Nomaden - Michael Schreckenberg - E-Book

Nomaden E-Book

Michael Schreckenberg

4,8

Beschreibung

„Wir hatten die Autobahn schon bei Montabaur verlassen (...) und fuhren nun auf langen, geraden Landstraßen, die links und rechts von Wald gesäumt waren. Laub und Geäst lag auf der einstigen Fahrbahn, das Unterholz an den Rändern war hoch, und überall bahnten sich Pflanzen ihren Weg durch kleinste Durchlässe im Asphalt. Mit unseren brüllenden Motoren waren wir Störenfriede in einer Stille, die wahr und richtig schien. Die Welt hatte begonnen, uns zu vergessen, und es schien mir fast obszön, dass wir uns mit solchem Lärm in Erinnerung brachten.“ Das neue Endzeit-Abenteuer aus der Welt des Erfolgsromans „Der Finder“ erzählt die Abenteuer der Überlebenden, die seinerzeit mit Autos und Motorrädern auf die Reise durch eine leere Welt gingen, nachdem von jetzt auf gleich alle Menschen verschwunden waren. Viel mehr als eine Fortsetzung: Eine ganz eigene, mitreißende Endzeit-Geschichte.

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Michael Schreckenberg

Nomaden

Endzeitroman

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Musik

Danke

Prolog

Teil 1: Ende

Teil 2: Nomaden

Teil 3: Der Prophet

Epilog

Weitere Romantipps

Impressum

© 2015 by Michael Schreckenberg

Alle Nutzungsrechte dieser Ausgabe bei

JUHR Verlag

Daniel Juhr

Waldweg 34a

51688 Wipperfürth

www.juhrverlag.de

Lektorat & Satz: Daniel Juhr

Korrektorat: Christoph Nettersheim

Covergestaltung: Stefan Heilemann, www.heilemania.de

Coverreinzeichnung:www.oh-kommunikation.de

Originalausgabe, 1. Auflage 2015.

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

Das Werk ist vollumfänglich geschützt. Jede Verwertung wie zum Beispiel die Verbreitung, der auszugsweise Nachdruck, die fotomechanische Verarbeitung sowie die Verarbeitung und Speicherung in elektronischen Systemen bedarf der vorherigen Genehmigung durch den Verlag.

Alle Figuren und Handlungen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig.

Musik

Ich schreibe zu Musik, denn Musik ist für mich ein Tor in meine Geschichtenwelten. Den Künstlern, die mich dort hineinführen, gebührt Dank. Dies ist eine lange Geschichte, und es war ein langer Weg, sie zu schreiben – ich brauchte viele Tore.

Geöffnet haben sie:

Akira Yamaoka

Alphaville

Calexico

Einstürzende Neubauten

Franz Ferdinand

Gary Jules

Jeanette

Jimi Hendrix

Leonard Cohen

Metallica

Mumford & Sons

Nick Cave & The Bad Seeds

PJ Harvey

Sting & The Police

The Bolshoi

The Offspring

The Pogues

The Stranglers

U2

XTC

Danke

Die Reise der Nomaden begann schon vor der ersten Idee zum Buch. Sie war lang, teilweise voller Hindernisse, und ohne meine Helferinnen und Helfer wären manche dieser Hindernisse zu groß gewesen. Sie haben mir auf dem Weg geholfen, mit Liebe, Freundschaft, Rat, Zuspruch, Ermahnung, freundlichem Spott, Trost und Wissen … was ein Autor eben so braucht. Sie haben das Buch verbessert, alle Fehler, die dennoch darin sind, sind allein meine.

Mein Dank geht an:

… Claudia, die als Erste das erste und letzte Wort gelesen hat und deren Lob und Kritik die ersten sind, auf die ich höre. Die das alles möglich macht. Die so viel versteht, zu mir hält, mir den Rücken stärkt, wie seltsam mein Geschichtenerzählerhirn auch tickt. Ich liebe dich.

