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Diese Leseprobe enthält drei von vierundzwanzig Science-Fiction-Erzählungen aus der gleichnamigen Anthologie. Die Stories sind teils utopisch, teils dystopisch, angesiedelt zwischen sehr naher und sehr ferner Zukunft – und in einem Fall in der Vergangenheit. Mit dabei sind natürlich die üblichen Verdächtigen (Aliens, Astronauten und Zeitreisende), doch auch Menschen wie Du und Ich, die sich mit manchmal etwas zweifelhaften Errungenschaften von Technik und Gesellschaft herumschlagen dürfen ...
Für »Relokation« wurde der Autor 2018 für den Deutschen Science-Fiction-Preis nominiert.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
»Und? Exposé schon fertig? Ist ja nur noch eine Woche bis Einsendeschluss.«
Ehe Mark antwortet, geht er ein letztes Mal mit dem Tuch über die verspiegelte Scheibe vor ihm. Endlich ist sie frei von Staub, Schlieren und Tropfenspuren; so kann er sich seinem Kollegen zuwenden: »Nö. Letztes Jahr, da dachte ich, ich habe mit dem sprechenden Löwen ’ne echte Traum-Idee. Aber wer gewinnt dann? Ella mit ihrem Drachen-Szenario. Ausgerechnet Ella! Und ich gab ihr sogar noch Schreibtipps, weil sie im Vorjahr bei ihrer ersten Teilnahme gleich in der Vorrunde ausschied.«
»Für dich ist es jetzt schon ... Wie oft warst du dabei?«
»Elf Mal«, stöhnt Mark. »Seit zwölf Jahren schreibt die Regierung den Wettbewerb aus; seit zwölf Jahren kann jeder Konzepte entwerfen für eine noch raffiniertere, noch phantastischere Gestaltung von Traum-Szenarien. Seit dem zweiten Jahr bin ich mit dabei; dreimal kam ich in die zweite, einmal sogar in die dritte Runde. Klasse Konzept eigentlich! Ich meine, warst du nicht auch oft enttäuscht von deinen Träumen? Von Träumen, die du vor Monaten beantragt, auf die du dich Wochen gefreut, für die du womöglich extra bezahlt hast ... Und dann war es doch nur ein abgegriffenes Krimi-Szenario, ein 08/15-Fantasy-Setting, eine stumpfsinnige Gewalt-Orgie ...«
»Stimmt; das kommt vor.«
»Eben. Da denkt man sich doch: Das kann ich besser! Und was habe ich mir nicht schon alles an Konzepten aus den Fingern gesogen: Interplanetare Reisen, schlüpfrige Szenarien, exotische Länder, raffinierte Heists, wilde und zahme Tiere ... Aber entweder hatten andere die gleiche Idee, oder es war noch nicht realisierbar wegen mangelnder Rechner-Kapazitäten, zu geringer Bandbreite im Dream Net und so, oder es fiel einfach durchs Raster.«
»Und wäret ihr nicht ein Paar gewesen, Ella hätte nie an dem Wettbewerb teilgenommen. Stimmt’s?«
Wieder stöhnt Mark auf: »Erinnere mich nicht daran! Jetzt hat sie auf ewig frei: Muss nicht mehr arbeiten, muss sich nicht mehr um die Knete sorgen ... Sie ist frei!«
Er pfeffert seinen Putzlappen derart schwungvoll in den Eimer, dass die vier Meter breite, aber nur einen Meter tiefe Arbeitsplattform ins Schwanken gerät.
