Nocturnia - Die langen Schatten - Torsten Thoms - E-Book

Nocturnia - Die langen Schatten E-Book

Torsten Thoms

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Beschreibung

Exposé Nocturnia – Die langen Schatten Nach Jahrhunderten, in denen die alte Ordnung galt, kommt es in der Unterstadt zu einem folgeschweren Aufstand. Die Namenlosen, Knechte der Hochgeborenen, begehren auf und stürzen die gesamte Gesellschaft der Nocturnen, den Wesen der Nacht, ins Chaos. Starre und eingefahrene Regeln, die in der reichen Oberstadt galten, kommen ins Wanken. Für die beiden ungleichen Geschwister Juchata und Naxbil, Kinder des großen Vincus deRovere, ändert sich in dieser Nacht alles. Während Naxbil die Grenzen zwischen Täter und Opfer überschreitet, erfüllt sich der Wunsch Juchatas nach Veränderung schnell und unerwartet. Juchata kann auf die Hilfe der wenigen Freunde ihres Vaters setzen. Elotril, der alte Koch in den Diensten der deRoveres, erzählt ihr von merkwürdigen Geschehnissen um ihre tote Mutter. Juchata beschließt, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Aber es wird nicht leicht, denn plötzlich ist sie auf der Flucht vor den Gegnern des Vaters, die ihr ohne Rücksicht und Skrupel zusetzen. Allen voran die Borjas, der mächtige Clan und ewige Feind der deRoveres. Naxbil hingegen verschwindet von der Oberfläche. Sein Geheimnis bleibt lange Zeit unentdeckt und wird somit zur Rettung vieler Namenloser, die dadurch der tödlichen Rache der Hochgeborenen entkommen. Frei von den Zwängen der Gesellschaft leben die einstmals Namen- und Rechtlosen nun in ihrer eigenen Welt, in der nichts so ist wie früher.

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Seitenzahl: 540

Veröffentlichungsjahr: 2012

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Nocturnia Die langen Schatten

Von Torsten Thoms

www.kreativ-reise.de

Imprint

Nocturnia Die langen Schatten

Autor Torsten Thoms

Copyright: © 2012 Torsten Thoms published by: epubli GmbH, Berlin www.epubli.deISBN 978-3-8442-4068-9

„Helden werden nicht geboren, sie werden gemacht aus Blut, Schweiß, Tränen und der ungebrochenen Entschlossenheit, die eigenen Ängste zu besiegen.“

Vincus DeRovere

Kapitel 1

Der Mond stand hell und voll am Himmel und beleuchtete die fernen Berge auf der einen und die Stadt auf der anderen Seite. Sein pockennarbiges Antlitz schien zu grinsen, denn er beherrschte das Firmament, an dem die Sterne neben ihm verblassten.

Die Landschaft lag ruhig vor der weiblichen Gestalt, die aus ihrem Gemach nach draußen schaute. Sie liebte den Ausblick, doch in dieser Nacht rückte er in den Hintergrund, wurde zur unbeachteten Kulisse in dem Stück, das ihr bevorstand und in dem sie die Hauptrolle inne haben sollte. Juchata spielte mit dem schwarzen Dolch, ein Geschenk ihres Vaters zur Weihung. Eine spitze Klinge, wie aus Pech geschmiedet, doch härter und schärfer als alles, was sie bislang gekannt hatte. Gab ihr der Ausblick aus ihrem Gemach sonst Ruhe, konnte sie ihn heute kaum ertragen. Mit einem Ruck zog sie die dunklen, schweren Vorhänge zu, die das Mondlicht vollständig aus dem Zimmer verbannten. Ihr schlanker Körper schmiegte sich an die Dunkelheit um sie herum. Ihre Augen sahen alles, nahmen jeden Winkel wahr, denn in der Finsternis fühlte sie sich wohl. Das Sonnenlicht ertrug sie nicht, denn die Nocturnen, zu deren Rasse sie gehörte, verbrannten unter den sengenden Strahlen.

Heute Nacht sollte sie wählen. Am liebsten hätte sie sich den Dolch in die zarte Brust gerammt, nur um dieser Entscheidung aus dem Weg zu gehen. So viel wusste sie jedoch schon, dass der Stahl nur eine hässliche Narbe hinterlassen würde, denn niemals könnte sie den Mut aufbringen, ihre Tat auch zu vollenden. Zu sehr liebte sie das Leben, auch wenn es momentan unerträglich und aussichtslos schien.

Verzweifelt begutachtete sie die Klinge, ließ die Kante über den Daumen rutschen, die so scharf war, dass sie ihre winzigen Härchen an den Armen mit einem Ruck abrasieren konnte. Sie legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Ihre Vermählung war das wichtigste Ereignis in der Familie seit Jahren. Zwei Freier hatten um ihre Hand angehalten, beide stattliche Nocturnen, die aus ehrwürdigen Familien stammten. Zum einen Calavus, Sohn des Pelates Borja. Ein Nocturn von eleganter Gestalt, mit blau-hartem Blick aus einem bleichen, ebenmäßigen Gesicht, das eine Spur Grausamkeit und Mystik in sich vereinte. Calavus wäre eine ausgezeichnete Wahl, seine Intelligenz war schon jetzt, in jungen Jahren, legendär. Das taktische Kalkül, seine geschmeidigen Bewegungen und die klugen, messerscharfen Worte hatten ihm bereits mehrfach den Respekt der Älteren eingebracht, die in ihm die Zukunft sahen, auch wenn sie das niemals zugegeben hätten. Sein Vater bildete ihn zu einem Politiker aus, der es rhetorisch mit jedem Gegner aufzunehmen verstand. Seine beinahe schon hinterlistige Art wurde von seinen Gegnern gefürchtet, die, wenn sie konnten, seine Unterstützung lange vor wichtigen Abstimmungen sicherten, um nicht im entscheidenden Moment über seinen Scharfsinn zu stolpern. So umworben strahlte der junge Calavus ein beinahe schon unnatürliches Selbstbewusstsein aus, das oft an Arroganz zu grenzen schien. Zwar behandelte er andere mit dem größtmöglichen Respekt, doch war man sich seiner nie sicher, denn die Ironie war beißend, der Sarkasmus feinzüngig und oft nur von den Intelligentesten unter den Nocturnen zu verstehen.

Trotz seiner vielen Vorzüge war er für Juchata ein fast schon geschlechtsloses Wesen, das sie durchschaute. Denn hinter seiner süffisanten Art und seinen verletzenden Bemerkungen stand ein Nocturn, der tief verunsichert war und deshalb laufend verbal attackierte, auch wenn er sich dessen kaum mehr bewusst war. Wenige Male hatte er sie besucht, um sie zu umwerben. Seine Furcht vor ihr war nur Juchata selbst aufgefallen und sie war sicher, dass sie, sobald sie heirateten, seine schlimmste Gegnerin werden würde. Nur einer der beiden konnte siegen, durch Unterdrückung und Macht, die sich einstellt, wenn die Partner sich an Intelligenz und Rang in nichts nachstehen. Und vor allem wissen, wo sie den anderen anpacken konnten. Denn die Kenntnis um die Schwäche des anderen ist ein gefährliches Gut, das man hüten muss oder zur rechten Zeit gebrauchen. Calavus war ihr nicht unsympathisch, doch seine Wahl hätte für sie und ihr weiteres Leben weitreichende Konsequenzen. Zwar achtete sie seinen Intellekt, doch sah sie auch die Grausamkeit in seinen Augen, der sie nicht entgehen würde. Er würde nie aufgeben, sie zu beherrschen, nie aufhören mit ihr zu kämpfen und sie am Ende unterdrücken.

Auf der anderen Seite stand Gladicus Magnus, dessen Familie noch einflussreicher, noch stärker war als die der Borja. Sein Vater Pelleus hatte schon viele Jahre den Posten des Tragus, des höchsten Führers der Nocturnen, inne, den er sich mit Vincus DeRovere, ihrem Vater, teilte. Gladicus war einige Jahre älter als sie, ein Bär von einem Nocturn, der sich in unzähligen Schlachten mit den Namenlosen geschlagen und einen Ruf als furchterregender Krieger verdient hatte. Was ihm an Intelligenz fehlte, machte er durch Mut und Ausdauer wett. Sein tadelloses Verhalten hatte ihm die bedingungslose Bewunderung der Truppen eingebracht, die ihn wie einen Gott verehrten. Als Führer im Feld war Gladicus immer in vorderster Front zu finden, wo er alle Schläge auffing, die auf seine Männer einprasselten und lieber selbst einsteckte, als einen seiner Männer verletzt zu sehen. Wo er und seine Elitetruppe, die Megantorier, auftauchten, herrschte deshalb Angst und Schrecken und schon manch ein Gegner hatte beim bloßen Auftauchen des Gladicus die Segel gestrichen, so furchterregend war sein Ruf. Seine Härte auf dem Schlachtfeld wurde begleitet durch eine fast schon peinliche Schüchternheit im öffentlichen Leben. Konnte er vor seinen Leuten brutal-motivierende, wenn auch kurze Reden schwingen, fehlte ihm diese Fähigkeit, sobald er vor dem Parlament stand, wo er sich bereits mehrfach von völlig unerfahrenen jungen Adhiben, den Mitgliedern des Nocturnen Parlaments, hatte vorführen lassen. Juchata war einige Male mit ihm zusammen gewesen, um ihn im Rahmen ihrer Heiratswahl zu treffen. Dabei hatte sie in ihm ein fast kindliches Gemüt entdeckt, das in völligem Gegensatz zu seiner imposanten Erscheinung stand. Er hatte sie übervorsichtig behandelt, fast schon ehrerbietig, hatte sich untergeordnet, was ihr zwar geschmeichelt hatte, doch auch unmännlich vorgekommen war. Leicht könnte sie diesen gutmütigen Riesen beherrschen, er würde ihr aus der Hand fressen wie ein Schoßhündchen, doch bereits nach wenigen Treffen langweilte sie sich fast zu Tode mit ihm, der ihrer Intelligenz nicht gewachsen war.