… Sarah, meine geduldige und kluge Sparringspartnerin, die bis zum Schluss an meiner Seite war, mit ihrem Rat und ihrer scharfen Analyse. Memento Hemingway! Und sie hatte die entscheidende Idee als Erste – danach hat der Nebel sich gelichtet.

… Stefan, für Burgen, Rauchsäulen und nie ermüdenden Zuspruch.

… Meret, Muriel und Lennart, für Ideen, Namen und grenzenloses Denken.

… Marc und Daniel, für den Anstoß und den Mut, es noch einmal zu wagen.

… Edith, Laura und Kim, für die Bereitschaft, sich auf das Abenteuer einzulassen, Gedanken zur Hauptfigur, verderbende Konserven, all das andere, eure Zeit und eure Geduld.

… Lucia, die mir den Weg aus ihrer Bibliothek gewiesen hat, und Mandy, die mich in Sachen Flugzeuge und -häfen beriet.

… Eva, für ihre Anmerkungen zu amerikanischen Freunden.

Und zuletzt, aber nicht als Letzte:

… dich, liebe Leserin, lieber Leser. An all die Finderfans, die mir mit ihrer Begeisterung für meine Geschichten und der permanenten Frage nach einer Fortsetzung den Rücken gestärkt und keine Ruhe gelassen haben. An meine kritischen Leser, die Finger auf Wunden gelegt haben. An all die, die sich mit den Nomaden zum ersten Mal auf meine Geschichtenwelt einlassen. Das hier ist für euch. Und die Reise beginnt …

… JETZT!

Prolog

Würde das reichen?

Ich schaute auf den Fluss, und der Weg nach unten kam mir lächerlich kurz vor. Ja, ich hatte oft genug gehört und gelesen, dass Wasser, wenn man nur aus einer ausreichenden Höhe aufschlug, hart wie Beton, bretthart, steinhart, auf jeden Fall sehr hart sei. Und ich hatte auch schon oft genug mitbekommen, dass irgendjemand sich – absichtlich oder unabsichtlich – von einer Rheinbrücke geworfen hatte und dann gestorben war. Von dieser hier zum Beispiel, der Hohenzollernbrücke. Aber wenn ich so nach unten schaute, kam mir das Wasser so nah vor, so einladend und weich. Galt das mit dem brettharten Betonwasser aus Stein vielleicht doch nur für die Golden Gate Bridge?

Überhaupt hatte ich die ganze Sache nicht besonders gut geplant, und das war peinlich genug, denn ich hatte lange darüber nachgedacht. Hochhäuser und Eisenbahnen hatte ich ausgeschlossen, ich wollte weder Passanten erschlagen noch Zugführer traumatisieren. Vergiften, Erhängen und Erschießen schieden ebenfalls aus. Ich hatte ein wenig recherchiert und herausgefunden, dass die Geschichte vom friedlichen Einschlafen mittels Schlafmittel ein Märchen war. Wer daran glaubte, endete gerne mal in Krämpfen und Agonie. Andere Gifte versprachen noch widerlichere letzte Minuten. Wie man einen Strick richtig knüpfte, um das Genick zu brechen, wusste ich nicht, und mich selbst zu erdrosseln kam mir ebenso wenig einladend vor wie ein qualvoller Tod mittels Gift. Eine Schusswaffe besaß ich nicht, und ich kannte auch niemanden, der mir eine leihen konnte. Und selbst wenn …

„Kannst du mir mal eben deine Pistole leihen?“

„Wozu?“

„Ich will mich erschießen.“

Klang irgendwie auch nicht besonders erfolgversprechend.

