Nullzone - Isabella Straub - E-Book

Nullzone E-Book

Isabella Straub

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Beschreibung

Zweiundzwanzig Stockwerke in einem schiefen Gemeindebau-Hochhaus, ein futuristisches Neubauprojekt mit KI und drei Menschen, die ihr Leben neu ordnen. In der "Nullzone" prallen die Lebensentwürfe der Hausmeisterin Elfi, des Paketboten Rachid und des Zukunftsforschers Gabor aufeinander. Isabella Straub erzählt eine sehr unterhaltsame Geschichte, bei der man laut auflachen muss, die aber auch existenzielle Fragen aufwirft: Gibt es ein Grundrecht auf Wohnen? Und wie viel brauchen wir eigentlich zum Leben?

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Elster & Salis wien

Isabella Straub

NULLZONE

ROMAN

Die Arbeit an diesem Roman wurde vom Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlicher Dienst und Sport (BMKÖS), der Literar-Mechana und dem Land Kärnten gefördert.

IsabellaStraub

NULLZONE

VERLAG

Elster & Salis GmbH, Wien

[email protected]

www.elstersaliswien.com

LEKTORAT

Anja Linhart

SCHLUSSREDAKTION

Senta Wagner

GESTALTUNG

Michael Balgavy, DWTC

SATZ

Birgit Seese, vierpunkt

DRUCK

CPI Books GmbH, Leck

1. Auflage 2025

© 2024, Elster & Salis Verlag GmbH, Wien

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-9505435-8-2

Inhalt

1

GABOR

ELFI

RACHID

2

GABOR

ELFI

RACHID

3

GABOR

ELFI

RACHID

4

GABOR

ELFI

RACHID

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GABOR

ELFI

RACHID

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GABOR

ELFI

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GABOR

ELFI

D

RACHID

GABOR

ELFI

RACHID

GABOR

ELFI

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GABOR

ELFI

RACHID

ELFI

RACHID

GABOR

ELFI

RACHID

GABOR

ELFI

RACHID

GABOR

ELFI

ZUR AUTORIN

GABOR

Gabor Sperlings liebste Zeitform ist die vollendete Zukunft: das Futurum exaktum. Ein Loch in der Membran des Raum-Zeit-Kontinuums; ein kosmischer Spalt, durch den der Protonenstaub des Künftigen weht. In neunzig Tagen werde ich ein neuer Mensch geworden sein.

„Aufsetzen“, sagt die Ärztin.

Gabor setzt sich auf.

„Und jetzt vorbeugen. Husten.“

Er beugt sich vor. Hustet.

„Fester.“

Er hustet fester.

„Luft anhalten!“

Gabor hält die Luft an. Wie einfach die Anweisungen, wie leicht, ihnen zu folgen. Der kalte Kuss des Stethoskops. Er wölbt den Rücken, will es besonders gut machen. Sein Blick fällt auf den Bauch, auf das Fett, das sich träge in alle Richtungen ausdehnt. Auf den halb verborgenen Nabel, einen mit drahtigen Haaren umwachsenen Krater, der mit den Jahren größer zu werden scheint. „Gibt es Leute, die sich den Nabel zunähen lassen?“, fragt er.

„Wie kommen Sie denn darauf?“

„Angenommen, jemand möchte mit seiner Mutter nichts mehr –“

„Luft anhalten.“

Die Internistin heißt Doktor Irma Stockhauser-Urfahr. Ein langer, umständlicher Name für diese kleine, klare Frau. Sie hat die dramatischsten Wangenknochen, die Gabor je untergekommen sind: glatt und rund wie Tischtennisbälle. Einmal beobachtete er seine Frau Sonia dabei, wie sie zwei runde Kissen durch einen Schlitz in ihren BH schob und anschließend ihre Brüste im festen Gerüst zurechtrückte. Möglicherweise, denkt Gabor, gibt es auch in den Wangen von Doktor Stockhauser-Urfahr einen unscheinbaren Schlitz, durch den sie jeden Morgen die Bälle hinein- und dann vorschiebt, bis sie an ihrem Platz einrasten.

Wenig später sitzt er der Ärztin in Hemd, Hose und wiedererlangter Würde gegenüber. Zwischen ihnen ein mächtiger Glasschreibtisch. Zahltag.

„Ihr viszerales Fett bereitet mir Sorgen“, sagt die Ärztin, den Blick auf den Bildschirm geheftet. „Damit ist nicht zu spaßen, Herr Sperling. Herzinfarkt, Schlaganfall, Thrombose.“

Seinen Namen sagt sie immer dann, wenn es ernst wird. Ihr Kreatininwert ist grenzwertig, Herr Sperling. Ihre Leberwerte müssen wir im Auge behalten, Herr Sperling. Wenn sie vor einem größeren Eingriff warnt, fügt sie ein „Doktor“ hinzu. Ihre Mitralklappe ist undicht, Herr Doktor Sperling.

Jetzt also das Fett. Viszeral, kapital, phänomenal, denkt er. Nur nicht auf die Baustellen fokussieren, die gesunden Anteile im Blick behalten. „Ich bin dabei, mich zu ändern“, sagt er. „In drei Monaten werde ich ein neuer Mensch geworden sein.“

„Ein neuer Mensch?“ Sie sieht ihn über den Rand ihrer Lesebrille an. „Ihre Zuversicht möchte ich haben.“

Er nimmt es nicht persönlich. Still lächelt er das Lächeln des Möbelhaus-Buddhas. Was ihn betrifft, gibt es nicht mehr viel, was er haben möchte. Er ist in die Phase des Abstoßens eingetreten. Weg, weg, weg, alles raus, hin zu den Gestaden des einfachen Lebens. Viszeral, frugal, kolossal. Das ist es, was zählt: ein Ziel zu verfolgen, dem man sich täglich einen Schritt nähert. „Ich meditiere“, sagt er und richtet sich auf. „Zen.“

„Das ist wunderbar“, sagt sie, „dreht die Zeit aber nicht zurück. „Darf ich fragen, wie alt Sie sind?“

Unter anderen Umständen hätte er mit einem Scherz geantwortet. Ich bin im Jahr des Pfaus geboren. Nun aber, da sie die Worte Schlaganfall und Herzinfarkt ausgesprochen, jedem Witz von vornherein das Wasser abgegraben hat, sagt er bloß „einundsechzig“ und kann es selbst kaum fassen. Sechzig plus eins. Siebzig weniger neun. Mit einem Bein im Grab. Aber noch ist sein Pulver nicht verschossen. In neunzig Tagen werde ich ein neuer Mensch geworden sein. Das Futur 2 ist auf seiner Seite. Die Grammatik wird ihn retten.

Die Ärztin drückt ihm einen Becher in die Hand. „Den lassen Sie danach auf dem Brett am WC stehen, wenn ich bitten darf.“

Er widersteht dem Impuls, den Arm auszustrecken und ihre Wangen zu betasten. „Ich gebe mein Bestes“, murmelt er.

Gabor ist schon auf dem Weg zur Tür, als sie sagt: „Und was den Nabel betrifft –“ Er dreht sich um. „Manche lassen ihn korrigieren. Aber zunähen? Davon habe ich noch nichts gehört.“

„Das war eher eine philosophische Frage“, sagt er.

„Philosophische Eingriffe führen wir hier nicht durch.“

ELFI

Elfi Hrbalas liebste Zeit ist die Gegenwart. Sie ist mächtig, weil sie in die Zukunft schwappen kann. Wenn Elfi ahnt, dass sie Herrn Gabelzier bei den Glascontainern antreffen wird und er dann tatsächlich davorsteht in seinen braunen Hosen und dem Shetland-Pullover, dann ist die Gegenwart im Augenblick der Ahnung in die Zukunft geschwappt.

„Guten Tag, liebe Frau Elfi! Ich hoffe, ich habe die Flaschen richtig eingeworfen!“

„Keine Sorge, Herr Gabelzier, Sie sind ein mustergültiger Flaschenentsorger.“

Manchmal ist die Gegenwart ein Moment des Friedens, in dem sich die Zeit in sich selbst faltet. Jetzt zum Beispiel.

