Nuramon - James A. Sullivan - E-Book

Nuramon E-Book

James A. Sullivan

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Beschreibung

Ein lange gehütetes Geheimnis aus der Welt der Elfen wird gelüftet

»Eine Reise endet hier, eine neue beginnt.« So endet die Geschichte von Noroelle, Farodin und Nuramon im Bestseller-Epos »Die Elfen«, doch für Nuramon, den letzten Elfen in der Welt der Menschen, ist es auch ein neuer Anfang. Von seiner großen Liebe zurückgewiesen, von seinem besten Freund getrennt und gestrandet auf einem fremden Kontinent, beginnt für Nuramon das größte Abenteuer seines Lebens — ein Abenteuer voller Intrigen, Gefahren und Magie ... Ein atemberaubendes Epos — endlich erzählt James Sullivan die Geschichte der sagenumwobensten Figur der deutschen Fantastik.

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Seitenzahl: 1293

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JAMESA.SULLIVAN

NURAMON

EINELFEN-ROMAN

Originalausgabe

WILHELM HEYNEVERLAG

MÜNCHEN

Originalausgabe 12/2013

Redaktion: Momo Evers

Copyright © 2013 by James A. Sullivan

Copyright © 2013 dieser Ausgabe

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Umschlagillustration: Michael Welply

Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München

Satz: Leingärtner, Nabburg

ePub-ISBN 978-3-641-11300-1

www.twitter.com/HeyneFantasySF

@HeyneFantasySF

www.heyne-fantastisch.de

Für Heike und die kleinen Orakel

Dank Bernhard

Die Stimme des Orakels

Die Zukunft eilt uns stets voraus und hinterlässt Spuren, die ich zu lesen vermag. Und so entdeckte ich euch in all den Jahren, was vor euch liegen könnte, und mein Blick erwies sich oft als wahr. Gelegentlich aber traten Dinge nicht ein, die ich sah. Manchmal blieb die prophezeite Zukunft aus, gerade weil ich sie euch entdeckte. Etwas zu betrachten heißt oft, es zunichtezumachen. Denn dem Wissen um das Schicksal mögen Taten folgen, welche die gesehene Zukunft verändern. Zum Besseren, wie ich stets hoffe, zum Schlechteren, wie ich fürchte. Es kann beim Blick voraus nie Gewissheit geben. Nur die Vergangenheit ist festgeschrieben. Denn kein Augenblick ist je verloren; er steht für immer im Buch der Welten.

Nun stehe ich in diesem Thronsaal, ein Orakel aus Fleisch und Blut, und spreche zu euch von jener besonderen Zeit; einer Zeit, in der ein Elf hier in Jasbor unter uns lebte. Noch heute erzählen die Märchen und Lieder, die unzähligen Sagen und wenigen Chroniken, die die Jahrhunderte überstanden haben, von dem letzten Alvaru, dem letzten Albenkind – von Nuramon aus Albenmark.

So, wie ihr durch diesen Saal, durch diesen Palast, die Straßen dieser Stadt und auf den Pfaden dieser Insel schreitet, in der Gewissheit, dass auch Nuramon einst auf diesen Wegen ging; so wusste ich, dass seine Vergangenheit irgendwo im Gewebe des Schicksals ruht. Und nach fast zehn Jahren habe ich nun die Spur zu Nuramon gefunden. Zu seinen Sinnen und seinen Gedanken. Das Schicksal flüstert es mir zu, und ich sehe den Elf und schwebe wie ein Geist zu ihm hin.

Dort in der Vergangenheit warben er und Farodin zwanzig Jahre um die Liebe der Zauberin Noroelle. Nur ein Moment im Leben eines Elfen, eine Ewigkeit für einen Menschen. Sie versprach, sich bald zwischen ihnen zu entscheiden. Doch ein Dämon zog alles ins Übel, ehe es so weit kommen konnte.

Es war ein Devanthar, der Letzte der alten Feinde der Alben. Er war es, der Noroelle in Nuramons Gestalt erschien und sie schwängerte. Er musste gewusst haben, dass Noroelle ihr Neugeborenes in die Menschenwelt bringen würde und dass die Elfenkönigin Emerelle sie deswegen auf eine Insel in der Zerbrochenen Welt verbannen würde; die Welt, die einst im Krieg zwischen den Alben und den Devanthar zerbarst. Er musste vorausgeahnt haben, dass Noroelles Sohn in der Stadt Aniscans als Priester des Gottes Tjured die Menschen heilen und unter dem Namen Guillaume weithin bekannt werden würde. Auf sein Geheiß hin erschienen Meuchelmörder in Aniscans, als Nuramon mit seinen Gefährten bei Guillaume war.

Damals gelang es Nuramon und Farodin nicht, den Sohn Noroelles zu retten. Und schlimmer noch war, dass die Ermordung des Priesters ihnen angelastet wurde. Der Devanthar schürte den Hass auf die Albenkinder, und so wuchs der Tjuredglaube, und am Ende beherrschte er nicht nur die Menschenreiche des Kontinents im Westen, sondern bedrohte auch Albenmark und die Albenkinder.

Trotz allem gaben Nuramon und seine Gefährten nicht auf. Heimlich erlernten sie den Zauber, der ihnen die Albenpfade öffnete. Diese magischen Wege verknüpften besondere Orte innerhalb einer Welt ebenso wie jene zwischen den Welten. So suchten Nuramon und dessen Gefährten nach dem Tor zu Noroelles Verbannungsort und folgten der Spur in die Menschenwelt. Auf ihrem Weg fanden sie die abtrünnigen Elfen von Neu Valemas, das Exil des Zwergenvolkes und das Orakel Dareen. Und Nuramon fand ein namenloses Elfenmädchen, das er Yulivee nannte, sich zur Schwester erwählte und in Kriegszeiten zur Elfenkönigin nach Albenmark brachte. Diese hatte seit Jahrtausenden auf Yulivees Ankunft gewartet, war jedoch trotz ihrer Dankbarkeit nicht bereit, Noroelle zu befreien.

Dann aber taten Nuramon und seine Gefährten sich im Kampf gegen die Tjuredanbeter hervor. Sie vernichteten den Devanthar, und als die Tjuredanbeter nach Albenmark vorstießen, wurden sie zu Helden. Sie verschafften der Elfenkönigin als Anführer in ihrem Heer die Zeit, die Albenkinder ein für alle Mal von der Bedrohung der Tjuredanbeter zu befreien. Emerelle, Yulivee und die anderen großen Zauberer setzten mittels ihrer Magie ein Geschehen in Gang, um Albenmark von der Welt der Menschen und der Zerbrochenen Welt abzutrennen.

Noroelles Verbannungsort aber war nur durch die Welt der Menschen zu erreichen, und so gab die Elfenkönigin Nuramon und Farodin die Macht, den Zauber, der den Weg zu Noroelle versperrte, zu lösen. Durch eines der letzten Weltentore kehrten Nuramon und Farodin ihrer Heimat den Rücken. Sie befreiten Noroelle aus ihrem Gefängnis in der Zerbrochenen Welt, und diese hielt ihr Versprechen und wählte zwischen ihnen.

Sie entschied sich für Farodin. Und auch wenn Nuramons Herz schmerzte, so erkannte er doch, dass es die richtige Wahl war. Silbernes Licht umgab Noroelle und Farodin im Moment ihrer Erfüllung, bis sie vor Nuramons Augen verschwanden. Durch ihre Liebe hatten sie ihr Schicksal gefunden und waren dadurch ins Mondlicht, ins elfische Jenseits, entschwebt.

Nuramon aber war allein zurückgeblieben. Am Morgen stand er am Rande der Insel, auf der Farodin und Noroelle entschwunden waren, und schaute den weißen Bergen am Festland entgegen. Er war der Letzte, der letzte Elf dieser Welt, das letzte Albenkind. Jenseits des Wassers lag ein fremdes Land, das es zu erkunden galt. Dort gab es neue Wege, neue Erfahrungen und neue Erinnerungen zu finden. Als die Ebbe zurückkehrte, schritt er über den welligen Boden dem Festland entgegen. So betrat er unseren weiten Kontinent, unser geliebtes Arlamyr, das er lange von der Insel aus beobachtet hatte. Und er betrachtete die Landschaft, als hätte er sie noch nie zuvor gesehen.

Diese Welt würde niemals aufhören, ihn zu faszinieren. Und doch fragte er sich, warum die Elfenkönigin Noroelle nicht selbst befreit hatte, ehe der Weg nach Albenmark abgeschnitten war. Und immer wieder fand er nur eine Antwort: Emerelle, die mit ihrem Zauberspiegel in die Zukunft schauen konnte, mochte gesehen haben, dass sein Schicksal, sein Weg ins Mondlicht, irgendwo hier in der Menschenwelt lag.

So vertraute er sich der Schönheit unseres Kontinents an und durchwanderte ihn auf Elfenweise. Und was er sah, tröstete ihn. Die Menschen aber beobachtete er nur aus der Ferne, denn er wollte keine Bande knüpfen, damit er nicht enttäuscht würde. Doch die Einsamkeit brachte ihm Bitternis, und das Heimweh entzündete Wunschträume. Das Bedauern der eigenen Taten und die Zweifel an den Taten anderer gebaren einen Hass, der Nuramon bis an den Rand der Verzweiflung trieb. Als er schließlich erwog, seinem Leben ein unerfülltes Ende zu setzen, merkte er, dass er sich fremd geworden war.