Die Brücke erschien mir besser. Ein Sprung, dann Wasser (brettbetonsteinhart), dann nichts mehr. Ich hatte den Wagen in Deutz abgestellt, nah der Messe, wie schon tausendmal, war über den S-Bahnsteig und durch den Bahnhof gegangen, auf der anderen Seite durch den kleinen Park und dann auf die Brücke. Das Gitter, das den Fußgängerweg von den Gleisen trennte, war kaum zu sehen unter all diesen bescheuerten Ewige-Liebe-Schlössern, die sentimentalitätsduselige Pärchen im Hormonrausch hier hingehängt hatten. Steffi und Detlef, Sylvia + Stefan, Klaus und Susanne, M & C, D + S, N + N, … und so weiter, und so weiter. Irgendwo hing auch eins mit der Aufschrift „Lynn + Jo“, klein und schwarz. Ich machte mir erfolgreich vor, dass ich vergessen hatte, wo es war.

Die Schlösser gaben mir noch einmal einen zusätzlichen Motivationsschub, aber im nächsten Moment wurde mir klar, dass es nicht so einfach werden würde. Ich hatte an Hochhausbesucher und Zugführer gedacht, aber ich hatte nicht bedacht, dass man auf der Hohenzollernbrücke niemals allein war, schon gar nicht in einer lauen Sommernacht wie dieser. Der stetige Strom von Passanten erschien mir als Menschenmasse, alle darauf bedacht, hier zu patrouillieren, um Lebensmüde vom Sprung abzuhalten. Es würde also schnell gehen müssen – entschlossen auf das Geländer steigen, springen, Schluss. Ohne zu zögern, ohne dass irgendjemand merkte, was geschah, bevor es zu spät war. Ich trat an die Brüstung. Sie war niedrig genug, ich würde mich ohne Probleme hinauf- und hinüberschwingen können. Aber das Wasser schien so nah. Würde das reichen? Ich hatte absolut keine Lust, halb ertrunken und mit Knochenbrüchen gerettet zu werden. Ich wollte niemanden warnen oder um Hilfe bitten. Ich wollte einfach nur sterben.

„Könnte klappen.“

Zunächst dachte ich, ich selbst hätte gesprochen. Dann wurde mir klar, dass ich das weder gedacht noch gesagt hatte. Ich sah nach rechts. Dort stand jemand und schaute auf das Wasser hinunter, ebenso wie ich.

„Könnte aber auch sein, dass du dir einfach nur beschissen wehtust.“

Ich starrte ihn an, erkannte gegen das Licht des gegenüberliegenden Rheinufers zuerst nur eine schattenhafte Gestalt und blinzelte einmal. Dann sah ich ihn. Er hatte sich mir zugewandt und lächelte, ein Mann in meinem Alter, stoppelkurze Haare und ein ebensolcher Bart, dunkle Augen, kleiner als ich und kräftig, aber nicht dick. Sein Grinsen wurde noch breiter, und er streckte mir die Hand hin.

„Ich bin Erkan.“

Ich war so perplex, dass ich die Hand nahm und kurz drückte.

„Ich heiße Jo, also, Johannes eigentlich, aber alle …“

„Ich weiß, wer du bist, Jo. Erkennst du mich denn nicht? Mann – sag nicht, du hast mich vergessen.“

Ich war immer noch verwirrt und glaubte für einen Moment wieder, er habe gar kein richtiges Gesicht, nur diese Augen auf Weiß. Dann klärte sich mein Verstand, und ich erkannte ihn. Natürlich. Erkan. Wir waren in der Schule in einer Stufe gewesen und hatten in der Oberstufe ein paar Kurse zusammen gehabt. Englisch-LK, zum Beispiel. Ich versuchte ein Lächeln.

„Quatsch, ich hab’ dich nicht vergessen. Ich dachte nur nicht …“

„… dass du mich gerade jetzt und hier triffst, was? Tja.“ Er schaute wieder auf den Fluss hinunter. „Da bin ich ja wohl gerade noch rechtzeitig gekommen.“

Mir war unbehaglich. Ich wollte nicht gerettet werden. Und war es wirklich so offensichtlich gewesen? Ich wollte auch nicht noch einmal Mittelpunkt eines peinlichen Aufsehens sein.

