Noch ein Mord, Mylord - Kramp Ralf - E-Book + Hörbuch

Noch ein Mord, Mylord E-Book und Hörbuch

Kramp Ralf

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Beschreibung

Neue Fälle für seine Lordschaft Wer entführte Marilyn Monroe? Wer überfuhr Eleanor Rigby auf dem Zebrastreifen der Abbey Road? Wer stahl am Weihnachtsabend den Bombay Saphir auf Dorincourt Castle? Diese und andere geheimnisvolle Rätsel kann nur einer lösen: Reginald Lord Merridew, der versnobte Privatdetektiv mit dem fatalen Hang zu üppigem Essen und rabenschwarzen Witzen. Ein Bauch wie ein Portweinfass, ein Adelsstammbaum wie eine tausendjährige Eiche und ein Gehirn wie ein Hochleistungscomputer – kein Kriminalfall der Nifty Fifties, der Swinging Sixties oder der Super Seventies, den er nicht lösen kann. Gemeinsam mit seinem Freund Nigel Bates reist seine Lordschaft in dessen feuerroten Nash-Healey kreuz und quer durch Good Old England und bringt die Verbrecher zur Strecke.

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Seitenzahl: 346

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Zeit:8 Std. 14 min

Sprecher:Ralf Kramp

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Vom Autor bisher bei KBV erschienen:

Tief unterm Laub

Still und starr

… denn sterben muss David!

Kurz vor Schluss (Kriminalgeschichten)

Ein Viertelpfund Mord (Kriminalgeschichten)

Ein kaltes Haus

Nacht zusammen (Kriminalgeschichten)

Stimmen im Wald

Voll ins Schwarze (Kriminalgeschichten)

Starker Abgang (Kriminalgeschichten)

Mord und Totlach (Kriminalgeschichten)

Totholz

Schuss mit lustig (Kriminalgeschichten)

Ihr Mord, Mylord (Kriminalgeschichten)

So tot wie nie (Kriminalgeschichten)

Kurz und kopflos (Kriminalgeschichten)

Die »Herbie Feldmann«-Krimis:

Spinner

Rabenschwarz

Der neunte Tod

Malerische Morde

Hart an der Grenze

Totentänzer

Abendlied

Aus finsterem Himmel

Mord mit Eifelblick

Ein Grab für zwei

Außerdem gehören Herbie und Julius zu den Hauptdarstellern des Gemeinschafts-Romans Acht Leichen zum Dessert, der von den acht Autoren des Krimi-Camps verfasst wurde.

Ralf Kramp, geb. 1963 in Euskirchen, lebt in einem alten Bauernhaus in der Eifel. Für sein Debüt Tief unterm Laub erhielt er 1996 den Förderpreis des Eifel-Literatur-Festivals. Seither erschienen mehrere Kriminalromane und zahlreiche Kurzgeschichten. In Hillesheim in der Eifel unterhält er zusammen mit seiner Frau Monika das »Kriminalhaus« mit dem »Deutschen Krimi-Archiv« (30.000 Bände), dem »Café Sherlock«, einem Krimi-Antiquariat und der »Buchhandlung Lesezeichen«. www.ralfkramp.de · www.kriminalhaus.de

Originalausgabe

© 2021 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim

www.kbv-verlag.de

E-Mail: [email protected]

Telefon: 0 65 93 - 998 96-0

Umschlagillustration: Ralf Kramp

Print-ISBN 978-3-95441-565-6

E-Book-ISBN 978-3-95441-574-8

Für Father Brown, Mrs Adela Beatrice Lestrange Bradley,Mr Albert Campion, Mr Gervase Fen, Dr Gideon Fell,Mr Sherlock Holmes, Miss Jane Marple,The Honourable Constance Ethel Morrison-Burke,Monsieur Hercule Poirot, Mr Nigel Strangeways,Lord Peter Wimsey und all ihre allwissenden, exzentrischenAmateurdetektiv-Kollegen und -Kolleginnen.

Dieses Buch ist ihnen allen mit aufrichtiger Hochachtung undgroßer Zuneigung gewidmet.

»Sir« Superspürnase

Neben zahlreichen achtbaren Militärs erlangen auch alljährlich verdiente Zivilisten für ihre Leistungen für Krone und Vaterland am Neujahrstag oder zum Geburtstag von Queen Elizabeth II. im Juni die Ritterwürde. Noch nie war es jedoch bislang einem Privatermittler vergönnt, für seine Verdienste mit einem Ritterschlag ausgezeichnet zu werden.

Anlässlich der Geburtstagsfeierlichkeiten der Queen wurde in diesem Jahr unter anderem Reginald Lord Merridew, 1. Earl of Grothbury in den Ritterorden von St. Michael and St. George aufgenommen. Er erhielt in einer feierlichen Initiationszeremonie die Ritterwürde durch die Monarchin.

Lord Merridew kniete sich standesgemäß vor der Königin hin, die ihn sodann mit einer Schwertspitze auf der rechten und dann auf der linken Schulter berührte.

Der frischgebackene »Sir«, der seit einiger Zeit nicht mehr investigativ tätig ist und den meisten Landsleuten eher durch seine TV-Werbung für eine berühmte Scotch-Marke bekannt ist, teilte im Anschluss an die Zeremonie seine Freude mit der anwesenden Presse, indem er auf die ihm übliche launige Art William Shakespeare zitierte: »Manche sind groß geboren, manche erwerben Größe und manchen wird die Größe zugeworfen!«

(Daily Mirror, 13. Juni 1982)

»Denn Mord, hat er schon keine Zunge,spricht mit wundervollen Stimmen.«(William Shakespeare / Hamlet, 2. Akt, 2. Szene)

INHALT

Das Geheimnis um Gonzagos Tod

Das Rätsel der verschwundenen Tänzerin

Das Geheimnis des Bombay Saphirs

Das Rätsel der einsamen Leute

Das Geheimnis der dritten Schwester

DAS GEHEIMNIS UM GONZAGOS TOD

(1952)

Mit einem Schlag erlosch das Licht! Einzig die Senderanzeige des Radios schimmerte gelblich-matt durch die Finsternis, und das elektrische Kaminfeuer sandte einen schwachen rötlichen Schimmer durch den Raum. Eine beruhigende Melodie drang durch den Äther, begleitet vom leisen atmosphärischen Knistern der Radioübertragung. Unsere Augen gewöhnten sich nur zögernd an die Finsternis, und nach und nach hoben sich ein paar Konturen aus der Schwärze heraus. Ich strengte mich an, um etwas erkennen zu können und rief mir das Bild in Erinnerung, das sich uns noch bis vor wenigen Minuten geboten hatten: Der Salon von Monkswell Manor, der eingeschneiten kleinen Pension auf dem Land, das Sofa, der große Sessel, der Kaminsims, der kleine Sekretär mit dem Telefon, die Holzvertäfelung … Hinter dem großen Bleiglasfenster mit der gotischen Steineinfassung konnte man ein paar herumwirbelnde Schneeflocken erahnen.

