Nukleosynthese 1: Wasserstoffbrennen - Klaus N. Frick - E-Book

Nukleosynthese 1: Wasserstoffbrennen E-Book

Klaus N. Frick

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Beschreibung

Wasserstoffbrennen ist die erste von sechs Sammlungen deutschsprachiger Science-Fiction Kurzgeschichten. Erstveröffentlichungen und überarbeitete Ausgaben stehen nebeneinander – in Anlehnung der großen SF-Anthologien der 80er Jahre. Mit Erzählungen von Uwe Post / Oliver Koch / Matthias Falke / Stefanie Bender ­/ Jacqueline Montemurri / Nadine Boos / Tobias Bachmann / Klaus N. Frick / Achim Mehnert

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Inhaltsverzeichnis
Drei Tage Abschied - Tobias Bachmann
A little bot of Krieg - Nadine Boos
Der elfte Avatar - Matthias Falke
Rest in Bits - Uwe Post
Die Faszination der Einsamkeit - Jacqueline Montemurri
Altenwelt - Achim Mehnert
Die Erben der steinernen Burg - Klaus N. Frick
Calysa Lock 2302 - Stefanie Bender
Seine große Liebe - Oliver Koch

 

WASSER STOFF BRENNEN

 

 

 

Science-Fiction Kurzgeschichten Band 1

 

 

© 2018 Amrûn Verlag Jürgen Eglseer, Traunstein

 

Herausgeber der Reihe: Jürgen Eglseer

Umschlagbild: Alexander Preuss Umschlaggestaltung: Jürgen Eglseer

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN TB – 978-3-95869-073-8 Printed in the EU

 

Besuchen Sie unsere Webseite:

amrun-verlag.de

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar

1 18

 

 

Mit Wasserstoffbrennen wird die Kernfusion von Protonen (d. h. von Atomkernen des häufigsten Isotops 1H des Wasserstoffs) zu Helium im Inneren von Sternen (oder, im Fall einer Nova, auf der Oberfläche eines weißen Zwergs) bezeichnet, also mit anderen Worten die stellare Wasserstofffusion. Diese Reaktion stellt in normalen Sternen während des Großteils ihres Lebenszyklus die wesentliche Energiequelle dar. Alle Sterne der Hauptreihe beziehen ihre Energie aus dem Wasserstoffbrennen.

 

de.wikipedia.org/wiki/Wasserstoffbrennen

 

Drei Tage Abschied

Erzählung von Tobias Bachmann

 

 

 

 

Die Halle ist schmutzig und grau. Neblige Dunstschlieren. Gestank und Lärm. Viel Lärm. Maschinen, Getriebe, das Surren elektronischer Wägen.

Und schreiende Menschen natürlich. Sie schreien sich über den Lärm hinweg an.

Das Schiff wartet. Ein riesiger Koloss aus Stahl und Zukunft.

Es ist der Moment, wo der Abschied im eigentlichen Sinne bereits vollzogen ist, man sich aber noch immer gegenübersteht. Alles ist gesagt und doch steht das Wichtigste noch im Raum. So als wäre nichts gesagt worden. Drei Tage lang nichts. Kein einziges Wort. Und doch haben wir nur geredet.

Carmen steht mir gegenüber. Ihr Gepäck ist schon seit Wochen verstaut. Die Vorbereitungen liefen lange genug. Wir wissen das alles. Alles ist vorherbestimmt. Unausweichlich. Und gleich wird der Aufruf kommen. Wird die blecherne Stimme erschallen, die sagen wird ...

»Es war schön«, sagt Carmen.

Ich nicke. »Ja, das war es.«

»Natürlich war es das.« Sie grinst. Ihre Lippen kräuseln sich dabei so lieb. Die letzten drei Tage habe ich mich auf angenehme Weise nicht an dieses Kräuseln gewöhnen können. Immerzu könnte ich es betrachten.

»Ich werde dir schreiben«, sagt Carmen und nickt zuversichtlich.

