Das Erbe der Elfenmagierin - James A. Sullivan - E-Book
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Das Erbe der Elfenmagierin E-Book

James A. Sullivan

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Beschreibung

Gemeinsam mit Bernhard Hennen schrieb James A. Sullivan einen der erfolgreichsten deutschen Fantasy-Romane: »Die Elfen«. Mit der vorliegenden High-Fantasy-Dilogie kehrt er nun in sein Heimatgenre zurück. Sullivans elfischer Protagonist, Ardoas, trägt die Seele und die Erinnerungen der legendären Magierin Naromee in sich – und damit eine schwere Bestimmung: Nur er soll in der Lage sein, seinem Volk die vor langer Zeit gestohlene Seelenmagie zurückzubringen. Helfen soll ihm ein mysteriöses Orakel, das jedoch spurlos verschwunden scheint – und mächtige Feinde sind ihm auf den Fersen. Zahlreiche Gefahren lauern auf dem Weg zum Felsentempel von Beskadur, wo sich Ardoasʼ Schicksal entscheidet. Der erste Band des Zweiteilers »Die Chroniken von Beskadur«: Ein fantastisches Abenteuer, das die klassische High Fantasy neu denkt.

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© Piper Verlag GmbH, München 2021

Karte: Matthias Rothenaicher

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Guter Punkt, München

Covermotiv: Guter Punkt, München, Stephanie Gauger unter Verwendung von Motiven von Getty Images

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Inhalt

Cover & Impressum

Widmung

Karte

Naromee

Ardoas

Abschiede

Für Heike

Dank den Vögten

Im Gedenken an

Gisela Sullivan

Naromee

»Wir wandern von Welt zu Welt und haben gelernt, einander zu vertrauen. Was uns das Überleben sicherte, war das Überprüfen dessen, was uns an die Vergangenheit knüpfte. Wir trugen das weiter, was uns auf unserem Weg nützte, unseren Zusammenhalt stärkte und uns auf das Neue vorbereitete. Nur deswegen konnten wir die Qualen der letzten Welt überstehen, die wir nach einem ersten Eindruck voreilig Alvasur nannten – die Zuflucht der Alben. Doch dort wurden wir nach langer Zeit wieder zu Gejagten. Drachen verheerten das Land, und alle dachten, unsere Anwesenheit hätte jene Wesen entfesselt, die in manchen Welten weise Kreaturen sind, in anderen jedoch kaum mehr als Bestien. Hätten wir nicht das Tor in diese Welt gefunden, die Reise unserer Gemeinschaft wäre wahrscheinlich zu einem endgültigen Ende gekommen.

Wir erschienen an dem Hügel, den wir Derothur nennen – den Hügel der Ankunft. Diese Welt, für die ihr in eurer Sprache keinen richtigen Namen habt, nennen wir Alvaredur – den Pass der Alben. Aus diesem Namen spricht unsere Vorsicht. Doch diese Welt ist die ungleiche Schwester Alvasurs. Mit der Zeit merkten wir, dass wir hier sicher sind.

Nach dem, was Alvasur mir alles genommen hat, liebe ich Alvaredur und möchte mehr darüber wissen, was abseits unserer Siedlungen liegt. Deswegen möchte ich von eurer Magie lernen und etwas über eure Seelen erfahren. […] Ich bin eine Seelenmagierin und vermag die Erinnerung längst vergessener Personen heraufzubeschwören. So geht das Wissen unserer Kultur nicht verloren. Ich kann durch die Sinne meiner eigenen Ahnen schauen, als begleitete ich sie durch ihre längst vergangenen Leben. Und weil wir in den zurückliegenden Welten immer wieder Wesen wie euch gesehen haben und wir daran glauben, dass die Welten und alles Leben darin miteinander verwandt sind, möchte ich ergründen, ob eure Seelen das gleiche Wechselspiel zwischen Leben und Tod spielen wie die unseren. Tauschen wir also Wissen gegen Wissen! Das ist mein Angebot an euch.«

Zitat aus der Quellenbibliothek von Beskadur. Band 2, folio 25 recto bis 28 verso.

Ardoas

In der Elfensiedlung Ilbengrund gab es an diesem Feiertag nur ein Haus, in dem Ruhe herrschte. Es fügte sich zwischen den Fürstenpalast und den Turm der Gelehrten. Manche nannten es das schmale Haus, andere bezeichneten es als das Haus der Inkarnationen, für die meisten aber war es das Haus der Naromee – das Haus der Magierin, die vor mehr als zweitausend Jahren in der Fremde starb und in immer neuen Inkarnationen wiedergeboren wurde.

Zwischen den beiden hohen und prachtvollen Gebäuden wirkte das schmale Haus mit seinen drei Stockwerken, der zerfurchten Borkenfassade, dem tief gezogenen Schilfdach und den geschlossenen Fensterläden unscheinbar – als wollte es nicht mehr Aufmerksamkeit als nötig auf sich ziehen. Dabei war es an diesem Tag das wichtigste Gebäude der Siedlung.

Die Elfen von Ilbengrund feierten das Fest der Naromee. Da der Geburtstag der legendären Zauberin nicht in den Chroniken verzeichnet war und jene, die damals schon am Leben gewesen waren, sich nicht des Datums erinnerten, ehrte man Naromee an dem Geburtstag ihrer jeweiligen Inkarnation. In diesen Jahren – am neunundzwanzigsten Tag des fünften Mondes – war es der Geburtstag des Elfen Ardoas. An diesem Tag war es jedoch keine gewöhnliche Feier, denn Ardoas wurde zweiunddreißig Jahre alt und galt damit als erwachsen.

In der dritten Etage, direkt unter dem Dach, zwischen Schränken, Truhen und Büchern, betrachtete Ardoas an diesem Morgen das große Gemälde, das Naromee zeigte. Sie hatte kaum Ähnlichkeit mit ihm, denn sie war blass, er hingegen hatte braune Haut; sie hatte längere und spitzere Ohren als er; ihre Augen waren blau, die seinen dunkelbraun. Zwar hatten sie beide dunkles Haar, aber ihres, das fast bis zu den Hüften reichte, war glatt, seines war lockig. Auf dem Gemälde trug Naromee ein traditionelles Gewand einer Elfe aus Alvasur – blau, mit einem weiten Rock, aus dem ihr rechtes Bein zum Teil herausschaute und den magischen Teil ihres Unterschenkels zeigte. Das Segment wirkte wie ein lang gezogener Stein, der mit der Haut oberhalb und unterhalb verwachsen war. Der Sage nach hatte ein Drache Naromee verletzt, und sie war nur knapp mit dem Leben davongekommen.

Ardoas hatte die Geschichten von Naromees Abenteuern als Kind gerne gehört: wie sie in Alvasur zur Heldin geworden war, hier in Alvaredur für eine Weile mit ihrer Geliebten – der Kriegerin Nyra – zur Fürstin von Ilbengrund gewählt wurde, dann aber die Würde vorzeitig an den Rat zurückgegeben hatte, nachdem Nyra am Glanzfieber hatte sterben müssen, kurz bevor ein Heilmittel gefunden war.

Nach der Zerstörung der Siedlung Nalmenhain, deren Hintergründe nie aufgeklärt wurden, kehrte Naromee den Elfengefilden den Rücken. In den meisten Sagen hieß es, sie wäre der Spur der Täter in die Fremde gefolgt, um Rache zu nehmen. Niemand kannte die Wahrheit. Nur er selbst wusste es, denn irgendwo tief in ihm verborgen lag die Antwort. Was immer in der Fremde geschehen war – Naromee hatte dort den Tod gefunden, wie all ihre Inkarnationen nach ihr, wie alle, die Ardoas vorausgegangen waren.

Je öfter er die Geschichten von Naromees Abenteuern als Kind vernommen hatte, umso deutlicher hatte er verstanden, was sie ihm sagen sollten: Wage dich nicht in die Fremde! Verweile in sicheren Gefilden!

Von alten Zweifeln bewegt, wandte Ardoas sich von dem Gemälde Naromees ab. Vordergründig war er auf das vorbereitet, was ihn an diesem Tag erwartete. Er trug sein edelstes Gewand und war ausnahmsweise ausgeschlafen. Aber wie es Tradition war, wusste er nichts von dem, was vor seiner Tür geschah.

Über die Wendeltreppe im hinteren Teil des Hauses stieg er in den zweiten Stock hinunter. Zur Linken blickte er im Vorbeigehen durch die sechs offenen Türen in die kleinen Kammern, in denen die Schriften und einige Habseligkeiten seiner früheren Leben zu finden waren. Die siebte Tür und die drei, die folgten, waren geschlossen. Sie waren für ihn und die Inkarnationen gedacht, die nach ihm kommen mochten. Die Zimmer waren Mahnmale des Versagens.

Über die vordere Wendeltreppe gelangte er in den ersten Stock und passierte seinen Schlafbereich. Im Erdgeschoss angekommen, verharrte Ardoas lauschend. Harfen und Trommeln probten draußen gegeneinander, und der Chor mischte sich ein, als wollte er zwischen ihnen vermitteln.