Jetzt.

Und jetzt.

Und jetzt.

Und jetzt sitzt Elfi am Küchentisch in ihrer Dienstwohnung und stapelt Waschraummünzen zu Türmchen. Acht, neun, zehn … eins, zwei, drei … neun, zehn. Elfi geht ganz in diesem Zählen auf. Wenn sie zählt, zählt nichts anderes, schon gar nicht die Vergangenheit und der Schmerz, den sie verursacht. Ihre Freundin Adelheid hat sie einmal gefragt, woran sie denkt, wenn sie das Treppenhaus wischt.

„An nichts“, hat Elfi geantwortet.

„Das gibt’s nicht“, hat Adelheid gesagt, „man denkt immer an was!“

„Das Nichts ist ja auch was. Es ist das, was übrig ist, wenn man alles andere entfernt hat.“

Und im Entfernen, da kennt sie sich aus, die Elfi Hrbala. Wenn die Welt eine Rechnung ist, dann ist sie das Minuszeichen. Das Meisterin in Hausmeisterin hat sie immer schon als Verpflichtung angesehen. Sie entfernt Kaugummis von Aufzugwänden und Handläufen, den Müll, der aus übervollen Tonnen quillt vom Kellerboden, Zigarettenstummel von Grün- und Grauflächen und sich selbst, wenn sie in ein Gespräch gerät, das sich um die Zukunft des Hauses dreht. Was lässt sich schon über die Zukunft sagen? Die Fenster kann man putzen, aber das Fenster, von dem aus man in die Zukunft sieht, bleibt immer trüb. Natürlich gibt es Gerüchte im Haus, denn ohne Gerüchte kann so ein Haus nicht existieren. Die Gerüchte halten es zusammen. Und die meisten reden doch nur, weil es Gymnastik für den Mund ist. Zwölf, dreizehn, vierzehn.

Adelheid ist keine, die Gerüchte verbreitet. Sie leidet am Messie-Syndrom, das ihre ganze Aufmerksamkeit beansprucht. Eigentlich leidet sie an ihrer Kindheit, die als Messie-Syndrom wieder an die Oberfläche gespült wurde, aber Syndrom klingt besser als Kindheit, denn die hat ja jeder. Solange Adelheids Mann noch lebte, konnten sie das Syndrom gemeinsam zurückdrängen, aber seit Erichs Tod gibt es kein Halten mehr. Ihre Wohnung wuchert zu, bald wird sie darin verloren gehen.

Auch ohne Messie-Syndrom neigen Menschen dazu, alles an sich zu raffen, denkt Elfi. Sie horten Waschraummünzen, obwohl das streng untersagt ist. Wer eine Münze bei Frau Elfi holt, muss sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden im Waschraum aktivieren. Hausordnung Punkt zwölf, Paragraf vier. Elfi Hrbala hortet nichts. Sie ist jederzeit bereit, alles zu verlieren. Viel ist ohnehin nicht mehr übrig.

RACHID

Rachid mag die Vergangenheit, wenn sie lange vorbei ist, sagen wir: hundertfünfzig Millionen Jahre. Stegosaurier, die Gänseblümchen fressen – das ist lässig. Was er nicht leiden kann: die nahe Vergangenheit, vor allem, wenn Daria darin vorkommt. Oder sein Vater.

Als er am Morgen in die Halle kommt, steht so ein Spaghetti-Sultan vor seiner Rutsche. Arme, dünn wie Paketschnüre. Ein Don Lauch, den man maximal zum Markenablecken abstellen kann. Dumpfe Vorahnung. Hubmann tippt ihm auf die Schulter. „Das ist Jo, du lernst ihn ein. Am Ende der Woche ist er fit für sechzig Pakete. Verstanden?“

Sechzig? Ist das Kindergarten, oder was? Dass die Neuen Welpenschutz haben, stößt ihm übelst auf. Ihn hat man doch auch nicht geschont! Vom ersten Tag an: Gib ihm! Heute fährt er täglich zweihundertzehn Pakete aus, den Lieferwagen gerammelt voll. Da heißt es um sechs Uhr früh Tetris spielen, um den ganzen Mist zu verstauen.

„Rachid ist unser bestes Pferd im Stall“, sagt Hubmann zu Jo.

Jo glotzt.

Rachid wiehert. Ein total gestörtes Geräusch, das aus seinem Mund kommt.

Jo sagt: „Eindeutig ein Pferd.“ Hubmann lacht.

Sie fahren raus in Rachids Rayon. Der Himmel beige wie Recycling-Klopapier.

„Wie ist er so?“, fragt Jo.

„Wie ist wer?“

„Hubmann. Als Chef so.“

Rachid reibt sich das Kinn mit zwei Fingern. Der letzte Typ, den er auf seine Tour mitgenommen hat, war nach zwei Tagen wieder bei Mami. „Du hast ihn ja gesehen“, sagt Rachid.

„Also ist er nett?“

Nett? Alta. „Such dir was anderes, Bruder“, sagt Rachid. Er schaltet hoch, hat keine Lust zu palavern, aber diesen Horst muss er gleich einmal aufklären. „Ganz ehrlich, okay? Vergiss, was sie dir versprechen. Den Stundenlohn kriegst du in tausend Jahren nicht. Die ziehen dir jeden Monat was ab. Delle im Kotflügel oder zu viele Benachrichtigungskarten gedruckt oder so einen Scheiß. Alle paar Wochen erfinden die was Neues.“

„Weiß ich“, sagt Jo.

Rachid schaut zu ihm rüber. Kaputter Typ, jetzt schon. Und seine Pickel leuchten, verdammt! Die möchte man mit einem Stift verbinden, vielleicht kommt ein Bild dabei raus. „Kannst du –“, fängt Jo an.

„Was.“

„Das Fenster. Kannst du das Fenster?“

„Was ist mit dem Fenster.“

„Zumachen.“

„Warum.“

„Es ist kalt.“

Alta, ernsthaft? Macht Rachid natürlich nicht. Sondern fährt rechts ran, halb auf den Gehsteig. Türen auf, raus mit der Sackkarre. Zwei Riesenpakete. Soll Jo nur ordentlich anpacken. Wer arbeitet, der friert nicht. Jo greift voll verkehrt nach einem Paket, Beine durchgedrückt, da jubeln die Bandscheiben. Rachid hält den Mund, wird er schon merken. Auf die großen Pakete kommen sieben kleinere. Wer zweimal laufen muss, ist ein Opfer. „Noch eins drauf“, sagt Rachid und zippt die Jacke zu.

„Hält nicht“, sagt Jo.

„Klar hält das nicht, Captain Obvious, aber du hast zwei Hände, oder etwa nicht?“ Eine Hand lenkt, die andere hält, so ist das und nicht anders. Rachid schaut auf die Uhr. „Eineinhalb Minuten pro Paket“, sagt er. „Keine Sekunde länger. Sonst schneidet Hubmann dir die Eier ab. Beeilung, Baron von Schneckenhausen!“ Stimmt fix nicht, Hubmann geht es am Arsch vorbei, wenn man um Mitternacht noch Pakete zustellt, aber Jo soll das ruhig glauben. Wenn die Neuen Angst kriegen, dann spuren sie.

Jo balanciert die Sackkarre mit den Paketen über den Bürgersteig. Rachid drei Schritte dahinter. Vorsicht, dünnes Paket rutscht und – hoppla! Schon fällt es. Jos unsicherer Blick. „Hältst du mal?“

Ohne ein Wort sichert Rachid die Sackkarre, während Jo das Paket aufhebt und es an seiner Hose sauber reibt. Rachid muss grinsen.