Und so suchte er nach einem Weg zurück zu sich und glaubte, er könnte sein Ziel nur erreichen, indem er nach Albenmark zurückfände. Vielleicht, so dachte er, gab es doch noch irgendwo einen schmalen Pfad, der in die Heimat führte. Doch ganz gleich, wo er suchte, ihm war nicht der geringste Erfolg beschieden.

Als er sich nach Jahrzehnten an einer Quelle im Wald nahe der Stadt Teredyr niederließ, um sich auszuruhen, ahnte er nicht, dass er der Erfüllung seines Schicksals näher gekommen war. Die Menschen der von Dornenbüschen umgebenen Stadt entdeckten ihn und staunten. Dass er anders war als sie, erkannten sie sogleich. Zwar war sein mittelbraunes Haar hier ebenso weit verbreitet wie seine hellbraunen Augen, doch die weiße Strähne, die ihm auf die Stirn fiel, zog ihre Blicke ebenso auf sich wie seine vergleichsweise großen Augen, die für die meisten Menschen ein wenig zu lang geratene Nase und seine viel blassere Haut. Da man aber jede dieser Einzelheiten für sich genommen irgendwo in den Weiten von Arlamyr antreffen kann, hätte man ihn dennoch für einen Menschen halten können. Seine spitzen Ohren jedoch, die zwischen dem welligen Haar hervorstachen, verrieten ihn.

Die Menschen näherten sich ihm mit Interesse und Offenheit, und er ließ sie an sich heran. Er war fasziniert von ihnen. Sie erinnerten ihn an alte Zeiten und an Freunde, die längst dem Leben entschwunden waren.

Immer wieder kehrte er an die kleine Quelle nahe der Stadt zurück, und ehe er sich versah, war er des Arlamyrischen mächtig und bei den Menschen von Teredyr als Heiler bekannt. Er ließ sich von den anderen freien Städten erzählen, von denen er sich ferngehalten hatte; ebenso von Fürstentümern und Königreichen, die er unbemerkt durchwandert hatte, und vom Ahnenkult, dem die Menschen auch damals schon anhingen. Und dabei ahnte er nicht, dass sein Name einst für immer mit dem Fürstentum Yannadyr und unserer Insel Jasbor verbunden sein würde – mit euren Ahnen und über diese auch mit euch.

Bald merkte er, dass er im Grunde immer wieder an den Anfang eines reizvollen Weges zurückkehrte, nur um sich dann nicht vorzuwagen. Ihm wurde bewusst, dass er davor zurückschreckte, sein Schicksal bei den Menschen zu suchen. Eines Tages aber machte er den ersten Schritt hinein in ein neues Leben voller Abenteuer, von denen er nicht mehr zu träumen gewagt hätte. Abenteuer, die ein ganzes Zeitalter begründen sollten.

So folgt meinem Orakelblick, wenn er entlang der Zauberpfade auf der Suche nach Nuramon ist, ihn findet und umschwebt, ihn durch die Augen anderer sieht, in den Worten anderer findet und sich schließlich mit seinem Blick verbindet.

Folgt mir zu Nuramon und jenen, die ihm nahestanden – zurück in vergangene Zeiten, wo das Geschehen im wechselnden Maße verläuft, mal durch die Zeit schwebend, und mit einem Wort vergehen Jahre; mal in einem einzigen Augenblick verharrend.

Folgt meinen Worten und vernehmt, was im Gewebe des Schicksals geschrieben steht.

Das letzte Albenkind

Wie ein Steg aus leuchtendem Eis führte ein Albenpfad durch die Finsternis. In seinem Inneren glitzerte es, als schlüge der Fluss der Magie winzige Funken. Der Pfad schwebte an weiteren vorüber, die windschief verliefen und in unterschiedlichen Farben leuchteten, jedoch rasch in der Finsternis verschwanden, als legten sich schwarze Nebelschleier über das Leuchten. Der eine Pfad aber traf nach einer scheinbaren Unendlichkeit an zwei Stellen auf andere Wege und fügte sich dort mit ihnen zu Inseln aus Licht – zwei Albensterne.

Es war still abseits der Welt. Die Magie, die hier herrschte, schützte alle, die des Weges kamen, vor der Leere, die ringsherum herrschte, und vor der Eiseskälte der ewigen Dunkelheit. Zugleich spendete sie Luft, von der seit Jahren niemand mehr geatmet hatte.

Mit einem Mal lief ein Zittern durch das glitzernde Netz aus Pfaden, und auf dem größeren der Albensterne schob sich eine Lichtsäule in die Höhe und wölbte sich. In ihr erschien eine Gestalt, verharrte für einen Augenblick und trat dann aus dem Licht heraus. Es war ein Elf, ein Albenkind an einem Ort, an dem es keine Albenkinder mehr geben sollte; der einzige Elf auf den Pfaden, die sich um die Welt der Menschen schmiegten. Es war Nuramon, das letzte Albenkind.

Nuramon holte tief Luft und genoss den frischen Duft der Zauberpfade. Selbst nach all den Jahrhunderten und all den Leben, die er gelebt, und den Toden, die er gestorben war, liebte er diesen Geruch. Er trat an den Rand des Lichtplateaus und blickte zurück zur Pforte, die er soeben geschaffen hatte. Seite an Seite erschienen nun ein Mann und eine Frau – Yargir und Nylma, die Neugierigsten unter den jungen Kriegern und Kriegerinnen von Teredyr. Wie staunende Kinder traten sie aus dem Licht, kamen einander mit Hellebarde und Schwert in den Weg und schienen sich kaum am Glitzern der Pfade sattsehen zu können.

»Ich dachte, du hättest gelogen«, sagte Yargir.

»Heißt es nicht, Elfen könnten nicht lügen?«, erwiderte Nuramon.

Yargir ließ seinen Blick über den Albenstern wandern, und die Verblüffung in seiner Miene wich dem warmen Lächeln, das seine Züge prägte. »Genau so heißt es«, sagte er und stieß mit seiner Hellebarde auf den Boden, als prüfte er dessen Festigkeit.

Nylma schaute den Albenpfad entlang, der zur nächsten Lichtinsel führte, und strich sich mit den Fingerspitzen das Lächeln aus ihrem langen Gesicht. »Es ist wie im Märchen«, flüsterte sie. »Mir ist, als würde ich mich an einen alten Traum erinnern.«

Nuramon winkte die beiden Krieger zu sich, um den Nachfolgenden Platz zu machen. Er schaute jedem, der aus dem Licht kam, ins Antlitz und fand keinen, der im Angesicht der Pfade und der Finsternis unbeeindruckt blieb. Einige der Krieger schlugen sogar Schutzgesten und baten ihre Ahnen um Beistand.

Der Letzte, der die Pforte durchschritt, war Gaeremul. Er war mit über vierzig Jahren der Älteste der Gefährten, ein breitschultriger Mann, der seinen schweren Kriegshammer zu führen wusste. Die Narben in seinem Gesicht zeugten von unzähligen Schlachten. Seine Erfahrung machte ihn zu einem Begleiter von unschätzbarem Wert.

Nun, da seine Schar vollständig war, trat Nuramon vor das Lichttor und hob seine Hände. Während er sie langsam wieder senkte, strömte Magie aus den Fingerspitzen, und es war, als schöbe er das Tor eigenhändig hinab. Am Boden funkelte es kurz, doch schon erinnerte nichts mehr daran, dass sich hier eben noch eine Pforte zwischen den Albenpfaden und der Welt der Menschen erhoben hatte.

Die Teredyrer flüsterten. Nuramons Magie war ihnen gewiss noch immer nicht geheuer, doch ohne ihn würden sie nie wieder in ihre Welt zurückkehren können und so hier auf den Albenpfaden den Tod finden.

Nuramon lächelte ihnen aufmunternd zu. Auch wenn er den Bewohnern der Stadt Teredyr in der Vergangenheit mit seinen heilenden Händen gelegentlich beigestanden hatte, wussten sie nicht viel von ihm. Er hatte immer nur wenig von sich preisgegeben. Sie jedoch hatten ihm viel von sich offenbart, und so war in ihm mit der Zeit eine Schwäche für die Menschen von Teredyr gewachsen. Er ließ sich immer leichter für ihre Zwecke gewinnen.

Nun hatten sie nichts Geringeres getan, als ihr Schicksal an seine Fähigkeiten zu knüpfen. Denn ob Teredyr stehen oder fallen würde, lag allein daran, ob der Plan, den Nuramon ersonnen hatte, aufgehen würde. Nuramon dankte den Teredyrern dieses Vertrauen nicht nur durch seine Fürsorge und Loyalität. Zum Zeichen seiner Verbundenheit trug er die gleiche grau getünchte Lederrüstung und den gleichen schwarzen Fellumhang wie seine Gefährten. Das fehlende Halstuch mochte nicht weiter auffallen. Wer aber seine Ohren sah, würde sich an die Märchen und Sagen über die Elfen erinnern.

»Ihr dürft nicht vom Pfad abweichen«, sagte er in die Runde. »Die Magie, die uns schützt, wirkt nur hier. Draußen hingegen lauert der Tod oder Schlimmeres.«

Die Krieger folgten seinem Rat und mieden den Rand, als loderte dort ein Feuer, während Nuramon sie einen leicht abschüssigen Pfad hinab bis zum nächsten Albenstern führte. Hier kreuzten sich sieben Pfade, von denen einer senkrecht verlief und den Blick der Teredyrer auf sich zog. Nur Yargir schaute verwundert zu dem Ort zurück, an dem sie die Albenpfade betreten hatten. »War das etwa der ganze Weg von der Quelle oben im Wald zum Hügel hinab?«, fragte er.

