Nur ein toter Lehrer ist ein ... - Heike Susanne Rogg - E-Book

Nur ein toter Lehrer ist ein ... E-Book

Heike-Susanne Rogg

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Beschreibung

Eine Unfallserie erschüttert die Grundschule in Blieskastel. Bevor sich jemand erklären kann, was eigentlich passiert ist, stirbt eine Lehrerin. Es kristallisiert sich heraus, dass auch die vorhergehenden Unfälle massive Anschläge waren. Hauptkommissar Robeneker ist ratlos. Weil auch seine Frau betroffen ist, mischt Busfahrer Hannes natürlich wieder kräftig mit. Doch kann er mehr tun, als Susanne zu schützen? Dann passiert der nächste Mordversuch ... Wer ist das Phantom, das es offensichtlich auf Pädagogen abgesehen hat?

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Ein Jahr zuvor

In einer Grundschule im Saarland ist es totenstill. Die Bilder, die tagsüber farbenfroh von den Wänden leuchten, taucht die herrschende Dunkelheit in ein trübes Grau. Kein Laut dringt durch die langen Gänge zwischen verlassenen Klassenzimmern. Doch plötzlich erklingen quietschende Schritte auf dem abgewetzten Linoleum. Sie werden lauter, finden ihren Widerhall in den dicken Wänden.

Schritte, die zu dieser nächtlichen Zeit aber auch gar nichts in dem Gebäude zu suchen haben, die so gar nicht auf das Linoleum gehören ...

Dienstbesprechung

»Wir kommen jetzt zu TOP 8, der Lehrerausflug«, verkündete Rektor Dr. Hans-Walter Küchenmeister und blätterte übertrieben geschäftig in seinen Unterlagen.

Susanne Germann – Klassenlehrerin der 4A – gähnte verstohlen. Zwei Stunden dauerte diese Dienstbesprechung nun schon. Einhundertzwanzig Minuten, so lange dehnte sich der Monolog Ihres Rektors Dr. Küchenmeister. Wie immer fragte sie sich, warum sie überhaupt anwesend sein musste. Fragen, Anregungen – oder noch schlimmer: Kritik – waren nicht gewünscht, wie sie aus eigener Erfahrung wusste. Susanne unterrichtete seit über drei Jahren an dieser Schule. Mehrfach war sie angeeckt, weil ihrer Meinung nach Konferenzen auch dazu dienen sollten, Missstände anzusprechen und gemeinsam zu beheben. Seit zehn Jahren im saarländischen Schuldienst, stand die Fünfzigjährige kurz davor, zu resignieren und – wie viele ihrer Kolleginnen – nur noch Dienst nach Vorschrift zu absolvieren. Immer, wenn sie mal wieder die Welt retten wollte, wollte diese einfach nicht gerettet werden. Also hatte sie gelernt, in Anwesenheit ihres Rektors am besten den Mund zu halten. Das sparte in jedem Fall Nerven.

Unauffällig schob sie sich ein Stück Schokolade in den Mund. Ihr Blick glitt durch den Raum. Damit alle anwesenden Lehrer genügend Platz fanden, wurde die Konferenz in der Bücherei der Schule abgehalten. Die Bänke verteilten sich wie in den Klassenzimmern: Der Rektor stand vorn, die Tische in Reih´ und Glied vor ihm. Rechts und links befanden sich die Regale mit vielen Büchern, die von den Schülern ausgeliehen werden konnten.

»Also«, holte der Vorgesetzte Susanne aus ihren Betrachtungen, »ich stelle mir vor, wir fahren zwei Tage in den Schwarzwald. Da wir nur einen Tag genehmigt bekommen, werden wir den Freitag und den Samstag dazu verwenden.«

Zum ersten Mal an diesem Nachmittag regte sich Widerspruch im Kollegium der Grundschule ›Am Schwarzweiher‹ in Blieskastel.

»Ich kann nicht einfach zwei Tage wegfahren«, wagte Sonja Roth, die Sportlehrerin, zu widersprechen. »Das würde meinen Trainingsplan völlig durcheinanderbringen.«

Sabine Kiehm, eine etwas pummelige Mittdreißigerin, pflichtete ihr bei: »Herr Dr. Küchenmeister, haben Sie daran gedacht, dass einige von uns Kinder zu Hause haben? Wie stellen Sie sich das vor?«

Den Gesichtern der meisten Anwesenden sah man ähnliche Vorbehalte gegen diesen diktatorisch in den Raum geworfenen Vorschlag an. Bei der Aussage von Ernst Gollmann, der kurz vor seiner Pensionierung stand: »Ich brauche das Wochenende zur Erholung für mich«, explodierte der Rektor.