„Erkan, ich weiß nicht …“

„… nein, ich ehrlich gesagt, auch nicht. Vielleicht zerhaut es dich da unten oder du wirst so betäubt, dass du mit dem ersten Strudel ersäufst, ohne es noch richtig mitzukriegen. Kann aber auch anders laufen. Knochenbrüche, innere Verletzungen, wenn du es richtig blöd anstellst, zermatschte Eier – aber eben ohne dabei draufzugehen. Bist du wirklich so scharf darauf zu sterben?“

Hätte er mich gefragt, ob ich die Schmerzen und den Misserfolg in Kauf nehmen wollte, so hätte ich gezweifelt. Aber auf diese Frage gab es nur eine Antwort: „Ja.“

Er schüttelte den Kopf und lachte leise.

„Was ist so komisch?“ Etwas Respekt vor meinem Entschluss verlangte ich schon.

Erkan schüttelte wieder den Kopf. „Ein Insider.“ Er wandte sich mir wieder zu und lächelte sanft. „Du willst nicht zu unserem Zehn-Jahre-Abitreffen kommen? Ist doch schon nächsten Monat.“

Ich konnte nicht anders, ich musste lachen. Das war nun wirklich der allerletzte Grund, der mich davon abhalten könnte.

„Nee, echt nicht.“

„Warum denn nicht? Wird bestimmt nett.“

„Ey, Erkan …“ Ich breitete die Arme aus, die Geste musste die tausend Gründe ersetzen, die ich nicht aufzählen konnte: die Tatsache, dass mir wirklich überhaupt gar nicht danach zumute war, irgendetwas zu feiern. Den Punkt, dass mein Leben kurz nach dem Abitur einen plötzlichen und endgültigen Höhepunkt erreicht hatte und danach ein einziger Misserfolg gewesen war. Ich nannte nur den einfachsten Grund.

„Ich fliege irgendwann nächste Woche aus meiner Wohnung, und dann habe ich nichts mehr. Wäre natürlich ein hübsches Kuriosum, so ein Penner auf der Abiparty, aber dazu gebe ich mich nicht her.“

Er schnaubte, aber es klang eher belustigt als verächtlich. „Seit wann denn so viel Selbstmitleid? Steht dir gar nicht.“

Ich schwieg und versuchte dabei wie jemand auszusehen, der mit seinem Schicksal Frieden gemacht hatte. Erkan griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und zog etwas heraus – ein Bündel Geldscheine, wie ich entsetzt feststellte. Er zog die Klammer ab und begann, große Scheine herauszuzählen.

„Erkan, bitte lass das.“

Er zählte ungerührt weiter, eine ganze Weile, dann nahm er meine rechte Hand und drückte ein dickes Päckchen hinein.

„Das sollte bis zur Party dicke reichen. Ob du damit deinen Mietrückstand bezahlen oder ins Hotel gehen willst, ist deine Sache. Ich würde dich nur gerne da sehen.“

Ich hätte das Geld zu gerne mit einer großen Geste in den Rhein geschleudert, aber irgendwie brachte ich das nicht. Stattdessen behauptete ich: „Du kannst mich nicht kaufen.“

„Tue ich doch gar nicht.“

„Was denn sonst?“

Er seufzte und lächelte wieder dieses unerschütterlich sanfte Lächeln. „Ich bitte dich um einen Gefallen, Jo. Komm zu der Party. Feier mit uns, mach dir einen netten Abend. Geh am nächsten Tag noch einmal spazieren. Wenn du dann immer noch Schluss machen willst, bitte, ich werde nicht da sein, um dich aufzuhalten. Aber tu mir den Gefallen und komm. Und da du mir den Gefallen nicht tun kannst, wenn dir nicht irgendwer ein wenig Geld … leiht, ermögliche ich dir, dass du mir den Gefallen tust. Das ist alles.“

Ich schaute auf das Geldbündel in meiner Hand. Das waren mindestens zehntausend Euro, eher mehr. „Du bist wohl ganz schön reich, was?“ Es sollte nicht so bitter klingen, wie es herauskam.