Und dann mischte sich mit einem Mal ein melodisches Pfeifen unter das Radioprogramm. Jemand intonierte irgendwo in der Dunkelheit ein Kinderlied. Jemand, dessen Gestalt wir erst bemerkten, als er plötzlich mitten im Raum stand. Schwarz, finster, eine Schattengestalt, die auf den Sessel zuschlich. All das ahnten wir mehr, als wir es sahen. Dann schossen zwei Hände nach vorne, und ein unterdrücktes Röcheln kam aus dem Sessel.

Um uns herum gingen unterdrückte Schreie und gepeinigtes Aufstöhnen durch die Reihen der Anwesenden. Der Spuk war so rasch vorbei, wie er begonnen hatte. Die Gestalt verschwand, das Licht flammte wieder auf, und Mollie Ralston kam herein. Und als sie zum Sessel blickte und realisierte, wer dort lag, stieß sie einen schrillen Schrei aus.

Merridew saß zu meiner Rechten und stieß ein schwer zu deutendes Schnaufen aus. Als sich unter lautem Applaus der Vorhang schloss und das warme Saallicht des Ambassador Theaters anging, erhob er sich schwerfällig aus seinem Sessel. »Pause«, grunzte er. »Wurde auch langsam Zeit.«

Gemeinsam mit dem restlichen Publikum strebten wir auf einen der Ausgänge zu, um uns draußen mit einem Drink zu erfrischen.

»Und? Gefällt Ihnen das Stück?«, fragte ich im Hinausgehen.

Merridew wandte sich zu mir um und sah mich mit großen Augen an, als habe er die Frage nicht richtig verstanden. »Hm? Ach so, ja, ganz hübsch, ganz hübsch.«

Es war der 25. November, der Abend der London-Premiere des neuen Theaterstücks aus der Feder von Agatha Christie. Die Mausefalle war in den zurückliegenden beiden Monaten mit achtbarem Erfolg auf einigen Bühnen im ganzen Land aufgeführt worden, bevor das Ensemble jetzt in London angelangt war.

»Wir bleiben hier unten in der Stalls Bar«, entschied Merridew. »In der oberen Bar ist es eng, und ich habe keine Lust, mich diese langen Treppen dort hinaufzuquälen. Bis man erst mal da oben ist, ist die Pause ja fast schon vorbei.«

Die knapp fünfhundert Gäste hatten den ersten Teil des Zweiakters offenbar sehr genossen. Es herrschte blendende Stimmung. An der Bar dauerte es eine Weile, bevor ich uns zwei Gläser Champagner organisieren konnte. Als ich zu Merridew zurückkehrte, hatte dieser inzwischen einen gemütlich aussehenden Sessel okkupiert und deutete auf einen kleinen Hocker, den er für mich auserkoren hatte.

Mein Freund war ein großer Mann von enormer Körperfülle. Viele sagten im Spaß, sein Bauch habe Maß und Form eines alten Portweinfasses. Seine Stirn war hoch, sein Haar, obwohl er erst Anfang fünfzig war, ebenso ergraut wie sein Bart. Reginald Lord Merridew konnte mithilfe seiner Augen regelrecht sprechen. Unter Zuhilfenahme seiner buschigen Brauen vermochte er mit einer großen Fülle unterschiedlicher Blicke sämtliche menschlichen Gefühlsregungen bis in die feinsten Nuancen auszudrücken, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Das heißt nicht, dass er kein Mann vieler Worte war – ganz im Gegenteil. Er sprach gerne und laut, er rezitierte mit Vorliebe Shakespeare und war sich auch für beklagenswert alberne Wortspielchen nicht zu schade.

Darüber hinaus war er schon damals ganz ohne Zweifel einer der größten Detektive, die je auf unserer Insel gewirkt hatten. Und dieser Nimbus schien ihn in Verbindung mit einer Radiomeldung von heute Morgen enorm zu beschäftigen.

»Man muss sich das nur mal vorstellen: Ein amerikanischer Millionär namens Lionel Twain hat angeblich die berühmtesten Detektive der Welt auf seinen Landsitz eingeladen, um einen Mord aufklären zu lassen.« Er stieß fast beiläufig mit dem Champagner an und trank so uninspiriert, als sei es Sodawasser. »Soll ich Ihnen die Gästeliste verraten, Nigel?«

Meine Antwort wartete er nicht ab.

»Milo Perrier, Sidney Wang, Jessica Marbles, Sam Diamond und Dick und Dora Charleston! Ha! Ich frage mich, womit dieser Komiker seine Millionen gemacht hat! Mit Scherzartikeln? Das sollen die größten Detektive der Welt sein? Da muss ich aber eine ganze Menge von dieser Brause in mich hineinkippen, bevor ich darüber lachen kann!«

Mit dem nächsten Schluck war sein Glas auch schon leer.

»Ich hatte gehofft, das Stück würde Sie ein bisschen von Ihrem Ärger ablenken«, sagte ich. »Es schien mir so, als seien Sie genau deswegen mit mir hierher gegangen.«

Er rümpfte die große Adlernase. Ein wenig schief gewachsen war sie, was angeblich das Resultat einer Begegnung mit einem Cricketschläger oder einem Pferdehuf in seiner Jugend war. Es gab mehrere Varianten dieser Geschichte.

»Kennen Sie Archibald Benjamin Carruthers?«, fragte er.

Ich dachte einen Augenblick nach. Seit ein paar Jahren arbeitete ich als Anwalt in der Kanzlei Harringfield, Harringfield und Partner. Wobei ich die Hoffnung hegte, dass irgendwann einmal statt der anonymen Formulierung »Partner« mein Familienname Bates auf dem Schild stehen würde und dass der eine, sehr alte Harringfield und der andere, noch wesentlich ältere Harringfield beide nicht mehr unendlich alt werden würden.

Möglich, dass mir in einem unserer Gerichtsverfahren mal ein Carruthers begegnet war, aber ich konnte mich nicht erinnern. Ich zuckte mit den Schultern.

»Carruthers ist Professor für Englische Literatur am Merton College in Oxford.«

»Kenne ich nicht, bedaure. Was hat er mit dem Stück zu tun?«

»Seinetwegen sind wir hier.«

Um uns herum plauderten die Leute über belanglose Dinge. Sie scherzten und lachten, und sie spekulierten darüber, wie es mit dem Kriminalstück wohl weitergehen würde. Ich hatte in dieser Hinsicht keine Vermutung. Es schien mir sehr trickreich ausgetüftelt worden zu sein.

Irgendwo in einer Ecke saß Agatha Christie, die Autorin, zusammen mit ihrem Mann, der angeblich extra von irgendeiner Ausgrabung im Vorderen Orient zurückgekehrt war und dem Produzenten Peter Saunders und sah sich von tausend neugierigen Fragen bestürmt.

»Wir sind nicht wegen des Kriminalstücks hier?«, hakte ich bei Merridew nach.