Nuramon nickte. »Wer neben der Welt schreitet, geht kürzere Strecken. Auch Höhen, Tiefen, Längen und Breiten entsprechen hier nicht denen in deiner Welt. Jeder Pfad hat sein eigenes Maß.«

»Und warum führt dieser hier nach oben?« Nylma deutete auf den grauen Pfad, der einer von dünnen Lichtadern durchzogenen Kristallsäule gleich senkrecht aus dem Lichtplateau stieß.

»Dieser Pfad führte einst nach Albenmark. Wenn ich draußen in der Welt am Albenstern ein Tor öffnete und dabei diesen Pfad mit meiner Magie berührte, wäre ich früher nicht hier auf den Pfaden, sondern sogleich in meiner Heimat erschienen. Wer diesen Weg aber heute betritt, wird sein Ziel nicht erreichen. Er würde einfach zurückgeworfen. Der Weg in meine Heimat gleicht einem verschütteten Tunnel. Diesen wieder gangbar zu machen, liegt nicht in meiner Macht.«

Nylmas grüne Augen schimmerten. »Es tut mir leid«, sagte sie schließlich, und Nuramon schien es, als sei sie verlegen, als sie sich schließlich von ihm abwandte und zu Yargir hinüberging. Gewiss hatte sie seinen Schmerz bemerkt. Obwohl er seine Gefühle vor den Blicken der Menschen sonst zu verbergen wusste, hatte sie ihn durchschaut; denn es quälte ihn noch immer, dass es keinen Weg zurück in seine Heimat gab. Die Elfenkönigin Emerelle hatte ihm gesagt, die Menschenwelt und die Zerbrochene Welt würden von Albenmark abgetrennt sein. Er, Nuramon, sei das letzte Albenkind in der Welt der Menschen. Und sie hatte recht behalten. Denn er wusste, dass die Königin allen Kindern der Alben Schutz angeboten und sie nach Albenmark zurückgerufen hatte. Selbst die Trolle waren diesem Ruf gefolgt, und so gab es kaum Hoffnung, dass noch irgendwer freiwillig geblieben war. Dennoch hatte er im Netz der Zauberpfade lange nach einem Weg gesucht, der ihn zurück nach Albenmark hätte bringen können. Vergeblich.

In seiner Verzweiflung hatte er sich sogar über die Albenpfade in die Zerbrochene Welt begeben – jene Welt, die im Kampf zwischen den Alben und ihren Feinden, den Devanthar, zerborsten war und nun aus nichts weiter bestand als Inseln in der Leere. Doch auch dort hatte er weder einen Heimweg noch andere Albenkinder gefunden, die sein Schicksal teilten und mit den gleichen Ängsten lebten. Ängste, die er in den acht Jahrzehnten seit dem Auszug aus Albenmark nicht losgeworden war.

Dass sein Schicksal nun in der Menschenwelt lag, hatte er angenommen. Hier würde er seine Bestimmung suchen, und falls er sie fand, würde er ins Mondlicht gehen. Silberschein und Blütenduft würden ihn umgeben, und mit einem Ruck würde es ihn ins Jenseits der Albenkinder hinfortreißen. Davon träumte er seit vielen Leben, doch immer hatte der Tod seine Mühen unterbrochen, und er war wiedergeboren worden.

Jetzt aber war es anders. Hier in der Menschenwelt, auf ewig getrennt von Albenmark, konnte er sich den Tod nicht erlauben. Denn welcher Elfenmutter sollte er wiedergeboren werden? Ohne die verbindenden Pfade würde seine Seele den Weg nach Albenmark nicht finden, und da es in der Welt der Menschen keine anderen Albenkinder mehr gab, würde seine Seele auf der Suche nach einem neuen Körper, in den sie sich kleiden konnte, für immer ruhelos sein. Davor fürchtete er sich mehr als vor allem anderen.

Nuramon schaute zu den Teredyrern. Zweiunddreißig Männer und Frauen, allen voran Gaeremul, warteten auf sein Zeichen. Der Mut, den er draußen an der Quelle im Wald noch in ihren Augen gesehen hatte, war längst dem Zweifel gewichen. Auch Nuramon zweifelte. Noch immer konnte er nicht fassen, dass Yangor Yurgaru, der Ratsälteste von Teredyr, sich auf seinen Plan eingelassen hatte. Es musste die Verzweiflung gewesen sein. Sonst hätten sie ihm, einem Sonderling, nicht die besten Krieger zur Seite gestellt und damit die eigenen Reihen geschwächt, um einen Überraschungsangriff zu wagen.

Nuramon ging in die Hocke, legte die Handflächen auf den Boden, und ein Kribbeln kroch seine Arme empor. Erst als er seine magischen Kräfte fließen ließ, kehrte sich das Kribbeln um, und er spürte die Albenpfade und den Albenstern. Die Zauberwege trafen nicht nur hier aufeinander, sondern auch draußen in Dayra, der Welt der Menschen, die er früher meist DieAndere Welt genannt hatte. Sein Blick verschwamm, als er sich mit seinen magischen Sinnen darauf konzentrierte, was an ihrem Bestimmungsort vor sich ging. Schließlich sah er es: Das rote Banner der Feinde wehte im Wind, keine zwanzig Schritte entfernt von dem Albenstern, aus dem sie heraustreten würden. Es war das Hauptlager der Feinde.

Nuramon löste sich vom Boden, dann trat er bis an den Albenpfad heran, der senkrecht emporführte und den das Tor, das er schaffen wollte, scheinbar verdrängen würde. Schließlich nickte er Gaeremul zu.

»Macht euch bereit«, rief dieser und schlug mit der Faust klatschend in die Hand. Die Krieger sammelten sich, prüften ihre Waffen, und manche beteten sogar zu ihren Ahnen. »Für Teredyr!«, sprachen sie einander zu und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Nur Nuramon zu berühren wagte keiner von ihnen.

Als die Krieger sich in seinem Rücken gesammelt hatten, konzentrierte Nuramon sich auf den Torzauber. Er hatte ihn oft gesprochen. Die alten Fehler mit den Folgen, die ihn und seine ehemaligen Gefährten zu Opfern der Zeit gemacht hatten, vermied er. Ein ungeübter oder geschwächter Zauberer mochte versagen, und dann vergingen beim Überschreiten der Schwelle mit einem Augenblick Stunden, Monate oder sogar Jahre. Doch hier gab es keine magischen Fesseln, die den Albenstern umgaben; hier gab es nur die sich kreuzenden Lichtpfade, die seinen Zauber begierig aufnahmen. Nuramon wandte viel magische Kraft auf, damit das Tor lange genug geöffnet bleiben würde. Er spürte die Pforte, noch ehe sie sich aus dem Boden erhob und den senkrechten Albenpfad überdeckte. Das Licht des Tores schob sich einfach über das Grau des Zauberpfades.

Nuramon zog sein Schwert. Es war eine magische Klinge, die Jahrtausende überdauert hatte. Als Emerelle noch nicht Königin von Albenmark gewesen war, hatte er zu ihren Kampfgefährten gezählt, und sie hatte ihm dieses Schwert zum Geschenk gemacht. Die Teredyrer schauten neugierig auf die makellose Waffe, und Nuramon hob sie und wandte sich dem Licht zu, um hindurchzuschreiten, doch Yargir kam ihm zuvor. »Bei Warlyrn!«, rief er und stürmte voran. Der Name seines Urahnen war nicht einmal verklungen, da war Yargir bereits im Weiß des Tores verschwunden.

Nuramon folgte ihm, und kaum war er vom Licht umfangen, spürte er die Welt der Menschen. Wiesenduft stieg ihm in die Nase, Angstschreie schwollen zu einem gewaltigen Chor an. Wie ein Fächer öffnete sich der wolkenlose Sommerhimmel über ihm, während der Boden aus der Tiefe zu ihm emporzuschießen schien; gerade rechtzeitig, dass seine Füße festen Grund fanden. Hügel und Berge rasten über das grüne Grasland herbei und verharrten in der Distanz. Zugleich schoben sich regungslose Gestalten aus dem Boden. Als wären sie auf einen Schlag erwacht, rührten sie sich und wichen zurück.

Es waren die Krieger aus dem Königreich Varmul, die Feinde, die es zu besiegen galt. Das Licht des Tores strahlte auf ihren Gesichtern und funkelte in ihren Augen und auf ihren Rüstungen. Das rote Banner des Königreichs Varmul wehte über dem Lager. Darauf wand sich eine goldene Schlange neben einem silbernen Kriegshammer, der Waffe des Königshauses Cardugar. Unter dem Zeichen stand ein schmalgesichtiger Jüngling – der Feldherr. Der verzierte Schuppenpanzer bewies, dass der junge Anführer nicht damit rechnete, in der Schlacht zu kämpfen. Der kleine Kriegshammer, der eher wie ein Zeigestab als wie eine Waffe wirkte, entglitt seinen Händen.

Nuramon schaute über die Schulter zurück, doch das Tor und die Zelte verdeckten seinen Blick auf die Feldschlacht. Nicht einmal die Mauern von Teredyr vermochte er zu sehen. Doch die Geräusche, die wie die eines tobenden Sturmes heranschallten, ließen keinen Zweifel, dass die Teredyrer dort irgendwo auf den Feldern ihrer Bauern um ihre Stadt und ihre Eisenminen kämpften.