Juchata blinzelte. Auch wenn der Mond schon lang am Himmel stand und die Vorhänge sie schützten, schmerzten ihre Augen, die nicht sehen wollten, was auf sie zukam. Schon bald würde ihr Vater nach ihr rufen lassen, dann würde Baribas, der langjährige Hausdiener der Familie, sie holen und in das Hochzeitsgemach bringen, wo sie auf ihre beiden Freier treffen würde. So beschützt sie auch in ihrem Haus aufgewachsen war, konnte es sie dennoch nicht vor ihrem Schicksal bewahren. Sie liebte ihre Gemächer. Die gotischen Bögen wölbten sich über ihr, die dunklen Steine rochen nach der unendlichen Zeit, die diese gesehen hatten. Juchata schaute in den Spiegel, der sich über eine gesamte Wand erstreckte, ein reich verziertes Werk mit einem schwarzen Holzrahmen, der über und über mit geschnitzten bizarren Kreaturen bedeckt war. Sie bewunderte sich. Ihre blasse Haut wurde von einer prächtigen Mähne aus üppigen roten Locken geziert. Halb nackt stand sie vor ihrem Abbild, selbst für eine Hochgeborene, die die schönsten aller Nocturninnen hervorbrachten, war sie eine außergewöhnliche Erscheinung. Ihre kleinen Brüste standen spitz hervor. Sie spielte weiter mit dem Dolch, den sie nur zum Probieren an ihren festen Bauch legte. Wie es wäre, sich zu verletzen und so diesem Treffen zu entgehen. Doch es war sinnlos, denn ihr Vater duldete keine Schwäche. Selbst halb tot hätte er sie noch in das Hochzeitsgemach gezerrt und sie zu einer Entscheidung gezwungen. Vielleicht war er der einzige Nocturn, den sie fürchtete. Zwar zweifelte sie nicht an seiner Liebe zu ihr, doch versteckte er diese tief im Innern, zeigte ihr Härte, wo er konnte. Vielleicht aus Enttäuschung über den Sohn Naxbil, ihren Bruder, der alle Tugenden für ein erfolgreiches Leben als Hochgeborener vermissen ließ und für ihn somit kaum mehr existierte. Längst hatte Vincus aufgegeben, Naxbil auszubilden, doch hielt er sämtliche Exzesse seines Sohnes unter strengstem Verschluss und drohte erfolgreich jedem, der daraus ein öffentliches Ärgernis machen wollte.

Juchata ging dazu über, die Klinge auf dem steinernen Tisch zwischen ihren langen Fingern hin und her hüpfen zu lassen. Langsam ertönte das stählerne Geräusch auf dem dunklen Stein, das in den Gewölben dumpf widerhallte. Immer schneller ließ sie den Dolch springen, geschickt und mit einem Hauch von Risiko legte Juchata ihr Schicksal in die bedeutungsvollen Bewegungen der Waffe. Sie sprach einen mythischen Spruch, den ihr ihre Mutter vorgebetet hatte, als sie klein war. Bliebe die Klinge am Ende zwischen den geraden Zwischenräumen, würde sie Calavus heiraten, bei den ungeraden Gladicus. Doch auch der Spruch half nur, wenn man die Antwort bereits kannte, soviel wusste Juchata über die Künste ihrer verstorbenen Mutter, die sie eher erahnte als eine tiefere Kenntnis darüber zu haben. In dem Augenblick, bevor sie die letzte Silbe murmeln konnte, bohrte sie den Dolch neben ihre Hand in den Stein, der der Härte des Stahls nachgab. Zitternd blieb die Waffe im Tisch stecken, direkt neben Juchatas Daumen, keinen Recken entfernt. Nachdenklich schaute sie auf die zarte Klinge, deren Grazie über ihre tödliche Wirkung hinweg täuschte und somit zu Juchata passte wie ihr maßgeschneidertes, schwarzes Korsett, das sich jetzt wie angegossen an ihren weißen Körper schmiegte. Geschickt knotete sie es hinten zu.

Sie streifte danach ihr hauchdünnes, durchsichtiges Seidenhemd über und ließ ihre roten Locken frei und ungebunden über ihren Rücken fallen, die sich so wie ein Umhang um sie herum legten. Sie schlüpfte in ihre ebenfalls schwarze Hose, schnürte die Seiten zu wie vorher das Korsett, ließ danach ihren Dolch im breiten Gürtel verschwinden.

Ein kleines Flakon stand auf ihrem steinernen Nachttisch, ein Geschenk ihrer Mutter mit scheinbar nie versiegendem Parfüm, das zwar betörend nach bekannten Blüten duftete, doch eine ganze Reihe unbekannter Stoffe enthielt, die Juchata nicht kannte. Zwei Tropfen genügten, die sie hinter ihren Ohren und dem Dekolleté verteilte. Sie kannte die Wirkung dieses Duftes auf andere, doch ihr Vater schien dagegen immun und würde sich nicht davon überzeugen lassen, ihr die Qual der nächsten Stunden zu ersparen. Auf einen letzten Versuch kam es dennoch an, auch wenn sie kaum Hoffnung auf ein Gelingen hatte.

Juchata seufzte. Zwar war sie jetzt bereit für das Treffen, eine Entscheidung hatte sie immer noch nicht gefällt.

Sie öffnete die Vorhänge vor ihrem Fenster wieder und blickte in die wohltuende und beruhigende Dunkelheit hinaus. Vielleicht würde die Aussicht, die sie schon seit so vielen Jahren kannte, ihr endlich eine Antwort schenken. Der Mond stand jetzt beinahe im Zenit. Auch wenn er hell leuchtete, machte es ihr nichts aus, ganz anders als die Sonne, die selbst wenn sie hinter den Wolken schien, jeden Nocturnen töten würde. Selbst wenn sie noch nicht einmal erschienen war, gerade im Begriff war aufzugehen, war jedes Nocturnen-Auge so überfordert, dass es erblinden konnte. Einmal, als Kind, hatte Juchata die Zeit vergessen und war in die Nähe des Sonnenaufgangs geraten. Es war zum Glück ein Wintertag gewesen, die Sonne hatte sich hinter einem dicken Schleier aus grauen Wolken versteckt, war aber noch nicht aufgegangen. Doch ein einziger Blick in ihre Richtung hatte Juchata so geschmerzt, dass sie sich, blind und vorwärts tastend, gerade noch hatte nach Hause retten können. Die folgende Blindheit war zu ihrem Glück nur vorübergehend gewesen, doch hatte sie drei Nächte lang angehalten, bevor ihr Augenlicht zurückgekehrt war. Ihre Eltern hatten damals an ihrem Bett gewacht, denn es war eine lange Zeit über nicht sicher gewesen, ob sie jemals wieder würde sehen können. Doch die legendären Heilkünste Marlettas, ihrer Mutter, hatten Juchata damals geholfen, und auch wenn sie schier unerträgliche Schmerzen gelitten hatte, eines Nachts war schließlich alles vorbei gewesen. Die rasenden Kopfschmerzen verschwanden, ebenso der Druck in den Augen. Wie ein wunderschöner Makel in einem perfekten Gesicht war eine winzige Narbe an Juchatas Augenlid zurückgeblieben, die wie zur Warnung zu schmerzen begann, wenn auch nur ein Hauch von Licht sie berührte.

Selbst Feuerschein ertrugen die Nocturnen nicht, denn es hatte auf sie eine ähnlich blendende Wirkung. Allerdings starben sie nicht, da das Licht des Feuers nicht die Intensität der Sonne erreichte. Doch in der Zeit, in der sie dem Feuer ausgesetzt waren, erblindeten  sie völlig. Auch wenn die Wirkung nur temporär war und in der wohltuenden Dunkelheit sofort nachließ, wären Nocturnen in beleuchteten Räumen allem schutzlos ausgeliefert, was auch immer sie dort erwartete.

Das Mondlicht jedoch war anders, auch die Sterne konnten Juchata jetzt nichts anhaben. Im Gegenteil, als wenn dieses Licht das gute Licht war, eines, dass sie vertrug und dem sie sich gerne aussetzte. Kein Wunder also, dass die Nocturnen den Mond als Gottheit verehrten.

„Ophras, sag mir, was ich tun soll.“ Doch wie immer antwortete Ophras nicht, denn die Antwort trug Juchata in ihrem Herzen, tief versteckt und für sie selbst unauffindbar, zumindest zum jetzigen Zeitpunkt.

Sie vergötterte ihren Vater und war ihm in allem gehorsam. Doch jetzt, in diesem Augenblick, verfluchte sie ihn. Sie verstand genug von Politik, um ihren Vater richtig einzuschätzen, der mächtige Verbündete suchte, um seine Ideen voranzutreiben. Da Naxbil dafür nicht geschaffen war, musste Juchatas Ehemann für ihn einspringen, den Vincus einzunehmen und auszubilden gedachte. Sollte das nicht möglich sein, bliebe Juchatas Sohn, der noch ungeboren war, was Vincus nun so schnell wie möglich ändern wollte.