Ardoas ging nach hinten in seine Studiernische und ließ seinen Blick über die Landkarte wandern, die über dem glatten Lesetisch hing – die Karte einer Welt, die er nicht näher kennenlernen würde, solange er die Erinnerung an Naromees Leben nicht zurückgewonnen hatte.

Bei der Frage, welche Veränderung er sich anlässlich seiner Volljährigkeit wünschte, war er nicht weitergekommen. Die Zwänge, denen er unterworfen war, ließen ihm nur wenige Möglichkeiten. Zu viel hing davon ab, dass er sein Ziel erreichte – die Erinnerung an Naromees Leben zu finden, ihr Wissen zu enträtseln und der Gemeinschaft zur Verfügung zu stellen. Sollte er auch in dieser Inkarnation zu früh den Tod finden, müssten alle Mühen wieder von vorne beginnen. All das, was die Gemeinschaft ihm gewährt hatte, würden sie der nächsten Inkarnation erneut gewähren müssen.

Es klopfte an der Verbindungstür zum Palast, und Ardoas fragte sich, wen seine Eltern – der Tradition folgend – zu ihm schickten, um ihn abzuholen. Er öffnete und erstarrte vor Überraschung beim Anblick der Frau, die dort auf dem hell erleuchteten Palastgang stand.

Er hätte mit vielen gerechnet: mit seinem Bruder Lydon, seiner Schwertlehrerin Xidasara und seinem Sprachenlehrer Uldoril, aber vor ihm stand Zordura – seine Tante, die Schwester seines Vaters, die in manchen seiner früheren Leben seine Lehrmeisterin gewesen war, in einem sogar seine Mutter.

Das letzte Mal hatte er sie vor genau vierzehn Jahren gesehen. Damals war sie so dünn gewesen, dass viele sich um ihre Gesundheit gesorgt hatten. Doch nun wirkte sie wohlgenährt. Sie hatte ein fülligeres Gesicht bekommen, und ihre dunkelbraune Haut wirkte nicht mehr ausgetrocknet, sondern glänzte. Ihre Ohren waren – wie die seines Vaters und seine eigenen – für Elfenohren klein und stachen kaum aus ihren dunklen Locken hervor.

»Du?«, sagte Ardoas leise und bat sie herein.

Zorduras Lächeln wirkte gelöst und schwankte nicht wie bei ihrer letzten Begegnung zwischen besorgt und gequält hin und her. Mit ihrem unverkennbaren Singsang, den hier in Ilbengrund fast nur noch die ältesten Elfen pflegten, sagte sie: »Alles Gute, mein lieber Ardoas«, dann trat sie ein. »Damit hast du nicht gerechnet, nicht wahr?«

»Dass du Derothur meinetwegen verlassen würdest? Nein.« Seine Tante lebte als Einsiedlerin auf dem Hügel Derothur, dem Hügel der Ankunft. Dort hatten Elfen, Zwerge und die Feenwesen auf ihrer langen Reise ein magisches Portal aus der vorigen Welt in diese durchschritten – von Alvasur nach Alvaredur.

»Du hast dich kaum verändert.« Zordura musterte Ardoas von oben bis unten.

»Es ist eine Weile her«, entgegnete er.

Zordura lachte. »Du darfst ruhig sagen, dass ich mich verändert habe. Als wir uns das letzte Mal sahen, war ich krank. Ich musste mich zurückhalten, um all die köstlichen Speisen nicht in mich reinzustopfen.«

»Nun siehst du gesund aus.«

»Nur für deinen Blick. Ich bin mir sicher, die anderen hier tuscheln bereits darüber, dass ich mich auf einen gewaltigen Zauber vorbereite, der an meinem Körper nagen wird, und ich deswegen ein bisschen dicker bin. Aber du? Du hast ein gutes Auge. Du siehst, dass ich mich einfach wohlfühle.« Sie breitete die Arme aus, und er zögerte nicht und drückte Zordura an sich.

»Ich habe dich vermisst«, sagte er, nachdem er sich von ihr gelöst hatte und ihr in ihre braunen Augen schaute. »Jeden Moment von damals habe ich in Erinnerung behalten. Das hat sich tiefer eingeprägt als manche Jahre, die ich hier in Eintönigkeit verbrachte.«

Sie strich ihm sanft über die Wange. »Du wirst hier von den Besten unterwiesen. Eine solche Ausbildung hätte ich mir in deinem Alter gewünscht.«

»Aber was nützt es, Sprachen zu lernen, die ich nie anwenden kann; meine Kampfkünste zu verfeinern, wenn ich nie kämpfen werde? Selbst das Bogenschießen habe ich gelernt, obwohl ich nie hinaus auf die Jagd gehe. Wozu all das Wissen über eine Welt, die ich nie erkunden werde?«

»Deine Eltern wollen dich schützen«, erwiderte Zordura. »Glaub mir, wir alle haben viel zu oft erlebt, dass deine Seele wiedergeboren wurde. Und dennoch glauben wir an dich.«

»Ja. Aber statt mich der Erinnerung näher zu bringen, erinnert es mich nur an das, was ich niemals haben werde. Sie trösten mich, indem sie die Wunde offen halten.«

»Hast du mit ihnen darüber gesprochen?«

»Sie meinen, ich müsste auf alles vorbereitet sein. Falls etwas Unvorhergesehenes passiert.«

Zordura grinste. »Oder aber etwas Vorhersehbares: dass es dich auch in diesem Leben in die Fremde zieht.«

»Mein Scheitern scheint bereits eine abgemachte Sache zu sein. Sie zweifeln an mir.«

Zordura biss sich auf die Lippen, holte tief Luft und sagte: »Du bist es, der hier zweifelt: an den Absichten jener, die dich lieben. Deine Eltern hoffen, dass die Dinge, die du lernst, deine Erinnerung wecken. Sie wollen nur, dass du allem auf Elfenweise begegnest.«

Auf Elfenweise! Das hieß, Dinge anzustoßen, ihnen Zeit zur Entfaltung zu lassen, während man mit der Zuversicht weiterlebte, irgendwann das Ziel zu erkennen und es schließlich zu erreichen. Auf Elfenweise zu zweifeln hieß, das eigene Scheitern kommen zu sehen.

»Ich wünschte, du wärest meine Lehrmeisterin geworden«, sagte Ardoas.

»Auf gewisse Weise war ich dir eine Lehrmeisterin. Oder willst du sagen, du hast die Aufgaben, die ich dir gestellt habe, nicht erledigt?«

Ardoas musste grinsen. Sie hatte ihn damit beauftragt, eine Liste von Recherchen abzuarbeiten: Personen, Orte und Ereignisse. »Ich habe alles erfüllt. Aber das ist es ja. Auch deine Fragen zielten auf Dinge außerhalb unserer Gefilde ab. Das Schicksal irgendeines Magiers, die Geschichte irgendeines Ortes. Ich habe unzählige Reiseberichte gelesen – mit der Gewissheit, dass ich diese Reisen niemals selbst nachvollziehen werde.«

»Du hast gelernt, dass die Schriften derer, die auf Reisen gingen, dir zur Reise werden können.«

»Das ist wahr. Und ich muss zugeben, dass deine Aufgaben reizvoller waren als das meiste, das ich hier lernte. Es hatte keinen Bezug zu meinem Leben. Es hat mir so gut gefallen, dass ich mir oft gewünscht habe, meine Eltern hätten mich damals mit dir nach Derothur geschickt.«

Zordura lachte leise. »Das hätte dich zu nahe an die Außenwelt geführt – zu nahe an die Gefahr, die dir immer wieder das Leben nahm. Du hättest aus dem Fenster geschaut und mitten im Flusstal Vaalburg gesehen. Und der Anblick der Stadt hätte vielleicht Sehnsüchte geweckt. Dem wollten dich deine Eltern sicherlich nicht aussetzen.«

»Ich glaube, hätten sie mich damals mit dir gehen lassen, hätte ich mehr aus diesen Jahren gemacht. Aber ich freue mich, dass sie dich geschickt haben, um mir die Fragen zu stellen.«

Zordura tippte sich gegen die Stirn, als wäre es eine Zaubergeste. »Ja, die Fragen! Die Zeremonie muss natürlich ihren Lauf nehmen. Aber möchtest du wirklich, dass ich dich zum Schein prüfe und sage: Du bist ein großer Heilzauberer und ein Seher der magischen Flüsse? Wäre es nicht besser, dir eine Frage zu stellen, deren Antwort du nicht vorher schon kennst?«

»Das wäre mir wahrhaftig lieber«, sagte Ardoas.