Nuramon schloss zu Yargir auf und lief mit ihm Seite an Seite dem feindlichen Anführer entgegen. Hinter ihnen stürmten die Gefährten brüllend nach. Unter den verstreuten Gegnern, die fassungslos zum Lichttor starrten, schien sich in diesem Moment nur ein einziger Krieger zu bewegen: ein Mann in roter Tuchrüstung und hellem Mantel. Er hielt sein gekrümmtes Schwert bereits in Händen und sprang seinem Feldherrn zur Seite.

»Ein Wyrenar!«, rief Yargir, hielt inne und starrte dem feindlichen Krieger entgegen. Nuramon blieb an Yargirs Seite und musterte gleichfalls den Schwertträger. Er wusste, dass Wyrenar der Titel war, den die Menschen von Arlamyr Helden ihres Zeitalters gaben – den großen Kriegern, die in den Königreichen und Fürstentümern und oft auch abseits davon einen Namen hatten und Respekt genossen. In Teredyr ging das Gerücht um, dass der legendäre Bjoremul unter den Feinden sei. Aber von ihm hieß es, dass er stets mit einem Dreschflegel kämpfte – einer Waffe, die einem varmulischen Krieger aus gutem Hause eigentlich nicht geziemte. Deshalb musste es sich bei dem Jüngling, der ihnen nun gegenüberstand, um einen anderen handeln.

»Das ist Dorgal!«, rief Gaeremul, der zu ihnen aufgerückt war. Nuramon hatte den Namen nie gehört, doch seine Gefährten wichen – so schien es ihm – ein winziges Stück zurück und wandten sich dann anderen Gegnern zu. Nur Yargir blieb an Nuramons Seite, wagte jedoch nicht anzugreifen.

Auch Nuramon hielt inne und horchte in sich selbst hinein. Dort wuchs ein Gefühl, das ihm vor der Trennung von Albenmark beinahe fremd gewesen war. Ein zutiefst menschliches Gefühl: die Angst vor dem Tod. Das Wissen darum, dass ihm nur noch dieses eine Leben blieb, ließ ihn zuerst zögern, nährte dann jedoch seinen Tatendrang. Er täuschte rechts einen Angriff an, schwenkte dann nach links und machte Yargir dadurch Platz. Während Dorgal den Hieb mit der Klinge abfing, stieß Yargir vor, und Nuramon war sich sicher, dass der junge Teredyrer den Feind mit der Hellebarde über der Hüfte treffen würde. Doch blitzschnell wandte sich der Krieger zur Seite, ließ Yargirs Stoß ins Leere fahren und seine Klinge an Nuramons Schwert emporschnellen. Sie verfehlte seinen Kopf nur um Haaresbreite.

»Flieh!«, rief Dorgal seinem Anführer zu. Der Feldherr aber rührte sich nicht, sondern starrte wie so viele der Varmulier nur fassungslos auf die Lichtpforte.

Nuramon griff an, doch Dorgal konterte stets mit einer genialen Wendung. Da wechselte Nuramon die Taktik und bot dem Feind eine Blöße nach der anderen, um ihn aus der Deckung zu locken. Kaum ging sein Gegenüber auf das Angebot ein, sprang Nuramon zur Seite und wagte sich erneut vor. Derweil schlossen die Teredyrer einen Ring um den Feldherrn; erste Triumphrufe wurden laut, doch Gaeremul schmetterte jede Überheblichkeit mit rauer Stimme nieder. »Still! Still, sage ich! Wer sich schon wieder zu Hause bei seiner Liebe wähnt, tauscht bald das Liebeslager gegen das Totenbett! Und nun: nordwärts!«

Während der Wall der Krieger aus Teredyr sich auf die Lichtpforte zuschob, versuchten die ersten Varmulier in den Kreis einzudringen, in dem Dorgal und der Feldherr gegen Yargir und Nuramon kämpften.

»Hinter mich!«, rief Dorgal seinem Herrn zu. Und der junge Anführer, nun von seiner Garde abgeschnitten und von Feinden umgeben, stellte sich in Dorgals Schatten und zog mit zitternden Händen einen Langdolch, die einzige Waffe, die ihm geblieben war. Immer wieder schaute er über die Schulter zurück, als fürchte er, dass sich einer der Teredyrer, die den inneren Kreis gegen die Varmulier verteidigten, umdrehte und gegen ihn oder Dorgal wandte. Und so kam es auch: Ein breitschultriger Teredyrer, der einen Helm trug und ein schmales Schwert führte, griff Dorgal von der Seite an. Doch dieser lenkte die gegnerische Klinge pfeilschnell ab und bohrte dann seine Schwertspitze in die Schulter des Angreifers. Während dieser mit einem Schrei zurücksprang, griff Nuramon an. Schon hielt Dorgal die Waffe wieder erhoben und fing den Hieb ab, während Yargir mit dem Verletzten zurückwich.

»Nur noch du und ich«, rief Dorgal, und einmal mehr bot Nuramon ihm Blöße um Blöße, wich aus und schlug sogleich Attacken, die Dorgals Können auf die Probe stellten. Und mit jedem Ausweichen drehte sich Dorgal ein wenig weiter im Kreis, während der Feldherr sich im Schatten seines einzigen Beschützers hielt.

Doch auch der Ansturm auf Nuramons Gefährten wurde immer stärker. Die Varmulier hatten ihren Schrecken überwunden und ihre Zaghaftigkeit abgeschüttelt. Wie das Meer ein Floß im Sturm umtost, so drängten sie von allen Seiten auf die Teredyrer ein. Es fehlte nur wenig, und Nuramon würde mit seinen Gefährten von der Flut feindlicher Angriffe erfasst, und die Klingen würden wie Wellen über ihnen zusammenschlagen und ihnen den Tod bringen.

Da endlich brüllte Gaeremul: »Es ist so weit!«

Die Worte des Recken waren wie das Ufer, das sie vor den Fluten bewahrte. Mit zwei Stichfinten trieb Nuramon Dorgal und den Feldherrn voran – direkt vor das Lichttor. Entsetzt starrte Dorgal ihn an, wich einem Hieb aus und lenkte Nuramons Schwert zu Boden. Die Lichtpforte umrahmte die Gestalt des jungen Wyrenar, und ein Hauch von Überraschung huschte über Dorgals Miene; dann aber entfaltete sich ein Lächeln. Statt erneut anzugreifen packte er seinen Feldherrn mit der freien Hand und stieß ihn ins Licht der Pforte. Dann sprang er ihm nach.

»Mutig!«, rief Gaeremul.

»Oder sehr dumm«, sagte Nylma.

Nuramon schwieg, aber er bewunderte Dorgals Tat.

»Rückzug!«, brüllte Gaeremul, und einer nach dem anderen folgten die Teredyrer Dorgal und seinem Feldherrn ins Licht. Als nur noch Nylma und drei Hellebardenträger an Nuramons Seite waren, ließ er sich zurückfallen, hob die freie Hand und dachte einen Zauber. Die Magie ging ihm von Jahr zu Jahr leichter von der Hand, und manchmal hatte er das Gefühl, dass ihn die Magie zu mehr drängte, als er wollte. So war es auch dieses Mal: Der Zauber war da und wollte mit großer Kraft nach außen drängen, doch Nuramon zügelte ihn, damit er nur das tat, was er beabsichtigte.

Nuramons Hand begann zu glimmen, und zwischen den gespreizten Fingern zitterten Blitze. Er riss die Hand in die Höhe, und ein Flimmern erhob sich über ihm, dann ein stetig ansteigendes Knistern, das in einem ohrenbetäubenden Knall gipfelte. Funken regneten aus der Luft hernieder, und die Angstschreie der Varmulier hallten von allen Seiten heran. Es war ein einfacher Zauber, nichts weiter als Blendwerk, und doch reichte es aus, viele der Varmulier schreiend in die Flucht zu treiben.

»Geht!«, rief Nuramon den drei Hellebardieren zu, die kurz darauf im Licht verschwanden. Nylma schaute ihn noch einmal zweifelnd an, dann lief auch sie durch das Tor.

Nuramon warf einen Blick zurück auf die Varmulier. Diese hatten sich mit ängstlichen Mienen an den Rand des Hügels zurückgezogen. Offenbar hatte sein Blendwerk ausgereicht, um ihnen all die Märchen und Sagen ins Gedächtnis zu rufen, in denen die Zauberei den Menschen Schmerzen und den Tod brachte. Und so wandte auch er sich ab und schritt ins Licht.

Die Albenpfade empfingen ihn mit Kampflärm. Dorgal – offenbar unbeeindruckt von dem Ort, an dem er sich befand – stand Seite an Seite mit dem varmulischen Feldherrn am Rand der Lichtinsel. Niemand aus den Reihen der Teredyrer kam an sie heran. Denn vor ihnen erhob sich einer Statue gleich ein Krieger in einer einfachen Lamellenrüstung aus Leder, der einen mächtigen Kriegsflegel schwang. Auf seinen roten Mantel war das königliche Wappen und ein Streitkolben gestickt, das Zeichen seiner Familie.

Der fremde Krieger, der Nuramon um fast einen Kopf überragte, musste sich durch die Pforte gewagt haben, während sie den Ring um den Feldherrn gezogen hatten. Allein die Vorstellung, wie viel Mut oder aber Lebensverachtung zu einem solchen Schritt nötig war, entlockte Nuramon ein Gefühl der Anerkennung.

»Bjoremul!«, sagte Nuramon. Die Gerüchte entsprachen also der Wahrheit.

»Gib den Weg frei!«, erwiderte der Krieger. Es hieß, er sei Anfang dreißig, aber mit der tiefen Stimme, dem dichten Bart und den gefestigten Bewegungen wirkte er älter.

