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Der Feuerwehrmann und die Brandstifterin: ein Spiel mit dem Feuer …
Isaiah Jones hat es sich nach dem Tod seines Vaters zur Aufgabe gemacht, den Menschen in seiner Heimatstadt Blossom Lake als Feuerwehrmann zu helfen. Damit will er anderen das schwere Schicksal ersparen, das er in seiner Jugend erlitten hat und mit dem er immer noch zu kämpfen hat. Bei einem Einsatz trifft er auf die toughe Jewel, die neu in der Stadt ist und ihm von der ersten Sekunde an unter die Haut geht. Aber Jewel hat ein Geheimnis: Sie ist auf der Flucht vor der Polizei, und der Brand, den Isaiah mit seinen Männern gelöscht hat, wurde von ihr gelegt. Muss er das Feuer der Leidenschaft, das die schöne Fremde in ihm entfacht hat, ebenfalls eindämmen? Oder ist es dafür längst zu spät?
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Seitenzahl: 417
Veröffentlichungsjahr: 2025
Isaiah Jones hat es sich nach dem Tod seines Vaters zur Aufgabe gemacht, den Menschen in seiner Heimatstadt Blossom Lake als Feuerwehrmann zu helfen. Damit will er anderen das schwere Schicksal ersparen, das er in seiner Jugend erlitten hat und mit dem er immer noch zu kämpfen hat. Bei einem dramatischen Einsatz trifft er auf die toughe Jewel, die ihm von der ersten Sekunde an mit ihrer direkten Art unter die Haut geht. Aber Jewel hat ein Geheimnis, das Isaiahs Werten komplett widerspricht und das er niemals erfahren darf. Muss er das Feuer der Leidenschaft, das die schöne Fremde in ihm entfacht hat, wieder eindämmen? Oder ist es dafür längst zu spät?
Sarah Stankewitz lebt mit ihrem Freund in einer kleinen Stadt am Rande von Brandenburg. Schon in ihrer Kindheit liebte sie es, Worte aneinanderzureihen und Geschichten zu erschaffen. Seit ihrem Debütroman lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf und ist immer wieder auf der Suche nach neuen Inspirationsquellen. Musik, Kerzen und ein bequemer Arbeitsplatz dürfen im Hause der Autorin ebenso wenig fehlen wie ein leckerer Cappuccino. Ihre Geschichten spiegeln das wider, was sie sich stets von einem guten Roman erhofft: Liebe, Leidenschaft und eine Prise Humor. Unter ihrem offenen Pseudonym Sara Rivers schreibt sie prickelnde Erotikromane.
No Matter What
No Matter When
SARAH STANKEWITZ
ROMAN
Band 3 der Love Burns-Reihe
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
Liebe Leser*innen, in diesem Buch werden Themen angesprochen, die für einige Menschen emotional sehr belastend sein können. Auf Seite 352 findet ihr für ein sicheres Leseerlebnis eine genaue Auflistung. Passt gut auf euch auf!Sarah Stankewitz und der Heyne VerlagDer Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.
Originalausgabe 05/2025
Copyright © 2025 dieser Ausgabe
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich
Pflichtinformationen nach GPSR)
Redaktion: Michelle Stöger
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31423-1V001
www.heyne.de
Für alle, die jeden Tag ihr Leben riskieren, um das anderer Menschen zu retten. Ihr seid Helden.
14 Jahre alt
»Isaiah?« Die Mutter meines besten Kumpels Phil eilt mit schnellen Schritten die Kellertreppe hinab. In ihrer Hand dasselbe Telefon, mit dem ich vorhin noch meiner kleinen Schwester Gracie eine gute Nacht gewünscht habe, weil ich weiß, dass sie sonst nicht einschlafen kann.
»Mom, nicht jetzt! Das Spiel geht jeden Moment weiter!« Phil verdreht die Augen hinter seiner dunkelblauen Brille und sieht aus, als würde er ein Kissen nach seiner Mutter werfen wollen, damit sie uns nicht länger stört. Dabei ist Mrs. Sullivan eine liebevolle Mutter. Wo unsere seit der Geburt meiner jüngsten Schwester Gracie mit Abwesenheit glänzt, ist sie immer da. Das würde ich meinem Freund gern sagen. Dass er mehr Dankbarkeit zeigen und weniger Arschloch sein soll.
Wenn du wie ich ohne Mutter aufwächst, siehst du die Welt plötzlich in einem völlig anderen Licht. Selbst mit vierzehn. Eltern nerven manchmal, klar, aber alles ist besser, als gar keine zu haben. Sich Tag für Tag zu fragen, ob man etwas falsch gemacht hat, ob man nicht genug war, ob man nicht gereicht hat, um sie zum Bleiben zu bewegen.
»Isaiah, Schatz.« Phils Mutter ignoriert den Protest ihres Sohnes und geht vor dem braunen Ledersofa, auf dem wir während des Spiels der Buffalo Bills hocken, in die Knie. Ihr Gesicht ist blass und ihr Ausdruck bereitet mir langsam echt Sorgen. »Ich habe gerade einen Anruf bekommen. Es tut mir wahnsinnig leid, aber anscheinend ist bei euch zu Hause ein Feuer ausgebrochen.«
»Uff. Solche Witze sind nicht cool, Mom. Echt nicht cool«, mault Phil neben mir, aber ich sehe in ihren tiefblauen Augen, dass sie nicht scherzt. Sie meint das hier todernst.
Innerhalb eines Wimpernschlags rückt alles in den Hintergrund. Das helle Flackern des Bildschirms vor der holzvertäfelten Wand im Keller der Sullivans, die Stimme des Sportkommentators, die Tränen von Mrs. Sullivan, während sie tröstend nach meiner Hand greift und mit dem Daumen über meinen Handrücken streicht.
Anscheinend ist bei euch zu Hause ein Feuer ausgebrochen.
Meine kleinen Schwestern sind in diesem Haus. Mein Vater ist in diesem Haus. Nur ich, ich bin es nicht. Weil ich das Spiel unbedingt auf Phils neuem 4K-Fernseher sehen wollte und deshalb vor ein paar Stunden von zu Hause verschwunden bin. Ich habe Gracie und Stella zum Abschied noch eine Grimasse geschnitten, um sie zum Lachen zu bringen, unserem Dad eine schnelle Umarmung gegeben und die Tür hinter mir zugezogen, ohne noch einmal zurückzublicken. Ohne meiner Familie noch einmal zu sagen, dass ich sie lieb habe.
»Isaiah, Schatz? Hast du mich verstanden?« Habe ich, klar und deutlich, aber ich kann nicht darauf reagieren. Ich fühle mich tot. Weil mein Zuhause brennt. Und mit ihm meine Welt.
»Scheiße, Mom, du meinst das echt ernst?« Auch Phil scheint endlich zu verstehen, dass das hier kein makaberer Scherz ist. Endlich löse ich mich aus meiner Starre, springe panisch auf die Füße und stolpere die Treppe hinauf. Ich muss hier raus, muss nach Hause, muss zu meiner Familie. Mrs. Sullivan ruft mir hinterher, dass die Feuerwehr bereits auf dem Weg ist und dass alles gut ausgehen wird.
Aber unser Haus steht in Flammen!, will ich schreien.
Nichts ist gut. Nicht, solange ich Dad, Gracie und Stella nicht in den Arm nehmen und mir sicher sein kann, dass sie okay sind. Das Haus meines Freundes befindet sich nur wenige Querstraßen von unserem entfernt, aber jeder Meter fühlt sich an diesem Abend schier endlos an. Mit jedem Schritt bete ich innerlich, dass das alles nur ein böser Traum ist, aber als ich von Weitem die ersten Nachbarn mit schockierten Mienen in ihren Bademänteln und Hausschuhen auf der Straße entdecke, weiß ich, dass meine Gebete unerhört bleiben.
