To Gaze Upon Wicked Gods – Falsche Götter - Molly X. Chang - E-Book

To Gaze Upon Wicked Gods – Falsche Götter E-Book

Molly X. Chang

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Beschreibung

Ruying, bekannt als das vom Tod gesegnete Mädchen, will bloß überleben, aber als ihre Magiefähigkeiten von einem feindlichen Prinzen entdeckt werden, muss sie entscheiden, ob die Rettung ihrer Familie es wert ist, ihr Land zu verraten. Schon solange Yang Ruying lebt, ist das Reich Er-Lang von den Römern besetzt, deren fortschrittliche Wissenschaft und Militär sie zu Göttern machen. Aber diese Götter sind nicht gütig. Ihre einzigen Gaben: Grausamkeit, Opium und Zerstörung. Als Antonius, der zweite Prinz von Rom, Ruyings Macht aufdeckt, wird sie zu dem, was sie immer befürchtet hat: einer perfekten Attentäterin. Während die Spannungen zunehmen und sich eine Rebellion anbahnt, kann Ruying nicht länger leugnen, dass Frieden für Er-Lang ein Todesurteil bedeutet. Ein Tod, den sie vielleicht nicht bereit ist, zu vollstrecken.

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Seitenzahl: 539

Veröffentlichungsjahr: 2024

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INHALT

ANMERKUNG DER AUTORIN

TEIL 1: 天外之神 – GÖTTER EINER ANDEREN WELT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

TEIL 2: VENI, VIDI, VICI. Ich kam, sah und siegte.

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

ZWISCHENSPIEL: 此岸彼岸 – Augenblicke zwischen den Ufern

DER TOD

DAS MÄDCHEN

TEIL 3: 卧虎藏龙 – Kauernder Tiger, verborgener Drache

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

TEIL 4: 苦海无涯,回头是岸. Die See des bitteren Elends ist endlos, drehst du dich aber um, liegt das Ufer gleich hinter dir.

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

DANKSAGUNGEN

ANMERKUNG DER AUTORIN

Ich erinnere mich, wie mein Großvater weinte. Wie seine Stimme brach, wenn er flüsternd von den Geistern sprach, die die Mandschurei nicht losließen. Den Dämonen, die unartige Kinder aus ihren Betten entführten, um grausame Experimente an ihnen durchzuführen. Mein Leben lang dachte ich, diese Geschichten seien nichts weiter als mündlich überlieferte Volksmärchen. Erfundene Geschichten, die mich ängstigen und dazu bringen sollten, meine Hausaufgaben zu machen. Erst 2020, nachdem mein Großvater leider gestorben war und ich mich nach China sehnte – und sich mir zugleich vor Kummer und Leid die Brust zuschnürte, weil ich mit ansehen musste, wie in dem Land, für das ich meine Heimat verlassen hatte, der Hass gegen Asiaten überhandnahm –, wurde mir bewusst, dass diese Geschichten so viel mehr waren, als ich zunächst geglaubt hatte.

In meiner Verzweiflung, an meinen Großeltern und meiner Heimat festzuhalten, stieß ich auf einen Artikel über die Einheit 731, die während des Zweiten Weltkriegs eine Einrichtung in der Stadt Harbin hatte – gerade einmal zwanzig Minuten von dem Ort entfernt, in dem ich aufgewachsen war. Ich erkannte, dass die Geistergeschichten, die meine Kindheit geprägt hatten, niemals nur Geschichten gewesen waren. Sie waren Erinnerungen, die in der Realität verwurzelt waren und ein Teil der Vergangenheit, den zu viele Menschen vergessen haben. Obwohl also To Gaze Upon Wicked Gods eine erfundene Geschichte ist, wurde sie doch von wahren Begebenheiten inspiriert, und zwar in jeder Hinsicht, von den verabscheuenswerten Experimenten bis hin zu den Männern, die sich wie Götter aufgeführt haben. Die entsetzlichen realen Ereignisse, die sich in der Mandschurei in der Zeit der russischen und japanischen Besetzung zugetragen haben, verdienen es, nacherzählt und erinnert zu werden.

Was den Menschen der Mandschurei und Chinas widerfahren ist, war so traumatisch, so qualvoll, dass die Überlebenden das Erlebte einfach nicht als geschichtliche Ereignisse weitererzählen konnten. Also woben mein mandschurischer Großvater und sein Volk daraus Gruselgeschichten, die finstere Spuren des Paranormalen enthielten, von Geistern und Dämonen. So wurden aus den Erinnerungen der Vergangenheit Volksmärchen, die von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben wurden, während die Japaner die Existenz von Einheit 731 leugneten und damit auch das vergossene mandschurische Blut, den Schmerz und das Trauma, unter dem durch Tränen miteinander verbundene Generationen gelitten haben.

Die Geschichten meines Großvaters waren wie ein Samenkorn und ich hoffe, wenn er heute noch leben würde, wäre er stolz auf den Baum, der daraus gewachsen ist: Geschichten von Volksstämmen und Kaiserreichen, vom Schmerz und Leid unseres Volkes, von der sibirischen Wildnis und den Vorfahren, die einen Völkermord nach dem anderen überlebt haben. Wie glücklich ich mich doch schätzen kann, mandschurisches Blut zu haben und auf mandschurischem Boden aufgewachsen zu sein. Mein Großvater sagte immer, wenn unsere Vorfahren das sibirische Eis überleben konnten, können wir alles überleben.

Wenn er meine Protagonistin, Ruying, hätte kennenlernen können, hoffe ich, dass er stolz auf ihren verbissenen Überlebenswillen gewesen wäre. Genau wie unsere Vorfahren, die in einer Zeit aufwuchsen, in der niemand sicher war und in der die Menschen alles getan hätten, um zu überleben.

Hunger und Armut. Die Liebe zur Familie, das Gefühl der Ohnmacht, als uns Stück für Stück alles genommen wurde, was unserer Kultur, unserem Volk heilig war, weil China die Geschosse und Flugzeuge der westlichen Invasoren mit Pfeil und Bogen bekämpfte. Aber was, wenn wir mehr als das gehabt hätten? Mein Großvater hat die Vergangenheit mit Dämonen verwoben. Ich entschied mich, seine Geschichten mit Hoffnung zu erfüllen. Denn was wäre, wenn es die Magie aus den uralten Legenden über Götter und Helden tatsächlich gegeben hätte? Wenn wir diese Magie gehabt hätten, um ihre Wissenschaft zu bekämpfen?

Was wäre dann geschehen?

Was dann?

Was …?

Im Grunde handelt To Gaze Upon Wicked Gods von vielen Dingen. Es handelt von den vergessenen Geschichten aus Chinas Jahrhundert der Demütigung und den schweren Entscheidungen, die man treffen muss, um in einer unbarmherzigen Welt zu überleben. Es handelt von einem asiatischen Mädchen, dem beigebracht wurde zu schweigen, das sich aber danach sehnte, gehört zu werden. Im Grunde jedoch ist es eine Geschichte über das Einwandern und die Opfer, die man bringen muss – Ozeane und Welten zu überqueren, Entbehrung und Ungewissheit zu ertragen –, um denen, die man liebt, ein besseres Leben zu ermöglichen.

Ich hoffe, dass ihr dieses Buch genauso sehr lieben werdet, wie ich es liebe. Ich hoffe, dass ihr Ruyings Geschichte lest und sie nicht als Schurkin seht, sondern als ein Mädchen, das seine Familie liebt, als ein Opfer der grausamen Welt, in die es hineingeboren wurde, als jemanden, der alles daransetzt, die zu retten, die sie liebt. Selbst wenn das bedeutet, dass sie dafür ihre Moralvorstellungen aufgeben und für den Feind unverzeihliche Dinge tun muss, solange sie dadurch ihre Familie beschützen kann.

TEIL 1

天外之神

GÖTTER EINER ANDEREN WELT

Irgendwo zwischen dem Leben und dem Tod

liegen unsere zwei Welten,

die eine erfüllt von Magie,

die andere geprägt durch die Wissenschaft.

Pangu war ein Paradies,

in dem der Mensch und die Magie

in Einklang lebten.

Rom dagegen ein Reich aus einer anderen Welt,

in der elektrische Lichter die Nacht vertrieben

und Motoren mit Abgasen liefen.

Unsere zwei Welten existierten nebeneinander,

durch einen vom Schicksal geknüpften Schleier

getrennt,

bis die Römer, Göttern gleich, in bewaffneten

Flugzeugen aus dem Himmel herabkamen.

Am Anfang begrüßten sie uns mit einem Lächeln.

Als wir sie mit unserer Magie beeindruckten,

faszinierten sie uns mit ihrer Technologie,

die das Unmögliche möglich machte.

Ein Abkommen wurde unterzeichnet.

Das Zeitalter eines friedlichen Zusammenschlusses.

Wir dachten, sie wären wohlwollend, gütig.

Doch dann …

1

Der Himmel weinte wieder.

Überall um mich herum weinte meine Welt. Graue, eisige Tränen glitten sanft über meine Haut und ließen mich trotz der Spätsommerhitze frösteln. Entschlossenen Schrittes ging ich an dem Zaun vorbei, der meine Stadt in zwei Hälften zerschnitt. Römische Soldaten standen Wache, wobei sie die Waffen, die unsere Albträume heimsuchten, so fest umklammerten, dass ihre Knöchel weiß hervortraten, bereit, mich bei jedem vermeintlichen Affront zu erschießen.