»Das ist eine Dienstanweisung!«, brüllte der etwas zu klein geratene Mann am Pult. »Die Qualitätssicherungskommission hat festgestellt, dass an dieser Schule kein Teamgeist herrscht«, ereiferte er sich. »Und ich werde das ändern. Es geht um das Ansehen der Schule«. In einem äußerst fragwürdigen Ton setzte er hinzu: »Wir haben ja mit unserem Brennpunkt, der Dependance in Webenheim, einen denkbar schlechten Ruf«.

Deutliche Zornesadern zeigten sich an seinen Schläfen.

»Und deshalb werden wir diese zwei Tage im Schwarzwald durchziehen«.

Jetzt begannen die Adern an den Schläfen erregt zu pochen und wechselten von einem zarten Blau in ein dunkles Violett.

»Ich erwarte«, seine Stimme klang messerscharf durch den Raum, »dass Sie zu Hause alles Notwendige organisieren. Es fahren alle mit! Ohne Ausnahme!«

Mit einer für ihn typischen Handbewegung schob er sein schütteres, graues Haar nach hinten.

»Was für ein Idiot«, flüsterte Susanne ihrer Nachbarin Heidi Wagenknecht zu, »der Einzige, dem es an Teamgeist fehlt, ist er doch selbst.«

Heidi, eine zurückhaltende Kollegin, die in der Dependance die dritte Klasse führte, lächelte nur zaghaft.

»Frau Germann, haben Sie auch noch was dazu zu sagen?«, folgte prompt ein erneuter Angriff, diesmal gegen Susanne gerichtet.

»Nein, nein, hat sich schon erledigt«, wehrte sie ab und dachte: ›Die Gedanken sind frei ...‹

»Also«, setzte Küchenmeister seine Ausführungen fort, »das Ganze wird so aussehen, dass wir nach Titisee fahren. Dort übernachten wir im Alemannenhof. Eine gediegen-rustikale Herberge mit ausreichendem Komfort. Nachmittags unternehmen wir eine Wanderung auf dem Feldberg und abends besuchen wir das Konzert der Trachtenakkordeongruppe Hinterzarten. Am Samstag fahren wir nach dem Frühstück auf die Insel Mainau und danach wieder nach Hause.«

Dreizehn Lehrer schafften es gerade so, ein Stöhnen angesichts dieser Aussichten zu unterdrücken. Einige unter ihnen warfen hasserfüllte Blicke in Richtung des Redners, und bei einer Kollegin verengten sich die Augen zu mikroskopisch feinen Schlitzen.

Die nächste Frage wagte die resolute Personalrätin der Schule, Brigitte Sommer-Thes.

»Und mit welchen Kosten müssen wir dabei rechnen?«

»Das wird pro Person etwa hundertfünfzig bis hundertsechzig Euro kosten«, lautete die Antwort, »aber das sollte es Ihnen wert sein. Immerhin geht es um Teamgeist.«

Susanne, die den Alemannenhof durch ihren Ehemann kannte, fragte angesichts der Größe der geplanten Herberge, ob dieses Hotel über so viele Einzelzimmer verfüge. Daraufhin bekam sie zu hören, dass ihr Chef, außer seinem eigenen Einzelzimmer, nur Doppelzimmer bestellt habe – ›Teamgeist‹ eben.

Es war also bereits alles entschieden. Warum nur hatte das Kollegium nie den Mut, diese einsamen Entscheidungen gemeinsam zu boykottieren? Dann säße der Herr Rektor dumm da, mit seinen sieben Hotelzimmern.

»Frau Germann!«, rief er plötzlich, noch immer ein paar Nuancen zu laut. Was hatte sie denn jetzt schon wieder verbrochen? Waren ihre Gesichtszüge zu deutlich entgleist?

»Ja?«, fragte sie, nichts Gutes erwartend.

»Ihr Mann ist doch Busfahrer.«

»Ja?«

»Dann organisieren Sie den Bus!«

Das war keine Bitte, es war ein Befehl. Daher verzichtete Susanne auch auf eine dezidierte Antwort und quetschte nur ein widerwilliges ›Okay‹ hervor. Allerdings überlegte sie sofort, dass, wenn ihr Mann den Bus fuhr, sie das Doppelzimmer mit ihm teilen konnte. Ein Gedanke, der ihr, aufgrund der ansonsten ›kollegialen‹ Alternativen, sehr gut gefiel. Außerdem hätte sie ihn dabei und zu zweit sah dieses Horrorwochenende doch gleich ganz anders aus. Zwar, so gingen ihre Überlegungen weiter, würde er nicht gerade erfreut sein, ein komplettes Lehrerkollegium zu kutschieren. Anderseits war er Reisebusfahrer mit Leib und Seele. Zudem führte die Fahrt in seine ehemalige Heimatregion, was ihm vielleicht sogar gefallen könnte, hatte diese ihn doch lange nicht mehr gesehen.