Das hier ist kein Traum. Rauch liegt schwer in der Luft, Angst noch schwerer in meinem Magen, als ich die ersten Flammen sehe, die mein Zuhause verschlucken. Suchend fliegt mein Blick über den Pulk an Leuten, die ich seit meiner frühsten Kindheit kenne. Die rotblonden Locken meiner kleinen Schwester Gracie leuchten in der Menge wie die aufgehende Sonne, die sie für mich symbolisiert, und ein Teil in mir will vor Erleichterung losheulen. Ja, nur ein Teil. Die anderen zwei Teile gehören Stella und Dad, und von den beiden fehlt hier draußen jede Spur.
»Isaiah!« Gracie stürmt auf mich zu. Dieses kleine Mädchen, das schon bei der Geburt gefühlt in einen Farbeimer gefallen ist und unser aller Leben mit ihrem quirligen Lachen und ihrer Fantasie so viel bunter gemacht hat. Kurz bevor sie bei mir ist, falle ich bereits auf die Knie. Gracie wirft sich mit voller Wucht gegen mich, krallt sich in meinen Pullover, bebt am ganzen Körper wie verrückt, und ich kann nichts dagegen tun.
»Bruderkeks, es ist überall!«
»Ich hab dich, Kiddo. Ich hab dich.« Mein Versprechen klingt leer, genauso hohl, wie sich mein Herz in diesem Augenblick fühlt, weil Dad und Stella nicht hier sind und weil ihre Abwesenheit nur eins bedeuten kann. Ich lege meine Hände auf Gracies schmale Schultern und schiebe sie sanft ein Stück zurück, damit ich sie ansehen kann.
»Wo sind sie?«
Meine kleine Schwester zeigt mit ihrer zitternden Hand auf unser Haus, hinter dessen Mauern die Hölle ausgebrochen ist. Ich war nicht da, als es passiert ist, konnte es nicht verhindern. Aber jetzt, jetzt kann ich etwas tun. Ich muss. Atemlos springe ich auf die Füße, mache den ersten Schritt Richtung Haus, aber Gracie lässt meinen Arm nicht los, stattdessen wird ihr Griff nur noch fester. Ich wusste bis jetzt nicht, dass in einem kleinen Menschen so viel Kraft stecken kann.
»Nein!«
»Ich muss da rein, Gracie. Ich muss ihnen helfen!« Die ersten Tränen rollen über meine Wangen, von denen ich wünschte, sie könnten das Feuer löschen. Können sie natürlich nicht. So was wie Magie existiert nur in Kinderbüchern, das weiß ich schon lange, aber gerade will ich es nicht wahrhaben. Gerade will ich wieder ein Kind sein dürfen, das an Magie und Wunder glaubt.
»B-bitte g-geh n-nicht.« Noch nie habe ich meine Sonnenscheinschwester so traurig und panisch gesehen wie in diesem Augenblick. Sie will mich nicht verlieren, so wie ich sie nicht verlieren will, aber Stella und Dad … die beiden dürfen wir auch nicht verlieren. Wir gehören zusammen. Wir sind ein Team. Die fantastischen Jones-Vier. Wir funktionieren nur so.
Die schaulustigen Nachbarn tuscheln, während Gracie wieder ihr Gesicht in meinem Pulli vergräbt und irgendwelche Worte in den Stoff murmelt, die ich nicht verstehe.
Behutsam streichle ich ihren Rücken, will sie beruhigen, und mich gleich mit. Es funktioniert nicht. Natürlich funktioniert es nicht. Weil der Brand noch nicht gelöscht und unsere Familie noch nicht vollständig in Sicherheit ist.
»O mein Gott, sind sie das etwa? Da, schau mal, ich glaube, sie kommen raus! Um Himmels willen, was für eine Tragödie«, höre ich eine ältere Frau aus der Nachbarschaft rufen. Ich bin zu durcheinander, um ihr zu sagen, dass sie aufhören soll, die Szene wie ein verdammtes Footballspiel zu kommentieren.
Augenblicklich schießt mein Blick zur Eingangstür. Wenige Sekunden später stolpert unser Vater nach draußen. Stella auf seinem Arm, die ihr Gesicht an seiner Schulter vergraben hat. Schon von Weitem sehe ich, dass sie beide in einem schrecklichen Zustand sind. Mir wird schlecht, mein Magen dreht sich um seine eigene Achse, und ich bekomme kaum noch Luft. Am liebsten würde ich mich auf dem Asphalt der Straße übergeben und mein Innerstes komplett nach außen kehren, weil mein Körper plötzlich viel zu klein für die gigantischen Gefühle in mir geworden ist.
»Paps! Stella!« Gracie stürmt los, und ich folge ihr, weil ich nicht will, dass sie unsere Liebsten in diesem Zustand sehen muss. Diese Bilder würde sie niemals vergessen. Das hier ist neues Futter für ihre Albträume, für die Monster unter ihrem Bett, die auch so schon zu viel Macht über sie haben.
»Bringt sie ins Krankenhaus!«, krächzt unser Vater so laut es ihm mit all dem Restrauch in seiner Lunge möglich ist. »Bringt meine Tochter ins Krankenhaus!« Ruß klebt auf seiner Wange und in seinen braunen Haaren, seine Haselnussaugen sind blutunterlaufen, seine Schultern beben, seine Knie drohen jeden Moment nachzugeben. Ein kollektives Atemanhalten zieht durch die Menge an Schaulustigen, die ich am liebsten alle einzeln durchschütteln würde, damit sie aufhören, so zu starren.
»Rettet mein kleines Mädchen.« Der Schmerz in seinen Worten bricht etwas in mir entzwei. Oder noch schlimmer, ich zerfalle in tausend kleine Stücke.
»Libby!« Ich entdecke unsere Nachbarin und ziehe Gracie mit mir. »Libby, bring Gracie von hier weg!«
»Was? Nein!« Meine zehnjährige Schwester protestiert und schüttelt unter Tränen den Kopf.
»Was ist mit dir, Großer?«, will Libby schluchzend wissen. Großer. So nennt sie mich schon seit Ewigkeiten, aber gerade fühle ich mich klein, hilflos.
»Ich fahre im Krankenwagen mit. Er müsste jeden Moment da sein.«
»Ich will auch im Krankenwagen mitfahren!«, schreit Gracie aufgebracht. »Ich will nicht von euch getrennt sein. Isaiah, bitte!«
»Hey, Kiddo«, hauche ich und gehe erneut vor ihr auf die Knie. »Du musst jetzt stark für Paps und Stella sein, okay? Du musst ihnen etwas von deiner Farbe abgeben, hörst du? Damit sie schnell wieder gesund werden können. Weißt du noch, was wir immer machen, wenn es jemandem schlecht geht?«
»Wir malen ihm ein Bild?« Ihre Stirn furcht sich, ihre puppenhaft großen grünen Augen füllen sich mit noch mehr Tränen. Ein Nicken hat nie mehr wehgetan.
»Wir malen ein Bild. Und deine Bilder trösten uns immer am allermeisten. Paps und Stella brauchen etwas, das sie tröstet, wenn sie im Krankenhaus ankommen. Kannst du das für sie tun?«
Man sieht, wie sie innerlich mit sich ringt, dass sie nicht getrennt von uns ins Krankenhaus fahren will, aber ich muss Gracie um jeden Preis beschützen, wenn ich Stella und Dad schon nicht beschützen konnte. Ich muss dafür sorgen, dass sie so wenig schreckliche Erinnerungen wie möglich in ihrem Herzen speichert. Ich nehme diese Erinnerungen liebend gern für meine Schwester auf mich, trage sie auf meinen Schultern, weil sie stärker und breiter sind als ihre. Sie kann nicht mit in den Krankenwagen. Sie ist zu jung. Ich bin ihr großer Bruder, das hier ist mein Job, verdammt. Keine Diskussion.