»Das hoffe ich. Du musst mir unbedingt berichten, wie es dort oben ist.«

»Werde ich.«

»Natürlich«, sage ich und der Schmerz über den bevorstehenden Verlust breitet sich wieder in mir aus. Gerne hätte ich ihr gesagt, dass ich sie liebe. Ihre kräuselnden Lippen. Ihren Mund. Ihr ganzes Wesen.

Aber ich sage es nicht. Sage nichts. Bin zu feige und es ist ja ohnehin zu spät.

»Wenn du hier unten bleibst«, sagt sie, »dann wirst du hoffentlich nicht untätig herumsitzen.«

»Nein, das werde ich nicht. Das weißt du doch«, lüge ich.

»Deswegen sag ich es ja.«

Ich seufze. »Der Mars ist weit weg.«

Wieder ihr Lächeln. »Aber du kannst ihn sehen. Gestern Nacht haben wir ihn uns angesehen. Weißt du noch?«

»Ja, ich weiß«, sage ich und nicke. »Ein kleiner, leuchtender Punkt unter vielen.«

»Ein schöner Punkt. Ich freue mich schon darauf.«

»Ich freue mich für dich.« Gleich wird die Stimme ertönen, denke ich. Die blecherne Stimme, die den Aufruf sprechen wird, dass alle Passagiere zum ...

»Ich komme mir scheußlich vor«, sagt sie und eine Träne rollt ihre Wange hinab.

»Nicht doch. Komm her.« Wir umarmen uns. Ganz fest. Ich spüre ihren Körper. Ihren zarten, zierlichen Körper. Zerbrechlich. Zärtlich. Ihre kleinen, festen Brüste unter der Reiseuniform. Rieche ihren Duft. Spüre ihre Haut an meiner Backe. Warm und weich.

»Und vom Mars aus geht es dann weiter«, sage ich.

»Ja. Nach einem Aufenthalt von drei bis sechs Monaten. Ab dann wird es schwer, mit dem Schreiben.«

Ich sage nichts. Halte sie fest und warte auf den Aufruf. Die schreckliche, blecherne Stimme, die sagen wird, dass alle Passagiere für den ...

»Die letzten Tage haben mir viel bedeutet«, sagt sie.

»Mir auch, Carmen. Mir auch.« Sie löst sich von mir. Ich halte ihre Hände.

»Aber es ist eine Chance.«

»Ja. Eine gute. Eine wirklich gute Chance.«

»Die einzige«, sagt sie. »Eine andere gibt es nicht.«

Wir blicken uns an. Halten unsere Hände und sehen uns in die Augen, ohne dabei ein Wort zu sprechen.

Ich warte auf die Stimme. Die blecherne Stimme, die mit dem letzten Aufruf die Ewigkeit des Moments abschneiden wird. Die sagen wird, dass ...

»Alles wird gut«, sagt sie.

Ich nicke. Kann nichts sagen. Habe keine Stimme mehr. Habe sie irgendwo zwischen hier und jetzt verloren.

Ich schlucke hart. Trockene Kehle. Brennende Augen.

Drei Tage haben wir nicht geschlafen. Uns nur unterhalten. Grund war die Nachricht, dass ich nicht mitkommen könnte. Eine genetische Instabilität hieß es. Sie wurde bei der letzten Überprüfung meiner Testergebnisse festgestellt. Ich bleibe also hier und Carmen geht fort. Auf dem Schiff wird man ihr jemanden anderes zuteilen. Es ist nicht fair, denke ich. Es ist einfach nicht fair.

Aber wir können nichts machen. Und ihre Reise ist wichtig. Carmens Teilnahme an der Reise ist wichtig. Und somit ist klar, dass sie mitgehen muss. Dass sie nicht aus niederen Beweggründen von der Reise zurücktritt.

Drei Tage Abschied. Und nun ist alles gesagt. Sie geht und ich bleibe zurück.