Es war nicht ganz einfach gewesen, den Urschwarzwälder ins Saarland zu verpflanzen. Aber damals hatte es keine andere Lösung gegeben, wollten sie zusammenleben. Inzwischen war Hannes aus dem Bliesgau nicht mehr wegzudenken.

»Wir sind uns also einig«, ertönte erneut die nervende Stimme des Rektors und riss Susanne aus ihren Gedanken. »Freitag in drei Wochen geht es los. Informieren Sie bitte Ihre Klassen über diesen unterrichtsfreien Tag. Wenn Sie nichts mehr haben, ist die Dienstbesprechung hiermit beendet.«

Eiligst verließen alle anwesenden Lehrer das Konferenzzimmer. Erst draußen, auf dem Weg zu den Autos, begann die zu erwartende Diskussion.

»Was denkt der sich eigentlich?«, hörte man die empörten Ausrufe.

»So kann er doch nicht mit uns umgehen!« und »Das macht der doch immer so.«

So und so ähnlich machte jeder seinem Unmut Luft. Susanne stank es wieder einmal: »Und warum habt ihr das nicht eben da drin gesagt?«

»Du hast ja auch nichts gesagt«, verteidigte sich Melanie Jacoby, die Klassenlehrerin der anderen vierten Klasse an der Hauptstelle der Schule.

»Aus gutem Grund«, erwiderte Susanne. »Ich hab mir schon zu oft den Mund verbrannt und ihr habt mich im Regen stehen lassen oder seid mir sogar in den Rücken gefallen. Außerdem, was soll ich dagegen sagen? Ich habe keine Kinder und mein Mann wird angesichts der Sachlage mitkommen müssen. Da fehlen mir ja wohl alle guten Argumente, oder?«

Damit verabschiedete sie sich kurzerhand, setzte sich in ihr Auto und fuhr nach Hause. Mit den meisten der Kollegen hatte sie sowieso nicht viel zu tun, denn sie unterrichtete an der ›Blumenbergschule‹ in Webenheim, der Dependance der Blieskasteler Grundschule.

Nachdem die Schülerzahlen massiv gesunken waren, erfolgten im Saarland vor einigen Jahren zahlreiche Schulzusammenlegungen. In manchen Fällen bekam eine Schule eine sogenannte Dependance. Das ist der vornehme Ausdruck einer Zweigstelle oder Filiale, der die Frankreichnähe des Saarlandes dokumentiert. So war die ›Blumenbergschule‹ in Webenheim der ›Schwarzweiherschule‹ in Blieskastel, die teilweise zweizügig lief, unterstellt worden. Da die Dependance ausschließlich von ortsansässigen Kindern besucht wurde, gab es dort nur insgesamt vier Klassen. Susanne hatte es somit nur mit drei weiteren Kollegen und der Konrektorin, Anita Müller-Thiele zu tun. Neben ihr und Heidi Wagenknecht unterrichteten dort noch Markus Kesper, ein Casanova, der sehr von sich überzeugt war, und die Personalrätin der Schule, Brigitte Sommer-Thes. Von der Hauptstelle kamen für einige Wochenstunden die Referendarin Iris Schneider und die zuweilen etwas ›übermobile‹ Kraft, Christine Marcreiter, nach Webenheim. Alle anderen Kollegen aus Blieskastel traf Susanne nur auf Konferenzen und verschiedenen schulischen Veranstaltungen. Für ihren Geschmack war das mehr als genug.

Mordgelüste

Zu Hause ließ Susanne ihre Wut am Abendessen aus. Der Salat wurde nicht gewaschen, sondern ersäuft, die Kräuter dafür massakriert statt gehackt. Dabei schimpfte sie lautstark vor sich hin.

»Was ist denn hier los?« Ihr Mann Hannes kam soeben zur Haustür herein und streckte ob der bizarren Geräusche vorsichtig den Kopf durch die Küchentür.

»Was los ist?« Susanne konnte sich immer noch nicht beruhigen. »Ich hatte Dienstbesprechung, das ist los.«

Ihr Mann nahm es in typisch Hannes`scher Manier: »Das ist doch kein Grund, mein Abendessen zu ermorden.«

»Doch«, kam es zurück, »ich kann mir dabei so schön meinen Rektor vorstellen. Der ist genauso sensibel wie dieser Salatkopf.«

Während sie noch auf das Schneidebrett eindrosch, erzählte sie von der sehr einseitigen Konferenz.