Nuramon hob sein Schwert und führte drei rasche Attacken aus, die Bjoremul allesamt mit knappen Bewegungen seines Kriegsflegels abwehrte. Dann stieß der Varmulier mit dem Schaft seiner Waffe zu und ließ Nuramon parieren, nur um dann den Schlagkopf schwingen zu lassen. Die beiden Eisendornen, die auf Beschlägen hervorragten, verfehlten Nuramons Kopf knapp. Doch kaum war er dem Hieb ausgewichen, ließ Bjoremul den Schaft kreisen und stieß zu. Am Ende der Stange ragte ein weiterer Dorn heraus. Nuramon aber lenkte den Dreschflegel hinab. Als wäre das Lichtplateau aus Feuerstein, kratzte der Dorn funkensprühend über den Boden. Schon riss Bjoremul den Schaft zurück und ließ den Schlagkopf von oben herabschnellen. Nuramon gelang es gerade noch, sein Schwert hochzureißen. Kaum trafen sich die Waffen, verlagerte Nuramon sein Gewicht und versetzte Bjoremul einen Tritt, der ihn zwei Schritte zurückwarf und aus dem Gleichgewicht brachte. Der Krieger stützte sich mit dem Kriegsflegel ab, um nicht zu Boden zu fallen.

Nuramon hörte die Erleichterung in den Anfeuerungsrufen seiner Gefährten, die sich nun zu beiden Seiten des varmulischen Feldherrn und Dorgals in Stellung brachten. Yargir und zwei weitere Männer gingen gar zum Angriff auf den jungen Wyrenar über.

Während Bjoremul den Kampf hinter sich Dorgal überließ und erneut mit der Waffe drohte, überlegte Nuramon, wie es ihm gelingen könnte, das Lichttor zu schließen. Dorgal und Bjoremul fürchtete er nicht, denn im Zweikampf war er Herr über seine Fähigkeiten. Wenn er hier starb, dann nur, weil er versagte. Der Rest der varmulischen Truppen aber entzog sich seinem Einfluss. Falls sie sich wieder auf ihre Aufgabe besinnen, ihre Furcht überwinden und ihnen durch das Tor folgen sollten, könnten sie ihn leicht von hinten überwältigen. Doch um die Pforte mit einem Zauber zu schließen, brauchte Nuramon einen ungestörten Augenblick – etwas, das Bjoremul ihm nicht gewährte. So hoffte er, dass die Kraft, die er in den Torzauber gelegt hatte, bald aufgebraucht war und sich die Pforte von allein schloss.

Bjoremul stieß vor, und Nuramon sprang zur Seite, nur um ihn seinerseits zu attackieren. Er behielt nichts mehr zurück. Je mehr er sich herausforderte, umso mehr forderte er sein Gegenüber. Zweimal verfehlte Nuramon den Kopf Bjoremuls nur um Haaresbreite, zugleich aber hatte er sich seinerseits fast schon an den Luftzug gewöhnt, den der Kriegsflegel über sein Gesicht wehte.

Ein Schmerzensschrei lenkte Nuramons Blick kurz von Bjoremul auf Yargir ab. Der junge Krieger hielt sich die Seite und biss sich auf die Lippen. Dorgal setzte ihm mit dem Schwert nach. Ehe Nuramon ihm zu Hilfe eilen konnte, schoss Bjoremuls Kriegsflegel unvermittelt hernieder. Nuramon wich weit zur Seite aus, sprang dann über einen Streich hinweg, der seinen Füßen galt, schließlich traf ihn der Schlagkopf seines Gegners an der Schulter. Nuramon taumelte zur Seite. Er unterdrückte den Schmerz, und nachdem er sich gefangen hatte, lief er gegen Bjoremul an. Er täuschte rechts eine Attacke an, ließ seinen Gegner parieren und warf sich mit der tauben Schulter gegen den groß gewachsenen Krieger. Bjoremul taumelte zurück, in seinem Rücken strahlte die Lichtpforte. Nuramon setzte sofort nach. Wenn er den Gegner nicht mit seiner Schulter durch das Tor zu stoßen vermochte, würde sein Schwert diesen Zweck gewiss erfüllen.

Bjoremul sprang neben das Tor und hob die Waffe. Nuramon konnte seinen Lauf vor der Pforte bremsen, doch schon kam Bjoremuls Attacke, ein Schlag gegen den Rücken. Nuramon tauchte so knapp unter dem Hieb hinweg, dass der Schaft der Waffe über seinen Umhang schabte. Allerdings hatte der varmulische Krieger so viel Schwung in seinen Schlag gelegt, dass er Nuramon nun die Schulter und den Oberarm offenbarte.

»Schluss! Sonst töte ich ihn!«, brüllte Dorgal.

Da hielt Nuramon inne. Die Schneide seines Schwertes schwebte direkt über Bjoremuls Schlüsselbein. Der breitschultrige Krieger wich zur Seite aus und stand nun wieder zwischen Nuramon und dem Feldherrn.

Langsam wandte Nuramon sich Dorgal zu und sah seine Befürchtungen bestätigt: Yargir saß schweratmend am Boden, und Dorgal hielt ihm die Schneide seines Krummschwertes an den Hals.

»Ergib dich«, sagte Bjoremul leise.

Nuramon warf einen Blick zu seinen Gefährten, die sich allesamt auf den Albenpfad zurückgezogen hatten, den sie auf ihrem Hinweg gekommen waren. Gaeremul kümmerte sich um die wenigen Verletzten, und Nylma starrte mit entsetzter Miene zu Yargir hinüber.

Nuramon richtete sich auf, hob die freie Hand und das Schwert langsam an und bot Bjoremul die Brust. Der Krieger hätte ihn leicht niederschlagen können, doch er hielt lediglich seinen Dreschflegel fest umklammert.

»Lass das Schwert fallen!«, befahl der junge Feldherr. Es war das erste Mal, dass Nuramon ihn sprechen hörte, und selbst in dieser Lage, da er die Oberhand gewonnen zu haben glaubte, wirkte er unsicher. Seine Stimme zitterte, die Augen waren in den umschatteten Höhlen kaum zu erkennen.

Nuramon ließ sein Schwert neben sich zu Boden fallen. Bjoremul betrachtete ihn angespannt, und Nuramon hielt seinem Blick stand, während er langsam seine Hände senkte. Nichts verriet, dass er längst mit dem Gegenangriff begonnen hatte und zu einem entscheidenden Schlag ausholte. Die Magie wirkte bereits, sie musste sich nur noch offenbaren.

Nuramon blinzelte nicht. Er wollte Bjoremuls Aufmerksamkeit binden; er wollte, dass der Krieger zu spät bemerkte, dass der Schein des Lichttores im Schwinden begriffen war. Als Bjoremul Nuramons Plan durchschaute, war es bereits zu spät. Das grell leuchtende Tor versank im Boden, und zurück blieb nur der graue Albenpfad, der in die Höhe ragte.

Während der feindliche Feldherr und Dorgal ungläubig auf die Stelle starrten, an der sich gerade noch die Pforte befunden hatte, ließ Bjoremul seine Waffe fallen. »Gut gespielt, Alvaru!«, sagte er und lächelte.

»Mach es sofort wieder auf!«, schrie Dorgal und hob Yargirs Kinn mit seinem Schwert an. »Oder sein Hals wird zur Quelle!«

Nuramon lächelte. »Falls ihr irgendeinem meiner Gefährten auch nur den Hauch weiteren Leides antut, wird sich für euch kein Tor mehr öffnen.«

»Glaub ihm nicht, Herr!«, rief Dorgal. »Ihm liegt zu viel an diesem Kerl.«

Der Feldherr musterte Nuramon unentschlossen, dann wanderte sein Blick hilfesuchend zu Bjoremul, doch dieser schüttelte den Kopf. »Ja, ihm liegt viel an dem Jungen, aber er meint es ernst. Wir haben verloren; er hat gewonnen. Blicken wir der Wahrheit ins Auge.«

»So sei es«, sprach der junge Feldherr Nuramon zu. »Wir ergeben uns – für den Augenblick.«

Dorgal ließ von Yargir ab und legte dann nach einem kurzen Blick zu seinem Herrn seine Waffe nieder. Die Teredyrer kehrten auf die Lichtinsel zurück, und Nylma eilte zu Yargir, der sie mit schmerzverzerrtem Gesicht zu beruhigen versuchte. Als der feindliche Feldherr Gaeremul seinen Dolch überreichte, gab er sich als Varramil Cardugar, der Neffe des Königs von Varmul, zu erkennen, was den Kämpfern aus Teredyr ein anerkennendes Raunen entlockte. Bjoremul hingegen schien von alldem unbeeindruckt zu sein. Gemächlich hob er Nuramons Waffe auf, wog das sehr leichte Schwert in der Hand, stutzte kurz und reichte es ihm schließlich. »Du beherrschst die höchste Kunst des Krieges, Alvaru!«

Nuramon nahm seine Waffe an und steckte sie in die Scheide zurück. »Und worin besteht diese?«

»Zu erkennen, wann eine Niederlage den Sieg birgt. Du bist der Erste, der mich dadurch besiegt, dass er sein Schwert fallen lässt.«

Nuramon musterte ihn aufmerksam. »Noch ist der Tag nicht vorüber«, entgegnete er dann.

Schließlich befahl Gaeremul, Dorgal und Bjoremul zu fesseln und übernahm diese Aufgabe schließlich selbst, da niemand sich an die beiden heranwagte. Nur Varramil blieb von Fesseln verschont. Entweder aus Rücksicht auf seinen Rang oder weil Gaeremul von seiner Seite nichts befürchtete.