Ich hasste diese Männer. Hasste ihre strengen, fremden Gesichter und ihre fremden Kleider, die sie von der anderen Seite des Portals, das nun unsere zwei Welten miteinander verband, mitgebracht hatten. Ein schimmernder Riss, der hoch oben im düsteren Himmel bedrohlich über meiner zerrütteten Stadt hing, wie das allsehende Auge eines rachsüchtigen Gottes, der nicht hier war, um uns zu lieben und zu beschützen, sondern um uns zu foltern.

Uns unvorstellbare Schmerzen und Leid zuzufügen, wie es die Römer nun schon seit über zwei Jahrzehnten taten.

Jeden Tag verfluchte ich diese Straße, diesen Zaun, die geladenen Waffen, die sie bei sich trugen, jede Spur Roms, die meine Welt verunstaltete wie ein Fleck, der sich nicht auswaschen ließ.

Und dennoch neigte ich den Kopf, wenn ich Woche für Woche von den wachsamen Adleraugen der Soldaten beobachtet diese Straße entlangging, um meiner Schwester ihr Opian zu besorgen. Die Droge, die sie schleichend umbrachte, ohne die sie allerdings so schnell sterben würde wie eine Blume, deren Stängel durchtrennt worden war. Wenigstens würde Meiya dank des Opians vielleicht noch zwei, drei weitere Jahre durchhalten können – oder sogar fünf, wie Vater.

Ohne Opian dagegen würde sie womöglich nicht einmal die nächste Jahreszeit erleben.

Manchen Römern waren die Abscheu und der Hass deutlich ins Gesicht geschrieben, andere wiederum grinsten lüstern. Einer von ihnen spitzte die Lippen und stieß einen schrillen Pfiff aus, der mir einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Die Magie des Todes summte leise unter meiner Haut: eine Glut, die nur darauf wartete, zu einem Lauffeuer zu entflammen, sobald ich es zuließ.

Ich hatte keinen Grund, diese Männer zu fürchten. Mit meinen Kräften hatte ich keinen Grund, irgendjemanden zu fürchten.

Eine einfache Geste hätte genügt, um in die trostlosen Grautöne des Reichs des Todes einzutauchen und ihren Körpern das Qi zu entziehen, bis nur noch leblose Hüllen zurückblieben. Es war eine ständige Versuchung, auch ihnen für all das, was sie uns genommen hatten, etwas zu nehmen.

Doch Großmutter hatte mir beigebracht, vorsichtig zu sein. Ein Mädchen konnte nie vorsichtig genug sein in diesem Zeitalter der kolonialen Zerstörung, in der der Frieden zwischen Magie und Wissenschaft am seidenen Faden hing.

Ich könnte einen von ihnen umbringen, mit etwas Glück auch zwei oder sogar drei, aber nicht alle. Nicht all die Römer, die mit arrogant erhobenem Kopf durch die Stadt marschierten und sich das Recht herausnahmen, alles und jeden für sich zu beanspruchen, wie es ihnen beliebte.

Obwohl inzwischen Jahre vergangen waren, blieben die Erinnerungen an das erste Mal, dass ich mit ansehen musste, wie ein Panguer kaltblütig von den Römern ermordet wurde, so lebendig wie ein Traum, aus dem ich eben erst erwacht war.

Damals war ich noch ein Kind und Vater war noch am Leben und hatte noch einen Funken Güte im Herzen.

Es war eine Hinrichtung, Mord durch Erschießen. Und derjenige, der den Abzug gedrückt hatte, war niemand Geringerer als der älteste römische Prinz: Valentin Augustus. Gerade einmal drei Jahre älter als ich, hatte er vor Hunderten von Augenzeugen einen Mann erschossen, nur weil dieser es gewagt hatte, mit seinen schmutzigen Händen die makellose Kleidung des Prinzen zu berühren und ihn um die Münzen anzubetteln, die dieser achtlos in den Taschen aufbewahrte. Münzen, die es einem Vater erlaubt hätten, sein verhungerndes Kind zu ernähren.

Wenn ich die Augen schloss, konnte ich noch immer spüren, wie Vater zitternd meine Hand festhielt, die Angst riechen, die wie ein fauler Gestank von der Menschenmenge ausging. Dieselbe Angst, die auch meine Haut verströmte, sobald der himmelzerreißende Schuss ertönt war. Ein Urinstinkt, der tief im Innersten meines Körpers verwurzelt war.

Das Böse floss wie Blut durch römische Adern, doch Valentin Augustus, so hieß es, sei schlimmer als das Böse selbst.

Auch über seine Brüder wurde in der Stadt gemunkelt.

Der zweitälteste Prinz, der gemeinsam mit Valentin auf Pangu lebte, jedoch noch nie auf unserer Seite des Zauns gesehen worden war.

Der dritte und jüngste Prinz, der blutrünstige militärische Zögling ihres Großvaters, der als Einziger der drei als dessen rechte Hand in Rom verweilte.

Ihr mächtiger, aber verhasster Großvater, der mit seiner Verachtung für mein Volk die Politik unserer zwei Welten prägte und mit seinem gefühllosen Herzen mein Reich zu diesem schmerzlichen Schicksal verdammt hatte.

Alle waren sie grausam und abscheulich. Die Macht und Privilegien dieser Römer nährten ihre Bosheit wie das Öl die Flamme.

Also achtete ich auf jeden meiner Schritte, die Hände vor der Brust verschränkt, wo man sie sehen konnte. Mucksmäuschenstill, starr und scheu wie ein davongleitender Geist. So hatte man uns beigebracht, uns in ihrer Anwesenheit zu bewegen.

Zu oft hörte man Geschichten von schießwütigen Soldaten.

Zu oft hatte ich die mahnenden Worte meiner Großmutter gehört.

Ein falscher Schritt und sie würden es mir vergelten, indem sie meine Familie abschlachteten, wie sie es bereits unzählige Male mit den Patrioten und Märtyrern getan hatten, die sich weigerten, vor ihnen niederzuknien.

Jeder in dieser elenden Stadt kannte jemanden, der durch die grausamen Hände der Römer gestorben war. Sie spielten sich auf wie Götter und hatten mit ihren Maschinen und ihrer Wissenschaft unser einst so großes Kaiserreich dazu gebracht, um Gnade zu winseln.

Geschichten des Grauens und der Ehrfurcht verwoben sich ineinander. Wann immer sie durch die Straßen streiften, hüteten wir uns, ihnen zu nahe zu kommen.

Wenn es nicht Prinz Valentin war, war es irgendein anderer römischer Adliger oder Soldat, der unsere zerfallende Stadt in Schrecken versetzte. Männer, die meinesgleichen aus Begierde oder Zorn oder einer verdorbenen Kombination aus beidem von den Straßen zerrten, sie am helllichten Tag in Gassen schleiften, wo alle, die vorbeikamen, ihre entsetzten Schreie hören konnten. Nur wenige waren mutig genug, einzuschreiten – und noch weniger dieser mutigen Seelen war es vergönnt, davon zu berichten.

路见不平, 拔刀相助. Wenn du jemanden in Not siehst, zieh dein Schwert und hilf.

Doch was konnte eine Klinge schon gegen eine Kugel ausrichten?

Magie gegen Wissenschaft?

Warum sollte man sich um Gerechtigkeit bemühen, wenn diese unmoralischen Monster sich über jeglichen Anstand erhoben, jegliche Regeln? Wer würde sie bestrafen? Diese Sterblichen, die sich wie Götter aufführten und solche Macht besaßen, dass selbst unser junger Kaiser Yongle vor ihnen den Kopf neigen und seine Würde mit Füßen treten lassen musste – genau wie vor ihm schon sein Vater.

Wie tief unser großes Kaiserreich doch gesunken war: von einem strahlenden Leuchtfeuer der Macht, das den gesamten Kontinent erhellte, zu einer zappelnden Marionette, die sich den Befehlen Roms widerstandslos beugte.

Und das alles innerhalb von gerade einmal zwanzig Jahren.

Während der Vorfall mit Prinz Valentin das erste Mal war, dass ich die Kaltblütigkeit der Römer selbst hatte mit ansehen müssen, war es bei Weitem nicht das erste Mal, dass so etwas in unserem Land passiert war.

Geschweige denn das letzte.

Einmal hatte ein schon altersschwacher Vater versucht, Gerechtigkeit für seinen Sohn einzufordern, der von ein paar betrunkenen römischen Ministern ermordet worden war, weil er es gewagt hatte, ihnen verächtliche Blicke zuzuwerfen, anstatt sich respektvoll zu verneigen. Eine Geste des Trotzes, die ihn das Leben kostete. Der Vater hatte vor den römischen Toren geweint und getobt, bis die Wachen ihn mit einem einzigen schnellen Schuss niedergestreckt und seine Leiche dann einen ganzen Monat lang am Zaun aufgehängt hatten.

Eine offizielle Warnung an alle, die es wagten, sich dem Römischen Reich zu widersetzen.

Weder der Kaiser noch seine Stadtgarde oder all die Generäle und Gouverneure, die uns beschützen sollten, hatten auch nur einen Finger gerührt oder ein einziges Wort gesagt.

Die Römer konnten uns schlagen, uns töten, uns unaussprechliche Dinge antun, doch solange sie auf ihre Seite des Zauns zurückkehrten, bevor die Obrigkeiten sie zu fassen bekamen, konnten sie nicht bestraft werden.