»Ach!«, jetzt war auch Hannes verstimmt. »Und über mich bestimmt er gleich mit?«

»Ganz so ist das nicht«, schränkte seine bessere Hälfte ein. »Ich soll nur die Busfahrt organisieren. Und da dachte ich, dann kannst auch du fahren. Erstens macht es die Sache für mich erträglicher. Zweitens geht es in den Schwarzwald, deine Heimat.«

»Ich weiß ja gar nicht, ob ich Zeit habe.« Hannes war, wie Susanne bereits befürchtet hatte, nicht begeistert.

Sie entgegnete ungerührt: »Doch, hast du. Ich habe gleich im Kalender nachgesehen. An dem Wochenende liegt nichts an. Ich könnte dann das Doppelzimmer mit dir teilen und du würdest das Geld verdienen, das ich dafür zahlen muss.«

Susanne beförderte die kleingeschnetzelten Salatfetzen in die bereitstehende Schüssel, sodass das Dressing nur so durch die Küche spritzte.

»Na, mal sehen«, meinte Hannes mit einem letzten Blick auf sein bedauernswertes Abendessen. Dann verließ er vorsichtshalber den akuten Gefahrenbereich. Die Aussicht, zwei Tage mit so vielen Lehrern verbringen zu müssen, konnte ihm wirklich keine Begeisterungsstürme entlocken. Die Schulmeisterei, die unter dieser Spezies herrschte, kannte er nur zu gut. Im Normalfall drückte er sich gern, wenn ihm Schulfahrten angeboten wurden. Viele der Lehrer konnten alles besser, wussten alles besser und hielten einen Busfahrer sowieso für geistig minderbemittelt.

»Wann gibt’s denn jetzt Essen?«, rief er sicherheitshalber lieber erst aus dem Treppenhaus.

Susanne seufzte. Wie konnte man bei diesem Ärgernis nur an Essen denken? Ihr jedenfalls war der Appetit vergangen.

Alltagsgeschäfte

Noch immer schlecht gelaunt betrat Susanne am nächsten Morgen das Schulhaus der Dependance in Webenheim. Das Wissen, dass heute zusätzlich die ungeliebte Nachmittagsbetreuung auf ihrem Stundenplan stand, zog sie obendrein runter. Kam sie wieder einmal nicht vor halb vier nach Hause …

Galt der Lehrerberuf in der Öffentlichkeit als gut bezahlte Halbtagsstelle mit dreizehn Wochen Ferien, war die Realität längst eine andere. In den letzten Jahren kamen immer mehr Aufgaben und Pflichten für die Lehrer hinzu. Nur hatte man vergessen, das Gehalt entsprechend anzupassen. Im Gegenteil: Durch Aufstockung der Wochenstundenzahl sowie Kürzungen der Beihilfe auf Krankenkassenniveau und Kostendämpfungspauschale hatte es eher eine aktive Gehaltskürzung gegeben. Außerdem kam durch die freiwillige Ganztagsschule auch noch die Betreuung der Hausaufgaben am Nachmittag zu den Vormittagsstunden hinzu. Im Prinzip entsprach diese einer bloßen Kinderaufbewahrung, denn man durfte die Hausarbeiten lediglich auf ihre Vollständigkeit hin kontrollieren. Erklärungen waren nicht gewünscht, da die Kinder, die diese Betreuung nutzten, ansonsten Vorteile gegenüber denen hatten, die nach dem Unterricht nach Hause durften. Dennoch waren für diese Kontrollregelungen Lehrerstunden vorgesehen. Nein, Lehrer zu sein, machte keinen Spaß mehr. Dieses Resümee zog Susanne mittlerweile.

Ähnlich schien es auch ihre Kollegin Heidi Wagenknecht zu sehen, die sie auf der Treppe zum Lehrerzimmer traf. Die zierliche Dunkelhaarige sah blass und unglücklich aus.

»Morgen, Heidi, was ist los? Geht’s dir nicht gut?«, begrüßte Susanne die Kollegin, die seit Beginn dieses Schuljahres die dritte Klasse betreute.

»Morgen, Susanne, nein, ich fühle mich nicht so gut. Aber es geht schon.« Heidi stieg die Treppe weiter hoch.