»He, Vorsicht: Das sind 300 Meter bis unten! Stimmt schon, aber du musst zugeben: Eine klasse Idee, die sie da hatte! Hast du ihr neues Szenario schon genutzt? Ist zwar ziemlich ausgebucht, aber ab und an hat man Glück; ein Slot wird frei, und man bekommt zwei, drei Stunden Traumzeit.«
Mark reagiert mit einer wegwerfenden Geste: »Fantasy-Szenarien ... Klar, ich hab mich auch dran versucht, aber für meine Träume, da ist das nix: Da brauche ich Sport, Action und so. Freiheit, das ist für mich eine Tiefschnee-Abfahrt im Hochgebirge mit meinen Kumpels, ohne sich um Lawinen, Lifts und kaputte Knochen sorgen zu müssen!«
»Hast du eine Ahnung! Letzte Nacht konnte ich Ellas Szenarien mal erproben. Echt traumhaft: Ich war mit meiner Tochter unterwegs, an dem Gebirgssee, wo wir schon oft waren. Die Kleine schwimmt, droht zu ertrinken, und plötzlich rettet sie ein Wasserdrache. Der nimmt uns mit zu einem Rundflug über die Berge ... Unglaublich überzeugend, diese Flug-Sequenz, und auch die 3D-Efekte sind inzwischen perfekt! Was die an Soft- und Hardware im Dream Centre haben müssen; was da an Daten durchs Dream Net fließt ... Waren garantiert Tausende, die das Szenario gleichzeitig genutzt haben; vielleicht Hunderttausende! Und alles ausgehend von Ella als neue Dream Artificer. Fantasy liegt ihr echt.«
Fast synchron drehen sich die zwei auf ihrer Arbeitsplattform um. Um sie herum, aufwärts und abwärts wolkenkratzt es Meilenweit. Die Glas-, Stahl- und Alu-Fassaden reflektieren die Strahlen der tiefstehenden Sonne, doch im Schatten verbleiben die Straßenschluchten. Diese verbinden die City mit den Ghettos der Vorstadt, und wo Nebel, Smog und Dunst den Horizont verschmieren, da erahnt Mark sein Viertel. Dieser An- und Ausblick ist allzu deprimierend; so wendet er sich in die andere Richtung, wo sich die stockwerkprotzenden Doppeltürme einer Großbank erheben. Zwischen ihnen erahnt man eine Grünfläche, und in dieser – versteckt unter Bäumen – einen bunkerartigen Beton-Bau. »Das Dream Centre ... Da darf Ella jetzt träumen und Träume schaffen – rund um die Uhr. Gott, wie ich sie hasse!«
Sein Kollege schüttelt den Kopf: »Ich weiß nicht ... Ewiger Schlaf? Nichts für mich!«
Mark schnauft verächtlich: »Ach ja? Hier ein öder, mies bezahlter Job, bei dem wir täglich die Fenster von Gebäuden putzen, in die man uns nicht mal rein lässt. Dort die Herrschaft über eine Welt, die man selbst erschaffen hat. Hier Sklave, dort Gott! Da fällt mir die Wahl nicht schwer.«
»Aber es ist nicht echt. In Wahrheit, da liegt man irgendwo, angeschlossen an riesige Rechner ... Ohne Ende, ohne je wieder aufzuwachen!«
»Umso besser.«
Sein Nebenmann mustert Mark einen Moment; dann klopft er ihm lachend auf die Schulter: »Hast vielleicht recht. Und irgendwann klappt das auch bei dir. Mann, du bekommst sogar drei Tage frei zum Schreiben!«
»Na toll: Die drei Tage beginnen morgen, und ich habe null Idee! Ich bin 40; wer weiß, wie oft mir noch was einfällt, wie viele Jahre ich noch Fenster putzen muss, bis ich beim Wettbewerb zumindest statistisch eine Chance von wenigstens Fifty-Fifty habe, Ella im Centre Gesellschaft zu-«
Fifty-Fifty: Da kommt ihm die Idee. Vor Freude würde er am liebsten laut aufschreien, doch verkneift er sich das: Diesmal wird er niemandem etwas verraten! So dreht er sich wieder zu den Fenstern um: »Was soll’s! Na los; die Scheiben putzen sich nicht von allein.«
Sein Kollege stutzt, kichert dann aber belustigt: »Eigentlich sollten sie genau das tun; Lotus-Effekt und so. Glücklicherweise nutzt sich das ab; sonst müsste ich mir einen neuen Zweit-Job suchen – schon wieder.«
Mark nickt grimmig, als er zum Putzmittel greift: »Ich wünschte, ich käme mit zwei Jobs aus! Ich wünschte, es wäre wieder Nacht und Zeit zum Träumen!«
»Hey, nur zwölf Stunden, dann geht’s wieder ab ins Traumreich! Und diese Woche habe ich echt Glück: Gestern der Drachen-Traum, und heute früh bekam ich die Nachricht, dass unser Jagd-Traum bewilligt ist. Ich und die Kumpels meiner Dream Group haben den beantragt: Jagd auf Adler, Luchs und Steinbock im Hochgebirge; kitschiger Sonnenuntergang inklusive – und Besäufnis auf der Almhütte; garantiert ohne Kater! Dafür haben wir letzte Woche zehn Extrastunden in der Deponie geschuftet. Aber das ist es wert, meinte Fred; der kennt das Szenario schon. Und; was hast du geträumt letzte Nacht?«
»Hatte alles vergessen, wie ich aufwachte.«
»Was!? Das sollte mit den neuen Interfaces doch nicht mehr vorkommen.«
»Erzähl das dem Kundendienst vom Dream Service! Das dritte Mal diesen Monat! Aber wenn man halt nur das Standard-Gratis-Modell hat ...«