Ein verächtliches Lächeln umspielte seine Lippen. Er reckte das bärtige Kinn vor. »Sie kennen mich jetzt schon etwas über ein Jahr, und wir konnten bereits ein paar vergnügliche Kriminalfälle miteinander lösen. Glauben Sie, eine von vorne bis hinten ausgedachte Mördergeschichte würde für mich eine adäquate Abendunterhaltung darstellen? Nein, im Ernst, mein alter Knabe, ich brauche keine Ablenkung. Meine Laune ist bestens, auch wenn es nicht so scheint. Die Tatsache, dass man mich nicht zu dieser Mörderhatz in Amerika eingeladen hat, sagt mir im Grunde genommen nur eines: nämlich, dass man meinen messerscharfen Verstand und mein überragendes Deduktionsvermögen so sehr fürchtet, dass man Angst hat, ich könnte den anderen allzu schnell den Spaß verderben, weil ich ihnen haushoch überlegen bin. Wenn man die zweite Riege einbestellt, wäre es doch wirklich mehr als töricht, den Besten der Besten dazu zu nehmen.«

»Das wird es sein«, sagte ich ein wenig peinlich berührt. Ich kannte sein übergroßes Ego nur zu gut. »Und weshalb sind wir nun hier, wenn nicht wegen des Stücks?«

»Aufgepasst, Nigel, alter Freund: ich werde heute Abend einen Mordfall aufklären! Und weil ich so gut in Schwung bin, sofort noch einen zweiten dazu! Und um diesen Elendswürmern jenseits des großen Teichs einen ordentlichen Schuss vor den Bug zu verpassen, werde ich sogar noch einen dritten Mord verhindern!«

»Drei Morde? Und das alles heute Abend?«

Er warf sich in die Brust und grinste selbstzufrieden. »Sogar noch vor dem zweiten Akt, mein lieber Nigel. Los, noch rasch ein Glas Champagner, bevor die Pause zu Ende ist.«

Beim zweiten Mal ging es schneller. Als ich von der Bar zurückkehrte, hatte Merridew einige Zeitungsausschnitte aus seiner Jacketttasche hervorgekramt und vor sich auf den runden Tisch gelegt.

»Ausschnitte aus einer Zeitung? Ich bin gespannt, was Sie mir erzählen wollen.«

Wir prosteten uns zu, und er begann mit seiner Erklärung, indem er mit seinem dicken rechten Zeigefinger auf einen der kleinen Papierstreifen tippte:

Gonzago an ABC6. Oktober – Gedanken schwarz, Gift wirksam, Hände fertig.

Ich sah ihn neugierig an. »Das sagt mir nichts. Aber Sie konnten sicherlich gleich etwas damit anfangen, vermute ich.«

»Sie kennen mich. Solche kryptischen Verlautbarungen machen mich neugierig. Ich muss erwähnen, dass diese Anzeige erst vor drei Wochen in der Times erschien. Ich habe sogleich Erkundigungen eingezogen und in Erfahrung gebracht, dass sie in Manchester aufgegeben wurde. Von wem ist nicht bekannt. Es wurde in bar bezahlt.«

Neugierig versuchte ich zu erkennen, was in den anderen beiden Annoncen stand. Merridew schob sie mir eine nach der anderen hin.

Gonzago an ABC6. Oktober – Gelegne Zeit, kein Wesen gegenwärtig.

»Aufgegeben vor zwei Wochen in Newcastle.«

Und schließlich die dritte Anzeige:

Gonzago an ABC6. Oktober – Wie? Durch falschen Feuerlärm geschreckt?

»Letzte Woche in Birmingham aufgegeben.«

»Da reist einer ganz schön durch die Lande«, sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen. »Aber was sollen diese Annoncen bezwecken? Ich sehe keine Chiffre, keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme.«

»Ganz recht. Gonzago will ABC etwas mitteilen, sonst nichts. Er ist penetrant, dieser Gonzago. Er reibt es diesem ABC regelrecht unter die Nase.«

»Aber was?«

»Das, was sich am 6.10. dieses Jahres, vor wenigen Wochen also ereignet hat. Ein Mord!«

Jetzt hatte er wahrhaftig mein Interesse geweckt. Kriminalgeschichten reizen mich, und durch Lord Merridew war ich bereits in einige von ihnen leibhaftig hineingezogen worden. »Ein echter Mord?«

»Mit einem echten Toten«, sagte er mit Grabesstimme. »Ein Mann, der in einem Sessel vor dem Kamin sitzend, sein Ende fand, als sich jemand, der in seine Wohnung geschlichen war, in der Dunkelheit auf ihn stürzte und ihm die Gurgel zudrückte.«

»Wie vorhin in dem Theaterstück?«

Merridew nickte langsam und mit geschlossenen Augenlidern. »Ganz genau so. Augenscheinlich ein Raubüberfall. Ein paar belanglose Dinge wurden gemopst, nichts Auffälliges. Es stand in allen Zeitungen. Wundert mich, dass Sie sich nicht erinnern. Sein Name war Professor Phileas Ponsonby.«

Der Klang dieses Namens löste eine vage Erinnerung in mir aus. »Oh ja, doch. Da waren vor Wochen ein paar Schlagzeilen! Ein Professor … So wie der … Wie war noch mal der andere Name, den Sie vorhin nannten?«

»Archibald Benjamin Carruthers.«

»Ha!«, rief ich laut. »ABC! Die Initialen aus den drei Annoncen!«

Ein paar der umstehenden Gäste drehten die Köpfe nach uns um.

»Fein, mein lieber Nigel, fein!«

Fehlte nur noch, dass er mir zur Belohnung ein Zuckerstückchen gab.

»Waren die beiden Kollegen?«, fragte ich.

»Ponsonby war emeritiert. Ein steinaltes Gerippe, das mit seiner Frau in Oxford lebte, aber alle paar Wochen in einer kleinen Wohnung in Nottingham weilte, wenn er dort an der Uni zu Gastlesungen eingeladen war.«

»Aber wer ist dieser Gonzago?«

Merridew hielt den Kopf schief und sah mich betrübt an, so wie ein Vater sein Kind betrachtet, wenn er feststellen muss, dass er im Begriff ist, einen hoffnungslosen Dummkopf großzuziehen. »Unser großer Dichter Shakespeare hat uns so viele wunderbare Werke hinterlassen. Endlos üppig blühende Literatur, aber bei Ihnen ist diese Saat samt und sonders jämmerlich vertrocknet. Im Drama Hamlet gibt es eine Schauspieltruppe am Hofe, die ein Stück aufführt …«

»Ich weiß, ich weiß!«, rief ich, um die Scharte auszuwetzen. Fast hätte ich mit dem Finger geschnippt. »Das Stück im Stück! Die Schauspieltruppe zeigt auf der Bühne einen Mord. Einem schlafenden Mann wird Gift ins Ohr geschüttet … oder so ähnlich. Hamlet will dem König mit dem Stück vor Augen führen, dass er weiß, dass der König seinen Bruder, Hamlets Vater, getötet hat, um an dessen Frau und den Königsthron zu kommen. So war es doch, oder?«

Merridew wackelte halbwegs zufrieden mit dem Kopf. »Kann man gelten lassen. Und wie hieß der Mann im Stück, der Ehefrau und Leben verlor?«

»Äh … hm …«

»Gon… Gon… Na?«

»Gonzago!«, jubelte ich.