Allerdings gab es ohnehin niemanden in der Stadt Jing, der mutig genug gewesen wäre, einen Römer zu verhaften, denn das würde bedeuten, einen Krieg zu entfachen.

Und kein halbwegs vernünftiger Mensch würde wegen ein paar verlorener Leben willentlich etwas derart Schreckliches heraufbeschwören. Die Römer waren sich dessen bewusst und sie zögerten nicht, ihre Macht zu missbrauchen.

Die Gesetze der Sterblichen gelten nicht für Götter, lautete ein in Trauer und Leid geraunter Spruch unseres Volkes.

Es mochte unsere Welt sein, unsere Heimat, unser Land, doch mit ihren Gewehren und Granaten, ihren Flugmaschinen und Waffen, die selbst die schlimmsten Albträume übertrafen, hatten sich die Römer gewaltsam in unser Leben gedrängt.

Der Krieg, der meinen Großvater vor fast zwanzig Jahren getötet hatte, begann und endete, unmittelbar bevor ich geboren wurde, denn um uns zu schlagen, hatten die Römer kein Jahr gebraucht, nicht einmal einen Monat oder eine Woche.

Sie hatten uns an einem einzigen Tag besiegt.

Wie ein heftiger Sturm brachen damals die Flieger am Himmel über die Heereslager von Er-Lang herein und ließen Flammen und Kugeln auf sie herabregnen. Einen solchen Kampf hatte unser Kontinent noch nie gesehen.

Und von diesem Tag an knieten wir nieder, wann immer Rom es uns befahl, denn wir wussten, einen Krieg zwischen Magie und Wissenschaft könnten wir niemals gewinnen.

Nach der Niederlage gaben wir ihnen alles, wonach sie verlangten. Niemand wusste, was das Friedensabkommen genau umfasste oder was unser Kaiser alles aufgegeben hatte, um sicherzustellen, dass in unserem Reich nie wieder Krieg herrschte.

So funktionierte Macht nun einmal. Die Untertanen erfuhren nie von den Entscheidungen ihres Kaisers. Also klammerten wir uns an jedes noch so kleine Gerücht, während sich unsere Stadt vor unseren Augen veränderte. Die westliche Hälfte der Hauptstadt wurde den Römern übergeben, die Einwohner entweder gewaltsam von dort vertrieben oder, sofern sie es wagten, sich den Wünschen der grausamen Tyrannen zu widersetzen, unmittelbar am Zaun, wo alle es sehen konnten, hingerichtet. Opian – die Droge, die diesen beschämenden Blitzkrieg angeblich ausgelöst hatte – flutete die Straßen aufgrund haltloser Behauptungen, dass es die Gabe der Xianling verstärken und selbst in denen, die gabenlos geboren wurden, Magie erwecken könne.

Jahre vergingen wie im Flug und trotz der krisenhaften Zeiten wurden Kinder geboren und großgezogen.

Heute existierte Er-Lang nur noch als Name, denn nachdem unser einstiger Kaiser gestorben war und sein letzter überlebender Sohn – der genau wie Prinz Valentin drei Jahre älter war als ich – den Thron bestiegen hatte, war unsere Lage nur noch schlimmer geworden.

Und obwohl die Römer sich gottgleich gaben, weigerten sie sich, unsere endlosen Gebete zu erhören. Statt uns mit Güte zu begegnen, bescherten sie uns nichts als Kummer und Qualen, unsäglichen Herzschmerz und politische Unruhen, die unseren einstigen Kaiser derart belastet hatten, dass er dem Stress schließlich erlegen war. Allerdings gab es auch diejenigen, die behaupteten, er sei in Wahrheit an einer Überdosis Opian gestorben und dass er das rechtswidrige Verhalten der Römer einfach so geduldet und sie mit ihren Sünden ungestraft habe davonkommen lassen. Und das alles nur, damit sie ihn weiter mit ihrer vermeintlich so himmlischen Droge versorgen.

Mit angespanntem Kiefer lief ich an einer Straßenkünstlerin vorbei, die mit honigsüßen Worten und wirbelnden Schatten gerade eine kleine Zuschauerschar verzauberte und die uralten Zeilen rezitierte, die uns von Kindesbeinen an beigebracht wurden: »Irgendwo zwischen dem Leben und dem Tod liegen unsere zwei Welten, die eine erfüllt von Magie, die andere …«

2

Ich bog in eine festlich geschmückte Straße ein, in der Händler lärmend ihre Stände für den Nachtmarkt vorbereiteten. Der Geruch frisch zubereiteter Speisen und kandierter Naschereien stieg mir in die Nase und ließ mir das Wasser im Mund zusammenlaufen.

Der Lotusturm stand nicht weit entfernt von dem Zaun, der unsere Stadt teilte, und überblickte eine Reihe neu erbauter römischer Häuser und Cafés, an denen Schilder verkündeten: ZUTRITT FÜR PANGUER VERBOTEN.

Obwohl sie sich bereits eine Hälfte der Stadt einverleibt hatten, breiteten sich die Römer immer weiter aus. Sie wussten, dass niemand sich ihnen in den Weg stellen würde, und schienen nie genug zu bekommen, ganz gleich wie viel sie sich auch nahmen.

Sei es durch legale Geldgeschäfte oder zwielichtige Erpressungen, sie kauften unser Land Stück für Stück auf und wir hatten keinerlei Möglichkeit, sie daran zu hindern.

Deshalb ragte nun dort, wo einst das geschäftigste Teehaus im Herzen Jings gestanden hatte, ein Turm empor, eine allseits bekannte Opianhöhle, in der es von Sünde nur so wimmelte.

Unter opulenten roten Deckenbalken und halbmondförmigen Bogengängen war die Welt erfüllt von tanzendem Qualm und flatternder Seide, die sich wie eine durchsichtige zweite Haut um die Körper ihrer Träger hüllte. An fleischigen Händen funkelten Jade und Gold, die Taschen hatten sie voller Silber. Warmer, zärtlicher Atem und süße Seufzer schwebten durch die Luft und vermischten sich mit dem sanften Lachen der jungen Dienerinnen und Diener.

Ich zog den Satinschleier, der alles unterhalb meiner Augen verbarg, eng um mein Gesicht.

Dies war kein Ort für ehrenhafte Mädchen und zu viele von Er-Langs Elite besuchten regelmäßig diese Salons. Worte waren wie Wasser, ein einziges Gerücht genügte, um den guten Ruf eines Mädchens für immer zu ruinieren. Wenn ich mir einen anständigen Ehemann sichern wollte, durfte mich hier niemand erkennen.

Dennoch entdeckte mich Azi, sobald ich auch nur einen Fuß in das verqualmte Foyer gesetzt hatte. Ich war nicht das erste Mal hier, auch nicht das zweite oder das dritte. Meine Schwester brauchte ihren Vorrat immer in Windeseile auf. Ich konnte mich glücklich schätzen, dass Baihu mir die Droge so gut wie umsonst gab.

Zumindest vorerst.

Schnell rein, schnell wieder raus, und bloß keine Fehler machen. Ich konnte mir keinen weiteren Streit mit ihm erlauben, nicht wenn Meiyas Leben von den milden Gaben des Weißen Tigers abhing.

Azi empfing mich mit einer tiefen Verbeugung, wobei der spärliche Seidenstoff gefährlich tief von ihren entblößten Schultern rutschte. Ihre Lider waren mit römischem Lidschatten beschmiert, und als sie durch den akkurat geschnittenen Pony zu mir aufsah, lag etwas Verführerisches in ihrem Blick. Doch alles, was ich sah, waren die blauen Flecke, die sie vergeblich zu verbergen versuchte.

Sie lächelte mich sanft an, herzlich und vertraut, und all die verächtlichen Gedanken und Sorgen verflogen.

Das war Azis Gabe: Vertrauen, Geborgenheit, die Fähigkeit, Gefühle zu beeinflussen. Baihu behielt sie bei sich, um mächtige Männer zu umgarnen, sie dazu zu bringen, sich ihr zu öffnen und ihr ihre Geheimnisse zuzuflüstern. Die dadurch gewonnenen Informationen setzte er dann als Druckmittel in seinen politischen Machtspielchen ein.

Der Lotusturm triefte nur so vor Geheimnissen und Lügen, doch Gold und Opian waren nicht die einzigen Dinge, mit denen hier gehandelt wurde. Die richtigen Informationen von den richtigen Männern waren wertvoller als jeder Opianvorrat, selbst der einer ganzen Stadt.

»Ist er da?«, fragte ich, wobei ich inständig hoffte, dass er es nicht war.

Baihu verbrachte nur wenige Tage des Monats in Jing, noch weniger hier im Lotusturm. Niemand wusste, wo er sich die restliche Zeit über aufhielt, und ich wollte es auch gar nicht wissen. Wenn er nicht hier war, umso besser. Azi würde mir die Droge geben und ich könnte mich, ohne ihn sehen zu müssen, wieder auf den Heimweg machen.

Doch dieses Glück war mir heute nicht vergönnt.

Azi nickte fast unmerklich und alles in mir zog sich zusammen.

