mit einem ruhig vor sich hin plätschernden Bach vordrang, stand der Mond hoch am Himmel und zehntausend Sterne funkelten am seidenen indigofarbenen Firmament über mir.

Ich sah zu den weißen Felswänden und den gefährlich steilen Pfaden auf, die die Jäger der Gegend hinterlassen hatten. Auf solch hohen Felskuppen lebten die Beiying-Tiger üblicherweise. Abgeschieden, weit entfernt von den niederen Kreaturen, die die Wälder durchstreiften.

Doch wie alle sterblichen Wesen mussten sie fressen, sodass die Tiger ihren Rückzugsort für die Jagd verlassen mussten.

Ich holte den Dolch hervor, den Fangyun mir geschenkt hatte. Legenden zufolge konnten Beiying-Tiger frisches Blut auf eine Meile Entfernung riechen.

»Dieses Jahr gibt es nur wenig Wild. Die Tiger werden sehr hungrig sein«, hatte General Xu bei unserer Ankunft im Lager nebenbei bemerkt.

Ich löste Fangyuns Dolch aus der Scheide und drückte die Klinge gegen meinen Unterarm.