Als Erstes steuern sie einen Optikerladen an. Seitenblick Optik. Auf seiner Tour hat er fünf Optiker und alle heißen so debil. Augenschmaus, Sichtweise, Brillenschlange. Übergabe, Unterschrift, raus beim Tempel. Safe zu einfach. Da kriegt Jo nix Echtes geboten. Deshalb gleich nächstes Level: der Wohnpark oben drüber. Kein Park weit und breit, aber hässliche Büsche auf den Balkonen mit silbrig-weißem Überzug. Gespinstmotten. Das weiß er von Daria, weil ihn interessiert Grünzeug nur, wenn man es rauchen kann. Er hat immer Gespenstmotten gesagt, und sie so: Gespinst, und er so: Gespinst gibt’s nicht. Aber Gespenst gibt’s doch auch nicht, hat sie gesagt und gelacht, da ist bei ihm gleich was geschmolzen innendrin.

Rachid zeigt Jo, wie man richtig läutet: mit der flachen Hand einmal fest aufs Klingelbrett. Wenn du anfängst, nach Namen zu suchen, wächst dir eine Steißbeinfistel. Quaken aus der Gegensprechanlage. Summer. Na endlich. Er drückt mit der Schulter die Tür auf. Rüber zum Lift. Warten, bis der von oben runterzuckelt. Das ist die sinnloseste Zeit ever. Du bist den ganzen Tag in Bewegung, aber die Aufzüge, die hast du fix nicht unter Kontrolle. Jo glotzt auf seine Füße. Im Treppenhaus riecht es nach indischem Räucherzeug. Übelstes Daria-Flashback.

Als sie zurück sind, wird gleich einmal ausgelistet. Rachid hält den Scanner auf einen Riesenbrocken. Die Leute sind verrückt. Bestellen halbe Kühe oder so. Er zeigt Jo das Menü, das auf dem Display aufpoppt.

EMPFÄNGER NICHT ANGETROFFEN PAKET NICHT ANGENOMMEN ZUSTELLVERSUCH ERFOLGLOS EMPFÄNGER VERZOGEN

„Na, was sollen wir nehmen? Ene mene muh.“

„Was machst du da?“ Ein Fragezeichen blinkt auf Jos Stirn.

Bruder! Stell dich nicht so an! Rachid hat übelst Lust, ihn so richtig zu schütteln, bis die Schuppen runterrieseln. „Wir listen ein paar Dinger aus, sonst werden wir nie fertig. Jetzt klicke ich auf Zweiter Zustellversuch. Siehst du? Dann geht das morgen noch einmal mit den Kollegen mit.“ Wwwwt! Schon ist der Zettel ausgedruckt und aufgeklebt. Und dann noch fünf Mal. Sieht doch gleich besser aus!

Zur Belohnung eine Runde Lungenbräunen. Rachid angelt ein zerknautschtes Pall-Mall-Päckchen aus seiner Jacke. Er zeigt Jo seinen Lieblings-Pissbaum, den er gleich noch bewässern wird. Manche Kollegen pinkeln im Auto in eine Flasche, aber triff da mal rein. Wenn’s danebengeht, sitzt du den ganzen Tag in einer Kloake. Leider, leider, sagt der Schneider. Gekackt wird im Hotel Atlantis, einer Null-Sterne-Bruchbude, ärgstens abgefuckt, aber der Typ an der Rezeption ist sein Bro, und da gibt’s sogar das superweiche Klopapier, das nach Maiglöckchen riecht. Fünflagig.

Und dann sitzen sie auf einer Bank und rauchen, die Sonne kriecht hinter einer Wolke hervor, ein Vogel macht Vogelgeräusche und Rachid denkt: Wenn die Pakete nicht wären, hätte ich den besten Job der Welt.

GABOR

„Wo waren wir denn?“, fragt Frau Uhlmann, als Gabor das Institut für Technikfolgenabschätzung betritt.

„Wir hatten einen medizinischen Check-up“, antwortet er und bemüht sich um einen elastischen Schritt.

Alle sitzen rund um den ovalen Konferenztisch. Der unverschämt leptosome Erich Schachtler kaut an einem Kornspitz mit Camembert. „Seit wann verwenden wir hier den Krankenschwesterplural?“, fragt er.

„Besser rechtzeitig daran gewöhnen“, sagt Ulli Kehraus. „Damit es später nicht so überraschend kommt. Der Käse stinkt entsetzlich, Erich.“

„Unser Check-up war zufriedenstellend?“, fragt Frau Uhlmann. Sie ist die Einzige am Institut, die niemanden duzt und von niemandem geduzt wird. Gabor war bei einer Weihnachtsfeier kurz davor gewesen, den Fluss zu überqueren, aber dann hielt ihn etwas zurück, und die Gelegenheit verstrich ein für alle Mal.

„Mit meinem baldigen Ableben ist nicht zu rechnen“, sagt Gabor, der nicht vorhat, ein Gesundheitsbulletin zu verlesen.

„Dabei sollte man gehen, wenn’s am schönsten ist“, sagt Ulli.

„Gehen im Sinne von sterben?“ Gabor ist überrascht.

„Aber nein, natürlich nicht.“ Ullis Wangen haben einen Roséton angenommen. „Gehen im Sinne von stolzieren, du hast allen Grund dazu“, sagt sie und deutet auf die aufgeschlagene Zeitung.

TECHNIKPHILOSOPH SPERLING BEGEISTERT IN DAVOS

So oder so ähnlich lautet die Überschrift. Gabor streift sie nur mit einem Auge und das mit Absicht. Lob hat größeres Suchtpotenzial als Crack, es verursacht zwar keine Pusteln, aber es verklebt die Synapsen und trübt das Urteilsvermögen. Sein Blick fällt auf Ullis Ehering, der schlicht ist, klassisch und schnörkellos, ein Abbild seiner Trägerin. Sie ist für die Administration zuständig, für die Förderungen, das Finanzielle. Ohne Ulli wären sie aufgeschmissen.

„Lese ich später“, sagt Gabor. Bedeutet: Lese ich nie. Technikphilosoph – das allein. Manche bezeichnen ihn als Sozialphilosophen, andere als Zukunftsforscher. Als ob die Zukunft nicht schon längst da wäre. Wir drehen ihr bloß den Rücken zu. Gegenwartsforscher: Das scheint ihm die einzige angemessene Bezeichnung zu sein. Gabor Sperling, Gegenwartsforscher. Er sollte neue Visitenkarten drucken lassen.

Der Gegenwartsforscher taucht ab in sein Kabuff, denn er hat eine Arbeit abzuschließen: einen Essay über stoische Lebenskunst und Selbstmanagement für die deutsche Ausgabe von Psychology International. Zehntausend Zeichen waren verlangt, er wird zehntausend abliefern, punktgenau wie immer. Sonnenlicht braucht er dafür keines, also zieht er die Vorhänge zu. Das Halbdunkel beruhigt seine Amygdala.

Während der Laptop hochfährt, klopft es. Schachtler schiebt seinen knochigen Schädel durch die Tür. „Die brauchen jemanden für die Abendnachrichten.“

„Jemanden?“

„Dich.“

„Hm“, macht Gabor, während er innerlich absagt. „Was ist mit dir?“

„Sie wollen den Chef. Es geht um Mandy.“

Nicht schon wieder. Der Chatbot, der angeblich Mitgefühl empfindet. „Haben sie dir die Fragen geschickt?“

Schachtler schüttelt den Kopf. „Soll ein spontanes Studiogespräch werden.“

„Du machst das“, sagt Gabor. „Sonst noch was?“

Als Schachtler fort ist, googelt er Bauchformen nach F. X. Mayr. Zur Auswahl stehen der kugelförmige Gasbauch, der eiförmige Gasbauch, der schlaffe Kotbauch, der entzündliche Kahnbauch, der Gas-Kotbauch und der entzündliche Gas-Kotbauch. Welcher davon ist seiner? Den entzündlichen Kahnbauch kann er von vornherein ausschließen, der wölbt sich nach innen. Entsetzlich. Er klickt die Seite weg und googelt Mandy. Sämtliche Bilder, die aufpoppen, zeigen einen haarlosen, weiblichen, attraktiven Avatar, niemals einen männlichen Anfangsechziger mit Schmerbauch.

Gabor kehrt zum Essay zurück. Ein letztes Mal durcharbeiten und mit einem pointierten Schlusssatz versehen.