»Qing.« Bitte. Sie deutete auf eine ausladende Treppe, die nach oben und aus dem verrauchten Foyer hinausführte. Ringsherum lungerten Gelegenheitskunden auf roten Seidenkissen und reichten kichernd lange Opianpfeifen im Kreis herum, wobei sie wie rückgratlose Puppen aus Fleisch und Begierde schwankten. »Er wartet bereits.«

Ich drückte den Handrücken gegen die Nase, weniger um mein Gesicht zu verbergen, als vielmehr um zu verhindern, dass ich den ekelhaft süßlichen Duft des Opians einatmete – ein Geruch, der stets dunkle Erinnerungen in mir weckte: an Vater, wie er besinnungslos im Innenhof lag, an Großmutter, wie sie weinte, und die Kredithaie, die wutentbrannt an unsere Tür hämmerten.

Bei diesem Geruch fühlte ich mich wieder, als wäre ich sieben Jahre alt. Weinend kauerte ich in den Schatten, während ich hilflos zusehen musste, wie Fremde Teile unseres Zuhauses davontrugen. Mein Magen verkrampfte sich vor Hunger, während der heulende Winterwind an meiner tauben, aufgerissenen Haut zerrte, weil Vater unser ganzes Geld für Opian rausgeschmissen hatte, statt Feuerholz zu kaufen, es verschwendet hatte, bis nichts mehr übrig war, nicht einmal für Essen.

Ich schüttelte die Erinnerung ab. Konzentrier dich.

Als ich Azi die knarzenden Holzstufen hinauf folgte, verklang die Melodie der Guqin und der römischen Trommeln in der Ferne.

Die Türen, an denen wir vorbeikamen, boten nur wenig Privatsphäre. Durch die mit Papier bedeckten Ziergitter drang sowohl das schallende Gelächter von draußen als auch das leise Gekicher von drinnen. Je höher wir stiegen, desto ruhiger wurden die sich windenden Flure und desto privater auch die Räume. Die eben noch spärlich dekorierten Wände füllten sich mit Schnitzereien und Wandteppichen, Jadestatuen und feinen Vasen – wertvolle Stücke unserer Vergangenheit, die Kriege und wechselnde Dynastien überdauert hatten, nur um am Ende diesen schwelenden Sündenpfuhl zu zieren. Scheiben aus Glas und schwere Eisentüren schützten die Geheimnisse wichtiger Männer sowie die seltenen römischen Kunden, die diesen Ort für den Alkohol und die hübschen Gesichter aufsuchten oder auch für die geschwätzigen Verräter, deren Zungen sie mit Gold lockerten.

Aber niemals für Opian.

Die Römer wussten genau, wie tödlich diese Droge war, ungeachtet der verlockenden Lügen, die sie unter meinesgleichen verbreiteten.

Baihus Büro lag in der obersten Etage, weit weg von den widerlichen Opianschwaden, an einem geheimen Ort versteckt.

Azi klopfte dreimal. »Fräulein Yang ist hier.«

»Schick sie herein«, kam die Antwort von innen.

Azi trat beiseite. Als ich nach der Türklinke griff, packte sie mein Handgelenk, ihre Berührung fest und warnend. »Er ist ein guter Mann. Sei nicht so streng mit ihm.«

Ein Mann, der sich auf Opian einlässt, kann gar nicht gut sein, geschweige denn ein Mann, der es verkauft, hätte ich beinahe entgegnet, verkniff es mir aber.

Ich war eine Spielfigur in Baihus Hand und musste nach seinen Regeln spielen.

Das Kinn gesenkt, zwang ich mich zu einem Nicken.

Die Tür öffnete sich. Ich schluckte meinen Stolz hinunter und betrat die Höhle des Tigers.

3

Baihu.

Der Weiße Tiger.

Der Mann, der mir auf der anderen Seite des Tisches gegenüberstand, trug einen dreiteiligen karmesinroten Anzug – die Farbe von Blut, wie es der römischen Mode entsprach – und hatte nichts mehr mit dem niedlichen, errötenden Jungen aus meinen Kindheitserinnerungen gemein. Dem Freund und Nachbarn, dessen schwächliche Mutter im Winter gepökeltes Fleisch und eingelegten Kohl gegen unseren Reis getauscht hatte. Dem Jungen, der zum Neujahrsfest mit mir auf dem Dach sitzend das Feuerwerk betrachtet und in meinen Armen geweint hatte, als seine Mutter krank und sein adeliger Vater gewalttätig und grausam wurde, wie schon mein Vater vor ihm.

Natürlich war Baihu mit seinen zwanzig Jahren längst kein kleiner Junge mehr.

Genau wie ich war er zu schnell erwachsen geworden.

Doch während ich mich noch an meine Würde klammerte, hatte Baihu seine bereits vor drei Jahren, als er die Gewänder unseres Volkes abgelegt und seinen Zopf abgeschnitten hatte, aufgegeben. Jetzt trug er das Haar kurz und in römischer Manier nach hinten gekämmt. Jeden Tag ähnelte er ihnen mehr, den falschen Göttern auf der anderen Seite des Zauns, als könnte er es kaum erwarten, seine alte Haut abzustreifen und, von seiner neuen, erhabenen Position als Prinz Valentins rechte Hand aus, seine Vergangenheit und jegliche Ähnlichkeit, die er mit uns hatte, auszumerzen.

In den Augen anderer mochte er gut aussehend und schön sein: ein Mann, den Nüwa selbst liebevoll von Hand erschaffen hatte.

Für mich war er nichts als ein Verräter. Einer von ihnen.

»Du bist zurück«, sagte er, die Stimme sanft wie eine herabfallende Feder.

»Das ist das letzte Mal«, erklärte ich ihm. »Meiya wird damit aufhören. Sie kommt schon viel besser ohne das Opian aus. Bald brauchen wir deine Almosen nicht mehr.«

Ein halbherziges Lächeln. »Das hast du letztes Mal auch schon gesagt.« Sein Tonfall war weder drohend noch böswillig. Er klang unschuldig und hatte die Augenbrauen zusammengezogen, als wäre er ehrlich besorgt.

Mein hämmerndes Herz wurde zu einem schweren, harten Klumpen. Opian war ein Gift, und wer einmal davon abhängig war, überlebte nur selten den Schmerz, der mit dem Entzug einherging, oder die damit verbundenen Auswirkungen auf den Körper, der immer mehr abbaute. Die Chancen standen nicht gut für meine Schwester, und das würden sie auch nie.

Nichtsdestotrotz glaubte ich an sie. Meiya war stark und tapfer. Sie würde ihre Sucht überwinden.

Das musste sie.

Opian hatte uns schon den Vater genommen. Ich weigerte mich, ihm auch noch meine Schwester zu überlassen.

Doch mein Glaube an sie machte es nicht leichter, immer wieder aufs Neue zum Lotusturm zu kommen.

Zu behaupten, dass Er-Lang Baihu böse sei, wäre übertrieben, zu behaupten, er sei unschuldig, jedoch eine Lüge. Er existierte irgendwo dazwischen: in der Grauzone zwischen Schwarz und Weiß.

Vor langer Zeit, bevor seine Mutter ihr Leben weggeraucht hatte, um die Schmerzen, die ihr kranker Körper ihr bereitete, zu lindern, und er für Macht und Reichtum seine Treue an die Römer verkauft hatte, war Baihu mein Freund gewesen. Jemand, den ich bewunderte. Jemand, der großmütig, gütig und treu war.

Doch das war einmal.

»Vielleicht ist Opian gar nicht so schlimm, wie du denkst«, sagte er, die Stimme kalt wie ungetragene Seide. »Viele loben es für seine himmlischen Eigenschaften, weißt du? Außerdem steigert es die Kräfte der Xianling, stärkt eure Magie. Es heißt, selbst der verstorbene Kaiser sei davon begeistert gewesen.«

Die Frustration loderte dunkelrot. Sie schmeckte nach Asche, als ich versuchte, sie hinunterzuschlucken, versengte mir die Kehle und ballte sich in meiner Lunge. »Ja, dermaßen begeistert, dass er seine eigene Tochter den Römern geopfert hat, als diese drohten, die Opianlieferungen zu halbieren«, erwiderte ich scharf und bereute es sofort.

Die wunderschöne und gütige Prinzessin Helei war der Liebling unseres verstorbenen Kaisers gewesen: 掌上明珠, die Perle in seiner Hand, sein Augenstern. Jetzt diente sie nur noch als Sicherheit für die Römer, eine Geisel auf der anderen Seite ihres unüberwindbaren Zauns, die sie auf der Stelle töten würden, sollte Er-Lang es je wagen, sich der Herrschaft Roms zu widersetzen.

Was ich gesagt hatte, stimmte, allerdings war Baihu der Letzte, den ich beleidigen oder kränken sollte. Rom stärkte ihm den Rücken und er hatte Zugang zum Prinzen. Im Grunde war er einer von ihnen. Ein Gott unter den Menschen. Über das Gesetz, über den Kaiser, über alles erhaben. Mit einem bloßen Fingerschnippen könnte er mir das Leben zur Hölle zu machen.

»Das ist nur ein Gerücht.« Er lächelte. »Und selbst wenn es wahr wäre, was ist schon dabei, wenn die Römer sich absichern möchten, damit der junge Kaiser ihnen nicht in den Rücken fällt, wie es so viele seiner Berater von ihm verlangen? Glaubst du etwa, die Römer bekämen nicht mit, was in den Teehäusern geflüstert wird, wüssten nichts von den Briefen, die auf den Nachtmärkten ausgetauscht werden, dass das Phantom und dessen Gesindel die Menschen gegen sie aufhetzen und die Dorfbewohner zu einer Rebellion aufstacheln wollen?«

»Dieses Land gehört den Römern nicht. Es steht ihnen nicht zu, uns vorzuschreiben, wie wir zu leben haben.« Diese Menschen haben das Recht zu rebellieren. Mehr zu wollen, sich ein besseres Leben zu wünschen. Doch ich konnte mich nicht durchringen, diese letzten Worte auszusprechen. Zu groß war die Angst, ihn wütend zu machen, zu groß das Bewusstsein, dass meine allzu sterbliche Schwester auf sein Opian angewiesen war.