Ihr Vater hatte sie zu blindem Gehorsam erzogen, ein Schicksal, dass sie mit allen Nocturninnen in der Oberstadt teilte, vor allem, nachdem ihre Mutter so früh gestorben war. Sie verstand die Politik der Adhiben, ein nie enden wollendes Intrigenspiel zwischen den mächtigen Familien, die somit ihre Macht, auch untereinander, gegenüber den normalen Nocturnen verteidigten.

Schon lange bevor er vor Juchatas Tür stand, waren seine Schritte zu hören. Baribas, der alte Diener, hinkte nach einer schweren Verwundung in einer seiner zahllosen Schlachten und zog das linke Bein nach, so dass sein Gang unverkennbar in den langen und hohen Korridoren widerhallte. Die schweren, roten Wandteppiche fingen die Geräusche nicht auf, sondern verstärkten sie auf geheimnisvolle Weise, wodurch Juchata schon lange vorher wusste, wann jemand den Korridor zu ihrem Gemach betrat, der sicher hundert Phrakten maß. Ihr Zimmer, das einzige bewohntein diesem Flügel, hatte sie sich selbst ausgesucht, als ihr Vater sie vor die Wahl gestellt hatte. Damals war es ihr leicht gefallen, nicht nur handelte es sich um den größten Raum, er lag auch am höchsten und hatte als Einziger einen kleinen Erker, von dem aus Juchata einen fantastischen Blick auf die Umgebung hatte. Der größte Vorteil jedoch war die Entfernung zu den anderen Gemächern. Sie logierte weit entfernt von ihrem Vater, der im Hauptgebäude wohnte und auch die Räume des Bruders waren in einem gänzlich anderen Flügel, was Juchata wohl am ehesten erwogen hatte, dieses Zimmer zu wählen. Einst hatten sie sich gut verstanden, als Kinder und Heranwachsende waren sie unzertrennlich gewesen. Doch dann war die Bande gerissen, Naxbil hatte mit seinen Ausschweifungen begonnen, die Vincus sehr verärgert hatten. Seine Reaktion auf Naxbil war kühl gewesen und hatte ihren Bruder verletzt, der nun seine Eifersucht auf die Verbindung lenkte, die zwischen Vater und Tochter herrschte, auch wenn diese eher auf Strenge als auf Herzlichkeit beruhte. Mit der Zeit waren sie immer mehr dazu übergegangen, getrennte Wege zu gehen, schon bald redeten sie so selten wie Fremde, nur noch zu den wenigen gemeinsamen Mahlzeiten sahen sie sich. Zwischen ihnen erstreckten sich nun Korridore und Gänge, die kaum überwindbar wie ein Labyrinth die Geschwister trennten. Eine schier endlose Zahl von Zimmern war unbewohnt, die Möbel mit grauen Laken bedeckt, die einst weiß gewesen waren und nun zwischen Staub und Spinnweben immer mehr vor sich hin moderten. Zu einer anderen Zeit musste die Villa der DeRoveres nahezu vollständig bewohnt gewesen sein. Bilder von unbekannten Verwandten, aus grauer Vorzeit, über die sich wie auf alles andere bereits der Staub des Vergessens gelegt hatte, hingen noch an den Wänden in der Ruhmeshalle. Warum diese so hieß, wusste niemand mehr, doch bildete sie den Mittelpunkt des Hauses, ein hoher, sich über drei Stockwerke erstreckender Saal mit gigantischen Säulen, der aus dem gotischen Gebäude heraus stach. Dieser Saal stieg nicht nur in die Höhe, sondern zog sich auch in die Länge, an die 50 Phrakten reihte sich Säule an Säule, die aus weißem, kalten Stein gefertigt waren. Einige von ihnen wiesen merkwürdige Inschriften auf, die niemand mehr entziffern konnte. Es war der einzige helle Ort in dieser Villa, die düster wirkte mit ihren Kreuzgratgewölben und dunklen Granitsteinen. Doch der Saal war vollständig mit diesen weißen Steinplatten bedeckt, deren helle Adern beinahe lebendig wirkten. Jedes Mal, wenn Juchata eintrat, schmerzte ihre Narbe über dem Auge für einige Momente, auch wenn es vollständig finster war. Hier hingen auch die Bilder der verschollenen Ahnen, Ölbilder für die Ewigkeit, deren Existenz länger gedauert hatte als die Erinnerung an die Modelle. Auf einer Erhebung am Ende des Saales stand nun ein langer, schwerer Holztisch, der eigentlich Platz für 20 Gäste bot, doch nun meist nur für drei gedeckt wurde. Baribas, der alte Weggefährte des Vaters, bediente nun ihren Bruder, sie und Vincus in den seltenen Fällen, wenn sie zusammen Mahlzeiten einnahmen. Der einzige weitere Angestellte war der alte Koch Elotril, der wie Baribas auch gedient hatte und deren Kochkunst sich auf die einfache Küche der Krieger beschränkte. Aus Dank für irgendeinen Dienst hatte Vincus ihn übernommen, warum wusste Juchata nicht. Die beiden wohnten in den Kellergewölben, irgendwo weit unter der Villa, und Juchata hätte nicht sagen können, wo genau, zu weit erstreckten sich die Gewölbe unter dem Bauwerk, das sicher ebenso viele Etagen unter wie über der Erde hatte. Vielleicht sogar mehr. Juchata hatte es nie vollständig erkundet. Eine Klingel an jeder Tür war jedoch mit den Quartieren der Diener verbunden, so dass sie diese nur betätigen musste, um die Dienste des Baribas zu erbitten, was nur in seltenen Fällen geschah.

Jetzt hörte sie ihn kommen, er musste noch Dutzende Phrakten entfernt sein, doch Juchata geriet bereits in Panik. Sie fühlte, wie die überall gefürchtete Wut in ihr emporstieg, eine Wut, die sie selten zu kontrollieren wusste, die jedoch gegenüber ihrem Vater  allerhöchstens eine stumpfe Waffe war, deren er sich meist rasch und wortgewandt entledigte. Die Schritte kamen näher, auf Juchatas Ärger folgte Verzweiflung, danach Trauer.

Es gab keinen Ausweg.

Kapitel 2

Für Naxbil war es ein kurzer Tag gewesen, denn lange hatte er mit seinen trinkfesten Freunden gefeiert. So hatte er auch erfolgreich verdrängt, was für ein wichtiges Ereignis seiner Schwester Juchata bevorstand, denn zu ihrer Bekanntgabe der Heirat war auch er  geladen. Es sollte eine wichtige Nacht für die DeRoveres werden, aus diesem Grund hatte er bereits vor einigen Nächten entschieden, der Zeremonie fern zu bleiben. Auch wenn sein Vater den Ophraces, einen Hohenpriester des Ophras, hinzubestellt hatte, um die Bedeutung zu unterstreichen. Doch Naxbil wusste, dass es um mehr ging als nur die Höherstellung der Schwester gegenüber ihm, dem Sohn und Erstgeborenen. Die Enttäuschung über das Scheitern seiner eigenen Hochzeitspläne saß noch tief im Gemüt seines Vaters fest, so dass diese Zeremonie nur auf eine Demütigung Naxbils selbst hinauslaufen konnte.

Seit Jahrhunderten wurde der erstgeborene Sohn vermählt, danach alle anderen Geschwister. Die Tatsache, dass seiner Schwester Juchata nun diese Ehre zuteil wurde, bedeutete für Naxbil nichts Gutes. Zwar hatte sein Vater ihm offiziell verziehen, die öffentliche Waschung im Tempel des Ophras vollzogen, doch Naxbil wusste, dass das, was er getan hatte, in einer Gesellschaft, wie die der Nocturnen nicht geduldet werden würde. Missmutig zog er die Decke über den Kopf und bereute bereits, überhaupt nach Hause gekommen zu sein. Insgeheim wünschte er sich, jemand würde kommen und ihn zwingen, doch zu erscheinen, aber das würde nicht geschehen. Er hatte zwar die Einladung erhalten, der er folgen konnte oder auch nicht. Keiner würde sich dafür interessieren oder darauf achten, ob er erschien. Zu tief saß die Wut seines Vaters, als dass dieser ihm seine Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Es war als wäre seine Chance ein für alle Mal vorbei. Er hatte es gespürt, als er es tat, selbst in den Sekunden vorher wusste er, dass seine Handlungen beobachtet wurden. Selbstzerstörerisch hatte er dennoch weiter gemacht, bis es geschehen war, seine Gedanken immer bei der Sache, von der er wusste, dass sie ihn für alle Zeit ins Abseits schicken würde.

Wie hatte es nur soweit kommen können? Er hätte wählen können zwischen drei bildschönen Nocturninnen, alle aus angesehenen Familien, alle drei mit besten Verbindungen und gefüllten Schatullen. Seine Zukunft war gemacht, denn Vincus hatte seit seiner Geburt für diesen Augenblick gelebt und gearbeitet, hatte genau so viel Zeit für seine Karriere wie für diese Verbindungen getan. Auch hatte er das Kunststück fertiggebracht, ihm überhaupt eine Wahl zu gewähren, was selbst unter Nocturnen seines Standes höchst ungewöhnlich war. Vincus' Taktik hatte wie immer die Zufriedenheit aller Parteien umschlossen, selbst die beiden Nicht-Erwählten hätten profitiert, weil ihre Töchter in die engere Wahl gekommen waren. Wie genau das Geschäft ausgesehen hatte, wusste Naxbil nicht, nur dass es ein Privileg gewesen war.