›Richtig‹, fiel Susanne ein. Heidi hatte ja immer wieder mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen. Dr. Küchenmeister hatte das Kollegium ja noch Ende letzten Schuljahres genau darüber informiert, dass eine neue Kollegin käme, die öfter mal krank sei. Einen Burnout hätte sie gehabt. Zwar wusste Susanne, was ein Burnout war, nur vorstellen konnte sie sich darunter nichts Genaues. Aber so wie ihr Rektor das Wort ›Erschöpfungszustand‹ ausgesprochen hatte, hörte es sich an, als sei die neue Kollegin einfach nur stinkfaul.

Diesen Eindruck teilte Susanne gar nicht. Was deren Klasse anging, schätzte sie Heidi sogar als besonders engagiert ein. So beteiligte diese sich öfter an Wettbewerben, die für Schulklassen ausgeschrieben wurden. Während diese Aktionen Susanne oftmals als zu aufwändig empfand, hatten Heidis Schüler schon den einen oder anderen Preis dabei gewonnen. Darüber schwieg Dr. Küchenmeister aber in der Regel. Einen Flohmarkt, den die Kollegin mit ihrer Klasse organisierte, hatte er sogar regelrecht boykottiert. Dabei wollte Heidi damit nur die Klassenkasse aufbessern, denn im Lehrplan standen, neben der traditionellen Saarlandfahrt, noch andere kostspielige Exkursionen. Aber Dr. Küchenmeister ignorierte gern die Aktivitäten seiner Dependance. Vertrat er doch die Meinung, sie müsse als Brennpunktschule einen schlechten Ruf haben.

Mitleidig sah Susanne zu ihrer Kollegin.

»Sag mal, Heidi«, fragte sie, »du hast doch heute auch Betreuung? Wollen wir in der Mittagspause zusammen Kaffee trinken gehen?«

Die Kollegin nickte zustimmend. »Ich habe heute fünf Stunden.«

»Ich auch«, freute sich Susanne. »Dann also kurz nach halb eins. Irgendwie müssen wir die anderthalb Stunden bis zur ›freiwilligen‹ Betreuung ja totschlagen. Ich hasse diese Tage. Bis später also.«

Susanne betrat das Lehrerzimmer und reihte sich in den morgendlichen Stau am Kopierer ein.

Saarländischer Datenschutz

Nachdem Susanne fünf Stunden lang versucht hatte, die Inseln in den Köpfen ihrer Schüler mit Wissen über Lesen, Schreiben und Rechnen zu erweitern, stand sie auf dem Parkplatz hinter der Schule und wartete auf ihre Kollegin. Zunächst verließen nur ein paar Autos von Eltern mit deren Kindern, welche offenbar unter akuter Gehschwäche litten, das Schulgelände. Eine Kollegin hastete in Minirock und knallroten Stöckelschuhen hinter einer Mutter her, um ihr noch etwas mitzuteilen. Susanne grinste, als sie das Schauspiel beobachtete, wie die hübschen Schühchen mit dem alten Kopfsteinpflaster kollidierten. Gleichzeitig dachte sie daran, dass sie, der allgemeinen Lage angemessen, im heutigen Musikunterricht das Volkslied ›Die Gedanken sind frei‹ eingeführt hatte ...

Nachdem Heidi endlich kam, schlug sie vor: »Komm, wir fahren in den ›Sonnenhof‹ nach Blieskastel. Da können wir bei dem schönen Wetter draußen sitzen.«

Als passionierte Raucherin dachte sie immer pragmatisch. »Außerdem bekommen wir dort auch nette Kleinigkeiten zum Essen.« Heidi war einverstanden und so fuhren beide gemeinsam los.

Im ›Sonnenhof‹ angekommen, stellte Susanne erfreut fest, dass heute Mittwoch und somit ›Schnitzeltag‹ war. Während sie ein Rahmschnitzel mit Pommes und Salat bestellte, begnügte sich Heidi mit einem kleinen Beilagensalat. Die Zeit, während sie auf das Essen warteten, nutzte Susanne, um auf Schule und Rektor zu schimpfen. Dann widmete sie sich aber den leiblichen Genüssen. Nachdem sie ihr Schnitzel mit großem Appetit gegessen hatte, bemerkte sie, wie Heidi immer noch in ihrem Salat rumstocherte.

»Was ist los? Hast du keinen Hunger?«, fragte sie besorgt.

»Eher keinen Appetit«, flüsterte Heidi kaum hörbar.

Susanne wagte einen Vorstoß.