»Und das Stück, das die Truppe im Hamlet aufführt heißt Die Ermordung des Gonzago, aber Hamlet nennt es dem König gegenüber Die Mausefalle!«

»Was Sie nicht sagen!«

»Oh ja.« Er trank den Champagner aus und schmatzte genüsslich.

In diesem Moment schrillte irgendwo eine Klingel. Das war das Zeichen, dass in Kürze die Pause zu Ende gehen würde. Das Publikum leerte die Gläser und setzte sich langsam in Bewegung, um rechtzeitig zum zweiten Akt wieder im Saal zu sein.

»Also gut«, fasste ich zusammen. »Jemand weiß etwas über den Mörder von Professor Ponsonby und veröffentlicht wöchentlich Annoncen, in denen er sein Wissen andeutet. Ich nehme an, die Zitate stammen aus dem Hamlet?«

»Ganz recht, alles aus der Ermordung des Gonzago.«

»Aber diese Botschaften kann doch nur jemand richtig deuten, der sich mit den Werken Shakespeares auskennt. Also besser als ich jedenfalls.«

Merridew stieß ein polterndes Lachen aus. »Jedermann kennt sich besser mit Shakespeare aus als Sie, mein lieber Nigel!«

»Na, also bitte …« Ich versuchte mich zu sammeln. Das war jetzt nicht der Zeitpunkt für Empfindlichkeiten. In wenigen Minuten mussten wir wieder hinein, und dann würde ich auf die Auflösung dieses Rätsels bis nach dem Stück warten müssen. »Diese Annonce kann aber andererseits nur jemand verfassen, der sich ebenfalls mit Shakespeare auskennt … Aber halt, Sie sagten vorhin, dieser Archibald Benjamin Carruthers sei Professor für Englische Literatur am Merton College. Sagen Sie bloß, der tote … wie hieß er noch … Ponsonby! Unterrichtete er ebenfalls …«

Merridew schüttelte den Kopf, bevor ich die Frage zu Ende stellen konnte. »Physiker. Und zwar einer von der ganz staubtrockenen Sorte, wenn man den Nachrufen in den Zeitungen glauben kann.«

Ich stieß einen entmutigten Seufzer aus.

»Vorhin stellten Sie aber ein andere kluge Frage, mein Freund«, sagte Merridew mit einem aufmunternden Lächeln.

»Wirklich?«

»Ja, Sie fragten, was der Verfasser mit seinen Annoncen bezweckt.«

»Ja, genau! Das ist doch die Frage. Er verlangt kein Geld!«

»Also?«

»Er will Druck ausüben?«

»Richtig!«, rief Merridew laut. »Stellen Sie sich mal vor, Sie haben jemanden ermordet, und plötzlich prahlt ein Unbekannter ganz öffentlich damit, dass er über Sie und Ihre Untat Bescheid weiß. Wieder und wieder! Stellen Sie sich vor, was das in Ihnen auslöst!«

Ich versuchte es mir auszumalen, aber es gelang mir nur im Ansatz.

Merridew winkte mit einem lauten Brummen ab. »Sie können sich ja wahrscheinlich noch nicht mal vorstellen, einen Mord zu begehen.«

»Sie etwa?«

Er lachte laut auf. »Pausenlos! Bei Gelegenheit nenne ich Ihnen mal die endlos lange Liste meiner potenziellen Opfer! Seit heute Vormittag gehört übrigens auch ein amerikanischer Millionär dazu! Aber jetzt mal wieder zur Sache …«

Die Klingel ertönte ein zweites Mal. Der Raum um uns herum hatte sich bereits merklich geleert. Mühsam stemmte Merridew seinen schweren Körper aus dem Sessel in die Höhe. »Ich will Ihnen sagen, wer hinter den Annoncen steckt. Es ist kein Literaturwissenschaftler, sondern jemand vom Theater.«

Ich stand ebenfalls auf. Plötzlich kam mir etwas in den Sinn. »Augenblick mal, Merridew. Ich las in der Zeitung, wo Die Mausefalle in den letzten Wochen überall gastierte. Unter den Orten war auch Manchester! Und Newcastle! Und letzte Woche waren sie in Birmingham!«

»Ganz recht, Nigel, ganz recht. Überall dort, wo auch die Annoncen aufgegeben wurden. Aber vor allen Dingen fand die allererste Aufführung dieses Mausefallenstücks wo statt?«

Wo war das noch gewesen? Ich versuchte mich zu erinnern, was ich darüber gelesen hatte, und mit einem Mal fiel es mir wie Schuppen von den Augen: »In Nottingham!«

»Und zwar am 6. Oktober im Theatre Royal. Und nun will ich Ihnen auch noch verraten, dass das gesamte Ensemble in diesen Tagen im altehrwürdigen Black Boy Hotel logierte. Das beste Haus am Platze. Ein famoser alter Kasten, in dem ich auch schon ein paar Mal abgestiegen bin. Wenn man Pech hat, erwischt man allerdings eins der Zimmer, deren Fenster auf den finsteren, schmalen May Pole Yard hinausgehen. Und da hat man einen Ausblick auf die Rückseiten der Häuser an der Clumber Street. Und nun raten Sie mal, wo das Haus steht, in dem der unglückliche Professor Ponsonby sein Ende fand!«

»Etwa …?«

Er nickte mit einem Lächeln, wie es breiter nicht sein konnte.

»Sie meinen also, jemand aus dem Ensemble hat den Mord möglicherweise beobachtet?« Was mein Freund mir da berichtete, verschlug mir schier den Atem.

»So sieht es für mich aus, mein lieber Nigel. Und bevor Sie nun sagen: Aber wie kann jemand einen Mord begehen, ohne dass er sich vergewissert, dass die schützenden Vorhänge zugezogen sind, sage ich Ihnen: Solche Dinge passieren nun mal. Ich habe eine Vermutung. Denken Sie an die Botschaft in der dritten Annonce: Wie? Durch falschen Feuerlärm geschreckt? Sie kennen doch das Ärgernis mit dem zu feuchten Holz im Kamin, das erst stundenlang vor sich hinglimmt und gar nicht richtig brennen will. Und wenn es dann doch irgendwann ausreichend erhitzt und hinlänglich getrocknet ist, entzündet es sich häufig mit einem hellen Feuerschein in voller Gänze. Großes Pech für den Mörder, wenn er genau zu diesem Zeitpunkt sein Opfer in die Mangel genommen hat. Wie gesagt, es ist nur eine Möglichkeit von vielen.«

Einen Moment schwiegen wir. Außer uns war jetzt nur noch eine Handvoll Menschen im Raum. An der Bar wurden klimpernd die Gläser beiseitegeräumt. Die Pause strebte unweigerlich ihrem Ende entgegen.