»Libby, bitte …« Flehend sehe ich zu der Frau auf, die in den letzten Jahren wie eine Mutter zu uns gewesen ist und die genauso unter Schock steht, wie wir es tun. Weil wir auch ihre Familie sind.
»Okay, Kleine, dein Bruder hat recht. Komm mit in meinen Wagen. Wir fahren ins Krankenhaus und warten da auf sie!« Sie packt Gracie an der Hand und stürmt mit ihr los, während ich Paps und Stella ansteuere. Mein Vater fällt erschöpft auf die Knie, Stella noch immer fest in seinen Armen. Als ich bei ihnen bin, steigt mir der Geruch von verbranntem Fleisch in die Nase. Stellas Hals ist von Brandblasen übersät, und ihre Schulter erst … Der Stoff ihres Pyjamas ist regelrecht mit ihrer Haut verschmolzen. Bei diesem Anblick heule ich wie ein Schlosshund. Das Feuer hat sie beide erwischt. Nicht nur ein wenig, sondern heftig. Dad hat noch mehr abbekommen, weil er meine Schwester mit seinem Körper beschützt haben muss.
»Isaiah«, krächzt er und blickt auf Stella hinab, die sich noch immer nicht regt. Wie eine leblose Puppe hängt sie in seinen zitternden Armen. »Isaiah, bring deine Schwester in Sicherheit.« Ein Husten überkommt ihn, das mich bis ins Mark erschüttert und sich in meinen Knochen festsetzt, sie in Sekundenschnelle glasdünn macht. Eine falsche Bewegung und sie zerbersten endgültig.
Weil meinem Vater allmählich die Kraft ausgeht, nehme ich ihm Stella ab, presse ihren warmen, fast schon glühend heißen Körper fest gegen mich. Ein grelles Geräusch ertönt, das ich bisher nur aus Serien und Filmen kannte. Sekunden später biegt die Feuerwehr von Blossom Lake in unsere Straße ein. Feuerwehrmänner springen in voller Montur aus dem Fahrzeug, bereiten alles dafür vor, gleich in unser Haus zu marschieren. In diesem Moment setze ich all meine Hoffnung auf jeden einzelnen von ihnen. Sie sind bereits jetzt die größten Helden für mich, obwohl sie ihren Job noch gar nicht richtig beginnen konnten. Vielleicht können sie einen Teil unseres Zuhauses retten.
Ich fühle mich in ihrer Gegenwart winzig und nutzlos, weil sie keine Angst vor den Flammen haben. Sie trotzen ihnen einfach, anstatt sich von ihnen einschüchtern zu lassen.
Paps kann die Augen kaum noch offen halten, und das röchelnde Geräusch, das seine Lunge bei jedem Atemzug macht, versetzt mir einen heftigen Stich in der Herzregion. Diese Nacht wird kein gutes Ende nehmen, das spüre ich. Ich weiß es.
»Hey, Isaiah.« Seine Lider flattern. »Du musst immer auf sie aufpassen, hörst du?«
»Dad, bitte …« Ich weiß, was er hier tut. Ich weiß, dass er gerade dabei ist, aufzugeben. Er darf nicht aufgeben. Es ist zu früh. Fünfzig Jahre zu früh, verdammt! »Ihr schafft es beide! Hörst du? Ihr schafft es beide!«
»Pass auf deine Schwestern auf«, setzt er noch einmal mit Nachdruck hinterher. »Ich liebe dich, Champion.«
In der Zwischenzeit rücken die Ersthelfer an, während der Rest der Feuerwehrcrew versucht, den Brand unter Kontrolle zu bringen. Aber gegen das Feuer in meiner Brust sind auch sie machtlos. Niemand wird es jemals löschen können, sollte Dad diese Nacht nicht überstehen.
Stella wird meinen Armen entrissen, und als ich das nächste Mal zu meinem Vater sehe, liegt er bereits regungslos im Gras unseres Vorgartens, in dem wir so oft nach der Schule zusammen Football gespielt haben. Das Feuer malt tanzende Flammen auf den perfekt getrimmten Rasen, auf seine rußbedeckte Haut und seine verbrannte Kleidung.
»Dad!« Ich rutsche mit den Knien über die feuchte Erde, ignoriere die Menschen, die mich von meinem Vater trennen wollen. Dann greife ich nach seiner schwieligen Hand, wünsche mir so sehr, dass er meine leicht drückt. Aber er ist längst nicht mehr bei Bewusstsein. Die Ersthelfer prüfen seinen Puls, und als sie bedeutungsschwangere Blicke austauschen, beginnen sie, ihn zu reanimieren.
»Dad, bitte mach die Augen auf!« Noch nie in meinem Leben habe ich lauter geschrien als in diesem Augenblick, nie habe ich mich dem Schicksal ausgelieferter gefühlt. So viele Leute sind um uns herum, aber ich, ich sehe nur noch ihn. Den Mann, der uns das Leben geschenkt und jeden Tag wie ein Löwe darauf aufgepasst hat. Mit allem, was er zu geben hatte. Und das war verdammt viel. Viel mehr, als andere Menschen für ihre Kinder zu geben bereit sind.
Als das Herz meines Vaters wenige Sekunden später endgültig zu schlagen aufhört und die Sanitäter bedauernd die Köpfe schütteln, stirbt meine Jugend mit einem lauten Knall mit.
Ich bin nicht länger Kind, bin kein Teenager mehr. In dieser Nacht werde ich zum einzigen Halt zweier Mädchen, die genau wie ich ihren Beschützer verloren haben. In dieser Nacht schlüpfe ich zum ersten Mal in die Rolle meines Vaters. Weil ich es ihm schuldig bin. Weil ich ihn nicht retten konnte.
10 Jahre später
Ich bin der festen Überzeugung, dass Häuser genau wie Menschen Seelen haben und dass manche davon hässlich sind. Gleich sehe ich einem davon beim Brennen zu. Es ist das hässlichste Haus, das ich je betreten habe, obwohl es auf den ersten Blick wie der architektonische Traum jeder amerikanischen Familie wirkt. Schneeweiße Fassade, eine Veranda, die rings um das ganze Gebäude führt und durch ein Vordach geschützt ist, sodass man auch an regnerischen Tagen in einem protzigen Liegestuhl hocken, intellektuelle Bücher lesen und seinen Nachbarn den eigenen Wohlstand unter die Nase reiben kann.
Erst auf den zweiten Blick fallen einem die dunklen Flecken dieses idyllischen Bildes auf. Der etwas zu ungepflegte Vorgarten, die nicht gewässerten Blumen, die Farbe, die von dem weißen Gartenzaun abblättert und dringend nach einem frischen Anstrich schreit.
Auf den dritten Blick erkennst du schließlich die dreckige Wahrheit hinter der scheißkitschigen Fassade und den Fenstern, die schon seit Ewigkeiten nicht mehr geputzt worden sind. Und die Wahrheit ist, dass hinter den Mauern dieses Hauses eine Familie lebt, die Leben zerstört. Sie wollte mich zerstören. Er wollte mich zerstören. Aber ich werde einen Teufel tun und zulassen, dass dieser Mensch gewinnt. Eher setze ich die ganze Welt in Flammen, als Theodore Bennett noch länger mit dieser Scheiße davonkommen zu lassen.