»Heidi, was hast du? Hängt das ...«, sie zögerte, um es dann doch in den Raum zu werfen, »hängt das mit deinem Burnout zusammen?«

Ihre Kollegin sah sie erschrocken an. »Woher weißt du davon?«

»Na, unser allgeliebter Rektor hat uns in epischer Breite davon berichtet, bevor du kamst. Datenschutz existiert im Saarland nicht. Irgendwer hat ihn wohl angerufen und darüber informiert. Fand ich schon ganz schön daneben. Aber so läuft das hier nun mal – jeder kennt einen, der einen kennt, der etwas weiß ...«

Heidi wurde noch blasser, als sie ohnehin schon war. Sie schob ihren Salat beiseite.

»Und was wisst ihr noch alles von mir?«, fragte sie, wobei jetzt deutliche Aggressivität in ihrer Stimme lag.

»Das reicht doch wohl, oder?« Susanne trank den mittlerweile schal gewordenen Rest ihrer Cola aus.

»Ja«, die Bitterkeit in Heidis Worten klang unzweideutig hervor. »Das reicht wirklich! Komm, lass uns gehen.« Mühsam erhob sie sich.

»Heidi« entgegnete Susanne bekümmert, »willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist? Vielleicht kann ich dir irgendwie helfen.«

Ihre Kollegin schüttelte leicht den Kopf.

»Wie willst du mir helfen können, wenn es schon die Ärzte nicht schaffen?«

»Aber so ein Burnout ist doch therapierbar, auch wenn das dauert«, versuchte Susanne ihrer Kollegin Mut zu machen.

»Darum geht es doch momentan gar nicht mehr.«

Heidi winkte resigniert ab. »Ich will nicht zwei Tage mit auf diesen Lehrerausflug.«

Susanne nickte: »Das will wohl keiner von uns. Allerdings wird uns nichts anderes übrigbleiben.«

Heidi sah sie müde an. »Nur habt ihr einfach keine Lust, euer Wochenende zu opfern. Ich habe regelrecht Angst davor.«

»Aber warum denn?«

Susanne verstand diese Heftigkeit nicht. Keine Lust, klar, aber wieso hatte jemand Angst vor einem verkorksten Wochenende? Sie merkte, wie Heidi mit sich rang.

»Nun sag schon, was genau los ist. Ich behalt’s auch für mich«, drängte sie.

Sie wollte es verstehen und nachvollziehen können. Ihre Kollegin gab den Widerstand auf.

»Also gut. Ich habe seit Jahren Herzprobleme, aber kein Arzt findet die Ursache. Der letzte Internist, den ich aufsuchte, meinte, das sei neurotisch. Aber ich merke doch, dass da etwas nicht stimmt.«

Susanne war ehrlich betroffen: »Und wie äußert sich das? Hast du Schmerzen?«

»Nein, aber ich bekomme immer öfter Herzrasen. Aus heiterem Himmel. Ich kann nicht einmal sagen, dass es in bestimmten Situationen passiert. Aber jedes Mal, wenn ich dann beim Arzt bin, ist es wieder vorbei. Auch verschiedene Langzeit-EKGs haben nichts gebracht. An den Tagen trat es nicht auf. Vorführeffekt nennt man das wohl ...«

»Und was passiert, wenn das bei dir auftritt?« Susanne war jetzt schon schockiert.

Dankbar, dass ihr jemand glaubte, erklärte Heidi: »Ganz plötzlich rast mein Herz. Ich hab dann einen Puls, der steigt teilweise bis zweihundert. Daraufhin bekomme ich Panik und das treibt den Puls noch weiter in die Höhe. Wenn es dann endlich aufhört, bin ich völlig fertig.«

»Das verstehe ich«, nickte Susanne, »und kannst du gar nichts dagegen tun?«

»Nachdem man auf den EKGs nichts feststellen konnte, war mein Hausarzt der Meinung, es könnte sich durchaus um Herzrhythmusstörungen handeln. Er hat mir einen niedrig dosierten Betablocker verschrieben. Außerdem nehme ich pflanzliche Beruhigungstabletten. Trotzdem tritt es immer wieder auf.«

»Aber dann glaubt dir doch wenigstens dein Hausarzt.«

»Ja, schon, aber das hilft mir auch nichts. Wenn diese Sache einen Namen hätte, könnte man sie vielleicht gezielt behandeln, aber so ...« Sie brach ab.

Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass es Zeit wurde, aufzubrechen. Susanne fand das heute besonders bedauerlich, hatte doch ihre Kollegin gerade erst begonnen, ihr ein wenig Vertrauen zu schenken. Sie wusste viel zu wenig von Heidi. Nur, dass sie Ende dreißig war, hatte sie bisher herausgefunden. Zwar planten sie teilweise den Unterricht gemeinsam, aber zu ausführlichen privaten Gesprächen fanden sie dabei nie Zeit. Heidi vermittelte immer den Eindruck, als wolle sie nicht über sich selber reden, und Susanne hatte das bisher respektiert.