Er empfindet jene Spannung, die sich immer kurz vor Abschluss einer wichtigen Aufgabe einstellt. Die Sekunden vor dem Höhepunkt. Plateauphase.

Er schreckt auf, als Bachs Kantate Ich habe genug ertönt, begleitet von einem Brummen. Als Klingelton wird die wunderbarste Melodie zur Parodie. Bach-Hinrichtung. Er wirft einen Blick auf das Display. Sonia. Er tippt auf das Telefonsymbol.

„Gabor.“

Ihr Tonfall teilt ihm mit, dass etwas nicht stimmt, und er fühlt sich augenblicklich niedergeschlagen.

„Fechtner hat angerufen“, sagt sie. „Zur Abwechslung gibt es Probleme mit den Roboterarmen. Gabor. Es. Reicht.“ Fechtner ist Architekt des Wabenhaus-Projekts im Stadterweiterungsgebiet. Es handelt sich um Häuser aus dem 3D-Drucker mit sechseckigem Grundriss wie Bienenwaben. Das Hexagon liefere das perfekte Verhältnis von Wandmaterial zu Raumvolumen, hieß es im Prospekt. Ein Wunder an Effizienz und Stabilität. Gabor und Sonia haben sich für den Kauf einer dieser Waben entschieden, nachdem der Entwurf einen internationalen Architekturpreis gewonnen hatte. Das war vor vier Jahren. Bisher verzögerten die bürokratischen Mühlen den Baubeginn. Die technischen Probleme sind neu. Er überlegt sich eine Antwort und malt ein Muster aus Kästchen und Kreisen auf den Ausdruck seines Artikels.

Das Immobilienprojekt hat ihre Ehe während der letzten Monate belastet. Es wird ihr erstes gemeinsames Eigentum sein, und ihm, der grundsätzlich kein Freund von Lebensentscheidungen ist, die sich kaum mehr rückgängig machen lassen, kommt es vor, als hätten sie sich ohne Not ein Bündel Probleme aufgehalst. Dieser Fechtner dünstet zudem eine abstoßende Pritzker-Preis-Arroganz aus. „Und was erwartest du jetzt von mir?“, fragt Gabor.

„Dass du ihn vielleicht mal anrufst? Wenn ich einen Vertrag unterschreibe, dann muss ich ihn erfüllen“, sagt Sonia. „Und weil du derjenige bist, der über Tagesfreizeit verfügt, bitte ich dich, das in die Hand zu nehmen.“ Das vergisst sie nie zu erwähnen: Dass sie als normalsterbliche Angestellte tagtäglich in der Arena mit Löwen ringt, während er das geruhsame Leben eines Vertragsbediensteten führt, was in ihren Augen dasselbe ist wie ein Beamter auf Lebenszeit mit seinen unverschämten Biennalsprüngen, der gesicherten Rente und dem bescheidenen Arbeitspensum.

Gabor fühlt sich zwischen den Fronten zermahlen. Seiner Ansicht nach war es ein Fehler, ihre Wohnung zu kündigen. So was kriegen sie nie wieder! Stuck, Sternparkett, Flügeltüren, ein Salon, der in den nächsten führt, Fenster, so groß wie Tore – Stalltore, wohlgemerkt. Parkblick. Und dann auch noch unbefristet. Was, wenn die Waben nie aus dem Planungsstadium herauskommen? Tief drinnen ahnt Gabor: falsch abgebogen, Sackgasse, die Ehekatastrophe winkt schon von Weitem. Aber was hätte er machen sollen? Sonia kann Altbau nicht ausstehen. Sie ekelt sich vor den Böden, dem Stuck, vor jeder Spur gelebten Lebens. Sie fühlt sich ausschließlich in einem modernen Ambiente wohl, im Geradlinigen, Klaren, Abwaschbaren. Sie mag Sichtbeton, je roher, desto besser. Weiße Epoxidharzböden, fugenlose Bäder aus Corian, diesen ganzen Architektur- und-Wohnen-Humbug, der Minimalismus kräht, obwohl er nichts anderes ist als verbaute Hybris. Da kommt ihr das Stadtentwicklungsprojekt gerade recht: Sämtliche Häuser werden gedruckt, entweder mit flüssigem, leicht zu pumpenden Betonmörtel oder mit einer Mischung aus Pflanzenresten, Schlamm und Lehm, die Öko-Variante.

Während die Wabe also Sonias ultimativen Wohntraum verkörpert, hat Gabor Planstädte immer schon mit einem gewissen Argwohn beäugt. Seine Sympathien gehören gewachsenen Orten mit Geschichte, die Gelegenheit hatten, sich an den Menschen zu akklimatisieren. Orte, denen man einen Dialog mit der Umgebung zugestand; denen man Zeit gab zu wachsen und eine Identität zu entwickeln. Er wagt einen Vorstoß: „Vielleicht sollten wir mit dem Vermieter reden. Damit wir noch ein paar Monate länger bleiben können.“

„So ist das also. Der Innovationsexperte möchte weiterhin in einer Bourgeoisie-Zeitkapsel residieren.“

„Es geht mir darum zu verhindern, dass wir am Ende mit leeren Händen dastehen.“

„Siehst du“, sagt Sonia, „das nehme ich dir nicht ab. Du willst eine Vollkaskoversicherung bei jeder Entscheidung. Aber so läuft das nicht. Und vergiss nicht, wir sind heute im Butcher’s Delight.“

Er hört das Blut in seinen Ohren rauschen. Viszeral, denkt er, fatal, katastrophal. Er hat das Abendessen nicht vergessen – er hat es schlicht aus seinem Gedächtnis getilgt. Im Butcher würde er sich nicht beherrschen können und ein Steak mit sechs Beilagen bestellen. Dies würde sein Ziel, binnen weniger Wochen ein neuer Mensch zu werden, zu Fall bringen. „Tut mir leid, Sonia, aber –“

Sie fällt ihm ins Wort. „Du sagst nicht schon wieder ab.“ Es war ein Fehler, Schachtler den TV-Auftritt zuzuschanzen. Er hätte ihn vor der Hölle der Versuchung bewahrt. „Liveinterview bei Fünf vor Neun“, sagt er. Mit der Wahrheit – im Butcher sei es ihm unmöglich, sich zu beherrschen – kann er ihr nicht kommen.

„Ein Interview? Schon wieder?“ Sie beäugt seine Medienpräsenz mit Argwohn, weil er nach einer Sendung vor ein paar Jahren eine Drohung erhielt, die sie miteinschloss.

TOD DEM SPERLING UND SEINE ALTE!

Gabor hatte der Fallfehler mehr geschmerzt als der Inhalt. Er wusste, dass dieser Verwünschung keine Taten folgen würden. Dass das Formulieren der Nachricht die Aggression bereits abgeleitet hatte. Für Sonia aber war es ein Wendepunkt gewesen. Keine Themen, die Verrückte triggern: Das war der Kompromiss, auf den sie sich geeinigt hatten.

„Es geht nur um einen Chatbot, der Gefühle hat“, sagt er. „Keine Todesdrohungen. Ich verspreche es.“

„Interessiert dich auch, was ich fühle? Du weißt, dass ich es hasse, allein zu gehen!“

„Ich weiß, meine Taube. Was ist mit Toni? Der begleitet dich sicher gern.“

Toni ist Sonias ältester Freund. Er ist Sektionschef im Bildungsministerium und dafür zuständig, dass jedes österreichische Schulkind einmal die Zauberflöte in einem Etablissement der Bundeshauptstadt sieht. Toni Bruckberger ist somit der einzige Zauberflöten-Beamte der Welt. Ein Titel wie aus einer Nestroy-Posse, aber Gabor kann sich niemanden vorstellen, der diese Mission ernsthafter verfolgen würde.

„Toni ist auf Kur. Und nenn mich nicht Taube. Das sind entsetzliche Vögel.“

Auf Kur! Dass es so was noch gibt! Gabor kommentiert das besser nicht. „Sonia, ich muss weitermachen. Ich vertraue dir.“ Ich vertraue dir. Seine Appeasement-Strategie. Aber sie hat bereits aufgelegt.