Die angehenden Bräute waren ihm vorgestellt worden, alle drei zusammen. Am Anfang waren noch deren Mütter zugegen, dem Ritual folgend bewirteten sie den Gatten und die heiratswilligen Töchter. Naxbil hatte sich umworben gefühlt, es genossen, im Mittelpunkt zu stehen, und dieses seltene Gefühl ausgekostet. Sein Vater wartete im Zimmer nebenan, samt den anderen Vätern und Naxbil war sicher, dass sie dem Schauspiel durch geheime Löcher in Wänden und Möbeln folgten. Dann waren die Mütter gegangen, Naxbil wurde Zeit allein gewährt, um seine Braut zu wählen. Bis dahin war alles gut gelaufen, der nötige Abstand zwischen den Parteien war gewahrt worden, eine Unterhaltung über Nichtigkeiten in Gang gekommen. Als nur noch er und die drei jungen Nocturninnen in seinem Gemach waren, begann die Beklommenheit, der er nicht Herr wurde. Das Zimmer wurde von den Müttern versiegelt, niemand durfte dieses Siegel brechen außer er selbst, wenn er seine Entscheidung getroffen hatte. So wollte es der Brauch in diesen Fällen, der Jahrhunderte alt war. Selbst die Väter durften nicht eingreifen, was immer auch geschehen sollte.

Vielleicht war es die uneingeschränkte Macht in diesem Moment, mit der Naxbil nicht umgehen konnte, vielleicht auch seine unbändige Lust, die er mehr auslebte, als alle anderen ahnten und die ein so großer Teil von ihm geworden war, dass er sie kaum mehr kontrollieren konnte. Auch hatte immer sein Vater für ihn entschieden, hatte ihm aufgetragen, was zu tun wäre und durchgesetzt, dass das auch getan wurde. In dieser Situation aber war er ganz Herr seiner selbst und nicht nur das. Auch drei wunderschöne Nocturninnen hatte er in seiner Gewalt, die sich allem fügen mussten, was er von ihnen verlangte. Anfangs konnte er sich noch zügeln, hielt eine Art Gespräch am Laufen, doch bald schon fing er damit an, Unzüchtigkeiten von seinen Bräuten zu verlangen. Er befahl ihnen, ihre Kleider abzulegen, was an sich schon eine Schande für sie bedeutete. In diesem Augenblick war es vorbei, das wusste er, denn die Väter beobachteten alles. Wie von Sinnen war er, hörte seine Stimme, seine Befehle aus weiter Entfernung, sah sich selbst neben sich stehen, beobachtete seinen roten Kopf, als er den Nocturninnen befahl, Zärtlichkeiten auszutauschen. Die wagten nicht, sich zu widersetzen, zwei von ihnen gehorchten ihm nur widerwillig, die Dritte schien sogar erregt, auch wenn sie sich vordergründig wehrte. In diesem Augenblick war schon alles zu spät, so dass er fortfuhr, selbst eingriff. Er wurde sogar kurz gewalttätig, nahm sich, was er wollte, auch wenn er dazu Schläge austeilen musste. Nach einer halben Stunde war alles vorbei. An eine Wahl dachte er jetzt nicht mehr, denn er hatte, statt zu wählen, die drei Nocturninnen entweiht, für alle Zeiten. Sie waren alle von höchster Geburt und ihre Väter und Mütter waren Zeugen seiner Tat geworden, die nicht zu verzeihen war.

Keiner der Älteren jedoch hatte es gewagt, ihn zu stoppen, für alle war der Brauch wichtiger gewesen als die Ehre ihrer Töchter. Die Drei saßen danach verängstigt in der Ecke des Zimmers, als er langsam auf die Tür zutrat. Er wusste, dass dahinter sein Untergang wartete, ob körperlich oder seelisch, deshalb zögerte er mit dem Aufbrechen des Siegels. Am Ende jedoch war es ihm egal, ob er es jetzt tat oder noch einige Minuten wartete, sein Schicksal war bereits geschrieben.

Als er die Tür öffnete, sah er nur noch für den Bruchteil einer Sekunde die wutverzerrte Visage seines Vaters, der ihm mit aller Kraft einen Faustschlag verpasste, der ihn in eine gnädige Ohnmacht versetzte.

Stunden später war er in seinem Gemach aufgewacht. Von seinen Freunden hatte er erfahren, dass die Familien sich geeinigt, das Ansehen seines Vaters durch diese Eskapade jedoch stark gelitten hatte. Der Vergleich war ihn teuer zu stehen gekommen, und es waren nicht nur die vielen Arcinmünzen aus der Schatzkammer, sondern der folgende Machtverlust, von dem einige glaubten, er würde sich davon nicht erholen.

Binnen kürzester Zeit waren alle drei seiner Gespielinnen vermählt, mit zweitklassigen Gatten, etwas, dass die Eltern der hohen Familien nur akzeptiert hätten, wenn sie etwas anderes, Höheres, bekommen hatten. Was das war, wusste Naxbil nicht, auch seine Freunde konnten ihm nicht helfen, so geheim musste das Übereinkommen sein. Über die Sache schwiegen alle, kein Wort drang nach außen. Und doch ahnte es jeder. Einer seiner Freunde hatte etwas mehr erfahren als die anderen, woher war Naxbil ein Rätsel.

Vincus ließ nichts anbrennen, sondern zwang den jungen Nocturn, bei seinem Leben niemandem etwas zu erzählen. Geld und Rohheit, das waren seines Vaters Mittel, mit denen er erfolgreich alle zum Schweigen brachte, die von der Sache wussten. Selbst seine Schwester kannte nicht jedes Detail, doch war sie zu schlau, um sich nicht ihren Teil zu denken.

Widerwillig wälzte Naxbil sich aus dem Bett. Er würde doch gehen. Und wenn er nur seinen Vater mit seiner Anwesenheit ärgern konnte. Der riesige, schwarze Spiegel zeigte ihn in seiner ganzen Größe. Aus irgendeinem Grund hielt er sich für unwiderstehlich. Trotz seiner jungen Jahre hatte er bereits einen prächtigen Bauchansatz, seine Arme und Beine schienen kaum zu dem aufgeschwemmten Körper zu passen, zu dünn, um ihn zu tragen. Sein Gesicht war aufgedunsen vom üppigen Genuss des Miestas, doch Naxbil liebte sich selbst zu sehr, als dass er seinen körperlichen oder moralischen Schwächen all zu viel Bedeutung beigemessen hätte. Sein Erfolg beim weiblichen Geschlecht gab ihm recht und jeder, der ihn sah, musste zugeben, dass er etwas hatte, etwas Unbeschreibliches, dass ihm eine Art Aura gab, die besonders auf den ersten Blick alle anderen Merkmale übertünchte. Das hatte er mit seiner Schwester gemein, obwohl es bei ihr nicht so auffiel, war sie doch von Natur aus eine erotische Erscheinung.

Anders als Juchata, die mit einem einfachen Lebensstil zufrieden war, umgab Naxbil sich mit allem Luxus, den er finden konnte. Er hatte sich von Namenlosen einige Skulpturen schaffen lassen, die seine Gemächer zierten. Ebenfalls hatte er eine Schwäche für weiche Stoffe, die überall hingen oder lagen. Sein Kleiderschrank war voll mit den besten Stücken, kaum jemand in der Oberstadt legte so viel Wert auf Kleidung. Zwar ließ sein Geschmack etwas zu wünschen übrig, manchmal passten die Farben nicht unbedingt zueinander, doch alles war von feinster Qualität und immer sehr teuer.

Das ganze Zimmer strahlte deshalb eine kitschig-heitere Atmosphäre aus, die allerdings selten jemand zu Gesicht bekam, denn wenn er seine Freunde traf, tat er das in der Oberstadt, die einige Hundert Phrakten vom Haus der DeRoveres entfernt lag.

Langsam zog er sich an, wählte seinen teuersten und farbenfrohsten Anzug, ein Pigmanie neuester Mode. Er wusste, dass sein Vater diesen Pigmanie hasste, er hielt ihn für dekadent und weibisch. Vielleicht wählte Naxbil ihn aus diesem Grund, doch er gefiel ihm auch, den grell-gelben, extra-lange Kragen, das rote Jackett mit den grünen Taschen und dem bunten Muster auf den unteren Partien, die bis zu den Beinen reichten. Naxbil sah sehr elegant aus und jeder, der ihn so sah, musste bestätigen, dass der moderne Pigmanie Naxbil überaus gut kleidete, seine ungünstige Figur in ein besseres Licht rückte. Diesmal geschmackvoll wählte Naxbil eine besonders einfache Brosche, die ganz im Gegensatz zu seinem verschnörkelten Auftritt stand. Sie fiel auf, in ihrer männlichen Simplizität und hielt die Erscheinung zusammen. Sie schmückte seinen Kragen, verband diesen mit der Schärpe, die – ganz in Schwarz – ebenfalls aus dem Ensemble heraus stach.

So wollte er zur Zeremonie, sich den Vätern und Müttern der Bräutigame zeigen, besonders aber seinem Vater. Zufrieden mit sich legte er sein dünnes, kurzes Haar mit Pomade an seinen Kopf, blickte auf seine stolze Gestalt und war zufrieden mit sich. Ihm war nicht bewusst, was er eigentlich erreichen wollte oder ob es überhaupt eine Rolle spielen würde, dass er erschien, aber in diesem Aufzug fühlte er sich wohl und damit sicher. Schließlich wollte er Blicke erhaschen, Blicke, die eigentlich seiner Schwester gehörten. Und auch wenn er das nicht schaffen sollte, war es immer noch besser aufzutreten und in seiner Schande präsent zu sein, als im Nichts der Dunkelheit seines Gemachs zu verschwinden.