»Aber dem Kaiser schon?«, entgegnete Baihu. Sein Blick war so durchdringend, so tödlich, dass ich beinahe zusammenzuckte. »Wer hat ihm das Recht dazu gegeben, Ruying? Nur weil er vom richtigen Schoß mit dem richtigen Familiennamen geboren wurde?«

Worte aus Stacheldraht, in die Baihu sich eingehüllt hatte, um seinen Schmerz und Kummer zu verbergen. Denn wenn die richtige Mutter ihn geboren hätte, wenn er ein eheliches Kind gewesen wäre, würde er nicht nur das Blut des Kaisers teilen, sondern auch das Geburtsrecht, das ihn zur Thronfolge berechtigt hätte. Und wenn Baihu ein legitimer Sohn des Kaisers wäre, mit der Macht zu herrschen, vielleicht hätte er seiner Heimat dann niemals den Rücken gekehrt.

Mit seiner Entschlossenheit und seinem Scharfsinn würde Er-Lang heute vielleicht anders aussehen.

Unsere ganze Welt würde vielleicht anders aussehen.

»Die Zeit der alten Götter ist vorbei, Ruying. Die Magie ist von Generation zu Generation immer seltener geworden. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir neuen Göttern huldigen, jetzt, da die alten nicht mehr da sind.«

Baihu hatte recht. Schon bevor die Römer in unsere Welt eingedrungen waren, war die Magie mit jeder Generation seltener geworden und schwieriger anzuwenden. Die Gabe der Götter schwand nach und nach aus unseren Adern – das galt für die kaiserliche Blutlinie wie auch für alle anderen. Es gab immer weniger Xianling und unsere Kräfte waren nur noch ein Schatten dessen, worüber unsere Vorfahren einst verfügt hatten. Nachdem die Römer dann in unser Land eingefallen waren und die Wucai-Tempel, in denen mit Magie Geborene früher unterrichtet wurden, an sich gerissen hatten, wurden wir nur noch schwächer. Ohne richtig unterwiesen zu werden, blieb unsere Magie ungeschliffen und widerspenstig, nutzlos im Kampf gegen römische Waffen.

Wir können nicht länger auf die Götter warten. Wir müssen uns selbst retten, hallten Meiyas Worte in mir wider.

Mein Herz schmerzte, denn wie sollten wir uns gegen ihre Gewehre und Luftschiffe wehren, all die unmöglichen Waffen, die die Wissenschaft ihnen gab?

Und was würde uns ein derartiger Krieg kosten?

Das letzte Mal, als Er-Lang sich den Römern widersetzt hatte, waren Zehntausende an einem einzigen Nachmittag umgekommen. Was würde geschehen, wenn wir versuchten, die Vergangenheit zu wiederholen?

Was würden wir dann verlieren?

Hinter Baihu sah ich durch die geöffneten dekorativen Gitterfenster die Straßen von Jing. Sie waren chaotisch und wunderschön. Musik, Stimmengewirr und Gelächter erfüllten die schmalen Gassen, in denen sich die Menschen tummelten und Straßenkünstler den Saiten ihrer Erhu und Pipa bezaubernde Melodien entlockten. Scharlachrot leuchtende Laternen zeigten Fremden den Weg zurück in ihre Betten und am Himmel schmiegten sich Tausende funkelnde Sterne in die saphirblaue Abenddämmerung.

Ich stellte mir vor, wie Baihu dort im Fenster saß, ein Fuß gegen den Rahmen gestützt, den anderen auf dem Überhang des Ziegeldachs ruhend, und die geschäftigen Feierlichkeiten unten auf der Straße beobachtete. Geduldig wie ein Raubtier, ergriffen von einer Habgier, die er erst entwickelt hatte, nachdem er sich diese Machtposition erkämpft hatte.

In der Ferne strahlte das goldene Licht des Kaiserpalasts wie eine zweite Sonne an der Grenze des Horizonts. Doch der wahre Gebieter der Stadt, von Er-Lang, lebte nicht hinter himmelhohen roten Palastmauern.

Der wahre Gebieter war hier und jeder in Jing kannte ihn: Baihu, der uneheliche Sohn eines toten Prinzen, dem einstigen Onkel unseres Kaisers. Baihu, der Verräter, der allem und jedem den Rücken gekehrt hatte und nun den Fluss des Opians kontrollierte – der wertvollsten Ware im ganzen Land.

Unter anderen Umständen wäre ich stolz auf Baihu gewesen. Auf all das, was er überwunden hatte, und all das, was er geworden war.

Sein Vater hatte ihn sich selbst überlassen, seine Mutter hatte ihn vernachlässigt. Seine Cousins, die Prinzen, hatten ihn wegen seiner unehelichen Abstammung verspottetet. Sein ganzes Leben lang hatten die Menschen auf ihn herabgeblickt, doch Baihu hatte sie alle eines Besseren belehrt. Indem er jenen Monstern diente, die unsere Leben, unsere Zukunft zerstört hatten, besaß er heute mehr Macht, als man sich je erträumen könnte.

Während unser Volk nach Atem rang, stand Baihu erhobenen Hauptes da, umgeben von blutbeflecktem Geld, das er auf Kosten anderer, wie meines toten Vaters oder seiner eigenen toten Mutter, erlangt hatte.

»Hast du es?«, fragte ich, um das Thema zu wechseln, und drängte die Erinnerungen beiseite. Es spielte keine Rolle mehr, wer Baihu gewesen war. Hier und jetzt zählte allein, wer er in diesem Moment war und was ich von ihm brauchte.

Ich legte einen kleinen Seidenbeutel auf den Tisch. Die Münzen, die darin klimperten, reichten gerade so aus. In Zeiten des Wohlstands hätte der Armreif, den ich dafür verpfändet hatte, das Dreifache eingebracht, doch die Unruhen und die Unsicherheit hatten den Handel erschwert. Alles, was einst als Luxus oder Reichtum gegolten hatte, verlor immer mehr an Wert – abgesehen von Opian. Niemand scherte sich um Jade, Gold oder glänzende Seide, wenn der Bauch leer war und einem das Zuhause genommen wurde. Großmutter sagte, in Zeiten des Krieges sei selbst ein einzelnes Reiskorn mit Gold nicht aufzuwiegen.

So weit würde es hoffentlich nie kommen.

Die Realistin in mir wusste jedoch, dass sich eine solche Zukunft nicht vermeiden ließ. Die einzige Frage war: Wie viel Zeit blieb uns noch, uns darauf vorzubereiten?

Baihu nahm den Beutel, ohne den Inhalt zu überprüfen, und verstaute ihn in einer Schublade zusammen mit meinen anderen Habseligkeiten: Armreifen, die aus einem einzigen Stück Jade gefertigt waren, perlenbesetzte Ohrringe und Schmuckanhänger aus reinem Silber. Die einzigen Erbstücke, die mir und meiner Schwester von unserer Mutter geblieben waren und mit denen ich ihn zu Beginn bezahlt hatte. Dinge, die Baihu wie Andenken aufbewahrte.

Ich hatte schon vor Monaten damit aufgehört. Zwar bedeutete das, dass ich zusätzlich zum Pfandhaus gehen musste, aber die Mühe war es mir wert, weil sich das alles so weniger intim anfühlte.

Zu sehen, wie er meine Habseligkeiten wie einen Schatz in seinem Büro versteckte, machte etwas mit mir. Es löste ein Gefühl in mir aus, das eine Mischung aus Unbehagen, Schuld … und etwas anderem war.

Erinnerungsstücke wie diese tauschten sonst nur Liebende aus.

Baihu und ich liebten einander nicht.

Wir waren nicht einmal befreundet, zumindest nicht mehr.

Dabei hatte es eine Zeit gegeben, in der ich mir nichts sehnlicher gewünscht hatte als seine Zuneigung, als genau solche Liebesbeweise auszutauschen und allein in einem Raum mit ihm dieselbe warme Luft zu atmen. In der ich mir gewünscht hatte, er würde mich so ansehen wie in diesem Moment, mit einem Blick so intensiv, dass sich mein Puls beschleunigte.

Er presste die Lippen zusammen, um die Worte zurückzuhalten, die ihm auf der Zunge lagen. In unserer Kindheit hatten mich diese Augen noch mit zärtlicher Zuneigung betrachtet, doch als wir älter wurden, verwandelte sich diese Zuneigung in Begierde, in eine Art von Verlangen, die ich schon unzählige Male in den Augen grausamer Männer gesehen hatte.

Aber wollte er meinen Körper oder meine Magie?

Ohne den Blick von mir abzuwenden, zog Baihu endlich ein Päckchen aus der obersten Schublade seines Schreibtischs. Sofort griff ich danach. Meine Finger streiften das Pergamentpapier, bevor er es wieder zurückzog.