»Nun, dann …« Sie nahm eine gerade Haltung ein und sagte mit übertriebener Stimme: »Ardoas der Zweite, Sohn der Elwaree und des Yordoas, die siebte Inkarnation Naromees! Nur eine Frage musst du mir beantworten: Was kann ich dazu beitragen, dass du auf deinem Weg vorankommst?«

Ardoas überraschte diese Frage, die nicht weiter vom Zeremoniell hätte abweichen können. Tatsächlich hätte Zordura Stück um Stück seine Bildung abfragen müssen, um am Ende festzustellen, dass er mündig war. Er überlegte nur kurz und sagte: »Hilfst du mir, die Zweifel loszuwerden?«

»Aber natürlich«, antwortete Zordura mit sorgenvoller Miene. »Ist etwa das geschehen, was ich befürchtet habe?«

Ardoas nickte langsam. »Die Frage, ob die Zuneigung der anderen mir gilt oder aber jenen, die vor mir kamen, war Nahrung für all meine Zweifel.«

»Es ist nicht leicht, eine Last wie die deine zu tragen. Die anderen sehen dich, aber sie wollen vielleicht jemand anders sehen: die anderen Ardoasse, die anderen Ardoanas, die anderen Ardowyns. Sie erkennen nicht, dass sie alle in dir weiterleben.«

»Aber wie sollen sie das erkennen, wenn ich selbst noch nicht fühle, was ich in früheren Leben gefühlt habe? Freundschaft, Liebe – das alles ist vergessen. Und wenn ich ihre Blicke bemerke, habe ich oft das Gefühl, nachlässig zu sein.«

»Aber du bist es nicht. Noch kann niemand das nachfühlen, was du fühlst. Wenn du deine Erinnerung findest und wir durch Naromees Erbe wieder lernen, auch bei anderen zu entdecken, wessen Inkarnationen sie sind, dann wirst du mit deiner Erfahrung nicht mehr einsam sein.«

»Das habe ich nie verstanden. Warum kann die Magie meiner Eltern von allen immer nur Naromees Seele erkennen?«

»Die Frage hast du mir als Kind schon einmal gestellt.«

»Das habe ich vergessen«, sagte er und fragte sich, wie er sich der früheren Leben erinnern sollte, wenn er schon in diesem Leben so vergesslich war. »Was hast du geantwortet?«

»Damals sagte ich nur, es habe vermutlich damit zu tun, dass Naromee die Großtante deines Vaters ist. Nun aber füge ich hinzu, dass es nicht allein an der Verwandtschaft liegen kann, denn es erklärt nicht, warum deine Mutter Naromees Seele spüren kann.«

»Vater meint, es könnte daran liegen, dass es in früheren Generationen eine Verwandtschaft gibt.«

»Sicherlich. Aber ich glaube, es hat weniger mit deinen Eltern als mit Naromee zu tun.« Zordura legte ihm ihre Hand auf die Brust. »Irgendwas in dir – irgendetwas an Naromees Seele – spricht zu deinen Eltern. In einigen deiner früheren Leben habe ich mit dir nach einer Antwort gesucht, aber wir kamen nicht weit.« Sie zog ihre Hand langsam zurück.

»Wir könnten es noch einmal versuchen«, sagte Ardoas.

»Glaubst du, deine Eltern würden zulassen, dass du mit mir nach Derothur gehst?«

»Du könntest sie bitten.«

»Ich könnte. Aber damit würde ich wahrscheinlich ihr Misstrauen wecken.«

»Wenn sie wirklich misstrauisch wären, hätten sie dich nicht zu mir geschickt.«

»Nun gut, ich werde mit ihnen reden, denn ich wäre gerne noch einmal deine Lehrmeisterin.« Zordura schaute sich im Raum um. »Aber bist du sicher, dass du dein Leben hier zwischen Turm und Palast eintauschen möchtest gegen das Leben in einer Steinhöhle auf einem Hügel abseits von allem? Am Ende könntest du feststellen, dass du die Enge hier gegen eine noch viel schlimmere eingetauscht hast?«

»Das hier ist die schlimmere. Ich übe das Leben, ohne selbst je zu leben.«

Zordura wies zur Tür, und es wirkte wieder einmal wie eine magische Geste. »Da draußen ist das Leben. Sie alle sind deinetwegen gekommen. Genieße es! Und dann höre dir an, was deine Eltern zu sagen haben. Du weißt, dass du dich ihrem Willen auch widersetzen darfst.«

»Für mich gilt das nicht. Ich werde immer mit der Stimme der Gemeinschaft in diese oder jene Richtung gedrängt, weil wieder einmal alles verloren wäre, würde ich auch diesmal ums Leben kommen.«

»Du schuldest ihnen keinen Gehorsam, nur weil sie dir auf deinem Weg geholfen haben. Sobald du Naromees Erinnerung wiedergewonnen hast, wird all das, was sie gewährt haben, nicht das aufwiegen können, was du ihnen – uns allen – zurückgeben wirst.« Zordura fasste ihn an den Schultern. »Und nun komm!« Sie führte ihn zur Haustür. »Merkst du, wie still sie da draußen geworden sind?«

Zordura schob den glatten Holzknauf zur Seite. Damit war der Riegel gelöst, und sie zog die Tür auf.

Noch ehe Ardoas jemanden sehen konnte, erhob sich auf dem Platz Jubel, und die Trommeln setzten ein. Zordura ging voraus, trat zur Seite und öffnete damit Ardoas’ Blick auf all jene, die sich hier auf dem Platz versammelt hatten. An allen Fenstern ringsum waren Elfen zu sehen. Sie winkten, riefen seinen Namen und beglückwünschten ihn. Sogar die Feen, die selten ihre winzigen Häuser in den Birken am Rande der Siedlung verließen, flatterten mit glänzenden Flügeln über den Köpfen der Elfen.

An Zorduras Seite trat Ardoas aus dem Schatten des Daches hinaus. Zu seiner Linken, auf dem unteren Balkon des blassen Palasts, setzte der Chor von Ilbengrund ein. Sie sangen das Lied der Naromee, das auf der Sage der Zauberin basierte.

Auf einem weiteren Balkon über dem Chor standen Ardoas’ Eltern und sein Bruder. Während sein Vater ein helles Magiergewand aus der alten Welt trug, das sich deutlich von seinem schwarzen Haar und seiner braunen Haut abhob, war seine Mutter in die schwarz getünchte Rüstung einer Portalwache gekleidet, von der sich ihrerseits ihr blondes Haar und ihre helle Haut absetzten. Ihre Eltern spielten wieder einmal mit Kontrasten. Hier der Magier, dort die Kriegerin. Hier der Stabträger, dort die Schwertträgerin. Beide lächelten, und es war eine willkommene Abwechslung, einmal nicht Sorge in ihren Mienen zu finden.

Ardoas’ Bruder – Lydon – trug ein graues Gelehrtengewand und wirkte gelangweilt. Wahrscheinlich war er mit seinen Gedanken wieder bei seinen Arbeiten, bei denen sich Handwerk und Magie verbanden. So wie Ardoas in einer Welt aus Schriften und Erinnerungen lebte, so hatte sich Lydon seinen Erfindungen gewidmet. Man erwartete von Ardoas, dass er eines fernen Tages das Erbe seiner Eltern antrat und sich um den Fürstenthron bemühte – etwas, das ihm grundsätzlich zuwider war. Obwohl der Thron längst nicht mehr vererbt, sondern durch eine Wahl verliehen wurde, hatten Ardoas’ Eltern befürchtet, es könnte zu Streitereien zwischen ihm und Lydon kommen. Dabei überschätzten sie aber sowohl seine als auch Lydons Ambitionen.

Lydon war erst zweiundzwanzig und hatte kein Interesse daran, Verantwortung zu übernehmen. Und er war offensichtlich ebenso wenig daran interessiert, hier auf dem Fest mehr Zeit zu verbringen als nötig. Vermutlich träumte er wie sonst auch davon, sein Flugschiff zu vollenden, das er in Anlehnung an die legendären Schiffe des Königreichs Ioderon bauen wollte. Nachdem Ardoas aber Lydon und auch seinen Eltern zugewinkt hatte, breitete sich ein Lächeln auf dem Gesicht seines Bruders aus. Das freute Ardoas, denn er sah Lydon viel zu selten lächeln.

Zordura führte Ardoas auf den Platz hinaus, und die Gäste strebten ihnen ihrerseits entgegen. Sie strichen ihm über Hände, Arme und Schultern, einige wenige über die Wangen, manche umarmten ihn. So viel Zuneigung zu spüren war Ardoas zwar nicht fremd, aber er hatte es lange nicht mehr genossen. Er war sich jedoch nicht sicher, wie viel dieser Zuneigung echte Gefühlsäußerung und wie viel Zeremonie war.

Gesandte aus Feenwalden und Nalmenhain waren gekommen, den beiden anderen Elfensiedlungen des Ostens – und aus Blauensee, der größten Elfensiedlung des fernen Westens. Am beeindruckendsten fand er aber die drei Zwerge, die aus dem Reich unter dem Berg gekommen waren, um ihm Ehre zu erweisen. Sie hielten Abstand, doch auf dem Gesicht ihres Anführers konnte Ardoas trotz des langen Bartes ein Lächeln ablesen. Er nickte grüßend, und Ardoas nickte zurück.