»Und deshalb sind wir also hier?«, fragte ich. »Was hoffen Sie hier denn heute Abend zu erfahren?«

Er klopfte mir gönnerhaft auf die Schulter. »Ich habe bereits alles erfahren, mein Junge. Versuchen Sie doch bitte einmal, sich möglichst präzise daran zu erinnern, was ich vorhin tat, bevor das Stück losging.«

Damit erwischte er mich auf dem falschen Fuß. Alles war eine einzige wilde Hetze gewesen. Ich war am frühen Abend aus der Kanzlei nach Hause gehastet, um mich rasch umzuziehen. Dann war ich in Windeseile hierher ins West End gerast, wo Merridew bereits stirnrunzelnd auf das Ziffernblatt seiner Taschenuhr guckte und verstimmt mit der Zunge schnalzte.

»Sie standen am Eingang, gleich neben der Kasse. Es sah fast so aus, als gehörten Sie zum Personal.« Ich legte nachdenklich den Zeigefinger an die Unterlippe. »Warten Sie mal, Sie sagten, Sie seien der Erste gewesen und hätten ganz schön lange auf mich warten müssen.«

Merridew grunzte zustimmend. »Man kann wirklich die Uhr nach Ihnen stellen, Nigel. Man muss nur mit einkalkulieren, dass Sie gelegentlich in einer anderen Zeitzone leben.«

»Jaja. Dann gingen wir ins Theater und gaben unsere Mäntel und Hüte ab. Sie überreichten der Garderobiere auch Ihren Gehstock. Wir waren spät dran, aber Sie bestanden darauf, unbedingt noch etwas zu trinken. Also gingen wir zur Bar, und da hat Sie dieser Mann angerempelt und Ihnen den Kaffee über den Ärmel gekippt. Dann haben wir rasch unsere zwei Scotch Soda hinuntergestürzt, und Sie sagten, Sie müssten noch kurz zur Toilette. Um den Fleck auf Ihrem Ärmel abzutupfen, erklärten Sie mir, und ich solle schon einmal hineingehen.«

»Ja, genau, und das taten Sie dann ja auch ganz brav. Als ich zu Ihnen hineinkam, öffnete sich gerade der Vorhang.«

Ich nickte bestätigend. »Sie erinnern sich an das verärgerte Flüstern und Tuscheln, als Sie sich durch die Reihe zu mir durchkämpften?«

»Soll sich nicht so anstellen, das Volk. In der ersten Viertelstunde passiert sowieso nie was Wichtiges.« Er blieb stehen und sah den letzten Leuten nach, die durch die Tür in das Theater strebten. Er lehnte sich gemächlich gegen die Wandtäfelung und faltete die Hände vor dem gewaltigen Bauch. »Ich erzähle Ihnen noch fix, was weiterhin geschah, bevor das Stück schließlich begann.«

»Aber wirklich ganz fix. Es geht gleich los.«

»Keine Drängelei, Sie Jungspund!« Er hob mahnend den Zeigefinger. »Also gut, ich war, wie gesagt, so ziemlich der erste, der ins Theater kam, und das hatte auch seinen guten Grund. Schließlich wollte ich die Leute in Augenschein nehmen, die heute besonders frühzeitig ankamen. Die Person, die ich erwartete …«

»Sprechen wir etwa von diesem ABC?«

»Unterbrechen Sie mich nicht. Immer der Reihe nach! Ich wartete auf den Mörder aus der Clumber Street in Nottingham. Und ich war der Meinung, dass dieser Mann …«

»… oder diese Frau?«

»Ach, Mumpitz, Nigel! Ein Würgemord! Auch wenn es nur ein schmächtiger, alter Physiker war, ist das nun wirklich nicht das Mittel, dessen sich Frauen bedienen! Dieser Mann …!« Er funkelte mich an, um mir jede weitere Unterbrechung zu untersagen. »… würde allein kommen, da war ich mir sicher. Und er würde so früh auftauchen wie möglich, weil er nervös war und keinen Fehler machen wollte. Nur sechs Leute kamen in der ersten halben Stunde allein. Eine vertrocknete Jungfer, ein hinkender Pfaffe, eine Matrone mit Körpergeruch … entweder zu jung oder zu alt, zu locker, zu irgendwas … keiner passte. Aber dann beobachtete ich aus nächster Nähe, wie ein Mann ohne Begleitung mit nervösen Fingern seine Brieftasche öffnete und ein Billett herausholte. Es war mit einer Büroklammer an einer Karte befestigt, auf der in der Handschrift einer Frau – gottseidank trotzdem einigermaßen klar leserlich – geschrieben stand:

Gonzago an ABC6. Oktober – Endlich lernen wir uns kennen!

Das ist jetzt mal ausnahmsweise kein Shakespeare mehr. Dafür war aber zu meiner Überraschung und zu meiner Freude eine Unterschrift auf dieser Karte. Der Name, den ich dort las, lautete Mignon O’Doherty.«

Ich konnte mich nicht zurückhalten. »Aber das ist doch die Darstellerin der Mrs Boyle! Die Frau, die gerade auf der Bühne erwürgt wurde!«

Es schellte jetzt ein drittes und letztes Mal.

»So ist es!«

»Aber warum? Was soll das? Warum lädt sie ihn hierher ein? Will sie ihn erpressen? Das ist doch sehr riskant, ihm dabei Auge in Auge gegenüberzutreten!«

»Genau das ist es! Riskant! Gefährlich für diese Schauspielerin! Brandgefährlich! Und genau das war Dreh- und Angelpunkt des Plans! Der Mann, der hierhergekommen ist, ist nervös! In Panik! Er steht bis in die Haarspitzen unter Strom!«

Mein Blick wanderte zur Bar, und ich erinnerte mich plötzlich an die Szene, die sich vor einer guten Stunde dort abgespielt hatte. Ich sah plötzlich einen sehr dünnen, sehr nervösen Mann mit geröteten Wangen und flackernden Augenlidern vor mir. Er balancierte eine Tasse Kaffee und stieß meinen Freund an.

»Der Mann mit dem Kaffee? Ist er es? Der, der Sie angerempelt hat?«

»Ich habe ihn angerempelt, Nigel! Aber alle glaubten, es sei umgekehrt passiert. Er selbst glaubte das auch. Man braucht natürlich ein bisschen Geschick und ein wenig schauspielerisches Talent … Jedenfalls hat er sich wortreich bei mir entschuldigt und bat darum, für die Kosten der Reinigung aufkommen zu dürfen. Und da habe ich ihn schlicht und ergreifend nach seiner Visitenkarte gefragt. Tusch!«

Er hielt mir mit triumphierender Geste eine kleine Karte hin. Sie war recht schmucklos gehalten, mit einer einfachen Druckschrift: Prof. Archibald Benjamin Carruthers stand dort zu lesen, und darunter seine Adresse und Telefonnummer in Oxford.