Er war noch nicht fertig mit mir. »Ich habe gehört, deine Großmutter spricht mit potenziellen Heiratskandidaten für dich.«

Ich zwang mich, zu nicken, falsche Höflichkeiten auszutauschen. »Sie möchte, dass ich bald heirate. Bevor die Gerüchte über einen Krieg sich bewahrheiten.«

Mein Vater mochte alles verloren haben, was unsere Vorfahren uns vermacht hatten, dennoch bedeutete der Name Yang in bestimmten Gegenden des Kaiserreichs noch immer etwas. Ich stammte von einem legendären General ab, einer einstmals mächtigen Militärfamilie. Die Soldaten, die damals unter meinem Großvater gedient hatten, erinnerten sich an seinen Namen und sahen es als Ehre an, eine Nachfahrin des großen Yang-Clans zu heiraten.

Das und …

Baihu hob eine Braue. Der lodernde Blick, mit dem mich seine mondförmigen Augen musterten, war erstickend. »Und was willst du, Yang Ruying?«

Ich wollte ihm das Päckchen am liebsten aus den Klauen reißen.

»Fragst du mich ernsthaft, ob ich mich an einen Mann binden und mich für immer seinem Willen beugen will?« Beinahe hätte ich aufgelacht. »Meine Mutter starb, als sie mir und meiner Schwester das Leben schenkte, weil das von Frauen erwartet wird. Großmutter ist die geschickteste Strategin ihrer Generation, der Grund für den militärischen Erfolg meines Großvaters, und doch kennt niemand ihren Namen. Er bekam all die Anerkennung, die ihr nicht zugestanden wurde. Das Lob und den Beifall und die Bewunderung naiver Mädchen, mit denen er hinter ihrem Rücken ins Bett stieg, trotz allem, was sie für ihn getan hatte. Nein, ich will nicht heiraten. Aber meine Familie braucht Schutz. Rom wird von Tag zu Tag gieriger, und wie du selbst gesagt hast, drängen die Berater des Kaisers ihn dazu, sich zu rächen, zu kämpfen. Und mit jedem von Roms Übergriffen gewinnt das Phantom neue Anhänger für seine Rebellion. Zu viele Menschen haben zu viel durch die Römer verloren, durch das Opian, durch die Feigheit unseres Kaisers. Jeden Tag kommen neue Spieler hinzu, die in diesem Machtspielchen mitmischen wollen. Großmutter befürchtet, dass es früher zu einem Krieg kommen wird, als wir glauben, und ich kann es ihr nicht verübeln.«

Baihu setzte sich und machte es sich bequem, während er mit der Schnur des Päckchens spielte. Er schenkte zwei Tassen Tee ein und deutete auf den Ledersessel auf der anderen Seite des Tisches.

Ich rührte mich nicht und lehnte die Tasse ab, die er mir anbot, auch wenn sich meine Sinne am verlockenden Duft des Da-hong-pao-Tees erfreuten – ein vertrauter Luxus aus einer Zeit, in der meine Familie sich solche Dinge noch leisten konnte. Stattdessen stand ich da, blickte auf ihn hinab und tat so, als wäre ich der Mann, der die Macht eines Kaiserreichs in seinen Händen hielt, und er das Mädchen, das meine Hilfe und Gnade bräuchte.

Die Magie des Todes kribbelte warm und beruhigend durch meinen Arm. Die Verlockung sang wie eine Melodie in mir, erinnerte mich daran, dass ich ihn in die Knie zwingen könnte, wenn ich es wollte.

Ich verdrängte die Sticheleien des Todes aus meinen Gedanken und dachte an die Worte meiner Großmutter.

Die Magie verlangt einen hohen Preis, Ruying. Nutze sie weise.

»Ich habe gehört, Taohua ist von ihrem Militärdienst zurückgekehrt«, sagte Baihu in gemessenem, vorsichtigem Ton, als wollte er mich auf die Probe stellen. »Ich weiß noch, wie unzertrennlich ihr als Kinder wart.«

»Hast du etwa Angst, Er-Lang schickt seine mächtige Kommandantin hierher, um Roms Schoßtiger niederzustrecken?«, antwortete ich, meine Worte schärfer, als sie es hätten sein dürfen, doch ich konnte nicht anders.

»Ich denke, Taohua hat auch so schon alle Hände voll zu tun. Überall im Reich schwelen Rebellionen. Die Bauern dürstet es nach Blut, nach Gerechtigkeit. Sie sind erfüllt von ihrem Zorn gegen Rom und bereit, die Er-Lang-Dynastie zu stürzen.« Er lächelte. »Vermisst du nicht auch unsere Kindheit, als wir noch durch diese schmale Gasse hinter unseren Häusern gerannt sind, Spiele gespielt und Lieder gesungen haben? Vermisst du nicht auch diese unbeschwerten Tage, so kurz sie auch waren?«

»Damals haben wir die Welt auch schon gehasst, genauso die Römer, für das, was sie unserer Heimat angetan haben«, flüsterte ich. »Hast du das etwa vergessen, Baihu?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich habe auch nicht vergessen, wie wir gehungert haben. Wie beschissen es sich anfühlte, nicht zu wissen, woher meine nächste Mahlzeit kommen würde, wenn meine Mutter nur weinte und mein Vater sich mit meinem Onkel hinter den vergoldeten Palastmauern – so weit von unseren irdischen Problemen entfernt – zudröhnte. Manchmal denke ich an diese einfacheren Zeiten zurück, als sich die Armut nach und nach unter den gefallenen Häusern unserer Straße ausbreitete und das Geld aus den Taschen unserer Eltern in die der Römer floss. Erinnerungen an längst vergangene Tage, an volle Bäuche und Neujahrsfestessen und reich bestickte Seidengewänder, als mein Vater sich noch daran erinnerte, seinen väterlichen Pflichten nachzukommen … Ich war zwölf, als mein Vater starb, älter als du, nicht wahr?«

Ich war zehn, als mein Vater seinen letzten Atemzug tat. Uns war endlich das Geld ausgegangen, sodass wir uns das Opian, das sein Qi weiterhin nährte, nicht mehr leisten konnten. Großmutter musste sich zwischen ihrem Sohn und ihren Enkeltöchtern entscheiden – eine Entscheidung, die keine Mutter je treffen müssen sollte. Am Ende wählte sie uns und versteckte jede Münze und jedes noch so kleine Schmuckstück, das sie finden konnte, vor seinen gierigen Händen. Damit uns etwas zum Überleben blieb. Damit ihre Enkeltöchter wenigstens die Chance auf ein anständiges Leben hatten. In diesen letzten Tagen hätte mein Vater uns alle drei an ein Freudenhaus verkauft, wenn er noch die Kraft gehabt hätte, uns durch die Stadt zu zerren.

Aber wenigstens war mein Vater nicht immer so gewesen.

Wenigstens war er einmal gütig und für uns da gewesen, egal wie lange das auch her sein mochte.

Baihus Geschichte war eine andere. Sein Vater hatte ihn und seine Mutter schon lange vor seinem Tod im Stich gelassen, und auch sein kaiserliches Blut hatte nichts daran geändert, dass er selbstsüchtig und grausam war. Zwar gab es auch eine Zeit der Gutenachtgeschichten und Geburtstagsküsse, doch solange Baihu sich zurückerinnern konnte, hatte er ihn wie Dreck behandelt, und Baihus Mutter noch viel schlimmer. Letztendlich entschied sich sein Vater, sein Geld statt für seinen unehelichen Sohn lieber für Opian und leichte Mädchen auszugeben.

Ich kannte jede einzelne von Baihus Narben, genau wie er meine.

»Komm auf den Punkt«, murrte ich in die Stille hinein und verdrängte die schmerzlichen Erinnerungen.

»Weißt du noch, als wir klein waren«, fuhr Baihu fort, den Blick auf mich gerichtet wie der eines Tigers auf der Jagd, »und ich immer gescherzt habe, dass ich dich eines Tages heiraten würde?«

Solche Dinge hatte er damals tatsächlich gesagt.

Unbedachte Worte aus einer längst verlorenen Zeit, so unbedeutend wie die erfundenen Spiele unserer Kindheit.

Ich habe ihm nie erzählt, wie ich früher von uns geträumt habe, von einer glücklichen Ehe wie die aus Großmutters Gutenachtgeschichten. Baihu, so groß und gut aussehend, wie er jetzt war. Ein Ehemann, der gut zu mir war, der mich liebte und beschützte. Eine Liebe, die selbst die stürmischsten Zeiten überdauerte.

Heute konnte ich über diese naiven Fantasien nur lachen. Eine derartige Liebe würde es im echten Leben nie geben. Sie könnte noch so stark sein, die Grausamkeit der Römer, das Chaos und die Armut, in denen unser Reich in den vergangenen Jahren versunken war, würde sie doch nicht überstehen.

Was nützte mir Liebe, wenn ich nicht wusste, ob wir genug Essen und Feuerholz haben würden, um durch den Winter zu kommen? Ob Baihus Erbarmen nach jedem neuen Päckchen weiter anhalten würde, während meine Schwester vergeblich versuchte, vom Opian loszukommen?

Früher habe ich mir beim Blick in den Sternenhimmel nichts sehnlicher gewünscht als ein einfaches Leben, eine glückliche Familie, doch dieses Mädchen war schon lange tot. Schmerz und Kummer hatten sie bezwungen. Zu lieben war ein Privileg, das uns nicht vergönnt war, denn wir wurden in eine Zeit hineingeboren, in der nicht einmal sicher war, ob wir den nächsten Tag überlebten.