»Das ist Glosstor«, flüsterte Zordura ihm ins Ohr.

Glosstor war ein Berater des Zwergenkönigs. In früheren Inkarnationen hatte Ardoas den Zauberer kennengelernt und in den jeweiligen Schriften von ihm berichtet.

»Ardoas«, sagte jemand neben ihm. Er wandte sich zur Seite, und an ihren blauen Augen erkannte er die Elfe Velbaree, die er in seinem letzten Leben, als er eine Frau gewesen war, geliebt hatte. Ihr schwarzes Haar, das ihr bei ihrer letzten Begegnung in diesem Leben bis zu den Hüften gereicht hatte, fiel ihr nun nicht einmal bis auf die Schultern. Auf ihrem blassen Gesicht konnte er noch immer die Unzufriedenheit ablesen, die seine Nähe offenbar in ihr weckte. Anders als damals war sie heute nicht komplett in Rüstung. Eine waldfarbene Lederrüstung bildete das Oberteil, statt Hosen trug sie einen faltigen Rock, der an den einer Harfenspielerin erinnerte. Diese Kombination aus Kriegerin und Künstlerin berührte Ardoas, und wieder einmal schämte er sich. Sie trug diese Kleidung schließlich nicht seinetwegen; sie trug sie, um zu zeigen, wer sie war.

Velbaree stammte zwar aus Ilbengrund, lebte aber inzwischen in Nalmenhain. In seinem letzten Leben hatte nicht nur Velbaree ihn geliebt, sondern er hatte – als Ardoana III. – auch sie geliebt.

»Glückwunsch«, sagte sie in einem unverfänglichen Ton, der weniger zu der Kriegerin passte, die weithin für ihre Fähigkeiten gerühmt wurde, als zu der Handwerkerin, die für ihre kunstvoll gefertigten Waffen und Rüstungen bekannt war.

Ardoas bedankte sich, dass sie gekommen war; ehe er Weiteres sagen konnte, hatte sie sich jedoch bereits zurückgezogen, um neuen Gästen Raum zu gewähren. Er hatte das Gefühl, nicht genug getan zu haben, um das Verhältnis zwischen ihm und Velbaree zu entlasten. Doch der Überschwang, mit dem die Glückwünsche der anderen sich fortsetzten, lenkten ihn ab.

»Wer soll die Ehrenplätze an deiner Seite einnehmen?«, fragte ihn Zordura.

Er hatte völlig vergessen, sich Gedanken darüber zu machen, wer zu seiner Linken und zu seiner Rechten sitzen sollte. Da so viele Blicke auf ihn gerichtet waren und er niemanden enttäuschen wollte, traf er eine Wahl, die niemanden verwundern würde. »Zu meiner Rechten soll Glosstor sitzen«, sagte er. Das anerkennende Raunen nutzte Ardoas, um zu überlegen, wer zu seiner Linken Platz nehmen sollte. Er suchte nach den Gesandten aus Feenwalden, Nalmenhain und Blauensee. Da traf sein Blick auf Velbaree.

»Eine gute Wahl«, sagte seine Tante. »Velbaree!«

Ardoas erstarrte und beobachtete, wie sich ein Ausdruck qualvoller Überraschung auf Velbarees Gesicht legte.

»Das war doch deine Wahl, richtig?«, fragte Zordura.

Langsam nickte Ardoas. »Richtig«, sagte er. »Velbaree soll zu meiner Linken sitzen.«

Er schämte sich, dass er Velbaree in eine Lage brachte, die sie sich gewiss nicht wünschte. Aber er war sich sicher, dass eine Kriegerin wie sie eine Zurückweisung vor aller Augen als weit größere Kränkung empfunden hätte, als neben dem Gastgeber am Tisch zu sitzen.

»Vertrau mir«, flüsterte Zordura ihm zu. Ihre Worte ermutigten ihn nicht, sondern machten ihm Angst.

Zordura begleitete Ardoas zu seinem Platz an der Tafel, die sich vor der großen Linde ausbreitete. Zu seiner Rechten führte sie dann Glosstor, den er noch einmal als Gast willkommen hieß. Das Elfisch des zwergischen Magiers war altertümlich, seine Stimme tief und melodisch. Ardoas wusste nicht, wie alt der Magier war. Seine Mimik wirkte jung, die Stimme erfahren und weise. »Es kommt selten vor, dass mich ein Elf als Ehrengast an seine Seite wählt«, sagte er grinsend. »In meiner großen Bescheidenheit bereitete ich mich nicht darauf vor. Hab also Nachsicht mit jemandem, der die meiste Zeit seines Lebens in Bibliotheken vor Inschriften und über Büchern verbracht hat.«

»Nur wenn du deinerseits Nachsicht mit einem Gastgeber hast, der seine Zeit über den Chroniken vergangener Leben verbracht hat«, erwiderte Ardoas.

»Einverstanden«, sagte Glosstor.

Der angenehme Moment endete schlagartig, als Zordura Velbaree an ihren Platz zu Ardoas’ Linken führte. Während sich die Kriegerin setzte, schaute sie ihn mit regungsloser Miene an.

»Danke, dass du nicht abgelehnt hast«, sagte Ardoas.

Nach langem Zögern erwiderte sie: »Ich weiß, dass du mich nicht an deiner Seite haben wolltest. Deine Tante wählte mich, und du wolltest mich nicht demütigen. Dafür danke ich dir.« Sie wandte ihren Blick ab und schaute zwischen den Tischreihen hindurch zu dem Teil der Festgesellschaft, der nun aus dem Palast auf den Platz kam.

»Ich hoffe, du nimmst es Zordura nicht übel«, sagte Ardoas. »Ich habe in deine Richtung geguckt, und das muss sie falsch verstanden haben.«

Velbaree musterte ihn von oben bis unten. »Würde ich sie nicht so bewundern, wäre ich vielleicht sauer auf sie. So aber bleibst nur du – mit deinem schuldvollen Blick, der so unpassend ist.«

»Dann sag mir, was ich tun soll, Velbaree. Jede Geste meinerseits hast du zurückgewiesen. Das wäre nicht weiter schlimm. Ich kenne das. Aber du wirkst wütend auf mich.«

»Ich bin wütend auf dich, weil du all das verdrängt hast, was ich liebte.«

»Als wir uns das letzte Mal sahen, hast du mir das nicht so offen gesagt – dass dich meine Existenz beleidigt, meine ich.«

Velbaree senkte kurz den Blick, dann schaute sie ihn wieder an und sagte: »Dies ist der falsche Ort, um dir so etwas zu sagen. Verzeih mir.«

»Klarheit ist mir lieber als ein Geflecht aus Lügen.«

»Es ist aber nicht die Wahrheit«, entgegnete Velbaree. »Deine Existenz beleidigt mich nicht. Ich bin auch nicht sauer auf dich. Ich bin auf den Teil von dir sauer, der mich damals zurückließ und in die Außenwelt ging und dort umkam. Ardoana hatte die Wahl zwischen mir und der Fremde, und sie entschied sich für die Fremde.«

»Hat sie dir gesagt, warum sie fortging?«

»Das hast du mich schon einmal gefragt. Und meine Antwort ist die gleiche wie damals: Sie wollte mich in Sicherheit wissen.«

Velbaree hatte damals mit anderen nach Ardoana gesucht, aber nach seiner Geburt, die Ardoanas Tod zu einer Gewissheit machte, hatten seine Eltern einen Boten ausgesandt, um sie nach Hause zu rufen. Sie hatten weder Ardoanas Leiche noch das Tagebuch gefunden, das sie laut Velbaree bei sich geführt hatte.

Ardoas’ Blick fiel auf einen silbernen Ring, den Velbaree trug. »Du hast ihn immer noch«, sagte er.

Velbaree schaute auf den Ring, dann stutzte sie. »Woher weißt du, dass er von Ardoana ist?«

»Wahrscheinlich aus ihren Tagebüchern.«

»Sie hat diesen Ring als Abschiedsgeschenk machen lassen. Das kann nicht in den Schriften erwähnt sein, die sie zurückließ.«

»Habe ich dich das vielleicht das letzte Mal gefragt?«

»Ich habe den Ring lange nicht getragen. Vielleicht hast du gerade …«, sagte sie. Ihr Blick fuhr ins Leere. »Vielleicht hast du dich erinnert.« Sie blinzelte und schaute sich um, als suchte sie jemanden unter den tanzenden, singenden und lachenden Gästen.