Seine innere Uhr, die alle Nocturnen besaßen, damit sie den Tagesanbruch nicht verpassten, sagte ihm, dass es Zeit war, sich auf den Weg zu machen. Noch hatte die Zeremonie nicht begonnen, doch durfte er sich Hoffnungen machen, dass bereits einige Gäste anwesend waren, vor allem natürlich sein Vater. Langsam schritt er sein Gemach der Länge nach ab, so als ob ihm im letzten Moment Zweifel gekommen wären. Sollte er oder sollte er nicht? Wie würden die Familien reagieren, wenn er auftauchte? Würden sie ihn mit Schimpf und Schande davon jagen? Doch Naxbil kannte den Einfluss seines Vaters, der, auch wenn er durch Naxbils Verhalten gelitten hatte, noch immer groß genug war, um jeden Skandal im Keim zu ersticken. Sie würden ihn vordergründig achten, wenn er ihnen jedoch den Rücken zukehrte, sich die Mäuler über ihn zerreißen. „Gut so,“ dachte er sich,„dann reden sie wenigsten über mich.“

Fest entschlossen riss er die schwere, mit schwarzen Eisennieten beschlagene Tür auf. Der unendliche Korridor vor ihm schien ihm jetzt noch länger als sonst. Mit unnatürlich lauten Schritten verschaffte er sich Gehör, sie waren ganz sicher noch in vielen Etagen über und unter ihm zu hören. Man sollte vernehmen, dass er auftauchte, sich auf seinen Auftritt vorbereiten, vielleicht sogar Angst vor ihm haben und sei es auch nur wegen des Skandals und der Furcht davor, wie man sich ihm gegenüber verhalten sollte. Je länger er darüber nachdachte, desto mehr freute er sich, doch noch seine Meinung geändert zu haben. Und wer wusste es schon, vielleicht würde er nach der heutigen Nacht wieder der Erste sein, denn er kannte seine Schwester, der er zwar keine Dummheit, aber eine kaum vergleichbare Sturheit zutraute. Sein Instinkt, den alle DeRoveres in schwächerer oder stärkerer Form besaßen, sagte ihm, dass es auch für ihn eine bedeutende Nacht werden würde. Er fühlte sich bereit dazu, seinem Schicksal erneut zu begegnen.

Kapitel 3

Seine innere Unruhe bemerkte niemand im Raum, zu stark war sein Wille, zu routiniert sein Verhalten, um irgendjemanden spüren zu lassen, was er wirklich dachte oder fühlte. Vincus war von groß gewachsener Gestalt, schlank und drahtig. Sein schlichtes, schwarzes und weites Gewand war von feinstem Stoff und hing beinahe schwerelos um seinen Körper. Seine Gesichtszüge waren hart und die Falten tief. Selbst für einen Fünfunfsechzigjährigen wirkte er älter als er war. Seine ganze Art strahlte Würde und Ruhe aus, der Fels in der Brandung, doch in seinem Innern loderte es heißer als sich irgendjemand vorstellen konnte. Er kannte die Gefahr, die heute lauerte, wusste, dass es seine letzte Chance war, den Familiennamen, der nun schon seit Generationen vererbt wurde, weiter zu führen. Es war eine Ironie des Schicksals, dass ausgerechnet er, der die Familie zu höheren Ehren geführt hatte als sämtliche DeRoveres zuvor, an der simplen Frage der Nachkommenschaft scheitern sollte. Der schwere Schlag, den sein Sohn ihm mit seinem Verhalten verpasst hatte, war beinahe sein Ende gewesen, was kaum jemand wusste. Das erste Mal in seinem Leben hatte er sich verkaufen müssen, seine Dienste in die Macht jener gestellt, die er früher noch ausgelacht hätte. Doch die Situation war nun eine andere, denn wenn sie wollten, wäre er ihre Marionette, was in seiner Position fatale Folgen haben konnte. Sein Leben lang hatte er nur seinem Gewissen über Rechenschaft ablegen müssen, hatte sich niemals von anderen abhängig gemacht. Jetzt war es anders und er wusste es.

Mit einem Lächeln auf den Lippen begrüßte er seine Gäste, Pelates Borja und Pelleus Magnus samt Gemahlin, einer beleibten Nocturnin mit dem Namen Livia, die aus einer der angesehensten Familien stammte. Die männlichen Nocturnen waren ähnlich gekleidet wie er, schlichte schwarze Gewänder, ihre Haare martialisch kurz geschnitten. Pelleus Magnus war ein Hüne von einem Nocturn, der mit den Jahren auch in der Breite gewachsen war. In jungen Jahren ein ebenso gefürchteter General wie sein Sohn jetzt, der mit dem gleichen Hang von selbstzerstörerischem Mut seine Truppen befehligt und die Schlachten gegen die Namenlosen wie durch ein Wunder überlebt hatte. Dass er dabei einen Arm durch den Biss seines eigenen Meganten, den gefährlichen Reittieren der Nocturnen, verloren hatte und nur noch auf einem Auge leidlich sehen konnte, war Teil seiner Geschichte. In späteren Jahren sprach er dem Miesta zu, während er sich auf den erkämpften Lorbeeren ausruhte. Er lebte von seinem Ruhm, wurde vom Volk nahezu vergöttert, was ihm eine nahezu uneingeschränkte Macht einbrachte. Zwischen ihm und Vincus herrschte eine Art berührungsloser Respekt, denn weder konnte Pelleus mit dem Intellekt des Vincus mithalten, noch Vincus mit der gewaltsamen Kraft des Pelleus, die von fast allen Hochgeborenen bewundert wurde. Durch das ausbalancierte Verhältnis der Beiden war eine Co-Existenz und fruchtbare Zusammenarbeit möglich, die in ihren schon lange währenden Regierungsjahren bereits viel bewegt hatte.

Dem gegenüber stand Pelates Borja, ein ständiger Rivale von Vincus, der ebenso wie der Älteste der DeRoveres schlank und hochgewachsen war. Beide hatten ähnliche Eigenschaften, eine Intelligenz und Scharfzüngigkeit, die andere in den Schatten stellte. Während jedoch Pelates der noch bessere Redner war, fehlte es ihm an Charisma, ein Umstand, der vielleicht auf seinen Sprachfehler zurückzuführen war. Das leichte Lispeln machte sich besonders in den ernsten Situationen bemerkbar und führte häufig dazu, dass Nocturnen mehr auf den Fehler achteten als auf den brillant vorgetragenen Inhalt. Pelates war seit jeher eifersüchtig auf den Erfolg der DeRoveres, ein Umstand, der ihn zu einem gefährlichen Gegner machte. Mit einer eventuellen Heirat wollte Vincus diese tödliche Rivalität abschwächen und er hoffte, dass Juchata den Sohn des Pelates wählen würde, denn Calavus war ihm näher als Gladicus. Vielleicht würde er auf diese Weise nicht auf den Enkel warten müssen, sondern genug Einfluss auf den Schwiegersohn gewinnen können, um das Familienerbe bereits früher in würdige Hände zu legen. Mit seinem Erzfeind hatte Vincus eine lose Vereinbarung getroffen. Aber dieses Spiel hatte sich noch nicht entwickelt und wie eine Partie Machroon, dass er meisterhaft beherrschte, würde er seine Figuren setzen und sehen, welche Situationen sich mit der Zeit entwickelten.

Die Gemahlinnen von Pelleus und Pelates, Domitia und Livia, hielten sich im Hintergrund, ganz nach den Regeln Nocturner Gesellschaft. Sie waren etwas aufwendiger gekleidet, doch hielten sie sich an die Tradition der Hochgeborenen, nach der sich Nocturninnen in allen Belangen im Hintergrund halten mussten. Die beiden Söhne Calavus und Gladicus warteten bereits auf Juchata im Hochzeitsgemach, das Vincus eigens für diese Zeremonie hatte herrichten lassen. Das Zimmer, in dem ihm Naxbil diese unauslöschliche Schande zugefügt hatte, lag auf der anderen Seite des Hauses und war von nun an verschlossen, als könnte so die Erinnerung an die schmachvolle Tat endgültig ausgelöscht werden. Um Überraschungen und Zeugen zu verhindern, hatte Vincus diesmal nur ein einziges Spähloch anbringen lassen, von dessen Existenz nur er wusste. Nicht dass er Juchata ein ähnliches Verhalten wie Naxbil zutraute, im Gegenteil, er zweifelte nicht, dass sie gehorchen und wählen würde. An den Ernstfall eines Patts mochte er nicht einmal im Traum denken, denn jetzt brauchte er die stärksten Verbündeten, um aus der Situation heraus zu kommen.

Seine Tochter hätte eigentlich längst hier sein sollen, bereits vor einer halben Stunde hatte er nach ihr geschickt. Baribas war sicher nicht der Schnellste, doch langsam könnte er mit seiner Tochter auftauchen. Das Gesicht des Vincus spiegelte keine seiner Befürchtungen wider, still und würdevoll strahlte er die Ruhe aus, die ihn zu dem gemacht hatten, der er war. Ein glänzender Politiker und Führer, der andere inspirieren und zu Taten bringen konnte, die diese selber nicht für möglich gehalten hätten. Aber auch jemand, der vorne lächelte und ohne mit der Wimper zu zucken seine Feinde hinten herum erledigen konnte, ohne dass diese merkten, woher der Schlag kam.