»ABC! Daher wissen Sie also seinen Namen!«

Merridew nestelte am Revers seines Jacketts herum. »Ich tätigte dann drei kurze Telefonate, bevor ich endlich zu Ihnen in das Theater kam. Zuerst habe ich die Nummer auf der Karte gewählt. Als sich am anderen Ende eine Frauenstimme meldete und sorgenvoll fragte: ›Archie, bist du das? Wo um alles in der Welt steckst du?‹, war ich schon hocherfreut, denn Carruthers trug keinen Ehering an der rechten Hand, jedoch am linken Ringfinger dafür gleich zwei, was bedeutet, dass er verwitwet und noch nicht wiederverheiratet ist.«

»Verblüffend«, sagte ich ehrlich begeistert.

»Dann fragte ich ganz unverfänglich: ›Verzeihung, mit wem bin ich denn verbunden?‹, und sie erwiderte in ihrer Verwirrung: ›Geraldine Ponsonby‹.« Er breitete mit der Geste eines Zauberkünstlers die Hände aus. »Tja, und somit wäre auch das Mordmotiv aus dem Oktober geklärt! Carruthers liebte Ponsonbys Frau. Die alte Leier, man kennt das ja.«

»Alle Wetter«, hauchte ich. »Das ist ja ein unglaublicher Zufall.«

Merridews Gesicht rötete sich schlagartig. Er ballte die Hände zu Fäusten. »Zufall?«, polterte er laut. »Wo denken Sie hin? Das sind Taktik und Kalkül! So etwas fällt einem nicht mal gerade eben vor lauter Langeweile beim Fünfuhrtee ein!«

»Ist ja schon gut. Sie haben natürlich recht, das war sehr klug eingefädelt. Und der zweite Anruf?«

»Mit dem verschaffte ich mir die allerletzte Gewissheit. Ich rief im Black Boy Hotel in Nottingham an und erkundigte mich, ob ein gewisser Mr Carruthers in der Nacht vom 6. auf den 7. Oktober dort übernachtet hat.«

»Aber wie kamen Sie denn darauf?«

»Wenn es jemand aus der Theatertruppe war, der ihn mit dem Wissen um seine Tat unter Druck setzt, dann konnte das nicht nur aus einem einmaligen Beobachten am Tatort erwachsen. Da musste mindestens eine zweite Begegnung nebst Wiedererkennen stattgefunden haben. Warum nicht beispielsweise auf dem Hotelflur? Jedenfalls lag ich auch hier richtig! Er trug sich mit seinem echten Namen ein. Wie unglaublich einfallslos! Aber so konnte auch seine Peinigerin herausfinden, wer er war.«

»Sie meinen also, es war diese Schauspielerin Mignon O’Doherty, die ihn per Annonce gequält hat!«

»Aber nein.«

Ein junger livrierter Mann gab uns in diesem Moment ein deutlich sichtbares Zeichen, nun wieder unsere Plätze einzunehmen. Merridew forderte mit einem ruppigen Wedeln der rechten Hand einen Moment Geduld.

»Nein?«, fragte ich ungläubig. »Wieso nicht? Ihre Unterschrift stand doch auf der Einladung!«

»Falsch!« Merridew kramte ein kleines Notizblöckchen aus der Innentasche seines Jacketts und blätterte mit seinen dicken Fingern darin herum. »Das Autogrammbüchlein meines Butlers Cresswell. Er ist klammheimlich ein gefühlsduseliger alter Bursche und liest heimlich Romane von Barbara Cartland. Sein Herz schlägt für den Kintopp und das Theater, und als er erfuhr, dass ich heute Abend hierhin wollte, bat er mich, ein paar Autogramme für ihn einzusammeln. Besonders scharf ist er auf die Signatur von Sheila Sim, die er wohl vergöttert.« Dann hielt er mir das Heftchen aufgeschlagen entgegen. »Schauen Sie mal, das ist die Unterschrift von Mignon O’Doherty, die hat er bereits. Ich kann Ihnen versichern, dass das Geschreibsel auf Carruthers’ Einladung ohne jeden Zweifel eine plumpe Fälschung ist. Den Unterschied konnte ich mit großer Deutlichkeit erkennen.«

»Aber wer hat Carruthers denn dann in Wirklichkeit eingeladen? Und warum wurde er überhaupt mit der Eintrittskarte hierherbestellt?«

»Er wurde von einer Person in diese tückische Mausefalle gelockt, die der Überzeugung war, dass er jetzt endlich völlig verzweifelt und ausreichend alarmiert war, dass er nun zu allem bereit sein würde. Jemand, der ihn dazu bringen wollte, seine angebliche Peinigerin, die völlig ahnungslose Mignon O’Doherty zu ermorden!«

Ich starrte ihn an. Das, was er da vor mir ausbreitete, war schlichtweg unglaublich.

»Ich tippe auf die Zweitbesetzung, eine Schauspielerin mit Namen Marjorie Blankinsopp. Die Dame an der Kasse erzählte mir, dass sie wohl bei der Besetzung der Mrs Boyle den Kürzeren zog und jetzt Abend für Abend hinter den Kulissen herumlungern muss, in der Hoffnung, Mignon O’Doherty breche sich endlich mal die Hand, ein Bein, oder noch besser gleich das Genick. Ja, ich denke, sie wird es gewesen sein, die vom Hotelzimmer aus den Mord beobachtete, danach dem Mörder im Hotel begegnete und ihre Chance witterte! Wenn sie es war, wird ihre Handschrift auf der Einladung sie überführen. Aber andererseits ist es irgendwie auch egal, wer die anonyme Strippenzieherin war, denn sie hat ja schließlich keine echte Straftat begangen.«

Der Jurist in mir meldete sich zu Wort. »Na, na, sie hat immerhin einen Mord beobachtet und ihn nicht gemeldet.«

»Dafür ist aber letztendendes gerade durch ihre Aktivität der Mörder in die Falle gegangen.« Er trat in den Saal ein und drehte sich grinsend zu mir um. »Und durch meine natürlich.«

Der livrierte Saaldiener hatte schon den Griff der Tür in seiner Hand, um sie hinter uns zu schließen, da schoss mir mit einem Mal ein fürchterlicher Gedanke durch den Kopf: »Hören Sie, Merridew!« Ich fasste ihn am Arm. »Mignon O’Doherty starb am Ende des ersten Akts ihren Bühnentod. Das heißt doch, dass sie sich bis zum Schlussapplaus in großer Gefahr befindet! Wenn gleich irgendwann alle anderen auf der Bühne sind, kann Carruthers sie doch in aller Ruhe hinter den Kulissen zum Schweigen bringen!«, zischte ich. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass einige Theaterbesucher verärgert zu uns herübersahen. Besonders diejenigen, an den wir uns jetzt gleich würden vorbeiquetschen müssen, hatten überaus angriffslustige Mienen aufgesetzt.