»Aber warum jetzt?«

»Die Frage lautet vielleicht ganz anders«, sagte Velbaree. »Seit wann? Seit wann schleichen sich die Erinnerungen früherer Leben in dieses Leben ein?«

Ardoas nickte. All die Versuche, das Gelesene lebendig werden zu lassen, hatten seinen Blick möglicherweise für die Grenze zwischen gelesenen und tatsächlichen Erinnerungen verschwimmen lassen. »Wenn ich dich fragen würde, ob du mich begleitest, was würdest du sagen?«

»Du meinst, meine Anwesenheit könnte dir noch mehr entlocken?«

»Vielleicht.«

»Ich würde dich fragen, wohin ich dich begleiten soll.«

»Das entscheidet sich heute.«

»Und dann würde ich dir sagen, dass ich nicht will.«

»Und doch bist du hier.«

Ein Schmunzeln schob sich auf Velbarees Lippen. »Ich sagte nicht, dass ich gut darin bin, Dinge zu überwinden.« Sie schaute zu einem der Seitentische, wo einige Elfen saßen, die vorhin in ihrer Nähe gewesen waren. »Die drei dort. Siehst du sie? Die Frau mit dem ganz kurzen Haar, den blassen Mann und den grauhaarigen Varuwyn?«

Ardoas erblickte sie. Die Frau hatte große Augen und ein rundes Gesicht. Die sandfarbene Gesichtsbemalung, die sich links und rechts in jeweils drei Streifen von ihrer braunen Haut abhob, wies sie als kämpfende Magierin aus. Die Striche standen für Stäbe, an denen sich die Prüfungen ablesen ließen, die sie absolviert hatte. Der Mann neben ihr war tatsächlich sehr blass. Sein schwarzes Haar reichte ihm bis zur Hüfte. Die dritte Person kannte Ardoas; sie stammte aus Ilbengrund und hieß Odewyn – ein Varuwyn, eine Person, die sich den Kategorien Mann und Frau entzog. Odewyn bezeichnete sich selbst seines Körpers wegen als maskuliner Varuwyn – als Asvaruwyn. Mit seinem grauen Haar, das im Kontrast zu seiner dunklen Haut stand, war er sehr auffällig – jemand, an den man sich erinnerte.

»Ich sehe sie«, sagte Ardoas.

»Das sind meine Geliebten. Coreldava, Jalmon und … nun, Odewyn kennst du ja.«

»Nicht so gut, wie ich es sollte. Ich habe gehört, dass er einer der besten Boten sein soll.«

»Der beste Bote, den ich kenne. Coreldava ist eine Magierin und Kriegerin. Jalmon kennt die Elfenpfade besser als irgendwer und ist ein Meister des Spurenlesens. Das ist meine Familie. Ich würde mit ihnen in jedes Abenteuer ziehen – aber in aller Ruhe in deiner Nähe bleiben, das wäre eine Zumutung für sie.«

»Das verstehe ich«, sagte Ardoas.

»Und doch würden sie es für mich tun. Genauso wie ich alles für sie tun würde.« Sie lächelte Coreldava zu, und sowohl sie als auch die anderen lächelten zurück.

»Ich beneide dich«, sagte Ardoas, und ein Schauer lief ihm über den Rücken. Der mitleidvolle Blick, den Velbaree ihm zuwarf, traf ihn wie ein Zauber. Er hatte nichts und niemanden. Er war trotz all der Leute, die seinetwegen gekommen waren, so einsam wie selten in seinem Leben.

Zordura war mit ihrem Bruder, Fürst Yordoas, und ihrer Schwägerin, Fürstin Elwaree, allein in der Kammer hinter dem Thronsaal.

»Wirst du Ardoas mit nach Derothur nehmen und ihn dort unterweisen?«, fragte Yordoas.

Da sie fürchtete, ein zu schnelles Einverständnis würde Yordoas’ und Elwarees Misstrauen wecken, sagte sie: »Warum schickt ihr ihn nicht zu Glosstor? Stellt euch vor, er würde bei ihm unterwiesen.«

»Glosstor wird einer der ganz großen Magier werden«, entgegnete Elwaree. »Dessen bin ich mir sicher.«

»In meinen Augen ist er es bereits«, sagte Yordoas. »Und gewiss wäre es eine Ehre, würde Ardoas von ihm unterwiesen. Doch bei den Zwergen oder in anderen Siedlungen könnte man Ardoas ausnutzen und einst das Wissen, das er entdeckt, gegen uns wenden.«

»So weit denkt ihr voraus?«, erwiderte Zordura. »Nach all dem Zusammenhalt fürchtet ihr alte Rivalitäten?«

»Auf eine Zeit der Eintracht folgt eine der Zwietracht«, sagte Elwaree, und Yordoas fügte hinzu: »Gemeinschaften knüpfen sich und zerbrechen wieder.«

»Ich liebe es, wenn ihr die alten Epen zitiert«, erwiderte Zordura. »Aber ich glaube an unseren Zusammenhalt, verfüge jedoch nicht über eure Erfahrung. Mein Blick war meist in mein Innerstes gerichtet, nicht nach außen.«

»Und deswegen glauben wir, dass du Ardoas weiterbringen kannst«, sagte Yordoas.

»Was, wenn ich wieder nur das wecke, was ihm zuvor schon den Tod brachte? Inzwischen bin ich überzeugt, dass wir unser Vorgehen von Grund auf ändern müssen.«

»Du bist also bereit, es noch einmal zu versuchen?«, fragte Yordoas.

»Wenn ihr mich darum bittet, werde ich es tun.«

»Wir bitten dich darum«, sagte Elwaree. »Es ist Zeit, dass das Alte in etwas Neues mündet.«

»Ich werde ihn unterweisen«, erwiderte Zordura. »Aber dann muss er zu mir nach Derothur kommen. Nur dort kann ich ihm das geben, was er jetzt benötigt. Aber dort könnte er – die Außenwelt vor Augen – wieder in Versuchung geraten, die Grenze zu überschreiten. Falls er sich entschlösse, euer Gebot zu missachten, könnte ich ihn nicht daran hindern.«

»Vielleicht doch«, entgegnete Elwaree. »Wenn es um Inkarnationen und die Erinnerung an frühere Leben geht, vertraut er dir mehr als uns. Wirst du mit aller Macht versuchen, ihn daran hindern, unser Gebot zu brechen?«

»Ich werde tun, was in meiner Macht steht«, antwortete Zordura. »Ich werde ihn auf eine Weise herausfordern, wie ihn noch nie jemand herausgefordert hat.«

Yordoas schloss sie in die Arme. »Ich wusste, dass wir uns auf dich verlassen können.«

Elwaree musterte sie mit ihren grünen Augen, in denen immer ein ergründender Zauber zu lauern schien, und umarmte sie zögerlich. Nachdem sie sich voneinander gelöst hatten, sagte sie: »Es tut mir leid, was ich dir damals nach Ardoanas Tod gesagt habe.«

Zordura nickte. Elwaree hatte ihr Vorwürfe gemacht. Doch Velbarees Worte hatten damals die schlimmste Schelte abgefangen. Die Kriegerin hatte beschrieben, wie verbissen Ardoana gewesen war. Niemand hätte sie davon abhalten können, in die Fremde zu ziehen.

Einem weiteren prüfenden Blick Elwarees begegnete Zordura mit einem Lächeln. »Wir haben Grund zur Hoffnung«, sagte sie. »Denn irgendetwas an Ardoas ist diesmal anders.«

»Du hast recht«, sagte Elwaree. »Er ist ruhiger, nicht so temperamentvoll. Eher ausgeglichen.«

»Ihr habt ihn hervorragend vorbereitet.«

Yordoas lächelte. »Er hat sich selbst vorbereitet.«

Während sie gemeinsam den Raum verließen, machte sich in Zordura Erleichterung breit. Ihr Bruder und ihre Schwägerin schienen nichts von ihren wahren Plänen bemerkt zu haben.

Mit der Ankunft von Ardoas’ Eltern, die sich neben Glosstor an die Tafel setzten, waren alle Gäste an ihren Plätzen, und nach verspielter Harfenmusik der allseits beliebten Elfe Dulvaree, Ardoas’ Lieblingssängerin, war es an der Zeit, Geschenke zu überreichen.

Ardoas wusste nicht, wie ihm geschah. Er war überwältigt von zu viel Lob, zu viel Würde – zu viel Geschenk. Er war froh, wenn sich einige Gäste zusammengetan hatten, um ihm eine gemeinsame Gabe zu überreichen.

Zordura schenkte ihm einen magischen Ring, offenbarte ihm aber nicht, worin der Zauber des goldenen Schmuckstücks bestand. Sein Bruder schenkte ihm ein Buch und sagte ihm, dass er es selbst gemacht habe. Ardoas strich mit den Fingerspitzen in die Furchen, die den Einband durchzogen, und schließlich über den Almandin. Der rotbraune Edelstein fügte sich gut in das braune Leder. Das Buch wollte nicht herausstechen, seine Schönheit schien sich nur dem aufmerksamen Blick offenbaren zu wollen.

Velbaree näherte sich mit einem Bogen und einem Köcher Pfeile. »Dieser Bogen war in deinem letzten Leben dein«, sagte sie. »Du hast ihn mir geliehen. Der Köcher ist von mir, alles andere haben deine Hände gefertigt. Ich habe dein Werk gepflegt und dort erneuert, wo es nötig war.« In ihrem Gesicht las Ardoas Bedauern.