Unsere Umwelt und Erziehung prägten uns.

Träume und Versprechen aus Kindheitstagen waren wie die Samen einer Pusteblume, die die kleinste Brise in alle Richtungen zerstreute.

Baihu würde mich niemals heiraten. Ich war erstaunt, dass er sich überhaupt noch an diese naiven Worte erinnerte, die er vor so vielen Wintern zur mir gesagt hatte, wenn seine Gedanken doch mit anderen Dingen beschäftigt sein sollten. Wie er weiter in den römischen Rängen aufsteigen könnte zum Beispiel oder wie er sich an den rechtmäßigen Söhnen des Kaisers – allen, die es gewagt hatten, ihm unrecht zu tun – rächen könnte.

Am wichtigsten jedoch: wie er trotz der grauenvollen Schmerzen, die er seinem eigenen Volk bereitete, nachts noch schlafen konnte. Seine Vorfahren würden im Grabe weinen, wenn sie wüssten, was für ein Mann aus ihm geworden war.

Ich ließ den Blick durch den Raum schweifen, über all die römischen Güter, die uns umgaben. Die Ölgemälde, die an den Wänden hingen, die Jadefiguren und filigranen Vasen, die von den besten Kunsthandwerkern gefertigt worden waren. Schmutziges Geld, das Baihus Körper kleidete, an seinem Hals hing, seine Finger schmückte, selbst die Luft durchzog, die wir atmeten. Silber aus den Taschen der Opianabhängigen, die Tränen zerbrochener Familien.

»Die Zeiten haben sich geändert, Baihu«, flüsterte ich.

Die Welt hat sich verändert. Wir haben uns verändert.

»Du hast recht, das haben sie.« Das Lächeln verschwand und sein Blick wurde hart. Ich spürte, wie die Luft ums uns herum dünn wurde. »Ich brauche deine Hilfe, Ru.«

Mir drehte sich der Magen um. Diesen Moment hatte ich seit Monaten erwartet. Baihu war ein Geschäftsmann. Er würde mir niemals nur aus der Güte seines Herzens helfen. Er musste einen Grund dafür haben.

»Ich werde es nicht tun.«

»Du weißt doch noch nicht mal, worum ich dich bitten werde.«

»Wofür soll ein Mädchen wie ich schon gut sein in Zeiten wie diesen?«, raunte ich und ließ die unausgesprochenen Worte zwischen uns in der Luft hängen. In meinen Fingerspitzen brannte die Magie. Die Macht des Todes wurde mit jedem Atemzug schwerer und schwerer.

In einer so gesetzlosen Zeit schadete eine Kraft wie meine mehr, als sie nützte.

»Unser Reich wird seit zwanzig Jahren Stück für Stück, Straße für Straße, mit jedem neuen Fehltritt der Menschen, an Rom verkauft. Was soll so schlimm daran sein, ein paar Gesetze der Magie zu brechen? Außerdem verstößt es nicht gegen das Gesetz, deine Magie zu nutzen.«

»Sie für Verbrechen zu nutzen aber schon. Und soweit ich weiß, ist Mord immer noch ein Verbrechen, nicht wahr? Oder haben die Römer auch das in den letzten paar Minuten geändert?«

»Dafür bin ich ja da. Ich werde dich beschützen. Ich werde dich immer beschützen, Ruying.«

Ich brauche deinen Schutz nicht. Die Worte lagen mir auf der Zungenspitze – eine verlockende Lüge. Eine, von der ich wünschte, sie wäre wahr. »Wenn du so mächtig bist, warum erledigst du es nicht selbst?«

»Weil …« Baihu verstummte. Er holte tief Luft und wägte seine Worte ab.

Er vertraute mir nicht.

Mein Brustkorb zog sich immer enger zusammen, bis ich nicht mehr atmen konnte. Die Angst hämmerte mir in der Kehle.

Ich ahnte, auf wen er es abgesehen hatte.

Das Einzige, was ein Mann wie Baihu begehrte, aber nicht haben konnte. Etwas, das nicht nur ihm zugutekommen würde, sondern auch den Römern, vor denen er niederkniete.

Der Thron von Er-Lang.

Meine Magie war lautlos, spurlos. Ich könnte den jungen Kaiser töten, ohne Baihu oder seine römischen Gebieter darin zu verwickeln. Das Ableben des Kaisers würde ein Machtvakuum hervorrufen und Baihu wäre in der perfekten Position, es zu füllen.

Er mochte ein unehelicher Sohn sein, doch das änderte nichts daran, dass das Blut von Er-Lang durch seine Adern floss. Mit den mächtigen Römern, die ihm darüber hinaus den Rücken stärkten, gäbe es nur noch wenig, was er nicht erreichen könnte.

Es wäre ihm ein Leichtes, den Thron zu besteigen. Ein wahres Kinderspiel.

Baihu würde endlich bekommen, was er schon immer wollte: Macht.

Und dasselbe galt für Rom.

Kaiser Yongle wurde in ein paar Monaten gerade einmal zweiundzwanzig, noch war er naiv und fügsam, aber er würde den Befehlen Roms nicht ewig gehorchen, nicht jede ihrer Warnungen beherzigen. Nicht, solange er von Beratern umgeben war, die drei Generationen von Er-Lang-Kaisern gedient hatten – Männern, die alt genug waren, um sich an die glorreichen Tage vor der Demütigung zu erinnern.

Trotz der Gerüchte glaubte ich, dass der junge Kaiser schlauer war, als er sich anmerken ließ, fähiger, als die meisten es ihm zutrauten.

Eines Tages würde dieser winselnde Junge womöglich zu einer mächtigen Bestie heranwachsen.

Baihu hingegen würde für immer ihre perfekte Marionette sein.

Die Römer müssten nur den jetzigen Kaiser töten und es wäre das Ende von Er-Lang, wie wir es kannten.

»Es gibt da etwas, das ich tun muss, Ruying, und dafür brauche ich die Gabe, mit der nur du gesegnet wurdest. Wenn du mir hilfst, werde ich dich reich belohnen. Nenn mir deinen Preis und ich …«

»Meine Magie ist kein Segen«, blaffte ich.

Mein Blick fiel auf das Päckchen Opian und ich entsann mich wieder, dass Baihu nicht länger der liebe kleine Junge war, dessen Lachen stets meines erwiderte, dessen Arme mich hielten, wenn ich weinte.

Er war ein Raubtier.

Ein Tiger mit Krallen und Reißzähnen, der sich früher oder später gegen mich wenden würde.

Er schuldete mir nichts, ich dagegen schuldete ihm alles. Nur seinetwegen lebte meine Schwester noch. Ohne ihn – ohne sein Opian – würden die Entzugserscheinungen Meiya, wie schon meinen Vater vor ihr, umbringen.

Ich senkte den Kopf. »Die Magie des Todes ist ein Fluch. Jedes Mal, wenn ich sie nutze, verkürzt sich meine Lebenszeit. Du kennst die Folgen.«

»Das tue ich.«

»Dann verlang so was nicht von mir.«

Er zögerte. Kurz lag Verständnis in seinen Augen, wie das sanfte Gold eines Sonnenuntergangs im Sommer, und ich war so naiv anzunehmen, das Gespräch wäre damit beendet.

Doch dann erlosch der trügerische Schein und eine finstere Entschlossenheit trat an seine Stelle. Ein Grau wie eine scharfe Klinge, die das Gold mit einem einzigen grausamen Hieb auslöschte.

»Wenn der Krieg kommt, wird Chaos herrschen und die Gesetze, die die Xianling schützen, werden nicht länger existieren. Du kennst die Geschichten, Ruying. Über den Qin-Kaiser, wie er versuchte, den Kontinent mithilfe der Magie der Xianling zu erobern. Säuglinge, die ihren Müttern entrissen wurden, um sie zu Mördern auszubilden. Xianling, die für ihre Gaben verkauft wurden. Ein Zeitalter der Grausamkeit, das erst endete, als die Götter auf Erden wiedergeboren wurden, um den Tyrannen zu besiegen. Aber diese Götter gibt es nicht mehr, Ruying. Niemand wird kommen, um uns zu retten.«

Wir müssen uns selbst retten – die Worte meiner Schwester. Manchmal klang Baihu genau wie Meiya.

Ich hasste, dass er recht hatte.

Ich war das Mädchen, das der Tod gesegnet hatte, und diese Kräfte machten mich zu einer wandelnden Zielscheibe. Sie waren etwas, das die Menschen besitzen, benutzen, ausbeuten wollten. Einzig das Gesetz des Kaisers, das den Xianling-Handel verbat, bewahrte mich davor, die grauenvollen Geschichten, die man sich über das Leben unter der Qin-Herrschaft erzählte, am eigenen Leib zu erfahren. Und auch das würde bald ein Ende haben, falls oder vielmehr wenn der Krieg wie ein Hammer die schwindende Illusion des Friedens zertrümmerte.

Ich musste mich bedeckt und die Gabe des Todes geheim halten. Wenn Rom oder der Kaiser wüssten, wozu ich wirklich fähig war, würden sie mich zwingen zu kämpfen. Die Mörderin zu werden, vor der ich mein ganzes Leben lang davongerannt war. Ein Monster, das einzig und allein auf Zerstörung aus war, das im Namen eines aussichtslosen Krieges Bruchstücke seines Lebens gegen vergängliche Magie eintauschte. Jemand, der für Menschen kämpfte, die nie mehr in mir sehen würden als eine furchterregende Macht, eine nützliche Waffe.