Erst aber tauchte Naxbil auf, den er nicht erwartet hatte. Vincus bemerkte ihn bereits von Weitem, hörte seine übertrieben lauten Schritte und fragte sich, ob er sich wirklich so undeutlich ihm gegenüber ausgedrückt hatte. Die Einladung war zwar erfolgt, doch in der seichtesten Form, die jeder Nocturn von Rang sofort als Ausladung verstanden hätte. Nur nicht Naxbil, der anscheinend noch nicht genug angerichtet hatte. Als sich die schwere Holztür öffnete und Vincus seinen Sohn erblickte, diesen albernen Aufzug, sein Gehabe, verlor er für einen Bruchteil einer Sekunde die Herrschaft über seine Gesichtszüge. Der Hass, der in ihm brannte, nahm ihn für diesen Augenblick gefangen. Niemand, außer Naxbil, bemerkte es, der zusammenzuckte, denn mit einer derart starken emotionalen Reaktion seines Vaters, der so selten Gefühle zeigte, hatte er nicht gerechnet.

Naxbil verbeugte sich vor seinem Vater, der seine Fassung sofort wieder gefunden hatte. Dieser legte seine Hand auf den Kopf des Sohnes, die ehrerbietige Begrüßung vor Zeremonien, wie sie in der Gesellschaft der Nocturnen unter Familienangehörigen üblich war. Sie sprachen kein Wort, Naxbil machte danach zuerst den männlichen Gästen seine Aufwartung, Pelleus begrüßte ihn beinahe schon wie seinen eigenen Sohn, denn der Tragus gab nichts auf die Gerüchte, die über Naxbil im Umlauf waren. Pelates hingegen warte Abstand, war sich der Schwachstelle im Hause DeRoveres bewusst und ließ Naxbil durch wenige sarkastische, gut gewählte Worte spüren, dass er gedachte, die Situation zu nutzen, die ihm Naxbil ermöglicht hatte. Sein Plan stand fest, nur noch ein kleiner Schritt und die Vorbereitungen waren abgeschlossen. Zwischen den DeRoveres und Borjas würde nie Eintracht herrschen, selbst eine Zweckheirat konnte die vielen Jahre der Feindschaft nicht tilgen, soviel stand für Pelates fest. Er konnte nicht glauben, dass Vincus einen solchen Fehler begehen würde, vielleicht wurde er doch alt und sein scharfer Geist ließ ihn nach den Schicksalsschlägen der letzten Zeit im Stich. Doch Pelates war klug und kannte seinen alten Gegner zu gut, als dass er ihn jetzt, in der Stunde der Entscheidung, unterschätzen würde. Zu oft hatte ihm dieser alte Haudegen bereits einen sicher geglaubten Sieg im Parlament entrissen. Also blieb Pelates vorsichtig, ließ sich nichts anmerken und benahm sich wie der perfekte Vater des angehenden Bräutigams, denn er zweifelte keine Sekunde daran, dass die schöne Tochter des Vincus seinen brillanten Sohn Calavus dem Tölpel Gladicus vorziehen würde. Was hatte dieser einer so intelligenten Nocturnin schon zu bieten als Gewalt und Eintönigkeit?

Die Tochter ließ weiter auf sich warten. Schon wurden Livia und Domitia in das Hochzeitsgemach geschickt, in der sie der Tradition gemäß für einige Zeit mit den jungen Herrschaften zusammen sein würden. Auch Ketauro Constantinus, der Ophraces, war bereits eingetroffen. Sein rotes Gewand wies ihn sofort als Priester aus, die arcinerne Schärpe, die nur die höchsten Ophraces tragen durften, deuteten auf seine Position hin. Die silberne Farbe war allein den Ophraces vorbehalten, die ihrerseits mit der göttlichen Pracht sehr sparsam umgingen und diese nur zu besonderen Anlässen trugen. Vincus hatte sicher alles in Bewegung gesetzt, um zu erreichen, dass der Ophraces heute diese und keine andere Schärpe trug. Die Väter waren jedenfalls beeindruckt, obwohl nur Pelleus dies auch offen zugab. Ketauro kannte Vincus seit seiner Kindheit, ein jetzt fülliger Lebemann, der dem Kult beigetreten war, um einen gehobenen Lebensstil leben zu können. Den Ophraces, den Priestern des Ophras, fehlte es an nichts. Früher durften sie nicht heiraten. Jetzt aber mussten sie nicht, auch wenn sie dem Geschlechtsleben frönen konnten, wie es ihnen beliebte. Und selbstverständlich wurde darüber niemals geredet, selbst die geschwätzigsten Nocturninnen hielten sich zurück, weil es bei Strafe verboten war, die heiligen Ophraces zu verleumden. Ihre Macht in der Gesellschaft war mit den Jahrhunderten stetig gewachsen, auch heute gab es kein Gesetz, keine wichtige Aktion, kein Gesetzesentwurf, denen sie nicht zustimmen mussten. Vincus' große Stärke war seine Kontrolle der Ophraces, seine treusten Anhänger befanden sich unter der Priesterschaft des Ophras. Heikle Abstimmungen hatte er so bereits des öfteren zu seinen Gunsten entscheiden können, auch wenn er es einmal nicht geschafft haben sollte, das Parlament zu überzeugen. Auf dieses Bollwerk seiner Macht konnte er sich noch immer stützen, auch wenn sein Einfluss unter den Adhiben, den Parlamentariern der Nocturnen, geschwunden war.

Wenn Juchata gewählt hatte, würde Ketauro an Ort und Stelle die Heirat vollziehen, eine Zeremonie, die zwei ganze Nächte dauern würde. Alles war vorbereitet, Naxbil hatte sich in eine Ecke verzogen, allein, bekam, anders als gehofft oder erwartet, kaum Beachtung. Vincus redete mit seinen Gästen, hielt das Gespräch am Laufen, um die Zeit zu überbrücken. Juchata hatte ihn noch nie warten lassen, hätte schon eine ganze Weile da sein sollen. Doch auf Baribas war Verlass, er würde die Tochter herbringen, wenn nötig mit allen Mitteln. Das war sein Auftrag. Doch Vincus bezweifelte, dass seine Tochter es so weit kommen lassen würde, zu geschickt und vorsichtig war sie, als dass sie die Situation nicht verstehen würde.

Aber wo blieb sie?

Vincus entschuldigte sich für einen Moment, übertrug Ketauro die Aufgabe, die Gäste zu unterhalten, und ging selbst in Richtung der Gemächer seiner Tochter. Als er jedoch an der Treppe stand, die nach oben zum Stockwerk führte, in dem Juchata wohnte, sah er sie bereits kommen. Ihre roten Haare wehten trotz Windstille hinter ihr her, die ihn so sehr an seine Gemahlin Marletta erinnerten. Zwar hatte sie seine Statur, groß und schlank, doch die Züge waren weicher, genau so lieblich wie die Marlettas. Ihrer Mutter, seiner Frau.

Er hatte ihr nie offen gezeigt, wie sehr er sie liebte, hatte sie immer auf Abstand gehalten. Er hatte seine Gründe dafür, kannte ihre schlummernden Fähigkeiten, von denen er nicht wollte, dass sie sie je entdeckte. Jetzt aber, in diesem Moment, als sie ihm entgegen eilte, mit ihrer ganzen Weiblichkeit, entschlossen und zielgerichtet, spürte er diese tief vergrabene Liebe, die aufbegehrte. Ganz wie es seine Art jedoch gebot, kontrollierte er jede Emotion, zeigte nichts. Ganz im Gegenteil, er sah geduldig und reglos zu ihr empor.

Baribas folgte Juchata in gehörigem Abstand, konnte er doch der Jugend nicht länger folgen. Als Juchata ihren Vater erblickte, erstarrte sie für den Bruchteil einer Sekunde, fing sich aber sofort wieder. Wie immer bei öffentlichen Anlässen siezte sie ihren Vater.

„Vater, vergeben Sie mir. Ich wäre schon eher gekommen, hätte ich nicht Mutters Ohrringe suchen müssen. Es fiel mir erst im letzten Augenblick ein, ich wollte sie heute tragen. Aber wie Sie sehen, sie haben sich nicht angefunden. Dabei sind sie immer in meiner Schatulle.“

Die Schatulle hatte Juchata von ihrer Mutter geerbt, sie enthielt so manches Stück, meist Schmuck, doch auch andere Sachen, deren Bedeutung Juchata nicht einmal erahnte.

„Es ist schon gut, nun bist du ja da.“ Als Vincus seiner Tochter gegenüber stand, küsste er sie vorsichtig auf die Stirn, ein seltenes Zeichen der Zuneigung.

„Wie schön sie ist, fast so groß wie ich, doch hat sie die Linien ihrer Mutter,“ dachte er. Für einen Augenblick wollte er alles absagen, fühlte, dass es nicht richtig war und nur seinem Zweck diente, doch wischte er diese leisen Zweifel weg, bevor sie zu etwas Größerem heranwachsen konnten.

Juchata nickte nur stumm, während Vincus ihre Hand nahm, sich umdrehte und den Arm hob, so dass beide mit den Händen auf Brusthöhe voran in das Hochzeitsgemach schreiten konnten. Das Gemach war für Juchatas Geschmack zu aufwendig geschmückt. Bunte Tücher hingen von der Decke, die in den Ecken des großen Raumes befestigt waren. In der Mitte stand ein arcinerner Tisch, von Kissen umzingelt, auf denen bereits die beiden Freier saßen. Überall standen prächtige Gefäße mit den teuersten Nachtgewächsen, die in allen Farben blühten und einen betörenden Duft verströmten. Juchata wich diesen Pflanzen aus, wusste sie doch um deren giftige Gefährlichkeit, wenn man ihnen zu nahe kam. Doch heute würde ihr kein Missgeschick dieser Art geschehen.