Ihm wurde heiß, als er Bogen und Köcher entgegennahm. Das zu berühren, was er mit anderer Hand einst gefertigt hatte, überwältigte ihn. Seine Lippen bebten, und er brauchte einen Augenblick, bis er glaubte, seine Stimme sei sicher genug. »Du ahnst nicht, wie wichtig mir dieses Geschenk ist«, sagte er, und alle mussten an seiner schwankenden Stimme erkennen, wie sehr ihn Velbarees Gabe berührte. »Möge diese Gabe meine Erinnerung wecken.«

Seine Worte schienen ein Lächeln auf Velbarees Gesicht zu zaubern. Es verblühte zwar sofort wieder, aber es gesehen zu haben ließ ein ungewohntes Gefühl der Verbundenheit in Ardoas aufkeimen.

Glosstor erhob sich. Da Ardoas mit ihm auf Augenhöhe sein wollte, nahm er Platz. Der Zwergenmagier hielt ein Schwert in Händen. »In unseren Berggefilden sagt man, dass du ein guter Kämpfer bist.«

»Hat Gausteen davon berichtet?«, fragte Ardoas. Gausteen hatte ihn im Kampf mit Stangenwaffen unterwiesen, ehe er nach langer Zeit wieder in die Zwergenreiche heimgekehrt war.

»Er hat uns von dir erzählt. Und deswegen macht unser König dir diese Waffe zum Geschenk. Sie soll dir sagen, dass er um dich weiß und deine Stärken würdigen will.«

Der König der Zwerge – Alwaodin – machte ihm durch Glosstor ein Geschenk. Obwohl viele hier in Ilbengrund und anderswo sich daran stießen, dass im Zwergenreich noch immer Titel vererbt wurden, ging ein bewunderndes Raunen durch die Festgesellschaft.

Glosstor überreichte ihm das mittellange Schwert, das in einer schlichten braunen Scheide steckte. Die Waffe hatte einen reich verzierten Wiegenknauf, in den ein dunkelblauer Edelstein eingelassen war.

Ardoas zog die Klinge behutsam aus der Scheide. Sie war schmal und perfekt ausbalanciert; sie war vergleichsweise leicht und hatte eine einfache, nicht zu große Parierstange. »Das Schwert wurde nach Gausteens Vorgaben gefertigt«, erklärte Glosstor.

»Ich wünschte, er wäre mit dir gekommen.«

»Eine Verpflichtung ließ es leider nicht zu. Er ist der Hüter einer magischen Quelle und hat einen Schwur geleistet.«

»Ich danke deinem König – und Gausteen, dir und allen anderen für dieses Geschenk.«

Glosstor neigte sein Haupt, schob dann seinen Stuhl an den Tisch und trat zurück, um Ardoas’ Eltern Platz zu machen. Sie schlossen ihn in die Arme und zeigten ihm dann ihr Geschenk: Kleidung aus bestem Material. »Dieses Reisegewand aus Alvasur soll dich kleiden auf deinem Weg«, sagte sein Vater.

Ardoas lächelte. »Ihr habt also nichts dagegen, dass ich Ilbengrund verlasse.«

Seine Mutter reichte ihm die Jacke; den Mantel und das Hemd legte sie auf den Tisch. Während Ardoas mit den Händen über den grünen Stoff strich, sagte sie: »Die Reise zu deinen Erinnerungen muss dich von hier fortführen. Deswegen haben wir Zordura gebeten, dich in Derothur zu unterweisen.«

»Sie ist auf dich vorbereitet und wird neue Wege der Lehre mit dir beschreiten«, sagte sein Vater.

»Danke«, war alles, was Ardoas hervorbrachte. Er hatte es sich zwar gewünscht, aber dass seine Eltern ihn tatsächlich nach Derothur gehen ließen, war trotz allem noch schwer zu glauben. »Danke«, wiederholte er.

»Die Kleidung ist die eines Kundschafters und Boten«, sagte sein Vater. »Sei du unser Kundschafter. Finde die Erinnerung deiner früheren Leben! Und dann kehre zu uns als Bote dieser Erinnerung zurück.«

Seine Mutter legte ihm die Hände auf die Schultern. »Irgendetwas ist diesmal anders. Nicht nur du bist anders. Die Welt ist anders. Wir sind anders. Wir sind es, die sich verändern müssen, damit du dein Ziel erreichst.«

Breite Zustimmung baute sich unter der Festgesellschaft durch ermutigende Zurufe auf. Ardoas jedoch war sich nicht sicher, ob das ernst gemeint war oder wieder einmal Teil der Zeremonie – dazu gedacht, ihm Mut zu machen. Die glänzenden Augen seiner Mutter aber sagten ihm, dass zumindest sie es ernst meinte.

»Es ist üblich, dass der Mündige einen Rat einfordert«, sagte nun Zordura, die neben Ardoas kam. »Von wem möchtest du einen Rat hören?«

»Von meiner Mutter«, sagte er und wandte seinen Blick nicht von Elwarees Gesicht ab.

Seine Mutter lächelte und strich ihm über die Wange. »Traditionen sind uns wichtig«, sagte sie. »Ohne sie hätten wir auf unserem langen Weg durch die Welten nicht überlebt. Es war wichtig, die Traditionen aufrechtzuerhalten. Aber mit jeder Welt änderten sich die Umstände, und die Umstände veränderten uns. Wir sahen Dinge, die wir in zurückliegenden Welten nicht hatten sehen können. Und manche unserer Traditionen erkannten wir als falsch oder als Last, die es sich nicht zu tragen lohnt. Wir ließen die Feindseligkeit unseresgleichen und Fremden gegenüber fallen. Gemeinsamkeiten wurden uns wichtiger als Unterschiede. So behielten wir die Traditionen, die uns auf unserem Weg voranbrachten, und ließen jene zurück, die uns aufhielten oder gar auf Abwege führten.«

Sie küsste ihre Fingerspitzen und legte sie Ardoas auf die Stirn. »Du befindest dich auf deinem eigenen Weg. Was wir als Gemeinschaft einst im Großen getan haben, das tue du im Kleinen. Prüfe die Traditionen, die wir dich lehrten. Entscheide, ob sie dir nützen, und verwerfe sie, wenn sie dich nicht auf deinem Weg voranbringen. Nur so wirst du zu Naromees Erinnerungen finden.«

Die Festgesellschaft applaudierte.

»Wir vertrauen dir«, sagte Yordoas, als sich alles wieder beruhigt hatte. »Zordura wird dir neue Pfade zeigen, auf denen dein Geist sich entfalten kann.«

Ardoas dankte seinen Eltern leise, als aber Zordura ihn daran erinnerte, dass er zur Festgesellschaft sprechen solle, zögerte er. Er war sich nicht sicher, ob er die richtigen Worte finden würde. Dann aber schaute er in die Runde und sagte: »Ich weiß, was ich in früheren Leben an dieser Stelle verkündete: dass ich euch diesmal nicht enttäuschen werde, dass ich diesmal einen anderen Weg gefunden habe, dass ich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen werde. Worte, die Selbstsicherheit zeigen sollen. Doch die Selbstsicherheit meiner vergangenen Leben ist mir nicht gegeben. Ich bin ein Zweifler.«

Er wandte sich an seine Mutter. »Vielleicht führt mich der Zweifel dazu, Traditionen infrage zu stellen und neue Pfade zu entdecken. Ich nehme euren Rat an und werde mich Zordura anvertrauen.« Er schaute kurz zu seiner Tante, die ihm entgegenlächelte. »Denn selbst wenn ich an mir zweifle – an Zordura habe ich nie gezweifelt. Wenn mir jemand auf meinem Weg helfen kann, dann sie. Wenngleich ich nicht oft das Haus verlassen habe und weit weniger Anteil an eurem Leben hatte, als es angemessen gewesen wäre, hoffe ich, dass ihr mich mit euren besten Wünschen nach Derothur entlasst. Ich danke euch für alles, was ihr mir gegeben habt, und hoffe, dass ich euch einst etwas Großes zurückgeben kann.«

Die Gäste applaudierten, als hätte er gerade verkündet, dass er sich an Naromees Leben erinnerte. So viel Hoffnung hatte er seit Jahren nicht in den Mienen anderer gesehen. Doch trotz des Schwalls an Zustimmung und Hoffnungsrufen ergriffen Ardoas wieder die Zweifel. Zwar glaubte er, dass der Applaus eine echte Gefühlsäußerung und nicht lediglich ein Teil der Zeremonie war, hatte aber das Gefühl, diesen Jubel nicht verdient zu haben. Wenn die Hoffnung so hoch hinaufstieg, wie tief würde dann die Enttäuschung sein, falls er versagte.