Er überhörte den Tonfall, wandte sich wieder dem Rhein zu und zuckte mit den Schultern. „Mehr als du ahnst“, sagte er gleichgültig.

„Warum machst du das?“

Erkan schaute lange wortlos auf den Fluss hinaus. „Es passiert“, sagte er dann, wie zu sich selbst. Als er sich wieder zu mir drehte, sah er traurig aus. Er reichte mir wieder die Hand.

„Bis zur Party, dann. Ich freue mich auf dich, Jo.“

Damit wandte er sich um und ging schnell zu der leuchtenden Stadt hinüber.

Teil 1: Ende

I see a bad moon rising

I see trouble on the way,

I see earthquakes and lightning

I see a bad time today

(John Fogerty– Bad Moon Rising)

Let’s start in style

let’s dance for a while

(Alphaville– Forever Young)

JO

„Jo! Hey, wie cool, dass du auch gekommen bist. Unser erster Promi. Ich habe dein Buch gelesen, war echt stark.“ David, einer der Organisatoren der Revival-Party, lachte, drückte mir die Hand, schlug mir auf die Schulter, wie in so einer blöden Bierwerbung. Aber er meinte es ehrlich, er freute sich wirklich. Seine Freude war wie ein Tritt in den Bauch., Ich habe dein Buch gelesen.‘ Wie oft würde ich den Satz in dieser Nacht noch ertragen müssen?

Ich hätte es wissen müssen, ich hatte es gewusst, das war ja der Grund gewesen, aus dem ich niemals hatte herkommen wollen. Aber 14.400 Euro können ein sehr, sehr starkes Argument sein. 14.400 Euro dafür, dass du noch drei Wochen lebst und zu einer Party gehst. Nachdem Erkan in Richtung Köln verschwunden war, hatte ich mich in einem schwächlichen Anfall von Stolz noch einmal an das Brückengeländer gestellt, aber der Rhein sah plötzlich gar nicht mehr einladend aus, nur noch nass und dunkel. Und die Menschen um mich waren plötzlich kein bedrohlicher grauer Strom mehr, sondern Pärchen und Inlineskater, Radfahrer und Touristen, Nachtjogger und Wanderer auf dem Weg in die und von der Stadt. 14.400 Euro waren endlich, das war mir klar. Aber wenn ich annahm, dass die Zeit, die sie mir borgten, ebenso endlich war– drei Wochen und eine Party–, dann waren sie ein Reichtum, der mir einen stilvollen und angenehmen Abschied kaufen konnte. Ich kehrte nicht zurück in meine Wohnung. Ich überquerte die Brücke und ließ mich in die Stadt fallen. Am nächsten Vormittag checkte ich im Hilton ein, direkt am Kreisverkehr beim Bahnhof. Ich zahlte einundzwanzig Nächte plus Frühstück im Voraus und hatte immer noch genug von Erkans Argumenten übrig, dass ich mich ernsthaft fragte, ob ich die bis zur Party überhaupt auf den Kopf kloppen konnte. Es gelang mir nicht ganz, aber fast. Ich lebte drei Wochen lang, wie ich zuletzt vor sieben Jahren gelebt hatte, nur diesmal bewusst. Ich kaufte, was ich an Kleidung brauchte, und sonst fast nichts, das ein Mahl, einen Tag oder einen One-Night-Stand überdauerte. Nichts, was mich binden konnte, kein Handy, keinen Computer. Am Morgen des letzten Freitages, des Tages der Party, mietete ich mir ein Motorrad, das ich nicht bezahlen würde, weil ich nicht vorhatte, es jemals zurückzubringen. Es war eine Harley Fat Boy, und in dem Moment, als ich mich daraufsetzte, wusste ich, dass es das schönste und beste Fahrzeug war, das ich je besessen hatte, besser als der 911, besser als der Z3. Weil ich darauf ich selbst blieb. Ich kaufte dem Händler, der sie mir vermietete, ein Braincap ab, und er erklärte mir pflichtschuldig, dass das nur ein Dekostück sei, kein regelgerechter Helm. Ihm war es egal, mir auch. Ich verbrachte den Tag mit meiner Harley auf den Pisten des Bergischen Landes, duschte am Abend ein letztes Mal im Hotel und donnerte dann im anthrazitfarbenen Einreiher mit farblich darauf abgestimmten Monkey-Boots, Braincap und Motorrad nach Opla- den. Ich wollte diese Nacht so gut nutzen, wie man eine letzte Nacht unter den Freunden und Feinden seiner Jugend nur nutzen kann. So weit der Plan.