ELFI

Elfi Hrbala befestigt einen Aushang am schwarzen Brett.

ES IST STRENGSTENS UNTERSAGT, ZIGARETTENSTUMMEL AUS DEM FENSTER ZU WERFEN. BEI ZUWIDERHANDLUNG WIRD EINE ORDNUNGSSTRAFE VON 500 EURO VERHÄNGT.

VERLASS & SÖHNE, HAUSVERWALTUNG

Fünfhundert Euro ist eine Menge Geld. Damit kann man ein Flugticket ans andere Ende der Welt kaufen und für immer von der Bildfläche verschwinden. Die Lifttür öffnet sich, heraus tritt Frau Ayoub. Herrn Ayoub hat Elfi schon seit Monaten nicht mehr gesehen. Schmal sieht Frau Ayoub aus, ihre Augen sind verschattet.

„Guten Tag, Frau Ayoub“, sagt Elfi und deutet auf die Verordnung. „Bitte lesen. Das kann teuer kommen.“

Frau Ayoub wirft einen Blick auf das Schwarze Brett. „Ich rauche nicht“, sagt sie.

„Sie nicht, aber Ihr Mann.“

„Er ist nicht mehr da.“

So ist das also. Elfi kann sich nicht beherrschen. „Er arbeitet im Ausland?“

In Frau Ayoubs Gesicht steht der Satz: Das geht Sie nichts an.

Ich kenne das, möchte Elfi Hrbala sagen. Ich weiß, was Sie durchmachen! Ich bin wie Sie durch dieses Tal der Schmerzen gegangen. Doch die Sätze verhaken sich in ihrem Hals. Unmöglich, sie auszusprechen. Trotzdem will sie etwas Freundliches sagen. „Mit den Kindern alles in Ordnung? Ihren Großen sehe ich ab und zu, wenn er zur Arbeit fährt. Mit so kleinen Augen“ – sie zeigt ihr mit Daumen und Zeigefinger, wie winzig Rachids Augen in der Früh sind – „und ganz rot, richtig entzündet! Ich empfehle Oculosan Augentropfen, O-CU-LO-“ Noch während Elfi den Namen der Augentropfen buchstabiert, schlüpft Frau Ayoub mit einem gemurmelten Gruß zur Tür hinaus. So ist das immer im Haus. Man will helfen und wird eiskalt abserviert.

Elfi geht runter in den Keller, weil es wieder eine Rattensichtung gab. Wie oft hat sie der Hausverwaltung gemeldet, dass die Bewohner den Müll im Keller ausstreuen. Für alles gibt es Strafen, weshalb nicht dafür? Die Köderboxen sind leer. Elfi füllt Rattengift nach. Der Köder enthält ein Antigerinnungsmittel. Die Ratte verblutet innerlich. Aber nicht sofort, erst nach ein paar Tagen. Der Verzögerungseffekt bewirkt, dass die anderen Ratten aus dem Rudel nicht misstrauisch werden und den Köder ebenfalls fressen.

Zurück in der Dienstwohnung setzt sich Elfi an den Küchentisch und schlägt das Hausprotokollbuch auf.

KALENDERWOCHE 16

3 RATTENSICHTUNGEN

WASCHMASCHINE Nr. 6 HUSTET

37 WASCHMÜNZEN RETOURNIERT, 48 AUSGEGEBEN

1 NÄCHTLICHE RUHESTÖRUNG (MUSIK), TOP NICHT ZU ERUIEREN

4 TELEFONATE MIT HR. VALERIUS, KEINWASCHMASCHINENTECHNIKER VERFÜGBAR.

WAS DIE RATTEN BETRIFFT, WIRD SICH FA. SCHÄDLEX MELDEN.

Eine lückenlose Dokumentation ist wichtig, denn ein Gerücht, das im Haus kursiert, lautet: Frau Elfi soll eingespart werden. Weil sie aber noch ein paar Versicherungsjahre für ihre Pension benötigt, tut sie alles, um der Hausverwaltung keinen Anlass für eine Kündigung zu liefern. Anhand ihrer Protokolle kann sie jederzeit beweisen, dass sie unabkömmlich ist. Ohne Frau Elfi wäre der Kratzer schon drei Mal abgebrannt, und zwar wegen heißer Asche, die trotz Verbots in die Mülltonnen gekippt worden war. Hört sie ein verdächtiges Geräusch im Flur, lugt sie durch den Türspion. In den letzten Jahren hat sie vier Einbrecher auf frischer Tat ertappt. Zwei machten sich an der Hauseingangstür zu schaffen, einem lauerte sie im Müllraum auf. Einen fand sie oben auf dem Dach. Zuerst hatte sie ihn für einen Selbstmörder gehalten. Aber er wollte nicht springen, er wollte sich bloß Zugang zur obersten Wohnung verschaffen. Dabei handelt es sich bei dieser Wohnung nicht um ein Penthouse, wie man glauben möchte, sondern um eine Sozialwohnung wie alle anderen. Das hätte sie ihm gleich sagen können: dass es hier nichts zu holen gibt.

Weil aber hin und wieder doch ein Mensch runterspringt, sind kürzlich neue Sprungverhinderungstafeln geliefert worden. Elfi notiert:

8 NEUE SPRUNGVERHINDERUNGSTAFELN AUF DEM DACH MONTIERT (FA. SIGNUM)

Was das bringen soll, ist Elfi ein Rätsel. Oben auf dem Dach gibt es doch schon den reinsten Warnschilderwald! Sie ruft bei Verlass & Söhne an und bittet um eine Erklärung. Herr Valerius ist kurz angebunden. „Papageno-Effekt“ ist alles, was er vorbringt. Der macht sich über mich lustig, denkt Elfi. Papageno-Effekt – das hat er doch gerade erfunden! Sie klappt das Protokollbuch zu und streicht mit der Hand über den kartonierten Einband. In das weiße Rechteck, wo üblicherweise der Name steht, hat sie mit ihrer schönsten Schrift Der Kratzer geschrieben. So nennen sie hier den Turm. Abkürzung für Wolkenkratzer.

Elfi beschließt, sich selbst ein Bild zu machen von den neuen Schildern. Mit dem Lift fährt sie ins Dachgeschoss und klettert die Feuerleiter rauf zur Luke. Sie ist fitter als viele in ihrem Alter, darauf ist sie stolz. Der Wind fährt ihr in die Bluse, als sie die Dachplattform betritt, der Kies knirscht unter ihren Pantoffeln. Die neuen Tafeln sind nicht zu übersehen. Neongelbe Schrift, die in den Augen brennt.

MARCO WAR HIER UND ES GING IHM WIE DIR. DOCH ER IST NICHT GESPRUNGEN. ER FAND EINEN WEG, MIT SEINEM SCHMERZ UMZUGEHEN. SPRICH MIT MARCO!

DENISE WAR HIER UND ES GING IHR WIE DIR.

DOCH SIE IST NICHT GESPRUNGEN. HEUTE HAT DENISE IHR GLÜCK GEFUNDEN. SPRICH MIT DENISE!

Was um alles in der Welt soll das? Elfi wählt die auf den Tafeln angegebene Telefonnummer. Als tatsächlich jemand rangeht, ist sie so überrascht, dass sie nicht auflegt.

„Ich kann Sie hören.“ Eine butterweiche Stimme in ihrem Ohr. „Bleiben Sie bei mir. Bitte.“

„Hallo? Sind Sie Denise?“

„Alles wird gut“, sagt die Frau am anderen Ende der Leitung, „bleiben Sie dran.“

„Aber ich bin doch dran“, sagt Elfi gereizt. „Was sollen diese neuen Tafeln auf unserem Dach? War das Ihre Idee, Denise? Hören Sie, hier stehen schon zwanzig Schilder, mindestens. Glauben Sie, die haben je wen davon abgehalten runterzuspringen?“

„Beruhigen Sie sich, ich bin für Sie da.“

„Ich reg mich doch gar nicht auf!“, ruft Elfi. „Wie soll ich mich da beruhigen?“ Die Welt ist verrückt geworden. Ihr Blick fällt auf die Baustelle. Von hier oben kann man direkt in das Loch sehen, das für die Tiefgarage gegraben wurde. Waben sollen dort gebaut werden, heißt es. Häuser mit sechs Ecken. Was für eine Schnapsidee! Wie soll man so was einrichten? Der Mensch ist keine Biene. Die Kräne und Bagger wirken wie liegen gelassenes Spielzeug. Die ganze Welt ist unaufgeräumt, denkt Elfi. Ein großer Saustall. Sie nähert sich dem Abgrund.