Abschiede

In der Stube hinter dem Thronsaal fand Ardoas ein wenig Ruhe von dem Fest. Hier verbrachten seine Eltern die meiste Zeit, hier traf man sie abseits irgendwelcher öffentlichen Anlässe an. Sonst war es ein Ort, an dem stets ein entspanntes Kommen und Gehen herrschte, doch nun, da an diesem Nachmittag draußen Musik und Gesänge erklangen, war es ein Rückzugsort für Ardoas, Elwaree und Yordoas, an dem sie sich ausruhen konnten, ehe der Abend kam.

»Wo ist Lydon?«, fragte Ardoas.

»Bei seinem Flugschiff«, antwortete sein Vater.

Seit Jahren versuchte Lydon ganz allein, das Wrack eines Flugschiffes, das sie mitten im Wald gefunden hatten, zu erneuern. Jedes Teil des Schiffes hatte er ausgetauscht und damit etwas Neues geschaffen, aber er selbst sah darin immer noch das Schiff, das er gefunden hatte.

»Hat er euch gesagt, warum er den Vorschlag einer Wissensreise abgelehnt hat?«, fragte Ardoas. Der Rat hatte Lydon angeboten, ihn mit einer Gemeinschaft auf die Suche nach dem Geheimnis der Flugschiffe zu schicken.

»Er sagte, er werde nur deine Hilfe akzeptieren. Er möchte warten, bis du dich an die Flugschiffe erinnerst.«

Ardoas kannte die Sagen um ihre Vorfahren, die in einer Flotte schwebender Schiffe mal über blühende Welten und mal – von Schutzsphären umhüllt – durch das Nichts geflogen waren. Naromee hatte es miterlebt.

»Lydon hat immer an dich geglaubt und sich ein Beispiel an dir genommen«, sagte seine Mutter. »Was dir die Suche nach deinen Erinnerungen ist, ist ihm die Suche nach dem Geheimnis der Flugschiffe. Und wir freuen uns schon bei euch beiden auf die Zeit nach eurer Erfüllung.«

Ardoas musste lächeln. »Ihr wollt immer noch, dass einer von uns sich um den Fürstenthron bemüht.«

»Wir werden nicht ewig leben«, sagte sein Vater.

»Auch unser Leben verblasst mit der Zeit«, fügte seine Mutter hinzu. »Irgendwann werden auch wir einschlafen und auf andere Weise den Alben auf ihrem Weg zu den Murimee folgen.« Seine Eltern glaubten an die alten Elfengottheiten, denen die Alben der Sage nach durch die Welten folgten. Ardoas selbst nahm an, dass die Alben und die Murimee ein und dasselbe waren. »Ob wir in Hunderten von Jahren ermüden oder in Tausenden – irgendwann wird es geschehen.«

»Das ist so weit weg«, sagte Ardoas. »Und ich weiß nicht, was sein wird, wenn ich Naromees Erinnerung entfesselt habe. Falls mir das überhaupt gelingen sollte.«

»Denk an das, was ich dir sagte, und der Zweifel wird schwinden.«

»Ich werde daran denken.«

»Und gelobe uns eines«, sagte sie.

»Was immer du sagst, werde ich tun.«

Seine Mutter seufzte. »Das sind die Worte von Helden, die sich in alten Sagen ins Verderben stürzen. Dein Vater und ich können nicht voraussagen, in welchen Zwängen du dich befinden wirst, aber …« Seine Mutter schluckte.

Sein Vater sagte: »Gelobe uns, die Grenze in die Fremde nicht zu überschreiten, wenn es nur irgendwie möglich ist.«

»Ich gelobe es«, sagte Ardoas. »Wenn es nur irgendwie möglich ist.«

Als Velbaree von ihren Geliebten an ihren Platz zurückkehrte, wartete dort Zordura auf sie. Um sie herum schwiegen die Trommeln, und die Harfenklänge kündigten den nahenden Abend ebenso an wie die Lichtsteine und Laternen, die inzwischen erstrahlten.

Zordura bat Velbaree um Verzeihung, ihr den Ehrenplatz beschert zu haben und sie dadurch von ihren Geliebten fernzuhalten. Auf die Frage, ob sie etwas tun könne, um ihre Tat wiedergutzumachen, antwortete Velbaree: »Ardoana erzählte mir etwas über dich. Und ich habe mich bis heute nicht getraut, dich zu fragen, ob es wirklich stimmt.«

»Nur zu.«

»Warst du tatsächlich die Mutter der zweiten Inkarnation von Naromee? War der erste Ardoas dein Sohn?«

Zordura lachte. »Es war einst ein Geheimnis, dann ein Gerücht und ist inzwischen beinahe Teil der Geschichtsschreibung. Es stimmt. Ich war seine Mutter. Doch ich war nicht darauf vorbereitet, ein Kind aufzuziehen. Deshalb vertraute ich es Yordoas und Elwaree an.«

»Ardoana deutete an, dass Iridusor der Vater war.«

Zordura schaute sich um, dann sagte sie leise: »Ich war eine Weile mit ihm zusammen. Das war ungewöhnlich für mich, weil ich solche Zuneigung, wie du sie zu Ardoana oder deinen Geliebten verspürst, davor überhaupt nicht kannte. Und körperliches Begehren ist mir weitgehend fremd. Dennoch habe ich Iridusor geliebt. Auf meine Weise.«

»Er soll der beste Krieger gewesen sein, der je gelebt hat«, sagte Velbaree.

»In Alvasur entsprach er diesem Ruf, doch kaum waren wir hier, war er müde von all den Schlachten. Entzaubert in den Augen der Jüngeren, bedauert von den Älteren. Aber er liebte mich, und das ließ ihn noch einmal aufblühen, ehe er starb. Er hat unser Kind nicht mehr erlebt.«

Ein Bote des Fürstenpaares trat näher und erklärte Velbaree leise, dass Elwaree und Yordoas sie sehen wollten.

Velbaree stutzte.

»Keine Sorge«, sagte Zordura. »Den Ehrengästen steht eine Privataudienz beim Fürstenpaar zu. Hoftheater.«

»Aber darauf bin ich nicht vorbereitet. Ich weiß nicht, was ich vorbringen soll.« Die Kriegerin wirkte verunsichert, und Zordura war überrascht, dass diese unerwartete Gefühlsregung zu ihr passte.

»Dann sei bescheiden und dankbar, und die Audienz wird schnell vorüber sein.«

Ardoas folgte der breiten Treppe vom Thronsaal in die Eingangshalle hinab und war überrascht, auf Velbaree zu treffen. Für einen Augenblick hatte er den Eindruck, sie wollte ihn einfach passieren, als würde sie ihn nicht sehen. Doch sie hielt an und erklärte, dass seine Eltern nach ihr geschickt hatten.

Er dankte ihr dafür, dass sie auf der Feier Zorduras Spiel mitgespielt hatte. »Ich wollte dich wirklich nicht in Verlegenheit bringen«, sagte er.

»Es hat mir besser gefallen, als ich zugeben sollte. Ich mag deine Tante.« Sie wich kurz seinem Blick aus. »Ich werde heute Nacht abreisen. Ich kann also nicht bei der Abschiedsgesellschaft dabei sein.«

»Dass du überhaupt gekommen bist, ist mehr, als ich erwarten durfte.« Sein Blick fiel auf den Ring. »Ich wünschte, ich würde mich an mehr erinnern.«

»Solltest du dich je an das erinnern, was zwischen uns war, dann denk daran, dass die Vorwürfe, die ich dir machte, nicht mehr gelten. Ich hätte mit dir in die Fremde gehen sollen. Ich hätte dir mal zur Seite stehen, mal den Rücken decken und mal mich schützend vor dich stellen sollen. Solltest du mich je brauchen, dann schick mir einen Boten.«

»Danke, Velbaree!«

»Darf ich dich um etwas bitten?«, fragte sie.

»Natürlich.«

»Darf ich dich umarmen?«

Es wunderte ihn, aber er antwortete: »Jederzeit.«

Zögerlich näherte sie sich und schloss ihn in die Arme. »Leb wohl, Ardoas«, hauchte sie ihm ins Ohr. Dann küsste sie ihn auf die Stirn. Damit hatte er ebenso wenig gerechnet wie mit den Gefühlen, die nun in ihm aufstiegen. Das war wahrscheinlich keine Liebe, aber durchaus Begehren.

»Leb wohl, Velbaree«, sagte er leise.

Im Schein der Laternen näherte sich Ardoas am Rande des Palastgartens dem kleinen Haus, in dem sein Bruder lebte. Die Mitte des Gebäudes war im Grunde immer noch die Hütte, dessen Wände Lydon in Kindestagen aus Birkenästen geflochten hatte. Mit den Jahren hatte sein Bruder sie erweitert. Beim Bau des Daches, das sich links und rechts über die angebauten Teile senkte, hatte Ardoas vor Jahren geholfen. Er erinnerte sich noch, wie erleichtert er gewesen war, als sie endlich die Blumensamen gesetzt hatten und nichts mehr zu tun war, als darauf zu warten, dass das Dach erblühte.