Nuramon ließ seine Gefährten gewähren und verschaffte sich stattdessen lieber einen Überblick über ihre Verletzungen. Die meisten hatten leichte Wunden, und auch Yargir würde den Schnitt in seiner Seite überstehen. Bei einigen der Krieger wollte Nuramon später Magie anwenden, aber zuvor bestand seine Aufgabe darin, die Gefährten und die Gefangenen sicher in die Welt zurückzubringen.

Auf dem Weg wandte sich Bjoremul an Nuramon. »Mit deinen Fähigkeiten könntest du die Welt verändern«, sagte er.

»Mir gefällt eure Welt so, wie sie ist«, erwiderte Nuramon.

Bjoremul schüttelte den Kopf und schmunzelte. »Das Schicksal gewährt große Fähigkeiten leider zu gerne jenen, die sie nicht zu schätzen wissen.«

»Wer bin ich, an den Absichten des Schicksals zu zweifeln«, entgegnete Nuramon und dachte an Emerelle. Von den Orakeln abgesehen, gab es sicherlich kaum ein Wesen, das dem Schicksal mehr ergeben war als die Elfenkönigin. Sie erkannte scheinbar unbedeutende Dinge, die Jahrtausende später zu etwas Entscheidendem heranwachsen konnten.

»Was werdet ihr mit uns tun?«, fragte Bjoremul. »Ein Lösegeld fordern?«

»Abwarten«, antwortete Gaeremul.

»Unsere Krieger werden die Schlacht auch ohne uns gewinnen«, sagte Dorgal. »Einer der Offiziere wird die Ordnung dort herstellen, wo sie verloren ging, und dort bewahren, wo sie standhielt.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Yargir, dessen Wunde offenbar nicht so ernst war, dass er nicht alleine gehen und Widerworte geben konnte.

Bjoremul lachte. »Wir sind hier irgendwo im Nichts, und auf der anderen Seite der Pforte entscheiden andere über Sieg oder Niederlage – und darüber, wie viel Wert wir als Gefangene haben.«

Nuramon nickte. »Der Boden, aus dem die Zukunft erwächst, wird draußen in der Welt bestellt.«

Kaum hatten sie den nächsten Albenstern betreten, wirkte Nuramon seinen Torzauber. Die Ungeduld war selbst den Verwundeten anzumerken, als sie auf die magische Pforte starrten, die sich aus dem Boden emporschob. Gleich würden sie erfahren, ob ihr Wagnis die Wunden und vielleicht sogar die bleibenden Gebrechen wert gewesen war.

»Ein Alvaru könnte in Varmul oder den Fürstentümern die größten Ehren empfangen«, sagte Varramil und schüttelte den Kopf. »Einen wie dich würde man mit Gold aufwiegen, um ihn in den eigenen Reihen zu wissen.«

»Ich mache mir nichts aus Gold«, entgegnete Nuramon und winkte die Verletzten und jene, die sie stützten oder trugen, durch die Pforte. Dann erst folgten die Gefangenen und jene, die sie bewachten.

Als Nuramon alleine zurückgeblieben war, schaute er sich um. Er hatte seine Aufgabe erledigt und genoss das Gefühl, Teil von etwas zu sein. Vielleicht hatte er sich schon zu lange abseitsgehalten. Vielleicht war es an der Zeit, sich endgültig einzugestehen, dass seine Bestimmung nicht darin bestand, als Einsiedler oder einsamer Wanderer auf etwas zu warten, das vielleicht niemals kommen würde. Und als er schließlich selbst durch das Tor schritt, schwor er sich, den Wegen, die sich ihm boten, zu folgen – ganz gleich, wohin sie ihn führten. Er würde sich nicht länger von der Sehnsucht nach Vergangenem und Verlorenem leiten, sein Leben nicht länger von Angst und Sorge bestimmen lassen.

Mit diesem Entschluss im Herzen erschien Nuramon kurz darauf neben der plätschernden Quelle, an der er wohnte. Das Wasser lief einen Felsen herab und mündete in einen Bach. Auf einem flachen Stein lagen seine Sachen: zwei Beutel und seine Kleidung. Für einen Außenstehenden wirkte es gewiss, als würde er hier lediglich rasten und nicht seit Jahren leben.

Nuramon folgte den Gefährten und ihren Gefangenen den Bach entlang und zwischen den Tannen hindurch. Am Ende des Waldes erwartete sie der Blick über das Schlachtfeld. Nuramon trat zwischen den Gefährten an den Rand der Klippe vor und schaute hinab. Und tatsächlich: Die Streitmacht der Varmulier strebte gen Süden davon. Wo eben noch Varramil mit seinen Schwertfürsten gestanden hatte, reckten nun die Teredyrer Krieger ihre Waffen in die Höhe. Ihre grünen Rosenbanner wehten im Wind.

Teredyr selbst lag abseits des engen Passes still vor der Felswand und dem Wasserfall. Hätte man nur die Stadt erblickt, wie sie auf dem Hügel vor dem Pass thronte, umgeben von einem Wall, in dessen Graben die Rosensträucher wucherten, man hätte nicht geglaubt, dass sie dem Untergang so nahe gekommen war. Noch herrschte dort Ruhe, aber bald schon würden all jene Teredyrer zurückkehren, die sich ins Hochtal zurückgezogen hatten. Noch harrten sie dort oben im Dorf aus, umgeben von den Minen, nach denen die Varmulier strebten; geschützt durch den engen Pass, den die Teredyrer mit einer Handvoll Krieger hielten.

»Wir haben gewonnen!«, rief Yargir. »Gewonnen!«

Die Gefährten ließen sich von Yargirs Überschwang anstecken, und ein Jubel erhob sich unter den Kriegern. Einigen der Verletzten kamen sogar die Tränen. Ihre Opfer waren nicht umsonst gewesen. Nuramon aber schaute hinab auf das Schlachtfeld, auf dem sich die verletzten und erschöpften Krieger zwischen den Toten rührten. Die verwundeten Männer und Frauen dort unten brauchten seine Heilkräfte, und jeder Überlebende würde die Trauer der Teredyrer um die Gefallenen mildern.

»Nun bleibt dem varmulischen König nur eins«, sagte Gaeremul. »Verhandeln.«

Bjoremul und Dorgal wechselten enttäuschte Blicke, während Varramil fassungslos den fliehenden Scharen nachstarrte, die eben noch Reihe um Reihe seinem Befehl gefolgt waren. »Das wird er ohne Zweifel tun müssen«, sagte er stockend.

Orakelblick

Bjoremul bewunderte Nuramon und wünschte, der Alvaru hätte sich nicht in Teredyr niedergelassen, sondern im Reich seines Herrn. Er verfluchte diesen Krieg und fragte sich, wie er den Alvaru dazu bewegen könnte, mit ihm nach Westen zu gehen und gegen die Yannadrier zu kämpfen.

Nylma und Yargir saßen abseits des Rates und schauten zu Nuramon hinüber, der sich ebenfalls fernhielt. »Stell dir vor, er würde uns über die Pfade ans Meer führen«, sagte Nylma.

»Oder in die Wüste«, flüsterte Yargir. »Wenn es so weit ist, müssen wir ihn fragen.«

»Davor habe ich Angst«, sagte die Kriegerin, die sich bislang selten gefürchtet hatte.

Im Fürstentum Yannadyr fluchte Borugar Yannaru, der Graf von Doranyr. Fürst Yarro brachte ihn und seine Krieger mit seinem Befehl um den wohlverdienten Triumph. Sie hatten gerade Weramul eingenommen, und nun sollten sie abziehen und die bedeutende Stadt anderen überlassen.

Auf dem Heimweg sah Borugar die Feldherren, die in der Gunst des Fürsten standen und die Beute, die ihm und seinen Leuten gebührte, an sich nehmen würden. Selten hatte er in so spöttische Mienen geblickt.

In einem Kerker der Gefangenenfestung von Werisar schlief die Tochter des siegreichen Grafen. Träume plagten sie: von ihrem Scheitern und dass sie vor sterbenden Kriegern ihres Volkes floh und diese ihr bluttriefend nachstellten. Sie lief direkt in die Arme der Familien der Krieger und erwachte von ihrem eigenen Schrei.

In der fernen Stadt Alvarudor warteten die Menschen auf die Ankunft eines Boten aus Albenmark. Das Elfenhaus war seit Generationen unbewohnt, und die Kammer der letzten Botin war seit damals versiegelt. Viele glaubten, die Elfenkönigin hätte sie vergessen. Und die Jünglinge bezweifelten sogar, dass es je eine Botin gegeben hatte.

Der König von Varmul

Nuramon ließ seinen Blick über das Land am Fuße der Syardoren schweifen. Ein Zelt mit hochgebundenen Außenplanen stand offen sichtbar auf einem Feld zwischen zwei Wäldern. Die Boten der beiden Seiten trafen sich dort. Während hier die grüne Fahne von Teredyr wehte, ragte weit jenseits des Zeltes das rote Banner der Varmulier aus den Ruinen der Stadt Barobyr.

Gut zwanzig Schritt hinter Nuramon, Gaeremul und Yangor, dem Stadtältesten von Teredyr, saß Bjoremul auf seinem Pferd. Seine Hände waren auf den Rücken gebunden, und die Krieger, die ihn umgaben, hielten ein wenig Abstand. Allein Nylma war stets an Bjoremuls Seite. Sie wäre gewiss lieber bei Yargir geblieben, der sich in Teredyr schonte, aber Gaeremul hatte ihr keine Wahl gelassen.