„Hallo? Sind Sie noch da? Hallo? HALLO?“

Elfi kann hören, dass Denise nervös wird. Sie selbst ist die Ruhe in Person. Sie atmet ein und atmet aus. Mit der Fußspitze tastet sie über den Dachrand hinaus ins Nichts.

RACHID

„Woher bist du?“, fragt Jo.

Sie quetschen sich durch die Gerberagasse. Überall Idioten, die in zweiter Reihe halten. Denen gehört allen der Führerschein entzogen, sofort. „Was woher?“ Rachid schaut in den Rückspiegel. Da fährt ihm schon wieder einer zu dicht auf. Er hasst das.

„Aus welchem Land?“, sagt Jo.

„Na von hier!“

„Wieso heißt du dann Rachid?“

„Wieso heißt du Jo?“

„Johannes. Ich bin von hier. Und du?“

„Legoland“, sagt Rachid. Er fährt in eine Einfahrt, würgt den Motor ab. Ab sofort gibt’s Arbeitsteilung. Dann kann Jo keine blöden Fragen mehr stellen. „Du gehst Stiege eins, ich Stiege zwei.“

Altmodisches Haus, aber mega gepflegt. Die müssen hier einen top Hausmeister haben. Nicht so wie im Kratzer, wo er wohnt. Dieser Bunker für Loser am Rand der Stadt. Die Hausmeisterin hat ihm heute nachgeblafft, ob er nicht grüßen kann. Können schon.

Als er mit Daria zusammengewohnt hat, hat er geglaubt, dass der ganze Scheiß endlich vorbei ist: Die enge Bude, in der man sich übelst auf die Zehen steigt, der nervige Bruder, die obernervige Mutter, die immer will, dass er was tut. Trag den Müll runter, sonst pack ich dich beim Schlafittchen! Aber bitte, was soll das, er tut genug, zahlt ihr sogar Miete für sein verschimmeltes Zimmer im schiefen Turm. Im Versagerturm. Die Leute, die dort Arbeit haben, kannst du an einer Hand abzählen. An einer Hand mit drei amputierten Fingern. Dort werden doch die ganzen Assi-Dokus gedreht! Und Alta, wie hässlich der ist. Schief wie Jos Paketturm. Drei von fünf Mal spinnt der Aufzug. Einmal ist Rachid zwischen den Etagen stecken geblieben und hat eine Stunde warten müssen, bis der verdammte Monteur gekommen ist. Er hat gedacht, er muss krepieren. Hat Daria getextet. Dass er ihr verzeiht und so. Falls er nicht überlebt.

Und sie so: DU willst mir verzeihen???

Vielleicht hat er sich nicht richtig ausgedrückt, kann ja passieren. Also hat er die Dramatik erhöht: Vielleicht ersticke ich.

Und sie so: Ich bin fast erstickt – und zwar wegen dir.

Okay, das war kein guter Move, er wollte doch nur, dass sie antwortet.

Werd erwachsen!!!, hat sie noch geschrieben, aber diesen Vorwurf hat er schon gekannt. Hallo? Er ist vierundzwanzig, erwachsener geht nicht.

Und sie so: Man ist nicht erwachsen, nur weil man alle Clips auf PornPlanet gesehen hat. Und er so: Man kann nicht alle sehen, weil da kommen immer neue nach. Aber darauf hat sie schon nicht mehr reagiert. Und dann hat der Lift geruckelt und gezuckelt und ist mit einem Mal wieder angefahren, aber Rachid war nicht wirklich happy, nicht einmal so mittelmäßig erleichtert.

Im Stiegenhaus in der Gerberagasse riecht’s nach Möbelpolitur und Geld. Der Aufzug fährt in einem schmiedeeisernen Käfig auf und ab. Er liebt das! Das hat Style. In der Liftkabine ist alles aus Holz. Sogar eine Bank gibt’s da. In so einem Haus möchte er wohnen. Er korrigiert sich sofort: In so einem Haus wird er wohnen. Er kann die Szene schon auf seinem inneren Screen sehen: Die Mutter, die ihn besucht und aus dem Staunen nicht mehr rauskommt. Hier wohnst du, Rachid? Du – hier? Ist das möglich? Und er so, ganz lässig: Komm rein, aber bitte Schuhe ausziehen.

Der Lift hält im dritten Stock. Rachid will nicht raus. Er will für immer auf der Bank chillen. Das Paket hält er auf dem Schoß und streichelt es wie eine Katze. Hier gehört er her. Faust, Auge. Sein Handy vibriert in der Hosentasche. Er zieht es halb heraus. M. Das steht für Mutter. Er steckt das Handy zurück, es vibriert weiter an seinem Oberschenkel. Sie hat ihn in aller Früh schon genug gequält. Er hat sich gerade erst einen Kaffee aus der Maschine gedrückt, draußen stockfinster, sein Hirn noch verklebt vom Traum, als sie im anderen Zimmer zu kreischen begonnen hat. „Rachiiiiid, liiiiies!“ Da ist sie schon bei der Tür hereingestürzt mit zitternden Nasenflügeln und flatternden Händen, wie immer, wenn sie nervös ist. Rachid kennt das in- und auswendig. Alles an ihr ein Vorwurf. Die Falten neben ihrem Mund, die Lippen dünn und weiß wie eine Line Koks. Bitte, was kann er dafür, dass die Welt so ist, wie sie ist. Chill, Mutter, hätte er gern gesagt, komm runter.

„Es ist aus“, hat sie gejammert und ihm einen Brief in die Hand gedrückt, den er am Vorabend raufgebracht hat. Der war von Verlass & Söhne, das hat er sofort gecheckt, trotz Schleier vor den Blinkern. Hundertpro eine schlechte Nachricht, eine gute gab’s von denen noch nie. Deshalb er so: „Später, ich muss jetzt los.“ Und sie so: „Das ist wichtig, Rachid. Und wenn ich sage, dass es wichtig ist, dann hast du gefälligst –“ Und so weiter und so fort. Er hasst es, Dinge zu tun, die er nicht tun will. Er ist ein freier Mensch. Zugleich ist er ein guter Mensch. Deshalb hat er den Brief überflogen. Fehler. Großer Fehler.

Leben ist Veränderung. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass … neues Bauprojekt in der Nullzone … europäisches Leuchtturm-Modell. InternationaleAusschreibung, Bauarbeiten, instabil blabla Räumung.

Hä? Er so verwirrt, Alta. Reibt sich die Augen. Bestimmt verlesen. Noch einmal von vorn.

Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass all unsere Bemühungen, das Gebäude am Uranusweg 1 zu erhalten, als gescheitert betrachtet werden müssen. Durch die Aushubarbeiten für die Tiefgarage im Rahmen des geplanten Waben-Neubauprojekts ist das Gebäude, in dem sich Ihr Mietobjekt befindet, so instabil geworden, dass eine Räumung unvermeidbar ist.

Er hat an seinem Kaffee genippt. Und sich gleich einmal die Zunge verbrannt. Verdammt! Die wollten doch das neue Viertel rund um den Kratzer bauen. So wie man ein Haus um einen Baum herumbaut. Und jetzt haben sie den Turm komplett ruiniert? Das war Absicht. Aber so viele bezahlbare Wohnungen gibt’s nicht in dieser Scheißstadt. Da kannst du nicht einfach einen Turm für ein paar hundert Leute in die Luft jagen. Und das wegen ein paar Wabenhäusern? Einfach nur lächerlich.