Die Bennetts wirken nach außen hin – genau wie ihr fucking Traumhaus – bilderbuchmäßig. Sie eine Frau in den Mittvierzigern, die seit zwanzig Jahren in derselben Immobilienfirma arbeitet und von Jahr zu Jahr auf der Karriereleiter weiter nach oben klettert. Er ein Mann Anfang fünfzig, der immer wieder aufs Neue zum Verkäufer des Jahres in einem geleckten Autohaus gewählt wird. Die beiden haben sich kennengelernt, als sie zweiundzwanzig war und er sechs Jahre älter. Laut ihren Erzählungen waren sie schon beim ersten Date im Kino völlig ineinander verschossen, haben zwei Jahre später in Vegas geheiratet und sofort die Babyproduktion angeschmissen.
Aber es kam nie zu Nachwuchs. Jahrelang haben sie sich nichts sehnlicher gewünscht als ein sabberndes und schreiendes Kind, das ihre Familie und ihr Glück vervollständigt, doch als dieser Traum ihnen auch nach zehn Jahren nicht vergönnt war, ging alles den Bach runter. Das vorgesehene Kinderzimmer blieb ein seelenloser Raum, eine stetige Erinnerung daran, dass etwas fehlte. Dass irgendetwas mit ihnen nicht stimmte. Dass sie nie vollständig sein würden.
Irgendwann kam Charlotte Bennett auf die glorreiche Idee, Pflegekinder bei sich aufzunehmen, um die Leere in diesem Haus und ihrem angeknacksten Herzen zu füllen.
Woher ich das alles weiß? Weil ich zwei Jahre lang in dieser Hölle leben musste. Mein Körper ist übersät von Narben, die Theodore mir zugefügt hat, wenn er einen miesen Tag im Autohaus hatte, weil er eben doch nicht so geil in seinem Job ist, wie er immer dachte. Oder wenn ich den Putzplan vergessen und den Geschirrspüler nicht ausgeräumt habe, weil ich ein Teenager war, der gerade erst seiner leiblichen Mutter weggenommen wurde. Ich habe rebelliert, so wie ich bis heute rebelliere. Doch statt Hausarrest und Taschengeldentzug, wurde ich mit Schlägen und Erniedrigungen bestraft.
»Da braucht wohl jemand eine kleine Erinnerung daran, unter wessen Dach er lebt und an wessen Kühlschrank er sich bedient!« Das war sein Standardspruch, bevor er die Hand gegen mich erhoben oder sein Whiskeyglas nach mir geschmissen hat. Er hat mir kleine Souvenirs geschenkt. Manche davon sind nach ein paar Tagen wieder verschwunden, wie ein Veilchen unter dem Auge und oberflächliche Schrammen, andere trage ich noch heute mit mir. Aber damit ist jetzt Schluss. Ein für alle Mal.
In der linken Hand halte ich eine Flasche Rum, die ich in einem meiner Vorratsschränke gefunden habe, mit der rechten hole ich ein dunkles Leinentuch aus meinem Rucksack und wickle es um meine Fingerknöchel. Dann trete ich dichter an das Fenster ihres Schlafzimmers im Erdgeschoss heran. Im Inneren ist das Haus stockdunkel. Niemand ist da. Das weiß ich, weil ich Vorkehrungen getroffen habe. Ich will niemanden verletzen. Nicht körperlich jedenfalls. Ich will nur, dass dieses verdammte Haus bis auf seine Grundmauern niederbrennt und meine Erinnerungen gleich mit ausgelöscht werden. Ich will all die Demütigungen aus mir herausbrennen und dafür sorgen, dass Leyla in eine andere Familie kommt. Sie lebt mittlerweile viel länger in dieser Hölle, als ich es musste. Meine Zeit in diesem Gefängnis war nach zwei Jahren abgesessen, ihre fing da gerade erst an und währt bis heute.
Nachdem Leylas Eltern bei einem schweren Autounfall ums Leben kamen und es keine Verwandten gab, die sie aufnehmen konnten, hat sie das Jugendamt bei den Bennetts untergebracht. Seitdem ist sie wie eine kleine Schwester für mich, und obwohl wir seit fünf Jahren nicht mehr gemeinsam unter diesem Dach leben, sehen wir uns trotzdem regelmäßig. Heimlich natürlich, weil Theodore ihr den Kontakt mit mir verbieten würde. Mehr als einmal habe ich den Entschluss gefasst, zur Polizei zu gehen, aber Leyla hat mich angefleht, es nicht zu tun, weil sie nie daran geglaubt hat, dass die Bennetts ihre gerechte Strafe bekommen, und es ihre Situation nur noch schlimmer machen würde.
Also habe ich gekniffen.
Bis heute. Denn heute Nacht nehme ich die Abrechnung selbst in die Hand. Ich stelle die Rumflasche am Boden ab, ziehe das Handy aus der Tasche meiner Jeansshorts und öffne den Chat mit Leyla.
Jewel: Unser Kino-Date steht doch noch, oder? Hab gehört, Anyone But You soll die beste RomCom-Verfilmung der letzten zehn Jahre sein
Leyla: Moment, wir schauen eine RomCom? Du hasst doch RomComs! Du hasst alles, was mit Liebe zu tun hat!
Jewel: Wohl wahr, aber für dich mach ich ’ne Ausnahme. Falls du pünktlich bist … Bis jetzt stehe ich nämlich noch allein vor dem Kino. Wo bleibst du???
Leyla: Bin schon auf dem Weg! Besorg mir schon mal Popcorn. Salziges, bitte. 🙂
Die letzte Nachricht hat Leyla vor fünfzehn Minuten geschickt, was bedeutet, dass sie jeden Augenblick beim Kino sein müsste. Und somit in Sicherheit. Entschlossen stopfe ich das Handy zurück in meine Hosentasche, balle meine Hand zur Faust und ramme sie gegen die Fensterscheibe. Scharfer Schmerz zuckt durch meine Fingerknöchel, ich unterdrücke einen Schrei und sehe mich panisch in der Dunkelheit um. Es gibt wohl keine Möglichkeit, ein Fenster leise zu zerschlagen, hm?
Mit angehaltenem Atem warte ich darauf, ob einer der Nachbarn sein Haus verlässt, aber es bleibt totenstill in der Siedlung. Es blieb immer totenstill in diesen schicken Häusern, während in diesem hier Stühle gegen Wände geschmissen und Geschirr auf Fliesen zerschlagen wurde. Die Leute hören eben nur das, was sie hören wollen. Sie leben in ihrer Blase, und wehe, irgendeiner kommt dieser Blase mit seinen spitzen Nägeln zu nahe.
Vorsichtig schiebe ich die Glasscherben zur Seite, dann greife ich nach der Flasche am Boden, schraube den Verschluss auf und tränke das Leinentuch in Alkohol. Einen letzten Schluck behalte ich für mich. Ich muss mir keinen Mut antrinken. Ich weiß, dass ich das hier durchziehen werde. Spätestens, seit ich vor einer Woche Leylas frische Wunden gesehen habe, war mir klar, dass ich handeln muss. Egal wie. Egal, welche Konsequenzen es für mich haben würde. Ich muss sie da rausholen, und so könnte ich es schaffen.
Also nehme ich den letzten Schluck, um auf das Ende einer Ära anzustoßen. »Auf das Ende dieser schrecklich netten Familie«, sage ich, meine Stimme trieft vor Sarkasmus. Der Rum brennt in meiner Kehle, aber ich schlucke ihn hinunter, ohne eine Miene zu verziehen. In den Kreisen, in denen ich verkehre, saufen manche sogar morgens um sieben Rasierwasser.
Ein weiteres Mal checke ich die Umgebung. Noch immer bin ich allein und das Haus weiterhin stockfinster im Inneren, weil Theodore und Charlotte heute Abend auf einer Veranstaltung seiner Firma sind. Das weiß ich so genau, weil ich meine ehemaligen Pflegeeltern in der Instagramstory des Autohauses gesehen habe. Sie trug ein elegantes Abendkleid in Tannengrün, er einen altmodischen schwarzen Anzug, der ihm viel zu eng geworden ist. Am liebsten hätte ich auf mein Handy gekotzt. Aber ich muss mich konzentrieren.