»So könnte es für uns enden«, sagte Yangor und schaute nach Barobyr hinüber. »Sie erobern Städte und lassen Ruinen zurück.«

Gaeremul, der mittlerweile abgestiegen war, wies auf den Boten, der sich auf den Rückweg zu ihnen machte, während der des Feindes nach Barobyr ritt. »Gleich wissen wir es«, sagte er. Der Bote, ein Jüngling namens Relegir, war Yangors Neffe und ähnelte dem Stadtältesten mit seinen buschigen Augenbrauen und dem spitzen Kinn.

»Nun?«, fragte Yangor, als Relegir sein Pferd vor ihm stoppte.

»König Mirugil selbst wird verhandeln«, sagte Relegir und blickte Nuramon an. »Er möchte den Alvaru sehen.«

»Gut«, sagte Yangor, blickte zurück zu den anderen Kriegern und rief: »Machen wir uns ans Werk!«

Nuramon, Yangor und Gaeremul ritten voraus, ihnen folgten Nylma und ein Dutzend Krieger, die Bjoremul in ihrer Mitte hielten. Relegir blieb mit den übrigen Gefährten zurück.

Die Varmulier brachten ihren Weg schneller hinter sich als Nuramon und die Teredyrer. Sie machten gut fünfzig Schritte vor dem Zelt halt und warteten ab. Als Nuramon und seine Gefährten auf die gleiche Distanz an das Zelt herangekommen waren, ließen sie ihre Pferde mit zwei Kriegern zurück und näherten sich den Varmuliern gemessenen Schrittes.

Schließlich standen die Anführer einander Auge in Auge vor dem Zelt gegenüber und musterten einander stumm. Je zwei Krieger machten sich daran, die Zeltplanen in Bahnen herabzulassen.

Nuramon betrachtete die Rüstungen der Varmulier. Sie waren aus Metall und ebenso wie die Waffen kunstvoll verziert. Bei jedem einzelnen Streiter dieses Gefolges mochte es sich um einen Wyrenar handeln. Auch der König selbst überraschte ihn – nicht wegen seiner Prunkrüstung, des schweren Mantels und des Strategenstabes, sondern wegen seiner Erscheinung selbst. Alle Erzählungen, die Nuramon von Mirugil kannte, ließen den König in einem düsteren Licht erscheinen, und so hatte er einen älteren, gesetzteren Mann erwartet. Stattdessen stand ihm ein Mann um die dreißig gegenüber, mit ebenen Zügen, dichtem braunem Haar, gestutztem Bart und einem Lächeln. Yangor passte mit seinem spitzen Kinn und den dichten, buschigen Brauen viel besser auf die Vorstellung, die sich Nuramon von dem varmulischen König gemacht hatte, als der Herrscher selbst.

Nuramon fiel auf, dass der König nicht blinzelte. Nicht während er Yangor musterte, nicht während er den Blick Nuramon zuwandte. Erst als er Luft holte, um zu sprechen, fächerten die Augenlider. »Sei gegrüßt, Yangor Yurgaru«, sagte er, und selbst seine Stimme klang wie die eines gütigen Herrschers.

»Willkommen in den Syardoren«, entgegnete Yangor.

König Mirugil grinste und wies auf den Eingang des Zeltes.

Im Innern bauten sich die Varmulier hinter ihrem Herrn am Ende eines roten Teppichs auf, der die Schlange Varmuls und den Kriegshammer der Königsfamilie zeigte. Die Teredyrer stellten sich mit ihrem Gefangenen auf der anderen Seite auf. Nuramon stand direkt zur Rechten Yangors.

»Ihr habt Geiseln, die mir am Herzen liegen«, sagte Mirugil schließlich. »Und nun seid ihr gekommen, um euer Pfand einzulösen.«

Yangor winkte Nylma zu sich, und die Kriegerin führte Bjoremul näher an die Versammlung heran. »Als Zeichen unseres Wohlwollens geben wir einen der beiden Wyrenar frei.«

»Das wissen wir zu schätzen«, sagte der König, während sich Nylma daran machte, Bjoremuls Fesseln zu lösen. Schließlich schnitt die Kriegerin sie durch und wich von dem Wyrenar zurück.

Bjoremul trat an die Seite seines Königs, und sie flüsterten miteinander. Zwei weitere Krieger steckten ihre Köpfe dazu. Je länger Mirugil lauschte, desto mehr breitete sich Verwunderung in seinem Gesicht aus. Immer öfter wanderte sein Blick dabei Nuramon entgegen, und seine Miene wurde ernst. Als sich Bjoremul schließlich von dem König löste und von einem Kameraden ein Schwert samt Scheide und Gürtel erhalten hatte, nahmen die beiden Anführer auf dem Teppich Platz, zwischen ihnen das Wappen des Königreichs.

»Du überraschst mich, Yangor«, sagte König Mirugil. »Man erzählte sich in Werisar von einem Zauberheiler, doch solche Gerüchte schwirren überall herum, ohne dass sie sich je als wahr herausstellen. Aber nun scheint deine Stadt auf einen Schlag mächtig geworden zu sein.«

»Ich hoffe lediglich, dass diese Macht reicht, um zu einer Einigung zu kommen«, entgegnete der Stadtälteste.

»Und wie sollte eine solche Einigung deiner Meinung nach aussehen? Wie könntet ihr sicher sein, dass ich euch nicht wieder heimsuche, wenn ich das habe, was ihr mir genommen habt?«

Yangor schwieg.

»Wir müssen also ein Abkommen finden, das mir meinen Neffen zurückgibt und euch zugleich genug Sicherheit gewährt.«

»Ich bin lange genug auf der Welt, um zu wissen, dass Fürsten und Könige sich nicht um die Sicherheit ihrer Feinde kümmern«, sagte Yangor. »Reden wir also geradeheraus. Wir haben deinen Neffen und werden ihn für ein Friedensabkommen freilassen. Als Entschädigung möchten wir sieben varmulische Kisten Gold.«

Mirugil lachte. »Mir scheint, mit meiner gespielten Fürsorge hättest du ein weit besseres Ergebnis erzielt. Ein Abkommen? Sieben Kisten Gold? Wenn es das ist, so werden wir uns einig.«

»Nicht so rasch.« Yangor hob die Hand. »Ich möchte noch eine Warnung aussprechen. Dieses Mal lassen wir euren Heerführer frei. Wer den nächsten Zug gegen uns führt, wird nicht auf so viel Gnade hoffen dürfen.«

Mirugil starrte Yangor lange an. Nach einem knappen Blick zu Nuramon sagte er: »Du verfügst nun über eine mächtige Spielfigur im großen Ahnenspiel. Du könntest den Alvaru in meine Dienste geben. Solange er mir folgt, hättet ihr von mir nichts zu befürchten.«

Auf Bjoremuls Gesicht legte sich ein Lächeln, doch Nuramon verzog keine Miene. Er respektierte den Wyrenar zwar, doch dessen Herrn konnte er nicht leiden.

Yangor schien zu überlegen. »Er soll es selbst entscheiden«, sagte der Stadtälteste schließlich und wandte sich Nuramon zu.

»Wie heißt du?«, fragte König Mirugil, ohne zu zögern.

»Nuramon.«

»Es heißt, die Alvaru hätten diesen Gefilden den Rücken gekehrt.«

Nuramon nickte. »Die Pforten nach Albenmark sind verschlossen. Ich bin das letzte Albenkind.«

»Das macht dich wertvoll.« Mirugil deutete auf Bjoremul. »An meiner Seite findest du Gefährten, die deiner würdig sind. Wenn dir die Teredyrer etwas bedeuten, dann schütze sie auch weiterhin. Schütze sie, indem du mir folgst.«

»Ich strebe nicht nach Höherem«, sagte Nuramon. »Ich habe lediglich geholfen. Und ich würde wieder helfen, wenn die Lage es erfordert.«

»Selbst gegen die Alvaru lassen sich Mittel und Wege finden.« Der varmulische König musterte ihn eindringlich.

Nuramon hielt seinem Blick stand. »Gewiss«, sagte er. »Niemand ist allmächtig. Aber ich habe schon immer Menschen bewundert, die um ihre Heimat kämpfen. Träte ich aber in deine Dienste, würde ich am Ende den Menschen anderer Siedlungen das antun, was du Teredyr antun wolltest.«

»Ich habe nichts anderes erwartet«, sagte Mirugil grinsend. »Aber ich musste es versuchen. Wärest du jedoch auf mein Angebot eingegangen, hättest du mich in einen schwierigen Konflikt gestürzt. Denn wie hätte ich dir erklären können, dass ich dich in meinen Dienst nehme und zugleich einen vollen Angriff auf Teredyr befohlen habe?«

Yangor und Gaeremul hielten den Atem an und starrten dem varmulischen König ausdruckslos entgegen. In den Mienen von Mirugils Gefolgsleuten las Nuramon Häme und das Gefühl der eigenen Überlegenheit. Bjoremul hingegen wirkte zutiefst überrascht.