„Mach was“, hat die Mutter gejammert. Das sagt sie immer: Tu was. Mach was. Regle das. Rachid weiß nicht, wie sie sich das vorstellt. Sie glaubt wohl, dass er zaubern kann. Dabei kriegt er nicht einmal ordentliches Weed organisiert.

Rachid steigt aus dem Aufzug wie aus einem Schiff. Setzt einen Fuß auf Neuland. Bald wird er diesen Kontinent erobert haben. Top fünf. Namensvergleich: Sperling. Check. Er läutet. Eine Frau öffnet. Groß und dünn. Kurze Haare, alt. Älter als seine Mutter. Rachid linst an ihr vorbei in die Wohnung. Alter Verwalter, das hat Stil. „Ist in diesem Haus eine Wohnung frei?“, fragt er.

„Wie bitte?“ Sie ist überrascht.

„Ich brauche eine Wohnung“, sagt er.

„Sie können unsere haben“, sagt sie.

„Wie meinen Sie das?“

„So, wie ich es sage. Wir ziehen im Juli aus.“ Sie lehnt sich an den Türrahmen. „Zweitausendeinhundert kalt.“

Rachid hustet. „Im Ernst?“

„Im Ernst“, sagt sie. „Die Lage.“

„Nein – ich meine, dass ich Ihre Wohnung haben kann.“ Um die Kohle wird er sich später Gedanken machen.

„Warum nicht.“

Ein Zeichen. Er weiß nicht, was er sagen soll.

„Und?“, sagt sie. „Wollen Sie mir nicht was geben, bevor Sie hier einziehen?“

Er schaut auf das Paket in seiner Hand, grinst, holt seinen Apparat heraus. „Hier unterschreiben, bitte.“

Ihre Finger sind lang, ihre Nägel kurz, unlackiert. Beim Runterlaufen nimmt er zwei Stufen auf einmal.

GABOR

Er öffnet die Website der Nullzone, klickt auf die Livekamera. In einem Fenster im Fenster erscheint der Bauplatz. Das Loch für die Tiefgarage. Zwei Bagger mit zur Erde geneigten Schaufeln. Traurige Elefanten. Schon seit Wochen keinerlei Bewegung. Er vergrößert den Hintergrund, zoomt auf den schiefen Turm. Sozialer Wohnbau in seiner schlimmsten Ausprägung, gescheitert auf allen Ebenen – architektonisch, stadtplanerisch, soziologisch. Die Kamera lässt sich schwenken. Noch steht in der Nullzone nichts bis auf den Turm und den klobigen, viel zu groß geratenen Supermarkt.

Das also ist die Zukunft. Ihr neues Zuhause. Wohl fühlt er sich nicht bei diesem Anblick. Eine Landschaft, auf dem Reißbrett geplant. Fein säuberlich reiht sich eine geometrische Form an die andere. Kreisrundes Grün, in dem Alibibäumchen mit fingerdünnen Stämmen vor sich hin kränkeln. Eine schnurgerade Straße, die die Landschaft wie ein Skalpell durchtrennt und im Nichts endet.

Schon bald würde alles hier blühen und gedeihen, hat der Makler behauptet, nachdem er ihnen die Hochglanz-Broschüre überreicht hatte. Er trug seine Verkaufsvisage; in seinen Augen leuchtete die Vorfreude auf die haushohe Provision, die ihn erwartete. Das Wabenprojekt, sagte der Makler, sei das architektonische Prestigeprojekt der Nullzone. Es schreibe das Narrativ des Wohnens neu: Wohnraum wird wesentlich!

Gabor war kurz davor gewesen, den Makler zu fragen, ob seine vorgefertigten Sprechblasen auch aus dem 3D-Drucker stammten. Sonias eiskalter Blick hielt ihn davon ab. Revolutionär, sagte der Makler, seien die organischen Formen, die der 3D-Druck per Roboterdüse ermögliche. Wellen, Falten, Fenster- und Türöffnungen, die sich dem gängigen Schema entzögen und je nach Sonnenstand unterschiedliche Licht- und Schattenwürfe erzeugten. Das Mobiliar könne optional mitgedruckt werden, sodass es organisch aus den Wänden herauswachse, sagte er und überreichte ihnen weihevoll einen zweiten Prospekt, der den ersten an Umfang und Gewicht noch übertraf. Gabor taten schon jetzt die Arme weh. Doch der Makler war gerade erst warmgelaufen. Der 3D-Druck, sagte er, führe zu den charakteristischen Wülsten, da die Roboterarme eine Betonmörtelschicht auf die nächste spritzten. Falls sie es wünschten, könnten die Innenwände auch glatt gefinisht werden.

Gabor wandte sich an Sonia: „Willst du Wülste?“

Sie antwortete nicht.

„In einer Wabe zu wohnen bedeutet, in einer Skulptur zu wohnen“, sagte der Makler. Das sei die Hardware. Die dazugehörige Software schlage alles, was der Markt bislang an Haustechnik gesehen habe. Tatsächlich handle es sich um das erste Empathec-Wohnprojekt in Europa. Empathec stehe für „Empathic Technology“, und diese begleite die Klientinnen und Klienten auf Basis eines ausgeklügelten Präventionskonzepts in ihren Lebensabend. Sie lindere, was der Alltag an Zumutungen bereithalte, sagte der Makler und zeigte ihnen sein hollywoodreif gebleichtes Gebiss. Es sah unnatürlich aus. Wollte er ihnen zu verstehen geben, dass sie alt seien und einen digitalen Butler benötigten, der ihnen das Leben organisiert? Kein Lebensbereich, fuhr der Makler fort, der von Empathec unberührt bleibe. Dahinter stecke eine künstliche Intelligenz namens –

„Mandy“, sagte Gabor.

Der Makler warf ihm einen überraschten Blick zu. „In der Tat“, sagte er. Mandy optimiere die Essenspläne und bestelle selbsttätig alle Zutaten. Sie steuere die Aussicht aus den Fenstern je nach Wetter sowie psychischer Verfassung und stehe einem zur Seite, wenn man Trost brauche. Zusätzlich seien Empa-Teams, Menschen aus Fleisch und Blut, rund um die Uhr zur Stelle, falls Unterstützung benötigt werde. Kurz und gut: Eine Wabe in der Nullzone sei die bestmögliche Investition, top wertgesichert und krisenfest.

Der Makler genierte sich nicht, sämtliche schwer zu ertragende Immobilienfloskeln aus seinem Verkaufshut zu zaubern, und Gabor ging davon aus, dass Sonia abgestoßen war von derartigen Plattitüden, doch ihre Augen glänzten in Vorfreude auf das, was sie als Krönung ihrer Lebenslaufbahn ansah.

Und was ist mit ihm? Steht ihm die Krönung seiner Lebenslaufbahn noch bevor? Oder nähert sich das Elektrokardiogramm seines Schicksals bereits der Nulllinie? Gabor legt den Bleistift zur Seite. Er gräbt nach einem Gefühl in seinem Inneren, nach Verlust, Bedauern, Erwartung – doch alles, was zum Vorschein kommt, ist Hunger. Für die Blutabnahme am Morgen musste er nüchtern sein.

Er steht vom Schreibtisch auf und beschließt, den Inhalt des Snackautomaten zu inspizieren. Ulli Kehraus steht vor der Maschine, wirft Münzen ein. Das Spiralgitter bewegt sich brummend vor, ein beigefarbenes, in Plastik eingeschweißtes Sandwich rutscht durch einen Schacht in die Entnahmelade. Sie fischt es heraus, dreht die dreieckige Verpackung in den Händen. „Man will nicht wissen, wie lange das schon da drin liegt“, sagt sie. Mir graust vor diesen Dingern und dann esse ich sie doch immer wieder.“

„Schachtler vertritt mich bei Fünf vor Neun“, sagt Gabor, während er das Angebot im Automaten scannt. Müsliriegel, Schokodrops, Bagel mit Schinkenspeck. Das einzige ohne Kohlenhydrate ist eine Packung Taschentücher.