Niemand wird hierbei körperlich zu Schaden kommen.
Seelisch hingegen werde ich diese Wichser zerstören. Und mit ihnen auch Leylas Zuhause, ihr Kinderzimmer, all ihre Tagebücher und Fotoalben. Aber es muss sein, weil ich sie nur so beschützen kann.
Entschlossenheit strömt durch meine Blutbahn, gepaart mit dem hochprozentigen Alkohol. Ich zücke mein Feuerzeug, fahre mit dem Daumen über das kleine Rädchen und fühle mich zum ersten Mal in der Nähe dieses Hauses nicht mehr schwach und schutzlos.
Das Leinentuch fängt sofort Feuer, und ich werfe es in die Dunkelheit ihres Schlafzimmers. Bye-bye, ihr Arschlöcher! Dann renne ich los. Ich renne, so schnell ich kann, achte darauf, mich immer im Schatten zu bewegen und den Straßenlaternen auszuweichen. Mit genug Sicherheitsabstand bleibe ich stehen und sehe dabei zu, wie das erste Zimmer dieses hässlichen Hauses in Flammen aufgeht. Sie züngeln Richtung Decke, erwischen die Vorhänge, tanzen von Wand zu Wand wie unpaid actors.
Und ich? Ich fühle mich besser, als ich mich fühlen sollte. Ich würde mich nicht als guten Menschen bezeichnen, aber auch nicht als einen von der schlimmen Sorte. Dieser Abend könnte mein persönlicher Wendepunkt sein. Die Skala verschiebt sich gerade ruckartig Richtung Abgrund, aber ich muss es tun. Für Leyla. Weil sie an Theodore zerbrechen wird, wenn sie noch länger mit ihm in diesem Haus leben muss. Während mein Blick an den Flammen haftet, hole ich erneut mein Handy hervor. Meine Hand schmerzt wie verrückt, blutet aber zum Glück nicht.
»Nun komm schon, Kleine«, murmle ich und öffne den Chat mit Leyla. Sie müsste längst beim Kino angekommen sein und sich wundern, wo ich bleibe. Sie müsste mich verfluchen, weil ich sie erst gehetzt habe und sie dann versetze. Aber sie ruft nicht an, schreibt mir nicht. Ihr Schweigen ist ohrenbetäubend.
Jewel: Wo bleibst du? Das Popcorn ist gleich alle!
Meine Nachricht bleibt ungelesen, auch dann noch, als die ersten Nachbarn auf das Feuer aufmerksam werden und panisch das Haus umstellen. Ich halte mich im Hintergrund, spiele nervös in der Bauchtasche meines Hoodies mit dem Rädchen des Feuerzeugs. Eins, das ich dringend loswerden muss, genau wie die leere Flasche Rum. Immer wieder fährt mein Daumen über das Rad. Erst langsam und ohne Druck, dann immer schneller und fester.
»Fuck!«, fluche ich leise und ziehe eilig die Hand aus der Tasche. Die Kuppe meines Daumens schmerzt wie verrückt. Das gibt eine fette Brandblase.
Fuck, fuck, fuck! Reiß dich zusammen, Jewel! Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um durchzudrehen.
Ich bleibe in sicherer Entfernung vom Haus, verschmolzen mit dem Schatten einer Eiche. So lange, bis wenig später die Feuerwehr anrückt und alles für ihren Einsatz vorbereitet. Einer der Feuerwehrmänner zieht meine Aufmerksamkeit dabei ganz besonders auf sich.
Er steht im Vorgarten, starrt wie gebannt in die Flammen, während seine Kollegen die Löschschläuche positionieren. Keine Ahnung, was mich an diesem Typen so fasziniert, aber ich kann den Blick nicht von ihm und seinen breiten Schultern lösen, die ich selbst durch die Uniform und auf unsere Distanz erahnen kann.
Panik schwappt wie Wasser durch die Straße, nimmt alle Leute für sich ein, die so viele Jahre ignoriert haben, was in ihrer unmittelbaren Nähe passiert ist. Es ist schier unmöglich, dass niemand das Drama gehört hat, das sich jeden Tag zugetragen hatte. Meine Schreie. Leylas Schreie. Noch immer keine Nachricht von ihr. Langsam drehe ich echt durch.
Nervös kaue ich auf der Innenseite meiner Wange herum, bis ich Blut schmecke. Aber Reue, Reue schmecke ich keine. Der mysteriöse Feuerwehrmann hat seine Position noch immer nicht verlassen, während seine Kollegen das Vorgehen besprechen, und als urplötzlich ein Schrei ertönt, erstarre ich augenblicklich.
Der Boden unter mir beginnt zu wanken, der Himmel kracht über mir zusammen. Begräbt mich unter Wolken und Sternen und dem Geruch von verbranntem Holz. Und die Reue, jetzt erwischt sie mich mit voller Wucht – ich habe versagt.
»Da ist noch jemand im Haus!«, höre ich eine Nachbarin rufen. Ich stolpere einige Schritte zurück, trete in eine Unebenheit am Boden und lande auf dem Hintern. Schaffe es, mich mit meinen Händen halbwegs abzufangen.
Da ist noch jemand im Haus.
Leyla. Sie muss es sein. Sie hätte längst in der Stadt sein und mich anrufen müssen. Stattdessen ist sie in dem Haus, das ich soeben in Brand gesteckt habe.
Als mein Elternhaus vor zehn Jahren in Flammen aufging, saß ich nichtsahnend ein paar Straßen weiter bei meinem besten Freund Philipp auf dem Sofa in seinem Keller. Ich war ein normaler Teenager, dessen einzige Sorge es war, dass die Buffalo Bills das Match verlieren könnten.
Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass sich mein Leben innerhalb einer Nacht um einhundertachtzig Grad drehen würde. Dass ich noch in derselben Nacht kein unbeschwerter Junge mehr sein würde, sondern der große Bruder zweier traumatisierter Schwestern, die alles hautnah miterleben mussten. Dass der Mann, zu dem ich mein ganzes Leben lang aufgeblickt hatte, tot war. Sein Herz hatte aufgehört zu schlagen, von einer Sekunde auf die andere.
Ich bin wenige Stunden zuvor durch unsere Haustür verschwunden, ohne mich noch einmal umzudrehen. Weil ich nicht wusste, dass am nächsten Tag nur noch Asche, Ruß und verbranntes Holz übrig sein würden. Ich kniete vor den Überresten im Gras und habe wie ein kleines Baby geheult, während noch immer dieser verkohlte Geruch in der Luft hing.
Jetzt bohren sich meine Stiefel in den Rasen dieses fremden Hauses, und ich habe das Gefühl, zehn Jahre in die Vergangenheit gereist zu sein. Flammen, die höhnisch hinter Fensterscheiben tanzen, dichter Rauch, der hinterhältig in den klaren Abendhimmel steigt.
»Jones, hörst du uns überhaupt zu?«, brüllt Jimmy, einer meiner besten Freunde und der mit Abstand beste Boss, den man sich nur wünschen kann. Er ist noch ziemlich jung für den Posten, aber er hat sich bewiesen, und das ist wichtiger als das Alter in seinem Ausweis.
Wir vertrauen ihm blind, und dieses Vertrauen ist bei einem Einsatz das A und O, weil wir uns auf ihn und seine Anweisungen verlassen können müssen, ohne Wenn und Aber. Er leitet uns, hört uns zu, ist Freund und Boss zugleich.
Im Hintergrund treffen meine Kollegen die letzten Vorbereitungen, bevor wir reingehen und den Brand löschen, der vor wenigen Minuten von besorgten Nachbarn gemeldet wurde. Während ich erfahren habe, dass alles, woran ich in den letzten zehn Jahren geglaubt habe, eine Lüge war.