Alles ist gesagt, bis auf eines. Aber ich spreche es nicht aus. Sie wird es schon wissen, denke ich. Liebe spürt man doch. Und es würde alles nur noch schlimmer machen.

Ihre kräuselnden Lippen. Ich hole Luft. Möchte es endlich sagen. Muss es sagen, aber da ertönt die blecherne Stimme: »Letzter Aufruf für das Generationenschiff Alpha-C. Letzter Aufruf. Passagiere: Bitte alle einsteigen! Besucher: Bitte verlassen Sie die Starthalle! Letzter Aufruf!«

»Auf Wiedersehen«, sagt sie.

Wir lachen kurz. So ein Blödsinn, denke ich.

»Lebe wohl«, lautet ihre Korrektur. Es klingt schrecklich.

»Alles Gute«, sage ich.

Letzte Worte.

Wir starren uns an. Bewegungslos.

Ein Bewaffneter kommt und sagt: »Los, gehen Sie jetzt. Sie dürfen hier nicht bleiben.« Und an Carmen gewandt: »Und Sie müssen einsteigen. Der letzte Aufruf.«

Dann treibt mich der Mann hinter die Schleuse. Ein letzter Blickkontakt. Die Türen schließen. Carmen ist fort.

Für immer.

Fliegt mit dem Generationenschiff einer neuen Zukunft entgegen. Mit einem ihr zugeteilten Partner. Genetisch getestet. Einwandfreie DNA. Perfektes Erbgut.

Und ich, mit meiner genetischen Instabilität, bleibe hier.

Auf dem ebenso instabilen Planeten. Drei Jahre bleiben ihm noch.

Doch was sind schon drei Jahre und die endgültige Auslöschung im Gegensatz zu drei Tagen und dem Aufbruch in eine hoffnungsvolle Zukunft?

Drei Tage Abschied.

Alles ist gesagt.

Adieu.

 

 

TOBIAS BACHMANN

Biografie

 

Tobias Bachmann wurde 1977 in Erlangen geboren und veröffentlicht seit 1998 erzählungen, Novellen und Romane; unter anderem der gemeinsam mit Markus K. Korb verfasste Episoden-Roman Das Arkham-Sanatorium (2007, Atlantis Verlag) sowie der als bester deutschsprachiger Horrorroman 2009 mit dem Vincent Preis ausgezeichnete Roman »Dagons Erben« (2009, Basilisk Verlag). Bei Amrûn erschien 2018 sein Kriminalroman EISkalt. Tobias Bachmann ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt mit seiner Familie im Fränkischen Seenland.

 

A little Bot of Krieg

Nadine Boos

 

 

 

 

Der nächste Morgen.

Staubtrocken wie der Morgen davor.

Und der Morgen davor.

Leon zitterte am ganzen Körper. Sein Gehstock lag auf den unnützen Beinen, er umklammerte ihn wie ein Gewehr.

Manchmal war der Stock tatsächlich eins. Und er war eins mit Leon.

Dann schoss er damit.

Auch wenn er nicht sehen konnte, was und ob er getroffen hatte, musste es tot sein, denn Leon lebte noch.

Der Sonnenaufgang biss ihm in die Augen wie ein gehässiges Tier, aber er wandte den Blick nicht ab. Seine Finger bewegten sich ohne Unterlass, tasteten, suchten, fanden immer wieder die kühle Glätte seiner Waffe.

Standhaft bleiben. Umgebung beobachten. Bewegungen sehen. Reagieren.

Der Feind hatte die Hochhäuser gegenüber zu krümeligen Ruinenstummeln zerbombt und das bestimmt nicht nur, damit Leon ihn sehen konnte. Wer war so blöd, sich selbst die Deckung zu nehmen? Da würde etwas hinterher kommen. Etwas Großes, Gewaltiges. Es war bereit, die Welt einzuäschern, wenn keiner ihm standhielt.