Die Mütter hatten auf den Sitzen weiter hinten Platz genommen, saßen auf den niedrigen Liegen und tuschelten erregt miteinander als die Braut und Vincus eintraten. Wenn Juchata unsicher oder aufgeregt gewesen sein sollte, sah man es ihr nicht an. Sie schritt selbstsicher auf den erhöhten Stuhl vor dem Tisch, überragte somit alle anderen. Selbst Gladicus wirkte winzig gegen die Gestalt Juchatas auf ihrem Thron. Der General war vollständig versteinert, als sie eintrat, konnte seinen Blick nicht von ihr lassen. Er betete sie bereits jetzt an, was immer sie sagte, er würde gehorchen. Calavus hatte den Kopf zur Seite gelegt, seine Lippen spielten mit einem Lächeln, das schlecht einzuschätzen war, vielleicht heimtückisch, vielleicht ironisch, eventuell aber auch erfreut. Er beherrschte das Mienenspiel bereits wie ein Alter, nur hin und wieder zeigte er sein wahres Gesicht. Juchata konnte er nicht täuschen.

Bevor sie sich setzte, schaute Vincus ihr nochmals kurz in die Augen.

„Was ich dir eigentlich sagen will, kann ich dir nicht sagen. Tue heute das Richtige, was immer das auch sein mag. Vielleicht bin ich ein alter Narr und du tust recht daran, abzulehnen, was ich dir vorgesetzt habe. Wer weiß das schon. Wenn nicht, verzeih mir. So weit sind wir gekommen, so viel steht auf dem Spiel, doch die Schuld kannst du mir nicht nehmen. Was immer heute geschieht.“ Vincus sagte nichts, dachte nur, sein Blick intensiv, seine grauen Augen hart wie Stahl.

Juchata nickte kurz als hätte sie ihn gehört, seine intimsten Gedanken gelesen. Es war ihr Vater, der den Blick mit ihr brach, nur durch ein Blinzeln und Juchata war sich später nicht sicher, ob es stimmte, was sie beobachtet hatte. Vincus schaute auf die Szene vor ihm, die erwartungsvollen Gesichter ruhten auf ihm. Dann sprach er die Worte in Noctus, der alten Sprache der Vorfahren und eröffnete damit die Zeremonie. Jetzt kam Ketauro hinzu, der gewartet hatte, bis Vincus fertig war. Auch er sprach dieselben Worte in der antiken Sprache, die kaum noch jemand verstand. Sie gaben der bevorstehenden Zeremonie etwas Feierliches, etwas, das höher und damit reiner war. Uralte Traditionen, die sie schon so lange ausführten, dass sich ihr Sinn verwässert und aufgelöst hatte. Doch Ketauro wich ab, nur Nuancen und ein unwissender Nocturn hätte kaum verstanden. So wählte Ketauro statt des Wortes „Resnja“, das Liebe bedeutete, den Begriff „Resnjasata“, der eher Freundschaft, im anderen Kontext aber auch Feindschaft bedeuten konnte. Zweifellos hatte Vincus seine Hand im Spiel, eine letzte Botschaft an sie?

Juchata konnte jeder Silbe folgen, denn sie sprach Noctus. Calavus sicher auch und sie wusste, dass auch er verstanden hatte, was Ketauro, der es wie kein Zweiter verstand, Vincus zu unterstützen und blind zu verstehen, hatte sagen wollen. Selbst wenn es eine Nachricht an sie war, regte sich Widerstand in ihr. Sie hatte es nicht nötig, so gegängelt zu werden und ihre gefürchtete Wut stieg in ihr auf. Juchata schüttelte leicht den Kopf, ihre roten Locken kamen in Wallung, womit sie alle Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie ärgerte sich bereits über diese Regung und nahm sich vor, ab jetzt nicht mehr zu reagieren. So wie ihr Vater es sie gelehrt hatte.

Dann verstummten die Worte, sie hallten jedoch noch lange im Raum nach, was Juchata und wer weiß noch wer spürte. Dann verließen Vincus und Ketauro das Gemach. Die Mütter reichten der Tradition folgend Erfrischungen, herrliche Speisen aus Nakreet, aber auch Früchte von den Bäumen der Felder, die kaum noch trugen, bedienten die Drei, bevor auch sie, nachdem sie die besten Wünsche ausgesprochen hatten, das Zimmer verließen.

Vincus und Ketauro versiegelten den Saal. Flüssiges Arcin wurde in eine Einrichtung an der Tür gegossen, noch bevor es erhärtete, presste Vincus seinen Siegelring darauf. Sofort erstarrte das Metall. Ketauro beschwor den Fluch, der jeden treffen sollte, der es wagte, das Siegel zu brechen. Nur Juchata durfte es tun, aber erst, wenn sie ihre Wahl getroffen hatte. Oder sie eine Wahl ablehnte.

Dann waren Juchata, Gladicus und Calavus allein. Keiner wagte zu sprechen, die Stille erschien allen beinahe unerträglich. Gladicus war der Erste, der sich rührte, allerdings anders, als er sich vorgestellt hatte. Aus lauter Nervosität griff er eines der Häppchen, doch viel zu hastig, so dass es in hohem Bogen durch die Luft flog und mit einem sanften Klatschen auf den nackten Boden fiel. Juchata lachte laut auf, während Calavus die Stirn runzelte.

Gladicus sprang auf und versuchte, das kleine Ungeschick zu beseitigen.

„Lass gut sein, Gladicus, das machen später die Diener. Es ist in Ordnung, wir sind alle nervös. Mach dir nichts daraus.“ Freundlich lächelte Juchata Gladicus zu, der sich dadurch beruhigte und selbst langsam ein entspannteres Lächeln zeigte. Das gefiel Calavus nicht, doch sagte er nichts, seine Miene jedoch verriet Hohn und Spott für seinen Konkurrenten, denn er spürte, dass der General ihm nicht gewachsen war.

Gladicus hatte Mut gefasst. Zwar fühlte er sich auf dem Schlachtfeld sicherer, zog sogar den ärgsten und kräftigsten Feind dieser Situation vor, doch war es jetzt nicht zu ändern.

„Was machen wir jetzt? Juchata, wen von uns willst du wählen?“

Die direkte Art des Soldaten gefiel Juchata, der schmachvolle Blick des Kriegers erinnerte sie jedoch daran, dass sie diesen Nocturn niemals würde respektieren können.

Calavus mischte sich ein, um nicht ins Hintertreffen zu geraten. „Warum die Eile, mein Freund. Lasst uns erst mal tafeln und etwas reden. Danach ist für wichtige Entscheidungen immer noch Zeit.“

Beide Freier sahen Juchata an, die jetzt nachdenklich auf ihrem Thron hin und her rutschte.

„Calavus hat recht“, sie bereute diese Worte in dem Moment, in dem sie sie sagte, denn einen Gegner wie Calavus baute man nicht auf. „Ich habe noch nicht entschieden und um ganz ehrlich mit Euch zu sein, ich brauche auch noch etwas Zeit. Lasst uns reden. Vielleicht hilft das.“

Gladicus schaute auf den Boden, das war nicht sein Terrain, zu schlüpfrig und ungewohnt. Calavus hingegen schien bester Laune.

„Gladicus, mein Freund, warum so trübsinnig? Jetzt sind wir hier beisammen, warum nicht ein wenig Spaß haben und unsere Gesellschaft genießen? Oder bist du etwa unzufrieden mit uns?“

„Das ist es nicht. Ich mag euch beide.“ Juchata glaubte ihm das sogar, denn sie hielt den Kämpfer für einen einfachen und aufrichtigen Nocturnen, der keine Erfahrung mit Täuschungen und Lügen hatte. Er fuhr fort.

„Ich weiß, ich bin nicht der beste Redner. Juchata, bitte wähle mich, ich liebe dich, habe dich bereits geliebt, als wir uns das erste Mal sahen.“

Dieser Ausbruch traf Juchata, obwohl sie auf die direkte Art des Soldaten vorbereitet war.

Calavus kam ihr zuvor.

„Also, mein Freund, ich bitte dich. Nun lass sie doch in Ruhe. Sie wird sich schon entscheiden und wird das Beste tun. Sie muss an vieles denken, glaube mir. Liebe steht dabei nicht gerade an erster Stelle. Denke an ihren Vater, der faktisch ohne Sohn einen Erben finden muss. Niemand weiß zwar genau, was geschehen ist, doch es muss ja einen Grund dafür geben, warum Juchata als Erste heiratet.“

„Lass meinen Bruder aus dem Spiel“ Juchata fuhr auf, fauchte Calavus an, der nicht zurück wich.

„Meine Liebe, ich spreche doch nur die Fakten aus. Natürlich weiß ich nichts, reime mir nur zusammen, was geschehen sein könnte. Also nichts für ungut. Du wirst richtig wählen, davon bin ich überzeugt. Es steht so viel mehr auf dem Spiel als nur Liebe oder das, was man im Allgemeinen dafür hält.“

„Ach so, und was wäre das zum Beispiel?“

„Auch wenn es dich ärgert, das Fortbestehen der Familie DeRovere hängt von deiner Entscheidung ab. Also musst du die Richtige treffen. Mehr sag ich nicht, alles andere wird sich dann zeigen.“ Selbstsicher spielte Calavus mit seinem spitzen Kinn, der seinem Gesicht auch ohne Ausdruck eine höhnische Fratze verlieh. Seine glatten langen Haare umspielten sein ebenmäßiges Gesicht, das man als schön bezeichnen konnte. Welch ein Gegensatz zur runden, fast bäuerlichen Visage des Gladicus, der seinem Vater so sehr ähnelte.