»Keine Sorge, mein Guter«, sagte Merridew und schob mich sanft auf die Stuhlreihen zu. »Sie glauben doch nicht, dass ich so etwas zugelassen hätte. Beim Schlussapplaus, das verspreche ich Ihnen, wird Mrs O’Doherty unbeschadet auf der Bühne erscheinen. Bevor das Stück begann, habe ich mir nämlich im allerletzten Moment erlaubt, diesen Carruthers in der Toilette einzusperren, nachdem ich ihn zuvor ein wenig unsanft aus dem Verkehr gezogen habe. Sie dürfen mir glauben, dass ich mit diesem Hänfling im Handumdrehen fertiggeworden bin. Dazu hätte ich noch nicht einmal meinen Gehstock gebraucht. Und dann habe ich noch rasch den dritten und letzten Anruf getätigt, mit dem ich die Polizei davon in Kenntnis gesetzt habe, dass sie hier im Ambassador Theater einen Mörder abholen kann. Das scheint wohl auch geschehen zu sein. Haben Sie mitbekommen, dass während des ersten Akts hinter den Kulissen eine Verhaftung stattgefunden hat? Sehen Sie, ich auch nicht. Die Burschen von Scotland Yard waren offenbar überaus diskret.«

Mit mühsam unterdrückten Flüchen erhoben sich die Leute in unserer Reihe aus ihren Sitzen, um uns vorbeizulassen. Wir blickten in grimmige Gesichter und ernteten hasserfüllte Blicke. Merridew verspürte offenbar nicht den Anflug von Peinlichkeit, denn er gluckste und kicherte nur allenthalben und rief immer wieder laut »Verzeihung, Teuerste« oder »Hoppla, mein Bester«. Und irgendwann saßen wir auf unseren Stühlen und atmeten tief durch.

»Glauben Sie, das Stück wird lange laufen?«, fragte ich.

Er überlegte einen Moment, bevor er antwortete: »Vermutlich nicht so lange wie das Zeug von Sophokles oder Euripides, aber jedenfalls länger als die neue Show von Frankie Howerd in Blackpool.«

Ich fand diese Antwort sehr diplomatisch.

Es wurde still um uns herum, und das Saallicht verlosch langsam.

Da kam mir noch eine letzte Sache in den Sinn: »Sie haben nun also einen Mord aufgeklärt und sogar einen zweiten Mord verhindert«, wisperte ich meinem Freund so leise es ging zu. »Aber Sie sprachen vorhin doch sogar noch von einem dritten Mord.«

Bevor es im nächsten Moment um uns herum völlig finster wurde, sah ich gerade noch Merridews Augen aufblitzen. Er beugte sich mit einem schwerfälligen Schnaufen zu mir herüber und raunte mir ins Ohr: »Ich werde Ihnen jetzt verraten, wer die einzige Person ist, die den Mord in Monkswell Manor begangen haben kann.«

Als sich der Vorhang mit einem leisen Rauschen öffnete, nannte Merridew mir den Namen, und ich wusste ganz genau, dass er auch in diesem Fall wieder einmal richtig liegen würde.

DAS RÄTSEL DER VERSCHWUNDENEN TÄNZERIN

(1956)

1

In der Tube herrschte an diesem Vormittag drangvolle Enge, so wie an jedem Arbeitstag. Berufspendler mischten sich mit Touristen aller Hautfarben. Im Sommer war London bis zum Rand gefüllt mit einem quicklebendigen Vielvölkergemisch, das es schaffte, uns steife Briten mit unseren Bowler Hats, den schwarzen Businessanzügen und dem am Arm baumelnden unentbehrlichen Schirm noch mürrischer aussehen zu lassen als sonst. Man versteckte seine griesgrämigen Gesichter hinter dem Daily Mirror, dem Guardian, der Times oder der Daily Mail, je nach politischer Gesinnung. Doch wohin ich auch blickte, in diesen Tagen schien es für sämtliche Zeitungen lediglich zwei Themen zu geben, die es wert waren, die Titelseiten zu dominieren: Die sich anbahnende Suez-Krise und der Besuch der berühmtesten Schauspielerin der Welt.

Premierminister Eden hatte sich vorgenommen, den ägyptischen Präsidenten Abdel Nasser zu stürzen, und es schien durchaus möglich, dass zu diesem Zweck schon bald Bomben auf Alexandria fallen würden. Eine Bombe der ganz anderen Art hingegen war Marilyn Monroe, die im Juli über den großen Teich gekommen war und nun schon seit zwei Monaten zu Gast in unserem Land war. Der Grund ihres Aufenthalts waren Dreharbeiten zu einem Film in den Pinewood Studios. An der Seite unseres berühmten englischen Shakespearedarstellers Sir Laurence Olivier spielte sie in einer romantischen Komödie ein Revuegirl, und seit sie ihren Fuß auf englischen Boden gesetzt hatte, war ganz England verliebt in sie.

Der Sommer war so regnerisch gewesen wie schon lange nicht mehr, aber der September schien nachholen zu wollen, was nachzuholen ging. Es war heiß. Und in der Tube war es schier unerträglich. Ich war froh, an der Station Baker Street endlich wieder aussteigen und mich von der Rolltreppe ans Tageslicht hinaufbefördern lassen zu können.

Ich hatte eine Verabredung mit meinem Freund Reginald Lord Merridew, der mich ohne Angabe von Gründen mit einer knappen Notiz hierher beordert hatte, wie das so seine Art war. Auf der anderen Seite der mehrspurigen Marylebone Road sah ich ihn bereits stehen und mir mit seinem Gehstock zuwinken. Ich schlängelte mich mutig durch den unablässig fließenden Verkehr und begrüßte ihn schon wenige Minuten später. Mein helles Sommerjackett hatte ich mir über die Schulter gehängt. Merridew steckte in einem sandfarbenen Anzug mit maisgelber Weste und weinroter Fliege.

»Mein lieber Junge«, rief er fröhlich. »Was für ein wunderbarer Tag, da werden Sie mir doch zustimmen, oder?«

Ich wackelte vage mit dem Kopf. »Für September ist es ziemlich heiß. Aber Sie blühen doch sonst erst im Nieselregen so richtig auf. Was macht Sie so fröhlich, Merridew? Die Freude quillt Ihnen ja aus allen Knopflöchern.«

»Hatten Sie nicht vorgestern Geburtstag?«

»Ja, allerdings. Ein paar Freunde haben mich zum Dinner ins Bianchi’s in der Frith Street entführt, und hinterher sind wir im Gargoyle Club gelandet, einem Tanzschuppen in Soho.«

»Haben Sie sich davon erholt?«

»Gerade so. Wo gehen wir hin?«

Er fasste mich am Arm und lenkte mich mit sanfter Gewalt in die Richtung eines großen Gebäudes, das wohl jeder nur allzu gut kennen dürfte, und vor dessen Eingangstür eine große Menschenschlange geduldig darauf wartete, hineingelassen zu werden.