Ich hatte den verdammten Satz über das verdammte Buch schon dreimal gehört, als ich es endlich schaffte, mich von den Grüppchen vor der Tür des alten Bunkers zu lösen und in das Gebäude zu fliehen. Hier drin war es besser. Unten war das Buffet aufgebaut, bei dem ich mich nicht lange aufhielt, ich flüchtete die breite Treppe hinauf in den ersten Stock, von wo Musik zu hören war. Wir waren auf dem Gymnasium die „80er-Retro-Stufe“ gewesen, irgendwie hing uns dieses graue Jahrzehnt zwischen Punk und Wende an, in dem wir Kinder gewesen waren. In meiner Klasse hatte es einen Per-Anhalter-durch-die-Galaxis-Fanclub gegeben, unser Literaturkurs hatte den Pilotfilm von Miami Vice als Theateradaption auf die Bühne gebracht, die von uns organisierte Oberstufenparty war selbstverständlich eine 80er-Party gewesen, und unser Abi-Ball hatte unter dem Motto „Popper-Punker-Waver“ gestanden. So war es in jeder Hinsicht passend, dass mich The Bolshoi im ersten Stock begrüßte. „Happy Boy“. Ja, genau. Ich drängte mich auf die Tanzfläche, stellte mir vor, die drei Frauen und der hin und her wackelnde Eckensteher darauf wären eine Menschenmenge und versank für lange Zeit in der Musik.

Als Ofra Haza mich schließlich wieder vom Tanzboden vertrieb, war ich angenehm aufgekratzt. Ich ließ mich an die Wand des Raumes treiben, jemand drückte mir einen Becher in die Hand.

„Hallo Jo.“

Eine Frauenstimme. Ich drehte mich zu ihr und konnte gerade noch verhindern, dass die Adrenalinexplosion mir die Knie so weich machte, dass ich einknickte. Leuchtend rote Haare. Grüne Augen. Es war zu dunkel, um das zu sehen, aber ich wusste, dass sie grün waren. Ich hatte gedacht, ich wäre auf sie vorbereitet. Falsch gedacht. Immerhin konnte ich noch sprechen.

„Hallo Esther.“

Sie hielt einen eigenen Becher in der Hand und nippte lächelnd daran, also musste sie mit dem anderen hier auf mich gewartet haben, bis ich fertig war. Gleich würde sie sagen, dass sie mein Buch gelesen hatte.

„Früher konntest du nie so lange tanzen“, begann sie stattdessen.

„Früher hatte ich dann meist schnell was Besseres zu tun“, murmelte ich, und sie lächelte wieder. Ich suchte verzweifelt nach brauchbaren Worten. Sie war einer der Gründe gewesen, mit denen ich mir Erkan und seine Argumente schöngeredet hatte. Ich hatte in meinem kurzen Leben sehr, sehr viel kaputt gemacht, und wenig davon konnte ich mit einem letzten Gespräch zu heilen hoffen. Esther war die erste Zerstörung gewesen, und ich hatte gedacht, dass ich wenigstens diese eine Sache wiedergutmachen konnte. Nun wirkte sie allerdings nicht besonders zerstört. Warum auch, es war zehn Jahre her, mehr sogar. Aber wenn sie mir einen Plastikbecher voll– was war das?– Cider (Cider, mein Gott, das wusste die noch?) geben und mich danach gnadenlos lieb anlächeln konnte, warum schämte ich mich dann immer noch so, als sei es gestern gewesen?

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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