Gracie hat den Brand verursacht, dem unser Vater zum Opfer gefallen ist. Gracie, meine kleine Schwester, die ich mehr liebe als mein gottverdammtes Leben. Der Schmerz in ihrer Stimme hat sich in meinen Ohren eingenistet, ich höre ihr Weinen noch immer in meinem Kopf, wie eine kaputte Schallplatte, wieder und wieder.
Es tut mir so leid. Bitte sag etwas.
Und ich konnte ihr nicht einmal versichern, dass es okay ist. Weil … ist es das? Ist es okay? Es fühlt sich nicht okay an.
»Verdammt, was ist heute bloß los mit dem?«, ruft Mike, während ich im Augenwinkel das Blinken unseres Löschfahrzeugs sehe. »Wir müssen uns beeilen, und er steht da und starrt in die Scheißgegend.«
Mein in Schutzkleidung gehüllter Körper wirft Schatten auf den Rasen, auf den Vorgarten der Familie, die nach dieser Nacht nie wieder dieselbe sein wird. So wie wir nie wieder dieselben waren. Aus drei Kindern wurden drei Halbwaisen, und wenn man die Abwesenheit unserer Mutter dazuzählt, wurden wir in jener Nacht sogar zu Vollwaisen.
Die Pumpen stehen bereit, die Hitzeschutzhaube fühlt sich schwer in meiner Hand an, und ich stehe völlig neben mir, beobachte die ganze Szenerie aus der Vogelperspektive. Meine Kollegen besprechen die letzten Details des Vorgehens, während ich abseitsstehe und das brennende Haus anstarre, als hätte ich einen Geist in den Flammen gesehen. Der Geist meines Vaters weilt in dem Feuer, welches Sekunden später eines der Fenster im Erdgeschoss zum Bersten bringt. Scherben fliegen durch die Luft, ein Zischen durchfährt die Nacht, ein kollektives Atemanhalten ergreift ganz Blossom Lake.
Nachbarn aus der Straße beobachten die Szenerie mit Sicherheitsabstand, Kinder weinen lauthals, Hunde bellen panisch, und ich stehe immer noch hier. Regungslos. Erstarrt. Ferngesteuert.
Das hier bin nicht ich. Normalerweise wahre ich immer meinen Fokus, aber ich habe ihn anscheinend in der WG bei meinen Geschwistern gelassen, als Gracie uns nach Jahren die Wahrheit gesagt hat. Eine Wahrheit, die einfach nicht in meinen Kopf gehen will. Vermutlich nie.
Auf einmal ertönt ein Schrei aus dem Inneren des Hauses, so laut, so markerschütternd, dass es mich endlich aus meiner Erstarrung reißt und meine Gedanken an das Gespräch mit Gracie in den Hintergrund rückt.
»Scheiße, wir müssen uns beeilen! Sind alle Pumpen bereit?« Jimmy brüllt Anweisungen für jeden von uns, aber ich höre nicht wirklich hin, als ich den Hitzeschutz vor mein Gesicht ziehe und loslaufe. Nicht auf meinen Einsatzleiter zu hören ist ein absoluter Fehltritt, den ich mir nicht erlauben kann, und den ich trotzdem begehe. Weil uns die Zeit durch die Finger rinnt und ich nicht tatenlos dabei zusehen werde, wie eine weitere Familie einem Feuer zum Opfer fällt.
»Jones, warte, bis ich dir das verfluchte Go gebe!«
»Ich kann nicht warten«, ist alles, was ich erwidere. Weil ich weiß, wie hinterhältig die Flammen sind. Verlieren wir zu viel Zeit, könnte jemand schwer verletzt werden, wenn es nicht schon zu spät ist. Dieser Schrei steckt mir bitter in den Knochen, und er wird erst wieder verschwinden, wenn ich die Person unversehrt aus dieser tickenden Zeitbombe geholt habe, die jeden Augenblick hochgehen kann.
Je näher ich den Flammen komme, desto mehr bin ich in meinem Element. In meiner Welt. Einer Welt, in der ich alles daransetze, anderen Menschen das Schicksal zu ersparen, das wir erlitten haben.
Es muss mir gelingen. Besonders heute Nacht. Ich muss dieses Leben retten. Und ich werde es. Koste es, was es wolle. Der Tumult um mich herum wird größer, als ich ohne Verstärkung in das brennende Gebäude renne. Sobald ich die Schwelle übertrete, verwandelt sich dieses Haus in mein Haus. Unser Haus. Ich sehe Möbel, die ich noch nie zuvor gesehen habe, und die mir doch so furchtbar bekannt vorkommen. Vorhänge, die eine andere Farbe haben als unsere damals, und mir doch so vertraut erscheinen. Häuser, die meterhoch in Flammen stehen, sehen am Ende doch irgendwie alle gleich aus.
Ich reiße mich aus meiner Trance, rufe mir ins Gedächtnis, was ich hier mache und wofür ich es tue. In meiner linken Hand halte ich ein feuerbeständiges Seil, mit dem ich für meine Kameraden die Räume markieren werde, die ich bereits durchkämmt habe. Dieser Schrei steckt mir noch immer in den Knochen, aber ich hatte von draußen keine Möglichkeit, seinen Standort zu lokalisieren. In keinem der Räume brannte Licht, weshalb die Person überall sein kann.
Sobald ich vier Räume im Untergeschoss durchforstet und niemanden angetroffen habe, nehme ich die Treppe ins Obergeschoss. Der Feuerherd muss sich unten befinden, denn das obere Stockwerk ist noch frei von Flammen. Dafür ist der Rauch auch hier oben bereits dicht wie eine Wand.
Schon bevor ich die letzte Treppenstufe nehme, entdecke ich ein Mädchen, schätzungsweise um die vierzehn Jahre alt, mit rotblonden Locken und herzförmigem Gesicht. Sie erinnert mich schmerzlich an meine kleine Schwester Gracie, die noch heute Albträume plagen, in denen unser Zuhause niederbrennt. Wieder und wieder. Das, was ich heute Abend erfahren habe, rückt alles in ein neues Licht, selbst ihre Träume.
»Wie ist dein Name?«, rufe ich dem Mädchen zu.
»Leyla.« Ihre Stimme ist kaum mehr als ein Krächzen. Leyla presst sich dicht gegen die Wand, ihre Beine in den dunklen Jeans zittern. Keine Ahnung, ob sie so in der Lage ist, selbst zu laufen.
»Okay, Leyla. Mein Name ist Isaiah, und ich hole dich hier raus!«, versichere ich ihr und strecke meine freie Hand nach vorn. Ihr Blick huscht panisch von links nach rechts, bevor sie meine Hilfe schließlich schluchzend annimmt und nach meiner Hand greift. Ein Hustenanfall schüttelt sie, während ich die Bilder von Stella und Gracie in jener Nacht vor zehn Jahren verdränge. Ich muss mich konzentrieren, muss im Hier und Jetzt sein, nicht in der Vergangenheit.
»Ist noch jemand im Haus, Leyla?«
»N-nein«, stammelt sie. »Ich bin allein hier.«
»Kannst du laufen?« Unter der Hitzeschutzhaube klingt meine Stimme gedämpft, aber sie versteht mich sofort und schüttelt den Kopf.
»Ist es okay, wenn ich dich trage?« Dieses Mal nickt sie. Behutsam hebe ich sie hoch, werfe einen Blick die Treppe hinab. Die Flammen züngeln mittlerweile zielstrebig auf uns zu. Das Treppenhaus ist versperrt. Auf keinen Fall können wir da durch, ohne dass sie verletzt wird.