»Ihr habt einen Angriff auf Teredyr befohlen?«, fragte Yangor. »Aber warum?«

Mirugil lachte. »Ganz einfach. Ich brauche eure Minen. Und ich brauche eure Waffen.«

»Hättest du die Waffen bezahlt, die wir für dich anfertigten, könntest du über sie verfügen.«

»Gewiss, aber mit dem Gold kaufe ich lieber Söldner im Osten. Die Yannadrier lassen mir keine Wahl. Ich brauche jedes Schwert, jede Mine, alles, was mich den Krieg im Westen gewinnen lässt. Wir haben lange darüber hinweggeschaut, dass eure Vorfahren einst die Krone verraten haben.«

»Wir sind aus der Unterdrückung geflohen und werden nie wieder dorthin zurückkehren.« Yangor verschränkte die Arme. »Selbst wenn ihr unsere Stadt einnehmen solltet: An die Minen werdet ihr nicht herankommen. Wozu also den Tod so vieler befehlen?«

Mirugil hob die Hand. »Es geht nicht mehr nur um die Minen. Die Nachricht von unserer Niederlage vor Teredyr verbreitet sich bereits. Folgt die Kunde unserer Rache nicht auf dem Fuße, wird man uns dies als Schwäche auslegen. Und das können wir uns in diesen Zeiten nicht leisten.«

Nuramon machte einen Schritt vor. Die Wachen des Königs zuckten, der Triumph wich aus ihren Gesichtern, und sie hielten die Schäfte ihrer Waffen fest umklammert. »Du schickst deine Krieger in den Tod, Mirugil«, sagte er. »Wir werden vor deinen Leuten in Teredyr sein. Ehe irgendein Feind die Stadt auch nur zu Gesicht bekommt, werden wir euren Nachschub abschneiden, nur um dann wieder zu verschwinden und eure Vorhut zu vernichten. Dein Heer wird blind sein und in eine Falle laufen.«

»So wäre es gewesen, wenn ich den Befehl zum Angriff erst jetzt geben würde.« Der König erhob sich langsam und musterte Nuramon mit seinen kühlen blauen Augen. »Tatsächlich aber schickte ich meine Krieger aus, ehe ich aus Werisar abreiste. Während wir hier reden, werden sie schon am Ziel sein. Und Tausende rücken nach. Ich hoffe, ihr habt euch die Ruinen von Barobyr gut angeschaut, denn dann wisst ihr, was euch bei eurer Heimkehr erwartet.«

»Du Schwein!«, brüllte Gaeremul und sprang auf. Auch Yangor erhob sich. »Ich habe dir vieles zugetraut, Mirugil«, sagte er, »aber nicht solche Niedertracht.«

Ein Hornsignal drang von draußen herein. Es war der Ruf von Relegir, dem Teredyrer Boten und Neffen Yangors. Als hätte Mirugil auf dieses Zeichen gewartet, nickte er einem glatzköpfigen Krieger aus seiner Schar zu. Dieser zückte sein Schwert und sprang vor. Auch Nuramon zog seine Waffe, ließ die Klinge des Feindes an seiner Schneide zu Boden gleiten und versetzte dem Krieger einen Tritt, der ihn vor die Füße seines Herrn beförderte. Zwei Kämpfer bauten sich vor Mirugil und dem Gestürzten auf. Aus den Augenwinkeln bemerkte Nuramon, wie Nylma Yangor durch den Ausgang nach draußen führte.

»Tötet sie alle«, sagte Mirugil ruhig. Noch immer lag kein Zorn in seiner Miene, sondern nur Zufriedenheit. Mit einem Mal aber erstarb jeder Ausdruck im Gesicht des Königs. Seine Haut wirkte grau, als passe sie sich binnen eines Augenblicks der Farbe des Schwertes an, das nun unter seinem Kinn lag und sich eng an seinen Hals schmiegte.

Es war Bjoremul, der seinem Herrn mit der Waffe drohte. »Schön ruhig bleiben«, sagte der Wyrenar, und tatsächlich wichen die Varmulier zurück. Nur einer der hochgewachsenen Krieger trat vor, den schweren Kriegshammer zum Angriff bereit.

»Runter damit, Rayagor!«, sprach der König mit zitternder Stimme.

Die varmulischen Krieger ließen ihre Waffen fallen, und Bjoremul zwang den König aufzustehen und bewegte sich rückwärts auf die Teredyrer zu. Er wandte den Blick nicht von den Kriegern des Königs ab. Als er Nuramon erreicht hatte, sagte er: »Es tut mir leid, Alvaru. Das habe ich nicht gewusst.«

»Dann gehen wir jetzt?«, fragte Nuramon.

Bjoremul nickte. Sein Schwert ruhte noch immer an der Kehle seines Herrn.

»Das ist Verrat, Bjoremul«, sagte Mirugil, als sie ins Freie traten. »Das wirst du bereuen! Meine Leute werden nicht ruhen, bis sie dich gefunden und getötet haben!«

Doch der Wyrenar antwortete dem König nicht, sondern trieb ihn vor sich her. Nuramon schaute zurück und sah die varmulischen Reiter, die sich von Barobyr aus näherten, während Mirugils Leibwächter mit gezückten Waffen aus dem Zelt gelaufen kamen und bei ihren Pferden Stellung bezogen, es aber nicht wagten anzugreifen.

»Du hast sie überrascht, Bjoremul«, sagte Nuramon lächelnd. »Und mich ebenfalls.«

»Ich habe mich selbst überrascht«, entgegnete der Wyrenar.

»Wie überrascht du später erst sein wirst!«, sprach der König, in dessen Antlitz Zorn und Verzweiflung um die Oberhand rangen.

Als sie die Pferde erreicht hatten, ließ Bjoremul sein Schwert in die Scheide gleiten, packte den König bei den Schultern und wandte ihn zu sich um. »Dein Neffe ist mein Herr, Mirugil! Was glaubst du, wird geschehen, wenn die Teredyrer unsere Banner vor ihrer Stadt sehen? Was werden sie wohl mit Varramil und mit Dorgal tun? Hast du in deiner Machtgier auch nur einen Gedanken daran verschwendet?«

Die Teredyrer saßen bereits in ihren Sätteln. Nur Nuramon stand noch bei Bjoremul und wartete ebenso wie dieser auf eine Antwort, doch der varmulische König schwieg.

»Geh, Mirugil«, sagte Bjoremul schließlich leise und schob den König in Richtung des Zeltes.

»Warte!«, rief Gaeremul. »Der ist unser Gefangener!« Doch Yangor hob die Hand. »Lass gut sein, Gaeremul.« Dann warf der Stadtälteste Bjoremul einen anerkennenden Blick zu und wandte sich an Mirugil. »Verschwinde!«, sagte er verächtlich.

Der König stolperte einige Schritte rückwärts von den Teredyrern fort. »Ihr werdet es noch bereuen, mich laufen gelassen zu haben«, brüllte er mit hassverzerrter Miene.

»Das solltest du erst dann sagen, wenn unsere Pfeile dich nicht mehr treffen können«, erwiderte Gaeremul und wies auf die Reiter um Relegir, den Hornbläser, die mittlerweile zu den Teredyrern aufgeschlossen hatten. Auch Nylma war bei ihnen und brachte Bjoremul das Pferd, auf dem er als Gefangener gekommen war und auf dem er sie nun als Gefährte zurückbegleiten würde. »Willkommen in unseren Reihen«, sagte die Kriegerin.

Bjoremul lächelte gequält und stieg in den Sattel. Dann gaben sie ihren Pferden die Sporen, und noch ehe der varmulische König mit seinen Kriegern vereint war, erreichten Nuramon, Bjoremul und die Teredyrer das schützende Blätterdach des Waldes.

Orakelblick

Werengol, der Sohn Yangors, stand auf der Südmauer von Teredyr, blickte besorgt über die Felder gen Süden und hielt nach den beiden Spähern Ausschau.

»Sollen wir die Leute lieber wieder ins Hochtal schicken?«, fragte Yargir in die Runde der Krieger.

»Nicht bei jeder Kleinigkeit«, sagte Werengol.

Kurz darauf bewegte sich etwas am Waldrand. Da ritten die beiden Späher, die er ausgesandt hatte. Hinter ihnen stieß eine ganze Schar Reiter zwischen den Bäumen hervor. Aus ihrer Mitte ragte das varmulische Banner heraus.

»König Mirugil hat uns verraten«, erklärte Yargir und schlug mit der Faust auf die Zinne.

Der Morgen hatte für Byrr, den Heiler des Minendorfes im Hochtal, gut begonnen. Die meisten Familien waren nun wieder unten in der Stadt. Doch am Mittag kehrten die Ersten in wilder Hysterie zurück. »Die Varmulier!«, riefen sie.

Die Verletzten ließen nicht lange auf sich warten.

Die Kriegerin Murna bezog mit dreißig Kämpfern an der Oststraße Stellung. Sie wandte sich immer wieder zu den Familien der Bauern um. Sie liefen dem Wald entgegen. Nur noch ein wenig, und Murna könnte ihre Stellung aufgeben. Da kehrten die varmulischen Reiter zurück. Die erste Schar machte einen Bogen um sie; erst die zweite hielt auf sie zu. Ein Stoß von rechts, einer von links, und Murna hatte das Gefühl, nicht die Waffen der Feinde, sondern die Pferde hätten sie niedergestreckt. Sie dachte an ihre beiden Söhne, die bereits im Wald verschwunden waren und betete zu ihrer Ahnin Werimi, sie möge ihre Kinder und all die anderen retten, die auf der Flucht waren. Schließlich wurde es still und dunkel um Murna herum.

Gorulgir zog sich mit seinen Freunden an den einzigen Ort zurück, der ihnen blieb: ins Dornengestrüpp, das im Stadtgraben wucherte. Es waren Tunnelgänge, welche die Kinder angelegt hatten. Die Dornen stachen und ritzten ihre Haut, doch lieber das, als im Schwert oder im Speer eines Varmuliers zu enden. Die Feinde schossen Pfeile in den Graben herab. So harrte Gorulgir mit seinen Gefährten aus und ließ die Geschosse vorbeizischen. Dann war es still – bis die Varmulier Feuer legten.