»Okay. Komm, wir müssen. Aber lass uns doch in den nächsten Tagen dieses Gespräch fortsetzen. Vielleicht fällt uns ja zusammen etwas ein.«

Heidi Wagenknecht nickte dankbar und stand auf. Gemeinsam begaben sie sich auf den Weg zu ihrer ›geliebten‹ Nachmittagsbetreuung.

Zur selben Zeit, ein paar Kilometer entfernt:

›Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, schreibt eine zittrige Hand in eine Art Tagebuch. »Es ist wie ein Zwang. Ich kann nicht anders ... ich muss es tun.« Nachdem diese Zeilen zu Papier gebracht sind, reißt die bebende Hand das Blatt heraus – genauso, wie sie es mit vielen vorhergehenden Notizen auch immer getan hat. Ein Streichholz entflammt und verbrennt den Zettel zu Asche. Ein Ärmel wischt die letzten Rußpartikel fort, macht das Geschriebene ungeschehen. Ein Zwang, der mittlerweile zum Ritual geworden ist ...

Stressige Wochen

Doch auch dieser endlos scheinende Schultag fand sein Ende. Endlich fuhr Susanne nach Hause. Den Weg dorthin unterbrach sie am Supermarkt und kaufte ein.

»Bin da!«, rief sie, nachdem sie schwer beladen das Haus betreten hatte und ihre Schuhe gegen Hausschuhe austauschte.

»Hallo, Schatz!« Hannes füllte mit seiner stattlichen Statur die Tür zum Esszimmer aus und begrüßte sie mit einem Kuss.

»Möchtest du einen Kaffee?«

»Gern, aber im Auto steht noch eine Kiste Milch. Kannst du die holen?« Susanne brachte ihre Einkäufe in die Küche.

»Ich sag’s ja, eine Kuh im Garten wäre bequemer bei deinem Milchverbrauch«, lästerte ihr Mann im Rausgehen.

»Die müsstest du aber zweimal täglich melken«, rief sie ihm nach.

»Aber ich würde das Rasenmähen sparen.«

Kurze Zeit später saßen sie gemeinsam am Esstisch. Jeder eine Tasse Kaffee vor sich.

»Und, wie war dein Tag?« Hannes nahm immer Anteil am Schulgeschehen.

»Beschissen, wie immer, wenn ich Betreuung habe«, lautete die eigentlich erwartete Antwort. Dann erzählte sie ihm ein, zwei Anekdoten von ihren Schülern. Diese kannte auch Hannes, denn standen Busausflüge an, fuhr er die Klasse seiner Frau. Das entlastete die Klassenkasse ungemein. Bei der Erwähnung des neuen Liedes von den freien Gedanken, welches Susanne ihren Schülern beigebracht hatte, musste er lachen.

»Das solltet ihr vielleicht auf dem nächsten Schulfest vorführen«, schlug er vor.

Später berichtete Susanne von dem Gespräch mit ihrer Kollegin. »Wenn man ihr doch irgendwie helfen könnte«, meinte sie.

»Schlag ihr doch vor, ein paar Tage nach Bad Krozingen zu gehen. Die haben doch bei mir damals auch rausgefunden, was mir fehlte. Und seitdem bin ich wieder ganz gesund.«

Susanne nickte: »Da hast du recht. Ich denke, ich werde in den nächsten Tagen noch mal mit ihr Kaffeetrinken gehen. Dann schlag ich ihr das vor.«

Diesen Vorsatz musste Susanne allerdings vertagen. Als sie am nächsten Morgen das Lehrerzimmer betrat, wurde sie bereits von stöhnenden Kollegen empfangen.

»Guten Morgen. Was ist denn mit euch los?«

Iris Schneider, die junge Referendarin, reagierte am schnellsten: »Heidi ist schon wieder nicht da. Wir müssen ihre Klasse aufteilen. So komme ich in diesem Monat schon das dritte Mal nicht zu meinem geplanten Unterricht. Wie sollen denn da meine Unterrichtsbesuche klappen?«

»Dafür kann aber Heidi nichts. Erst hatte Brigitte eine Fortbildung, dann war Anitas Tochter krank«, verteidigte Susanne die Kollegin. »Wahrscheinlich ist Heidi krank. Es ging ihr gestern schon nicht gut.«

Markus Kesper, der attraktive junge Kollege, schaltete sich ein: »Die sieht doch immer aus wie das Leiden Christi. Hoffentlich bekommen wir eine Vertretung, falls es länger dauert.«

›Gefühlloser Kotzbrocken‹, dachte Susanne, ›nur weil sie nicht in dein Beuteschema passt.‹ Der junge Kollege war bekannt für seine häufig wechselnden Beziehungen. Nur eignete sich das Kollegium in Webenheim nicht unbedingt dafür. Der Altersdurchschnitt der weiblichen Kolleginnen war einfach zu hoch.