Alles war genau wie früher, nichts hatte sich geändert. Von Kindesbeinen an ein Leben für den Krieg. Er gegen den Feind, er gegen die Roboter, gegen die Aliens, die Orks. Und jetzt kamen sie wieder, und wieder würde er seine Pflicht tun, auch wenn er unter der Last der Verantwortung zusammenzubrechen drohte.

Sein linkes Augenlid zuckte, er spürte die Hitze des Jagdfiebers im Nacken.

Leon war vorbereitet. Er sah die Lichter in der Nacht, er hörte die Schreie der Verwundeten und das Kreischen der Kreaturen in der schwarzen Wüste, er spürte die dröhnenden Explosionen, die den Staub in langen Säulen in die Luft aufsteigen ließen. Wenn alle wegsahen, dann rückte der Feind näher auf und Leon war der Einzige, der es wusste. Der Einzige, der am Fenster saß und ein Gewehr auf dem Schoß hielt.

Aber ihm glaubte ja niemand.

 

Bot glaubte an nichts.

Er besaß keinen Glauben, nur Wissen. Und präzise Messinstrumente. Glaube war für seinen Beruf absolut unnütz, sonst hätten die Ingenieure ihm ein anderes Programm verpasst.

Seine Variablen ließen allerdings zu, dass er den Namen »Bot« akzeptierte und auch viele andere Namen, obwohl er ab Werk auf »Samba George Ultma12.52.98« getauft worden war.

Mit der ihm eigenen Präzision öffnete Bot den Wasserhahn wie üblich für 11,26 Sekunden, maß den Strahl aus, hielt inne und öffnete noch einmal für 2,53 Sekunden. Er schickte ein Ticket über die Unregelmäßigkeit an MajDom, wartete auf die automatische Bestätigung des Eingangs und füllte 10 weitere Schüsseln, diesmal mit der verlängerten Periode, die er sorgfältig in seinem Speicher ablegte. Auch die Farbe des Wassers war ein Grund zur Beanstandung. Hierfür hatte Bot schon vor Tagen ein Ticket verschickt. Das allerdings war zurückgekommen. Offenbar gab es eine massive Störung im Labor. Da die Ernährung der Bewohner absolute Priorität hatte, erhielt er den Bescheid, das Wasser zu verfüttern, bis ein gegenteiliger Befehl kam. Lieber schlechtes Wasser, als tagelang überhaupt keins.

Bot teilte sein Hand-Werkzeug in zehn kleine Rührstöckchen und verquirlte das Wasser in den Schüsseln mit dem Suppenpulver. Auf den Rücken lud er sich den Kanister mit dem Heißgetränk, in die Seitenschächte kamen frische Windeln, Handtücher, Bettlaken und so weiter. Alles rastete mit der gewohnten Gründlichkeit ein.

Seit einer Woche benötigte er nur noch halb so viel Material wie zuvor.

Auf dem Weg zum Ostflügel überprüfte er die Verschweißung an der Tür zum oberen Stockwerk. Dort hatte es einen kurzen, überraschenden Sauerstoffabfall gegeben, den der MajDom zwar bemerkt hatte, gegen den er aber nichts hatte ausrichten können. Auf einen Schlag zehn Bewohner weniger, dafür Aasgeruch in allen Fluren, bis Bot die Tür versiegelt hatte. Und der ständige Wind von oben, den hatte Bot damit ebenfalls unterbunden. Musste ein großes Leck sein und warum die Luft draußen für ein paar Stunden so ungesund gewesen war, dafür besaß er keine Vergleichsdaten.

Seine Daten besagten: Zugluft war nicht gut für die Bewohner – Leck zuschweißen.

 

Durch die kaputten Fensterscheiben ging der Wind und brachte einen pelzigen Geruch mit sich, der zu süß war, für einen Wintertag und zu klebrig, für den Ruinenstaub von gegenüber.

Die Angst überfiel Leon so abrupt wie ein Wadenkrampf, den er nie wieder haben würde.