»Jetzt kommt mein Geburtstagsgeschenk für Sie, mein alter Knabe.«

»Madame Tussauds?«, fragte ich ungläubig. »Sie haben doch nicht etwa vor, mich in dieses Wachsfigurenkabinett zu schleppen?«

Er lachte kollernd. »Das überrascht Sie, was? Nein, nein, Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Es soll ja ein Vergnügen für Sie werden.«

»Ich kann mir wirklich etwas Unterhaltsameres vorstellen, als mir all diese versteinerten Gesichter mit den starren Augen und dem gequälten Lächeln anzugucken.«

»Ich weiß, ich weiß. Und ich teile Ihre Aversion durchaus, aber heute gibt es für Sie etwas ganz Besonderes!« Er ließ mich nicht los und streckte die Hand mit dem Gehstock nach vorne, den er hin und her schwingen ließ als sei er eine Machete, der Bürgersteig der afrikanische Dschungel und die Passanten gefährliche Schlingpflanzen.

Zu meiner Überraschung ließen wir die Warteschlange rechts liegen, und er dirigierte mich links in den Allsop Place. Dann ging es rechter Hand in die York Terrace, und nach ein paar Metern passierten wir eine Toreinfahrt und fanden uns in einem großen Hinterhof wieder, auf dem ein paar Autos und Lieferfahrzeuge parkten. Wir befanden uns auf der Rückseite des weltberühmten Wachsfigurenkabinetts.

»Kein roter Teppich, kein Empfangschef in Livrée, aber dennoch ist es nicht immer ein Abstieg, wenn man den Hintereingang nimmt«, plauderte Merridew fröhlich, während er sich von den zahlreichen Nebeneingängen und Türen eine auswählte, die ihm die richtige zu sein schien. Er öffnete sie, und vor uns führte eine Treppe hinauf.

»Lord Merridew!«, rief eine junge Frau im weißen Kittel erfreut. »Wie schön, dass Sie es heute einrichten konnten!« Sie hatte ihr malzbraunes Haar zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, der keck auf und ab tanzte, als sie uns auf der Treppe entgegenkam.

Sie musterte mich und schenkte mir ein strahlendes Lächeln.

»Mein Freund Nigel Bates hatte jüngst Geburtstag, und er wünschte sich nichts sehnlicher, als bei unserer kleinen Unternehmung Mäuschen spielen zu dürfen.«

»Dann gratuliere ich noch nachträglich.« Sie reichte mir ihre Hand. »Mein Name ist Cathy Markham. Selbstverständlich darf er zuschauen. Wir wollen ihm doch seinen sehnlichsten Wunsch nicht abschlagen.« Ihr Lachen war bezaubernd wie überhaupt ihre ganze Erscheinung, und ich konnte nicht umhin, mir ihre schlanke Figur unter dem unförmigen Kittel vorzustellen, als sie vor uns die Treppenstufen hinaufstieg. Ich wurde immer begieriger, herauszufinden, welches denn wohl mein großer Geburtstagswunsch war. Eine Ahnung, worum es sich dabei handeln konnte, hatte ich immer noch nicht.

Wir folgten einigen Gängen, bogen ein paar Mal rechts und links ab, bis wir schließlich in einen Raum eintraten, in dem es chemisch roch. In zahlreichen Regalen stapelten sich Kisten, Körbe, Pakete aus braunem Packpapier, Dosen und Kartons unterschiedlicher Größe. Es gab künstliche Hände, Schachteln voller Glasaugen, Perücken, und auf zwei von mehreren großen Tischen lagen künstliche Körper ohne Köpfe. Wir waren augenscheinlich in der Werkstatt des Wachsfigurenkabinetts gelandet.

»Mr Anselm kommt gleich«, sagte Cathy und bot uns Sitzplätze an. Zwei ziemlich alte, zerschlissene Sofas waren mit Überwürfen aus geblümtem Vorhangstoff halbwegs einladend hergerichtet worden.

»Möchten Sie einen Tee?«

Oh ja, den mochten wir. Und als sie entschwand, um uns diesen Wunsch zu erfüllen, wäre sie in der Tür beinahe mit einem bärtigen Mann im schlabbrigen, gestreiften Pullover zusammengestoßen. Seine Brille hatte er hinaufgeschoben, sodass sie beinahe in seinem lockigen, grau melierten Haar verschwand.

»Frederick Anselm«, stellte er sich uns mit Handschlag vor. »Schön, dass Sie herkommen konnten. Ich verspreche Ihnen, dass es auch gar nicht wehtut.« Er machte den Eindruck eines zerstreuten Professors. Mit ausgestrecktem Arm dirigierte er Merridew auf einen drehbaren Hocker ohne Lehne. »Es ist wichtig, dass Sie aufrecht sitzen. Das kommt der späteren stehenden Position am nächsten. Hat Cathy Ihnen die Skizzen gezeigt?«

Merridew verneinte, und Anselm holte einen flachen Karton aus einem der Regale, dem er mehrere Fotografien und ein paar Zeichnungen entnahm, die er auf dem Tisch vor Merridew ausbreitete. »Nun, was sagen Sie?«

Die Fotos zeigten allesamt meinen Freund in unterschiedlichen Posen. Es waren Pressefotos, die bei verschiedenen Anlässen aufgenommen worden waren. An einige der Ereignisse konnte ich mich sogar erinnern.

»Hm, man könnte denken, Sie hätten mit Absicht die unvorteilhaftesten Bilder ausgewählt«, sagte Merridew mit einem angedeuteten Naserümpfen. Er sah mich an. »Was meinen Sie, Nigel?«

Nun, da ich endlich begriffen hatte, worum es bei unserem Besuch ging, lachte ich ihn frech an. Er tat so, als sei es das größte nur denkbare Vergnügen, anwesend zu sein, wenn eine Wachspuppe dieses aufgeblasenen Aristokraten angefertigt wurde. Ich deutete auf eine Bleistiftzeichnung, die den großen, massigen Körper meines Freundes darstellte. Es waren nur die Gliedmaßen und der grob skizzierte Kopf. Er sah aus wie eine aufgeblähte, unbekleidete Schaufensterpuppe. »Das sind Sie, wie Sie leiben und leben. Vor allen Dingen, wie Sie leiben. Dieser Bauch, das Doppelkinn … Das sind Sie, Merridew.«

Cathy kam mit dem Tee.

»Für mich zwei Stück Zucker«, sagte ich.

Merridew wehrte ab. »Ich muss ein bisschen auf mein Gewicht achten.« Das konnte nur ein soeben spontan gefasster Vorsatz sein. Dergleichen hatte ich noch nie von ihm gehört.

»Kürzlich saß noch Marlon Brando auf diesem Platz«, erklärte Cathy mit einem gewissen schwärmerischen Ton in der Stimme.

Merridew grunzte verächtlich. »Sie sind ja nicht gerade wählerisch.«