Im Laufe des Vormittags informierte Dr. Küchenmeister das Kollegium darüber, dass Frau Wagenknecht länger ausfiele. Ab Montag käme dann stundenweise Christine Marcreiter als Vertretung. Die restlichen Stunden müssten sie selber regeln, da der Pool der Lehrerreserve mal wieder ausgeschöpft sei. Und Frau Wagenknecht wäre hoffentlich zum Lehrerausflug wieder gesund, sonst müsse er annehmen, sie wolle sich drücken.

Der Ausflug fand in drei Wochen statt!

Jetzt stöhnte auch Susanne. Selber regeln hieß in der Regel: zusätzliche Vertretungsstunden und Aufteilen der Klasse. Genauso kam es. Die drei Wochen bis zum Ausflug gestalteten sich überaus stressig. Neben den Vertretungsstunden und ihrer, durch die Aufteilung von Heidis Schülern, stark gewachsenen Klasse musste Susanne zusätzlich zwei Arbeiten schreiben. Noch dazu eine Mathearbeit und einen Aufsatz. Die eine musste, da Arbeiten nun mal nicht auf Bäumen wuchsen, erst konzipiert werden. Die andere gestaltete sich immer sehr korrekturintensiv. So kam es, dass der Vorsatz von Susanne, die kranke Kollegin einmal anzurufen oder zu besuchen, völlig unterging.

Schneller als gedacht stand man drei Tage vor dem Lehrerausflug. Dr. Küchenmeister ließ sich mal wieder im Webenheimer Lehrerzimmer blicken. Ein von allen gefürchteter Anblick, da er entweder motzte oder Arbeit verteilte. Heute ging er direkt auf Susanne zu, die unwillkürlich schrumpfte.

»Und, Frau Germann, geht mit dem Bus übermorgen alles klar?«

»Natürlich.«

Es war völlig überflüssig, einzuwenden, dass man Lehrer, die an Organisation und Improvisation gewöhnt waren, mit solchen Kleinigkeiten kaum überforderte.

»Mein Mann fährt selbst.«

»So, na ja, das war ja zu erwarten.«

›Ein einfaches Danke hätte auch genügt‹, dachte Susanne.

Da sie ihren Rektor kannte, hatte sie vorsichtshalber im Alemannenhof angerufen und ein zusätzliches Doppelzimmer für Hannes und sich gebucht. Dr. Küchenmeister hatte, wie von Susanne erwartet, nur die für das Kollegium notwendigen Zimmer bestellt. Von der Rezeptionistin des Hotels erfuhr sie, dass er dabei sogar ein Dreibettzimmer reserviert hatte, damit nur keine Kollegin in den Genuss eines Einzelzimmers kam. Diese Information hatte er während der Konferenz wohlweislich unterschlagen.

Nachdem der Rektor das Lehrerzimmer wieder verlassen hatte, kam die Personalrätin Brigitte Sommer-Thes auf Susanne zu.

»Mit wem willst du denn das Zimmer teilen?«, fragte sie, »ich hab da mal eine Liste erstellt.«

»Und, wie sieht die aus?« Susanne kannte den Klüngel im Lehrerzimmer ganz genau.

Brigitte sah auf ihre Liste. »Also, logischerweise nehmen unsere beiden Kollegen ein Zimmer zusammen, dann Claudia mit Sonja, ich und Anita, Christine und Sabine. Andrea teilt sich eins mit Iris. Bleiben noch du und Melanie. Geht das in Ordnung?«

»Und was ist, wenn Heidi doch mitkommt? Wo schläft sie dann? Danke, mich kannst du da raus lassen, ich habe ein Zimmer extra gebucht, und das teile ich mit meinem Mann. Dann kann sich Melanie mit Heidi eins teilen, oder Melanie kommt in den Genuss eines Einzelzimmers.«

Susanne war empört. Da war eine Kollegin mal vierzehn Tage krank und schon wurde sie vergessen. Dann regte sich aber auch ihr eigenes Gewissen. Sie hatte es ebenso versäumt, dass sie Heidi zumindest mal anrufen wollte.

Brigitte stand noch immer neben ihr. »Ach, das machen wir anders. Dann kann sich Anita eins mit Melanie teilen.«