„Du scheinst ja zu wissen, was die richtige Entscheidung wäre. Teile doch deine Weisheit mit uns.“ Juchata wurde immer wütender, Gladicus war die Situation bereits peinlich und er zog sich so weit er konnte zurück. Ein Riese, der sich klein machte wie ein winziges Tierchen und es schaffte, seine körperliche Präsenz auf ein Minimum zu reduzieren.

„Meine Liebe, das liegt doch auf der Hand. Ich muss es dir nicht sagen, aber ich denke, du kommst selbst darauf. Dein Vater braucht einen würdigen Nachfolger und das ziemlich schnell. Schau dich um, es liegt so klar und offen vor uns wie diese....ja... diese Kuachti.“ Er zeigte auf die bittere Frucht, die zwar selten war, doch kaum jemandem schmeckte.

Juchata wusste, dass Calavus recht hatte. Den Hinweis auf die bitterste aller Früchte hatte sie verstanden. Doch seine Arroganz war noch größer als sonst und sie hasste ihn dafür. Noch mehr jedoch hasste sie ihren Vater, der sie in diese Situation gebracht hatte. Sie steckte in der Klemme, denn plötzlich wurde ihr das Spiel ihres Vaters bewusst. Die Familie des Gladicus würde Vincus immer unterstützen, egal, was heute geschah. Die Borjas jedoch wären ein neuer, aufstrebender Verbündeter, alte Gegner der Familie, die Allianz würde Vincus neuen Auftrieb geben. Ihr Vater hatte sie betrogen, denn eigentlich hatte sie keine Wahl. Calavus kannte das Spiel und war sich seiner Sache so sicher, dass er die aggressivste Form der Unterhaltung gewählt hatte: Ehrlichkeit. Und die war kaum zu ertragen. Aus seinem Mund klang es auch beinahe wie eine Drohung. Doch Juchata hatte er unterschätzt. Sie war keine Nocturnin, die mit sich spielen ließ, auch ihre Familie hatte dazu kein Recht.

Trotzdem fühlte sie ihre Pflicht, neigte den Kopf und schwieg.

„Wir wollen speisen.“ Juchata musste Zeit gewinnen, in der Hoffnung, dass ihr doch noch ein Ausweg einfiel.

Calavus lächelte siegesgewiss. Die Zeit spielte für ihn und er wusste es.

Gladicus hatte nicht viel verstanden, machte sich jetzt relativ entspannt über die Köstlichkeiten her. Die bewundernswerte Naivität beschützte ihn davor, im tiefsten Innern verletzt zu werden.

Juchata und Calavus ließen sich kaum aus den Augen, ihre Blicke waren hasserfüllt, seine einfach nur eiskalt. Und doch spürten beide eine Anziehung, die sie noch nie in ihrem Leben gespürt hatten.

Es war trotzdem ein ungleiches Spiel, denn die Machtverhältnisse schienen eindeutig. Beide wussten es. Nur einer erfreute sich an der Situation.

Vincus hatte das Gespräch von seinem Guckloch im Nebenzimmer aus verfolgt, während Ketauro die Gäste unterhielt. Er wusste, dass Juchata sein Spiel jetzt verstand. Die Wahl war keine, er wunderte sich nur, dass sie es vorher noch nicht durchschaut hatte. Er rechnete damit, dass sie sich noch ein wenig zieren würde, doch im Grunde konnte er beruhigt sein. Das erste Mal in dieser Nacht erlaubte er sich ein leises Lächeln, das nach einer Sekunde erstarb. Wieder wurde er sich bewusst, was er seiner Tochter antat. Das wäre alles nicht notwendig gewesen, wenn Naxbil ihn nicht verraten hätte. Sein Sohn hatte sich still und leise wieder entfernt, niemand hatte Kenntnis von ihm genommen. Es war so als hätte er nicht existiert. Dass Naxbil für alle Zeiten erledigt war, wusste auch Vincus, denn die elitäre Gesellschaft ignorierte ihn bereits und strafte ihn mit Nicht-Achtung. Vincus würde sich eines Tages mit der Zukunft seines ältesten Sohnes auseinandersetzen müssen, was eine unangenehme Geschichte werden würde. Vielleicht ein Posten in der Armee, um ihn einige Jahre in den Kasernen verschwinden zu lassen oder sogar das Amt eines Ophraces, auch wenn das trotz seines Einflusses ungleich schwieriger zu bewerkstelligen sein würde. Vincus schob diese Gedanken davon, das hatte Zeit. Im Moment brannte es an anderer Stelle. Er schaute wieder durch das Guckloch, noch immer war keine Entscheidung gefallen. Also lehnte er sich zurück, stand nach einer Minute auf und ging wieder in den Aufenthaltsraum, in dem sich die Familien aufhielten. Seine Abwesenheit war kaum aufgefallen, denn Ketauro hatte eine der alten Geschichten aus seiner Zeit vor der Weihung erzählt, die immer gut ankamen und mit jedem Erzählen einige Details hinzugewannen. Vincus atmete auf und hörte seinem alten Freund zu, ließ sich von seinen Abenteuern gefangen nehmen und vergaß für diese Zeit alle Sorgen.

Kapitel 4

Naxbil war wutentbrannt in sein Gemach gestürzt, hatte sich die festlichen Gewänder vom Leib gerissen und rannte nun in einfacher Kleidung auf und ab. Tränen der Wut standen in seinen Augen, Wut auf seinen Vater. Und auf seine Schwester, die ihm das Erbe stahl. Wut auch auf die Arroganz der anderen Familien, die ihn ignoriert hatten. Seine Hoffnung auf Aufmerksamkeit war nicht erfüllt worden, seine Anwesenheit hatte niemanden in Verlegenheit gebracht. Alle waren nur erstaunt gewesen, ihn zu sehen, hatten sich damit jedoch nicht lange aufgehalten und ihn wie Luft behandelt. Am liebsten wäre er zurückgekehrt und hätte einen nach dem anderen abgeschossen. In voller Erregung griff er nach seiner Aphille, die direkt neben seinem Spiegel hing. Der lange Lauf aus dunklem Holz lag warm in seiner Hand, die Bolzen mit den stählernen Klingen, die noch nie das Fleisch eines Nocturnen, sondern immer nur wilde Acti gekostet hatten, starrten ihn voller Härte an als wollten sie ihn ermutigen, sich zur Wehr zu setzen. Oder ihn verspotten. So erblickte er sich im Spiegel, die kunstvolle Waffe in der Hand, sein verzehrtes Gesicht, das fratzenartig und lächerlich aussah. Es verstärkte noch seine Wut und mit einem heftigen Schlag mit der Aphille zerschmetterte er den Spiegel, der in Tausend Stücke zerbarst.

Beinahe hätten die Scherben Naxbil verletzt, denn durch die Größe des Spiegels hagelte es Splitter, die fast den Sohn des Vincus erreichten, der erschreckt zurückwich. Wie aus einer Trance erwachte er jetzt, beschaute sein Werk und heulte kurz auf. Wie alles in dem Zimmer war auch der Spiegel ein antikes Stück gewesen, welcher so alt war, dass er beinahe schon ein eigens Leben besessen hatte. Traurig starrte ihn der leere Rahmen an, die geschnitzten burlesquen Figuren tanzten immer noch, doch nicht mehr um den Spiegel herum, sondern nur noch für sich, was ihnen ein sonderbar unnützes Aussehen verlieh. Es kam Naxbil so vor als drehten sie sich nach ihm um, schauten ihn vorwurfsvoll an, einige wollten ihm sogar drohen. Rasch wich Naxbil ein weiteres Stück zurück, nahm seinen Umhang und floh aus dem Zimmer.

Auf der Treppe nach unten schaute er nochmals nach oben, wo die ehrenwerte Gesellschaft auf die Entscheidung seiner Schwester wartete. Noch war es nicht so weit, denn sonst würde es oben lauter zugehen. Er lief rasch hinab, trat über die prachtvolle Aufgangstreppe, die mehrere Phrakten breit war, in den Empfangssaal, der selbst für nocturne Verhältnisse düster vor ihm lag. Der rote Teppich hatte bereits bessere Tage gesehen, doch aus irgendeinem Grund hatte ihn Vincus noch nicht ersetzt, was schließen ließ, dass es einen guten Grund dafür gab. Naxbil hielt sich mit dieser Frage nicht lange auf. Er durchschritt die Halle und ging links auf eine Seitentür zu. Durch das riesige gotische Eingangsportal wollte er nicht gehen, schon weil sich die vier Phrakten hohe Tür so schwer öffnen ließ. Der einfache Seitenausgang erfüllte jetzt ebenso seinen Zweck.

Draußen sog Naxbil die kühle Nachtluft ein. Vor ihm lag der verwilderte Garten, auf den Vincus ganz offensichtlich keinen Wert legte. Marletta, Naxbils Mutter, hatte den Garten gepflegt und so manches unheimliche Kraut angepflanzt, das jetzt wie außer Rand und Band wucherte und beinahe die Wege versperrte. Nur der Hauptweg war frei, denn Baribas schlug einmal im Monat alles kurz und klein, was in den Weg zu wachsen wagte.