Ganz plötzlich spürte er die Enge des Zimmers, rang um Atem. Die Erde bebte, die Wände waren drauf und dran, ihn unter sich zu begraben, vor dem Fenster herrschte tonerschwarze Nacht.

Und der Feind näherte sich.

Die volle Wucht seiner Präsenz traf ihn, er packte sein Gewehr fester, legte an, duckte sich, wartete auf Sichtkontakt.

Während die Wände ihn noch immer in ihrem Griff hatten.

Während die Finsternis noch undurchdringlicher wurde.

Standhalten! Wer konnte die Menschheit noch retten, wenn nicht er? Der Panik nachgeben würde bedeuten, alle zu verraten.

Oh, dieses Summen im Ohr! Dieser Druck auf seinen Händen, die Vibrationen! Mit welcher Waffe kämpfte der Feind, um ihm das Gewehr aus den Fingern zu nehmen? Wer schüttelte seine Knöchel durch?

Und dann begriff Leon, dass der Feind bereits im Haus war. Er fiel vom Stuhl auf den Boden, rappelte sich hoch, zielte und schoss auf das, was durch die Tür seines Zimmers kam.

 

Bot kam herein. »Einen guten Morgen wünsche ich, Le-ch-On«

»Bot, alter Junge!«, stammelte Leon. Er lag auf dem Boden. In einem weißen Zimmer. »Bot ...« Der Feind war kein Feind, es war Bot, der wie ein plüschbepelztes Tier auf der Schwelle stand und lächelte. Er sah so menschlich aus und gleichzeitig wie ein Ding, von dem man sich in den Arm nehmen lassen wollte. Tief in sich drin wusste Leon, dass er dem Bot vertrauen konnte. Musste.

»Hallo Le-ch-On. Alles ist in Ordnung. Iss etwas. Kommst du alleine hoch oder soll ich dich auf den Stuhl setzen?«

Leon wusste nicht, was er wollte. Leon wusste nicht einmal genau, wo er war. Außer Bot erkannte er nichts wieder.

Musste vertrauen.

Bot unterzog das Zimmer einem raschen Scan. Das Bett war frisch gemacht und er trug das in Leons Akte ein. Wenn das morgen noch so war, würde er dem Bewohner den Stuhl wegnehmen und ihn sedieren, um eine angemessene Nachtruhe zu gewährleisten. Es handelte sich außerdem um den sechsundfünfzigsten Vorfall, bei dem Leon am Morgen auf dem Boden lag und seine Muskeln zuckten.

Bot stellte den Stuhl weg vom Fenster, an den Tisch, hob den Menschen auf und setzte ihn hin. Wie immer ließ Leon sich in der Mitte nicht gerne zusammenfalten und wollte liegen bleiben. Den Kampf gegen die Roboterarme gewann er nie. Ganz im Gegensatz zu den Kämpfen, die er nachts gelegentlich gegen Roboterarmeen ausfocht.

»Bot, mir tun meine Waden weh«, jammerte er.

Bot, der ein sauber durchprogrammierter Pfleger war, rief die Leon-Datei auf und spielte sie über seine Lautsprecher ab. Für jeden Bewohner hatte er eine Datei, die er zum Frühstück, zum Mittag- und zum Abendessen von sich gab. Routine war im Umgang mit Demenzkranken sehr wichtig. Immer wiederholen. Und immer auf den Namen hören, den der Bewohner festgelegt hatte. Jeder Bewohner hatte Samba George Ultma12.52.98 einen anderen Namen gegeben. Für Leon war er Bot.

Während der Zeit, in der die Aufzeichnung lief, konnte Bot das Essen auftragen, widerspenstige oder unselbstständige Bewohner füttern, windeln und das Bett frisch beziehen, wenn es nötig war.