»O mein Gott.« Leyla kneift die Augen zusammen und drückt ihr Gesicht fest gegen meine Schulter. »Ich will nicht sterben.«
»Du wirst nicht sterben, Leyla. Das lasse ich nicht zu.«
Sie bebt am ganzen Körper vor Angst. Bei meinen ersten Einsätzen bin ich ebenfalls in Panik geraten, mittlerweile erwischt sie mich nur noch selten mit der anfänglichen Wucht. Meine Kameraden haben bereits im Untergeschoss mit der Löschung des Hauses begonnen, aber Leyla atmet zu viel Rauch ein, wenn wir noch mehr Zeit verlieren. Wir müssen hier raus, und zwar sofort.
Mit Leyla auf dem Arm steuere ich einen der Räume an, die ein Fenster zur Straßenseite haben. So schnell wie möglich bin ich am Fenster angelangt, schiebe es nach oben auf und bin erleichtert, als ich sehe, dass meine Kollegen bereits die nötigen Vorkehrungen getroffen haben, um uns hier rauszuholen.
Mike und Paul positionieren die Rettungsleiter direkt unter dem Fenster, an dem wir stehen. »Ich lasse sie jetzt runter!«, brülle ich ihnen zu, hebe Leyla mit Leichtigkeit auf die Fensterbank und helfe ihr, rauszuklettern. »Pass beim Absteigen auf. Meine Kollegen warten unten auf dich. Du bist in Sicherheit.«
Keine Ahnung, ob ich wirklich zu ihr durchdringe, aber ich gebe mein Bestes, die Heftigkeit dieses Erlebnisses so gut es geht für sie abzufedern. Ich gebe einhundertzehn Prozent. Immer. Jedes einzelne Mal. Selbst wenn es sich nur um eine Katze handelt, die sich in der Krone eines Baumes verirrt hat und nicht mehr ohne Hilfe herunterkommt. Zu sagen, dass ich meinen Job ernst nehme, wäre die Untertreibung des Jahrhunderts. Meine Schwestern sagen nicht ohne Grund ständig, dass ich mit meiner Uniform verheiratet bin.
»Jones, komm runter! Die anderen haben die Lage im Griff!«, bellt Mike wie ein wütender Terrier, der sich gleich in deinem Hosenbein verbeißen will. Er kann mich nicht sonderlich ausstehen, und dass ich nicht auf Jimmys Anweisungen gehört habe, spielt ihm gerade vermutlich in die Karten.
Noch einmal blicke ich mich in dem dunklen Zimmer um, mein Blick flackert, und dieser fremde Raum mit dem schmalen Bett und den Band-Postern an den Wänden verwandelt sich in das Kinderzimmer meiner Schwestern. Gracie und Stella haben es sich seit Gracies Geburt geteilt, weil unser Haus nicht mehr Platz hergegeben hat. Mehr als einmal haben wir zu dritt in dem kleinen Raum geschlafen. Ich auf dem Boden, Gracie links, Stella rechts von mir. Manchmal kam sogar Dad dazu und hat uns vorgelesen, obwohl wir alle unterschiedlich alt waren.
»Isaiah, verdammt! Beweg endlich deinen Arsch hier runter!« Dieses Mal ist es der Boss persönlich, also schwinge ich mich über die Fensterbank nach draußen und steige die Leiter hinab. Sobald ich mit den Boots auf dem Rasen lande, stürmt unser Feuerwehrhauptmann bereits wütend auf mich zu. Er ist geladen wie eine Shotgun.
»Was zur Hölle sollte das?«
»Habt ihr Leyla untersucht? Hat sie Sauerstoff bekommen?«
»Natürlich hat sie das! Weißt du auch, wieso?« Jimmy verengt die Augen und sieht mich an, als hätte ich ihn gerade gefragt, ob wir den nächsten Brand löschen wollen, indem wir Marshmallows aufs Haus werfen. »Weil wir uns ans Protokoll halten, Isaiah. Du kannst nicht einfach irgendwelche Alleingänge machen. Was hast du dir dabei gedacht, Mann?«
»Ich weiß, tut mir leid. Mein Abend war bescheiden«, antworte ich ehrlich. Mein Abend war nicht nur bescheiden, sondern beschissen. Aber meine privaten Probleme haben während eines Einsatzes keinen Platz.
»Und ich habe seit der Geburt meiner Tochter keine Nacht länger als ’ne Stunde gepennt, muss ständig vollgeschissene Windeln wechseln und Babykotze von den seltsamsten Stellen wegwischen, aber das würde trotzdem nichts entschuldigen. Du hast dich in Gefahr gebracht.«
»Es geht mir gut, Jimmy!« Für meine Antwort ernte ich ein tiefes, fast schon animalisches Knurren. So in Rage habe ich ihn noch nie erlebt, und ich überlege schon, wie ich mich entschuldigen kann. Vielleicht biete ich ihm an, mal aufs Baby aufzupassen, wenn es älter ist. Babykotze wegwischen sollte kein Problem sein, damit kenne ich mich als großer Bruder schließlich aus.
»Noch so eine Aktion und es wird Konsequenzen haben, Jones, sonst gibt es Spannungen im Team.« Er hält Daumen und Zeigefinger mit wenig Abstand vor meine Nase. »Du stehst so kurz davor, befördert zu werden. Verbock es dir nicht auf der Zielgeraden!«
»Kommt nicht wieder vor«, verspreche ich ihm und meine es ehrlich. Leyla ist in Sicherheit, und das ist alles, was im Moment für mich zählt. Zumindest rede ich mir das ein. Denn das Gespräch, das ich vor meinem Einsatz mit Gracie und Stella geführt habe, will mir einfach nicht aus dem Kopf gehen.
Zehn Jahre lang war ich in dem festen Glauben, dass uns eine defekte Gasleitung das Zuhause gekostet hat. Jetzt kenne ich die schmerzliche Wahrheit: Meine kleine Schwester wollte damals ihrem besten Freund Fynn zu seinem dreizehnten Geburtstag einen Kuchen backen, stattdessen hat sie dabei unser Zuhause in Brand gesteckt. Und ich kann nicht einmal wütend auf sie sein, weil ich sie mehr als mein Leben liebe. Weil ich Dad versprochen habe, auf sie aufzupassen. Bedingungslos. Und ich mein Versprechen nicht brechen werde.
Das Mädchen, das ich um jeden Preis beschützen wollte, hätte heute Nacht meinetwegen sterben können. Die Minuten, in denen ich mit stockendem Atem darauf gewartet habe, dass die Feuerwehrleute ihren Job machen und Leyla aus den Flammen retten, waren die längsten Minuten, die ich je erlebt habe. Selbst die Abende und Nächte, in denen Theodore seine Wut an mir ausgelassen hat, waren nicht so schlimm. Nicht ansatzweise. Weil ich wusste, dass ich zu keiner Sekunde irgendeine Schuld getragen habe.
Ich war zu feige, um mich zu den anderen Schaulustigen zu stellen, stattdessen habe ich weiterhin im Schatten gekauert und meine Finger in die feuchte Erde gegraben. Dabei hätte ich sie am liebsten in mein Hirn gejagt, damit die rasenden Gedanken und Selbstvorwürfe stoppen. Natürlich haben sie nicht aufgehört.
Erst als Leyla über die Rettungsleiter aus dem brennenden Haus fliehen konnte und von den Ersthelfern untersucht wurde, wurden sie minimal leiser, aber ganz verschwinden wollten sie nicht.
Jetzt muss ich sie sehen, muss mich aus erster Hand versichern, dass sie okay und unbeschadet davongekommen ist. Vermutlich ist es hochgradig dämlich von mir, jetzt ins Krankenhaus zu gehen und nach Leyla zu fragen, wenn ich nicht mit dem Brand in Verbindung gebracht werden will, aber das spielt gerade keine Rolle.