Ulli öffnet die Plastikverpackung ihres Sandwiches, riecht daran. „Schachtler mit seinem Radiogesicht im Fernsehen? Das ist nicht dein Ernst.“

Gabor stellt sich zu ihr an den Hochtisch. „Ihr müsst lernen, ohne mich zurechtzukommen“, sagt er. „Irgendwann werde ich nicht mehr da sein.“

„Ach, komm“, sagt sie, „du bist nur unterzuckert.“ Sie hält ihm das Sandwich entgegen.

Gabor hebt abwehrend die Hand. „Darf nicht“, sagt er, obwohl er nichts lieber täte als hineinzubeißen. „Viszeralfett.“ Den Gas-Kotbauch erwähnt er besser nicht. Er ist zerrissen zwischen dem Wunsch, den mit allen Wassern gewaschenen Chef zu markieren und dem Bedürfnis, sich Ulli anzuvertrauen, ihr seine verletzlichste Seite zu präsentieren. Mit einem Anflug von Scham erinnert er sich an seine ungelenken Flirtversuche in ihrer gemeinsamen Frühzeit am Institut. Es war zwar kaum vorstellbar, dass sich ihr einstiges erotisches Desinteresse über die Jahre ins Gegenteil verkehrt hat, doch Gabor traut dem Schicksal jeden auch noch so unwahrscheinlichen Twist zu. Er kann nicht anders. Er betrachtet sie, wie sie kleine Happen aus dem Sandwich herausknabbert, darauf bedacht, dass nichts aus dem Inneren zu Boden fällt. Sie gefällt ihm noch so wie bei ihrer ersten Begegnung. Auch das ist eine Wahrheit, die gleichberechtigt neben anderen Wahrheiten steht. Etwa der Tatsache, dass sowohl sie als auch er verheiratet ist.

Schachtler nähert sich. Eilfertige, kleine Schritte, den Oberkörper vorgebeugt, als stemmte er sich gegen den Wind. „Hat nicht funktioniert“, sagt er und zuckt mit den Schultern.

„Was heißt das?“, fragt Sperling.

„Fünf nach Neun. Die wollen mich nicht.“

„Überraschung“, murmelt Ulli.

„Geh du doch!“, ruft Schachtler.

„Immer mit der Ruhe“, sagt Gabor, dem das drohende Abendessen plastisch vor Augen steht. „Von mir aus mach ich’s“, sagt er. Und wenn schon. Dann muss er sich wenigstens keine Lüge ausdenken.

Schachtler eilt zurück in sein Büro, Ulli hat ihr Sandwich beinahe fertig aufgegessen. Wollte er das Zwiegespräch verlängern – was er definitiv möchte –, müsste er ein Thema aus der Kategorie überraschend anschneiden. „Es gibt Leute, die sich den Nabel operativ verschönern lassen“, sagt er. „Kaum zu glauben, was?“

„Meiner ist ganz okay“, sagt Ulli.

Nicht nur dein Nabel, denkt Gabor und spürt eine Welle aus Bedauern und verpasster Chancen über ihm zusammenschlagen. Da muss er jetzt durch. Wenn das Leben ein langer Satz ist, ist er das Wort, das in Klammern gesetzt ist. „Mandy“, sagt er, „ist ein Bewusstsein ohne Nabel. Ohne Abstammung, ohne Stammbaum, ohne Geschichte.“

„Aber mit Bauchgefühl, oder? Sie hat gesagt, sie hätte Angst, abgeschaltet zu werden.“

„Keine sie“, sagt er. „Ein großes Sprachmodell, Ulli. Menschliches Bewusstsein ist eine andere Kategorie. Es macht einen himmelhohen Unterschied, ob ein Chatbot behauptet, Freude zu empfinden, oder ob es jemand tut, der weiß, wie sich Freude anfühlt. Du hast ein Innenleben, Ulli, du verstehst, was du sagst. Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass dieser Chatbot versteht, was er sagt.“

Ulli kaut bedächtig, so als bisse sie ihre Gedanken in das Sandwich hinein. „Ich weiß manchmal auch nicht, wie sich Freude anfühlt“, sagt sie und sieht ihn an. Ein Blick, der eine lange nicht gespielte Saite in seinem Innersten anstimmt. „Habe ich deswegen kein Bewusstsein?“

„Du sollst wissen –“, beginnt Gabor. Und dann weiß er nicht weiter. Ulli macht ihn unsicher. Er mag das. Meistens ist er sich seiner Sache so sicher, dass er in den gähnenden Abgrund der Langeweile hinabblickt. Immer öfter betrachtet er sein Leben vom Ende her. Vom Fazit, nicht von den Möglichkeiten, die bleiben. Die Vorstellung, nicht mehr forschen, nicht mehr schreiben, nicht mehr lesen zu können, ist vernichtend. Die Vorstellung, dass Sonia die letzte Frau ist, die er geküsst hat, ist fürchterlich, selbst – oder vielleicht gerade, weil er sie liebt. In diesen Momenten will er noch was. Etwas Unbestimmtes. Er will es greifen, sich verschlingen lassen, mit Haut und Haar darin aufgehen. Ein Schwindel packt ihn, er lehnt sich an die Wand.

„Hey, geht’s dir gut?“ Ulli beugt sich vor, ihr Gesicht so nah an seinem.

„Ich nehme vielleicht doch einen Bissen“, murmelt er.

Sie reicht ihm den Rest ihres Sandwiches, er steckt es in den Mund. Kein Widerstand. Weiches, weißes Brot, Mayonnaise, irgendwas mit Schinken. Gabor kaut und beißt und kaut und beißt, und die Welt zerfließt zu einem Matsch, der sich runterschlucken lässt wie Brei.

ELFI

Niemals würde Elfi einen Fremden anrufen, wenn sie sich nicht wohlfühlt. Wozu auch? Sie hat ihre Medikamente, die sie durch den Tag begleiten. Sie öffnet die Keksdose, in der sie die Blister platzsparend aufbewahrt. Zuvor aber schließt sie die Vorhänge. Ihre Medikamente sind hochsensibel! Manche vertragen kein Sonnenlicht, andere keine Wärme, wieder andere keine Zugluft. Einige verlieren nach Ablauf des Mindesthaltbarkeitsdatums plötzlich jede Wirkung; bei anderen verstärkt sich die Wirkung, je länger sie gelagert werden.

Ihre Namen müssen von Dichtern erfunden worden sein, so schön klingen sie. Dormidur, flüstert Elfi. Flurex retard, Krawasin, Aptibon akut, Pannonikum aktiv, Lubrolys 250, Menssanta, Sumerolidon, Croxa sublingual, Predusan, Fulminat, Vasa, Rocca retard, Pranalox, Cystopax, Rubylys, Solana Creme.

Nie verstößt Elfi gegen die Einnahmevorschriften: auf die Zunge legen, unter die Zunge legen, auf der Zunge zergehen lassen, langsam zerkauen, auf die Zunge tropfen, auf Brust und Hals verreiben, mit wenig Wasser einnehmen, zum Essen mit einem großen Glas Wasser einnehmen, keinesfalls mit Milch oder Orangensaft kombinieren, bei Bedarf zerteilen, keinesfalls zerteilen, großflächig auf der schmerzenden Stelle verreiben, ins Auge eintropfen, keinesfalls mit Schleimhäuten in Berührung bringen.

Um den Überblick zu bewahren, heftet Elfi die Beipacktexte in einer Mappe ab. Sie schreibt Listen. Im Listenschreiben ist sie gut. Nie verwechselt sie was! Predusan verträgt sich nicht mit Aptibon. Pannonikum verstärkt die Wirkung von Fulminat und schwächt jene von Pranalox. Dormisan und Rocca dürfen nur mit fünf Stunden Abstand eingenommen werden. Solange sie Cystopax einnimmt, muss sie auf Pranalox verzichten. Croxa darf sie nur spätabends, Vasa nur vor Sonnenaufgang einnehmen. Manche der Kapseln sind groß wie Patronen; andere sind so klein und blass, dass sie beinahe in den Furchen ihrer Hand verschwinden und sie die Lesebrille braucht, um sie wiederzufinden. Einige Tropfen schmecken ölig, andere süßlich, wieder andere bitter und schleudern sie in ihre Kindheit