»Hilf mir«, fuhr Baihu fort, »und ich werde dich beschützen. Dir so viel Geld geben, dass du nicht heiraten musst, um für deine Familie zu sorgen.«

Wenn ich schlau wäre, würde ich Baihus Angebot annehmen, tun, was immer ich tun musste, um zu überleben.

Doch der Kaiser war vom Himmel auserwählt worden, ein Nachfahre ebenjener Götter, die vor Tausenden von Jahren auf die Erde gekommen waren, um die Xianling zu retten. Jemanden von göttlichem Blut zu töten war Blasphemie, eine der schlimmsten Sünden, die man begehen konnte.

Nachdem die alten Götter in ihren wiedergeborenen Körpern den Tod der Sterblichen gestorben waren, kehrten ihre Seelen ins Himmelsreich zurück und überließen uns unserem Schicksal. Ihre Nachfahren, die trotz Bürgerkriegen, Aufständen und Grenzverschiebungen weiterhin über den Kontinent herrschten, waren die letzten Fäden, die uns noch mit ihnen verbanden.

Manche glaubten, es sei allein diese Verbindung, die das Tor der Energie zwischen unserer Welt und der ihren noch offen hielt, und sollten diese Blutlinien jemals aussterben, würde sich das Tor schließen und unsere Magie versiegen, sodass Pangu den Tyrannen und Angreifern schutzlos ausgeliefert wäre.

Der Himmel würde meine gesamte Blutlinie zu einem von Pech und Leid gezeichneten Leben verfluchen, wenn ich den Kaiser tötete.

Natürlich gab es unzählige Legenden über den Ursprung unserer Gaben – und diese könnte ein Volksmärchen wie jedes andere sein –, dennoch würde niemand, der noch bei Verstand war, es riskieren, ihren Wahrheitsgehalt auf die Probe zu stellen.

Zumindest niemand, der noch etwas zu verlieren hatte.

Und obwohl ich schon so viel verloren hatte, war mir eines geblieben: meine Familie.

Niemals würde ich ihre Leben gefährden, nur um diese Legende zu widerlegen.

Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch die Worte überschlugen sich in meinem Kopf. Baihus Angebot anzunehmen wäre vielleicht schlau, aber es war alles andere als richtig.

Sein Ausdruck wurde sanft, als ich weiter schwieg. Er zögerte, beobachtete die Zerrissenheit, die mir ins Gesicht geschrieben stand. »Du hast immer auf mich aufgepasst, als wir noch Kinder waren. Weißt du noch? Lass mich jetzt dasselbe für dich tun, Ruying.«

»Wenn du wirklich auf mich aufpassen wolltest, würdest du mich nicht um das hier bitten«, erwiderte ich leise, den Blick auf das Päckchen in seiner Hand gerichtet.

Es spielte keine Rolle, was ich wollte. Mit dem Opian in seiner Hand und seiner Gnade wie eine Schlinge um meinen Hals gelegt würde ich nicht Nein sagen können, wenn Baihu von mir verlangte, als Gegenleistung meine Gabe einzusetzen.

Ich konnte nicht einfach zusehen, wie meine Schwester starb.

Seine Lippen wurden schmal. Scham ließ seine Stimme leise, zurückhaltend und bedauernd klingen, als er antwortete: »Ich weiß.« Er stand seelenruhig auf. »Du musst mir nicht sofort antworten. Denk über mein Angebot nach. Sag mir Bescheid, wenn du das nächste Mal hier bist … Und vergiss nicht, dass ich nicht möchte, dass dir oder deiner Familie etwas zustößt.«

Mein Herz setzte einen Schlag aus. »Ist das eine Drohung?«

»Ein Sturm braut sich zusammen«, flüsterte Baihu, als wüsste ich das nicht längst. »Als die Götter gestorben sind, haben sie den Kontinent in die Obhut ihrer Kinder gegeben. Und ein flüchtiges Jahrhundert lang herrschte Frieden und wahrer Wohlstand. Aber es gibt etwas, das sie uns in der Schule nicht gelehrt haben. Im Laufe der Zeitalter, als manche Länder immer wohlhabender und andere immer ärmer wurden, als Überschwemmungen, Dürren und Missernten Teile des Landes plagten, begannen unsere mächtigen Kaiser, sich gegenseitig zu beäugen. Sich nach fruchtbarerem Boden und besseren Wasserquellen umzusehen, nach Gebirgen, die reich an Gold, Eisen und Edelmetallen waren. Sie kämpften gegeneinander, bekriegten sich, gewannen und verloren, im Namen der Vergangenheit und des Ruhms und um unsere Vorfahren zu ehren. Doch in Wahrheit waren ihre Beweggründe weitaus simpler, menschlicher. Sie kämpften nicht für die Götter, die längst in ihr Himmelsreich zurückgekehrt waren. Sie kämpften aus unersättlicher, grenzenloser Habgier und Stolz. Sie kämpften, um Macht zu erlangen. Schon bevor die Römer kamen, war der Frieden zerbrechlich, nicht mehr als ein Volksmärchen. Er-Lang war schon immer eines der wohlhabenderen, stärkeren Reiche. Deshalb weigerten sich die anderen auch, uns zu helfen, als Rom unseren langsamen Untergang einleitete. Wir hatten ihnen so viel genommen, da geschah es uns nur recht, dass eine mächtigere Nation uns dasselbe antat.«

Ich wusste, was Baihu mir damit sagen wollte. Wenn die Römer ein Reich wie Er-Lang derart demütigen konnten, wussten allein die Götter, was sie einem der schwächeren Reiche wie Jiang antun würden, wo die Magie immer knapper wurde und man sich erzählte, dass wieder wie zu Qin-Zeiten mit Xianling gehandelt wurde. Gerüchte kursierten von Xianling, die an den Grenzen unseres Reiches verschwanden. Verbrechen, die vor rund zwanzig Jahren noch nicht ungestraft geblieben wären.

Doch wir waren heutzutage zu sehr damit beschäftigt, auf uns selbst aufzupassen. Wie sollten wir uns um den Schmerz anderer kümmern, wenn unsere eigenen Familien verhungerten und die Menschen, die wir liebten, einer nach dem anderen an Überdosen, Entzugserscheinungen oder der üblichen Grausamkeit der Römer starben?

»Unsere Nachbarn haben uns im Stich gelassen«, fuhr Baihu fort. »Rom wird immer mächtiger. Jiang ist bereits ein Bündnis mit ihnen eingegangen. Unser engster Verbündeter vor alldem hier war das nördliche Lei-Zhen, dank der Verlobung zwischen dessen Kronprinzen und Prinzessin Helei. Doch auch diese Allianz ist gefährdet, seit die Römer Helei zu ihrer Geisel gemacht haben. Ne-Zha liegt zu weit im Westen, als dass sie sich dort um die östliche Politik scheren würden. Und Sihai mischt sich nicht in die politischen Angelegenheiten des Festlands ein. Schon unzählige Male haben wir unsere Nachbarn um Hilfe gebeten, doch niemand wollte Er-Lang unterstützen. Wir sind auf uns allein gestellt. Rom ist gierig und die Berater des Kaisers drängen ihn zum Krieg. Das Ende ist näher, als du denkst, Ruying. Es wird Zeit, eine Seite zu wählen.«

»Als Verräter zu leben wie du oder als Held zu sterben?«, zischte ich.

Für mein Land zu kämpfen oder es zu hintergehen.

Stolz und mächtig hatte Er-Lang die Jahrtausende überdauert. Doch jetzt, da die Magie in unseren Adern versiegte und die wenigen von uns, die noch welche besaßen, den Umgang mit ihrer Magie nicht länger erlernen konnten, waren wir wie Tiere, die nur darauf warteten, geschlachtet zu werden.

In dieser Welt waren Xianling nicht mehr sicher. Früher oder später würden sie es auf mich abgesehen haben. Und auf Meiya genauso.

»Du musst dich entscheiden, Ruying.« Baihu schob das Päckchen über den Tisch.

Ehe er es sich anders überlegen konnte, griff ich mit beiden Händen danach. Unsere Finger berührten sich ganz sacht.

Ein Gefühl blitzte in seinen Augen auf. War es Angst oder doch etwas anderes?

»Ich denke darüber nach«, sagte ich. »Wenn wir uns das nächste Mal sehen, bekommst du deine Antwort.«

»In Ordnung.«

Er lächelte und ich erwiderte sein Lächeln, während ich mir eines versprach: Es wird kein nächstes Mal geben.

4

Ich starrte auf meine Hände, erinnerte mich, wie es sich angefühlt hatte, das erste Mal jemanden zu töten. Es war ein Unfall gewesen, am heißesten Tag des Sommers. Ein Augenblick, der mich bis heute, Jahre später, verfolgte. Ich konnte noch immer Spuren seines schimmernden Qi in mir spüren, die brennenden Farben des Todes.

Baihus Gnade war erschöpft. Was würde er tun, wenn ich sein Angebot ablehnte?

Ihn zu verärgern, könnte schwerwiegende Folgen haben. Für mich und meine Familie.

Er war mächtig genug.

Gab es den schüchternen Jungen aus meiner Erinnerung noch irgendwo in ihm? Oder hatte Baihu alles, was ihn früher ausgemacht hatte, rückstandslos vernichtet, als er Rom die Treue schwor?