»Du bist Le-ch-On Jaschker. Du bist 74 Jahre alt, Le-ch-On. Du bist nie im Krieg gewesen. Du warst Key Account Manager und hast die Welt bereist. Le-ch-On, du hattest eine Familie, eine Frau und zwei Kinder, die dich sicherlich bald besuchen kommen werden ...«

Das Wort »Familie« löste etwas in Leon aus. Er setzte sich aufrecht hin, fuhr sich durch das Haar, spürte, wie schütter es war, löffelte noch von der Suppe, die jeden Tag ungenießbarer wurde. Dann strich er seinen Kittel glatt, blickte in Bots Linsen und bat ihn, bei seiner Tochter anzurufen.

Bot meldete dem MajDom das Anliegen und dieser gab zurück, dass die Verbindung zum Netz draußen nach wie vor gestört war. Wie immer in solchen Fällen, spielte Bot alte Aufzeichnungen der Tochter ab, die nicht immer zu Leons Fragen passten, diesen aber dennoch erfreuten. Als er registrierte, wie der Blick des Bewohners langsam glasig wurde, beendete er das Gespräch.

Den abrupten Übergang bemerkte Leon kaum. Er gaffte unter den Tisch und war mit einem anderen Problem beschäftigt: »Bot, warum habe ich keine Waden mehr?«

Innerhalb von Sekunden rechnete Bot aus, ob er Leon eine ehrliche Antwort geben sollte oder nicht. Er versuchte eine Strategie, die auf Ausweichen basierte: »Du hattest Probleme mit der Durchblutung, Le-ch-On.«

»Ja, Bot, Granaten beenden die Durchblutung ziemlich schnell.« Er kicherte und sein Gesicht machte klar, dass er Aufmerksamkeit für seinen gelungenen Scherz haben wollte. Bot hatte Leons Mimik gelernt, ordnete sie innerhalb von Nanosekunden zu und klopfte dem Menschen anerkennend auf den Oberschenkel. Dann spulte er Daten ab, die ein Psychiater ihm eingepflanzt hatte: »Du hast zu viel am Computer gesessen, Le-ch-On. Du warst nicht im Krieg. Du bist nie von einer Granate ...«

Leon explodierte.

»Fuck Plüschbüchse! Keine Ahnung hast du! Keine Ahnung!« Er warf den Suppenteller auf den Bot, von dessen Fell die braune Brühe in Perlen abglitt, den Gesetzen des Lotus-Effekts gehorchend. Dann hob er seinen Stock und prügelte auf den Pfleger ein.

Bot blieb ruhig. Er war daran gewöhnt, von den Bewohnern geschlagen zu werden. Man hatte dieses Problem schon in seiner Konstruktion berücksichtigt.

»Le-ch-On, ich muss dich beruhigen, wenn du es nicht tust!«, drohte er.

Und das musste er dann auch.

 

Bot musste den Menschen auch in den nächsten Tag beruhigen. Immer dann, wenn ihr Gespräch auf den empfindlichen Teil der Waden zu sprechen kam und Leon nicht einsehen wollte, wie er sie wirklich verloren hatte.

Beide waren stur und zäh und beide wichen nicht von ihrem Standpunkt ab. Da Leon der letzte Patient auf Bots Rundgang war, nahm der Pfleger sich viel Zeit, um auf den Menschen einzureden. Das war eine sehr gute Gelegenheit, die vielen Datenbankeinträge in Bots Speicher zu nutzen, die komplexen Programme zum Umgang mit psychisch defekten Menschen. Der Pfleger stellte fest, wie viele seiner tiefen, wenig genutzten Programme bereits defekt waren. Ohne den rhetorischen Kampf mit Leon hätte er nicht bemerkt, dass es einen Fehler in seiner Energieanzeige gab, die ihn zu spät an die Ladestation scheuchte und die selbstständig Prozesse abschaltete und Speicher verwaltete, um Ressourcen zu schonen.

Es gelang Bot leidlich, die schadhaften Stellen und die Anzeige zu reparieren. Da der MajDom ihm nicht sagte, was er tun sollte, hielt er seine Fähigkeiten im Gespräch mit dem Bewohner auf Trab.