Meine rechte Hand schmerzt, pocht, zittert, während ich über den ruhigen Flur des Krankenhauses renne. Ich hasse Krankenhäuser. Besonders nachts, wenn kaum Leben auf den Gängen herrscht. Schon tagsüber schreit in solchen Wänden alles nach Gebrechlichkeit, aber nachts? Nachts schreit es nach einem Sarg in ein Meter achtzig Tiefe. Ich hasse es.
Eine Krankenschwester mit grauer Föhnfrisur sitzt hinter dem Empfangstresen, und schon auf den ersten Blick weiß ich, dass es schwer wird, diese Nuss zu knacken. Vielleicht liegt es an der steilen Falte zwischen ihren ergrauten Brauen, vielleicht an der strengen Direktorinnenbrille auf ihrer Nase. Auf keinen Fall wird sie mir eine Auskunft über Leyla geben, wenn ich nicht mit ihr verwandt bin, und das bin ich nicht. Leyla und ich haben uns sechs Monate lang ein und dieselbe schreckliche Pflegefamilie geteilt, aber durch unsere Adern fließt nicht dasselbe Blut. Ich bin am Arsch. Maximal.
Als ich den Tresen erreiche, wird die Furche in ihrer Stirn noch etwas tiefer. »Besuchszeit ist lange vorbei, Mädchen.«
Mädchen.
Am liebsten würde ich ihr den Mittelfinger zeigen und sie fragen, woher sie wissen will, dass ich mich als Frau identifiziere, aber ich habe wirklich keine Zeit für eine Grundsatzdiskussion. Also müssen meine besten Schauspielskills her, auch wenn sie mächtig eingerostet sind.
»Ich wollte nur Bescheid geben, dass es auf Station eins ’ne üble Prügelei gibt.«
»Wie bitte?«, faucht sie. »Unsinn. Es ist mitten in der Nacht. Ganz sicher gibt es keine Schlägerei auf meiner Station!«
»Ohne Witz, ich hab es mit eigenen Augen gesehen. Da prügeln sich zwei ältere Herrschaften um ihren morgendlichen Waldmeisterwackelpudding. Der eine hat bei der Rangelei sogar sein Gebiss verloren, glaub ich.«
»Veräppel jemand anderen, Mädchen.«
Noch einmal dieses herablassende Mädchen, und ich zeige ihr, dass ich einen stärkeren Bizeps als mancher Ex-Alcatraz-Insasse habe.
»Okay.« Gleichgültig zucke ich mit den Schultern. »Wenn Sie meinen, dass Sie noch zwei Plätze auf der Intensivstation frei haben, bitte. Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt«, mein Blick huscht zu ihrem Namensschild, »Bianca. Der eine Opa kann Taekwondo oder so, sah zumindest ziemlich beeindruckend aus. Und ein bisschen gefährlich.«
Ihre grauen Augen weiten sich um wenige Millimeter. »Hieß der Herr zufällig Richard?«
»Keine Ahnung. Der andere hat ihn Richie genannt. Gut möglich«, improvisiere ich.
»Verdammt«, flucht sie und springt von ihrem Stuhl auf. Anscheinend gibt es auf ihrer Station einen fitten Opa namens Richard, der für seine Taekwondo-Skills bekannt ist. Zum ersten Mal seit meiner Geburt ist die göttliche Fügung auf meiner Seite. Womit habe ich das denn verdient? Normalerweise spielt mir das Schicksal nie derart in die Karten, stattdessen tritt es mir regelmäßig gewaltig in den Arsch.
»Ich gehe lieber mal nachsehen. Nur zur Sicherheit«, brummt Bianca und eilt mit schnellen Schritten in ihren weißen Crocs davon. Ich nutze den Moment, stürze hinter den Tresen und stoße innerlich einen Jubelschrei aus, als ich sehe, dass die strenge Bianca ihren PC nicht gesperrt hat.
»Dann finde ich eben allein raus, auf welchem Zimmer Leyla liegt«, murmle ich siegessicher. Es dauert nicht lang, bis ich die Suchleiste gefunden habe, in die man Patientennamen eintippen kann.
Jackpot.
Leyla Stevens.
Station zwei.
Zimmer vierundzwanzig.
Da von der Krankenschwester noch immer jede Spur fehlt, schnappe ich mir einen schwarzen Kugelschreiber aus dem Stifthalter und setze die Mine auf die beschreibbare Unterlage. Wenige Sekunden und ein befriedigendes Gefühl später ziert ein künstlerischer Scheißhaufen Biancas Notizen, mitsamt den schönsten und detailgetreusten Fliegen, die ich je gemalt habe. Vielleicht sollte ich das Motiv mal einem Kunden stechen. Zufrieden werfe ich den Kuli zur Seite, springe auf und mache mich auf den Weg zu Station zwei.
Zimmer vierundzwanzig ist schnell gefunden, doch so eilig ich es eben noch hatte, Leyla zu sehen und sicherzugehen, dass sie keine schweren Verletzungen davongetragen hat, so zögerlich laufe ich jetzt vor der Tür auf und ab. Was soll ich ihr sagen? Wie soll ich ihr unter die Augen treten, ohne ihr zu verraten, dass ich für dieses Schlamassel verantwortlich bin?
Schlamassel? Ernsthaft, Jewel? Das hier geht weit über ein harmloses Schlamassel hinaus.Das hier geht Richtung Katastrophe, Richtung Körperverletzung. Und irgendwie passt es zu mir und meinem Leben. Ich bin eine 1,65 m große Scheißkatastrophe mit Körbchengröße C und aktuell violetten Haaren, die vor lauter Spliss schon lange um einen frischen Schnitt betteln.
»Jetzt geh einfach rein«, knurre ich mich selbst an, doch gerade, als ich nach der Türklinke greifen will, ertönt aus dem Inneren des Zimmers eine Stimme, die ich nur zu gut kenne. Und hasse. Zur Hölle, wie sehr ich dieses dunkle Timbre verabscheue.
»Jetzt hör endlich auf zu heulen, Charlotte!«, weist Theodore seine Frau in die Schranken, deren Schluchzen ich jetzt ebenfalls hören kann. Langsam lege ich das Ohr ans Türblatt und lausche. »Sie hat’s ja überlebt. Unser Haus hingegen ist hin! Darüber solltest du lieber flennen.«
Was für ein Scheißwichser. Seine Pflegetochter hätte sterben können, und alles, was für ihn zählt, ist diese fucking Protzbude. Ich könnte ihm geradewegs ins aufgequollene Gesicht kotzen, aber dafür müsste ich ihm gegenübertreten, müsste Fragen beantworten, die ich nicht beantworten kann. Weil noch niemand über den Brand Bescheid wissen kann, der nicht selbst vor Ort gewesen ist. Theodore würde sofort eins und eins zusammenzählen und mir diesen Schuh anziehen. Einen Schuh, der mir zwar viel zu gut passt, aber absolut nicht meinem Stil entspricht. Ich bin rebellisch, ja, aber ich bin nicht kriminell. Zumindest war ich es bis vor wenigen Stunden nie, obwohl ich viele Möglichkeiten hatte, das Gesetz zu brechen. Mein Freundeskreis befindet sich stets mit einem Fuß auf dem Revier, aber ich habe mich immer brav davon distanziert, weil ich Pläne und Ziele habe, die ich nicht leichtfertig aufs Spiel setzen kann.
»Es tut mir leid«, fiept Charlotte, und mein Brechreiz wird noch mehr getriggert, weil sie vor ihm kuscht, anstatt ihm die Stirn zu bieten. Ich verstehe sie. Sie hat Angst vor ihrem Mann. Aber ich habe ihr mehr als einmal meine Hilfe angeboten. Nie hat sie sie angenommen. Man kann niemanden zu seiner Freiheit zwingen, das musste ich schon lernen, als ich selbst noch ein Kind war.