Hinter dem Haus, direkt neben dem Kräutergarten, erstreckte sich im Lampenschein das Flugschiff, das Lydon wieder zum Schweben bringen wollte. Es wirkte wie ein lang gezogenes Flussschiff ohne Masten. Die Teile, die Lydon Flügel nannte und die angeblich für Stabilität sorgten, lagen nebeneinander im Gras.

Lydon stand vor seinem Schiff an einem hohen Arbeitstisch und schnitzte etwas.

»Deine Liebe zu diesem Schiff habe ich immer bewundert.« Ardoas strich über den Rumpf. »Scheitert es immer noch am Zauber?«

Lydon nickte langsam. Er zeigte auf Holzstücke, die auf dem Tisch verstreut waren. Dazwischen lag ein trüber Edelstein. Lydon hob ihn auf und tippte darauf. »Darin steckt das Geheimnis«, sagte er.

Ardoas spürte, wie ein Funke Magie sich von Lydon losriss und über den Stein auf eines der Holzstücke sprang. Es begann augenblicklich zu schweben.

»Das ist großartig«, sagte Ardoas.

»Der Zauber wächst leider nicht mit der Macht, die ich an ihn knüpfe. Er wird nur grob und unhandlich. Ich brauche einen Zauber, der mit dem Wachstum feiner und feiner wird.«

»Wenn du doch nur Hilfe annehmen würdest!«, sagte Ardoas leise.

»Wenn die Gemeinschaft verlangt, dass ich all das teile, werde ich es tun. Aber solange sie das hier nur als Spielerei betrachten, folge ich meinem eigenen Weg.«

»Wirst du morgen da sein?« Ardoas wusste, dass das für Lydon eine schwierige Frage war.

Erst nach einer Weile sagte Lydon: »Es brauchte schon meine ganze Kraft, heute da zu sein.«

»Dann spare deine Kräfte.« Ardoas schloss seinen Bruder in die Arme. »Leb wohl, Lydon. Pass auf unsere Eltern auf. Oder besser: Sorg dafür, dass sie nicht zu sehr auf dich aufpassen.«

Velbaree betrat die Kammer des Fürstenpaares, nachdem sie im Thronsaal verharrt hatte, um sich zu beruhigen. Die Begegnung mit Ardoas hatte sie aufgewühlt. Er war Ardoana, und er war es nicht. Die Umarmung hatte sie zu sehr genossen; die Abneigung hatte sich für einen Moment in ein unerwartetes Begehren verwandelt. Nun hatte sie sich gesammelt und wurde von Yordoas und Elwaree freundschaftlich empfangen.

»Du giltst in Nalmenhain als die beste Kriegerin und Jägerin«, sagte Yordoas. »Die Erzählungen, wie du einen Meltaru gejagt hast, sind ebenso berüchtigt wie dein Kampf gegen die Räuberbande, die die Siedlung einnehmen wollte.«

Velbaree hatte sich daran gewöhnt, dass ihr Kampf gegen die bärenartige Bestie, die sie in der Fremde zur Strecke gebracht hatte, hervorgehoben wurde. Die Räuberbande, die die Menschendörfer in der Nähe eines Portals auf die Elfenpfade heimsuchte, wurde weit seltener erwähnt.

»Es ist Brauch, dass die Ehrengäste eine Audienz bekommen und ihre Anliegen vorbringen können«, sagte Elwaree.

»Ich bin dankbar dafür, habe aber kein Anliegen.«

»Kein Anliegen?«, entgegnete Yordoas. »Du bist eine der wenigen, die eine solche Gelegenheit verstreichen lässt.«

»Wenn du kein Anliegen hast, vielleicht kannst du uns bei unserem helfen«, sagte Elwaree.

»Wenngleich ich nicht mehr hier lebe, fühle ich mich Ilbengrund noch immer verbunden. Falls es in meiner Macht steht zu helfen, werde ich es tun – sofern es nicht durch bestehende Verpflichtungen unmöglich gemacht wird.«

Elwaree und Yordoas tauschten Blicke. »Ardoas wird nach Derothur gehen«, sagte die Fürstin. »Und wir haben Zweifel, wie lange es ihn dort halten wird. Sollte er in die Fremde ziehen, wollen wir, dass du ihn aufspürst und beschützt – und zurückholst, sobald ihm Gefahr droht.«

Velbaree hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. »Im Grunde wünscht Ihr demnach, dass ich den Fehler, den ich bei Ardoana begangen habe, wiedergutmache?«

»Wir sind nicht der Meinung, dass du einen Fehler begangen hast«, sagte der Fürst. »Aber wir haben deinen Kummer bemerkt, als du von der Suche nach Ardoana heimkehrtest. Du sagtest, du hättest es verhindern können.«

Elwaree nickte. »Nun hättest du vielleicht erneut die Gelegenheit, etwas zu verhindern.«

Velbaree schwieg. Die Begegnung mit Ardoas hatte ihre Gefühle durcheinandergebracht.

»Du empfindest Unbehagen?«, fragte Elwaree.

»Eigentlich wollte ich mit Ardoana abschließen, sie einfach in Erinnerung behalten.«

»Es steht dir frei, den Auftrag abzulehnen. Wir wollen dich nicht drängen. Die Entscheidung liegt bei dir.«

Velbaree hatte Schuldgefühle wegen Ardoanas Tod, und der Auftrag bot ihr die Möglichkeit, durch Ardoas auch Ardoana beizustehen. Sie war hin- und hergerissen. Da sie aber nicht bereuen wollte, abgelehnt zu haben, antwortete sie: »Vieles wartet darauf, vorbereitet zu werden.«

»Es wird dir Zeit bleiben. Der Drang, in die Fremde zu ziehen, wird gewiss nicht von heute auf morgen in Ardoas erwachen. Bereite dich darauf vor. Wir können dir dabei helfen. Von uns kannst du alles bekommen, was du benötigst. Ausstattung und Gefährten.«

»Gefährten habe ich«, sagte Velbaree. Coreldava, Jalmon und Odewyn hatten ihr versprochen, sie in jedes Abenteuer zu begleiten, so wie sie ihnen in ihre gefolgt war. »Die besten Gefährten«, setzte sie hinzu und fragte sich, ob sie tatsächlich die Richtige für diesen Auftrag war. Aber sie würde sich auf den Tag vorbereiten – ganz gleich, ob der Ruf des Fürstenpaares in einigen Jahrzehnten, einigen Jahren oder in einigen Monden kommen würde.

Lange vor dem Morgengrauen ergab sich Ardoas der Schlaflosigkeit und stand auf. Er nahm ein letztes warmes Bad unten im kühlen Gewölbe des Palastes und zog sich dann das Reisegewand an, das ihm seine Eltern geschenkt hatten. Die Kleidung schmeichelte seiner Haut, und er fühlte sich wie einer, der auszog, um Welten zu erforschen. Er war gespannt, welche Gedankenwelten Zordura ihm zeigen würde.

Wieder in seinem Haus, packte er seine Sachen. Alle Geschenke, die er gestern erhalten hatte, konnte er unmöglich mitführen, aber die wichtigsten würden ihn begleiten: Zorduras Ring, das Notizbuch seines Bruders, der Bogen und die Pfeile von Velbaree und das Schwert, das Glosstor ihm überreicht hatte. Zudem nahm er seinen Lichtstein mit, der inzwischen mehr war als eine Laterne, die er mit einem magischen Funken zum Erstrahlen bringen konnte. Der Stein konnte Zauberkraft aufnehmen und wieder abgeben. Zudem diente er ihm im Winter als Wärmequelle, im Sommer verschaffte er ihm Abkühlung.

Als alles gepackt war, begab Ardoas sich noch einmal hinauf zu Naromees Abbild und betrachtete es wie so oft zuvor. »Diesmal gelingt es«, sagte er leise, ehe er sich abwandte und den Weg durchs Haus nahm, vorbei an den Kammern, die seinen früheren Leben gewidmet waren. In seinem Wohnbereich nahm er beide Taschen an sich. Die eine war ein Nalmenhainer Beutel, ein Rucksack, dessen breiter Gurt quer über die Brust lief und an der Hüfte verstärkt war. Der Beutel neigte sich zur Seite und ließ damit Platz für einen Köcher und eine weitere Tasche. Er hatte den Rucksack gewählt, weil er bereits in früheren Leben darauf geschworen hatte, fragte sich nun aber, ob dieser Beutel, aus dem sein Bogen herausragte, nicht zu sehr auf die Reisen durch die Fremde verwies.

Er befestigte die zweite Tasche, in der sich seine Schreibsachen befanden, und den Köcher am Gurt des Rucksacks, dann prüfte er das Gewicht und kam zu dem Ergebnis, dass sich damit reisen ließ, obwohl er noch nie gereist war. Schließlich begab er sich mit seinem Gepäck die Treppe hinab.

Nach einem letzten Gang durchs Erdgeschoss verließ Ardoas schließlich das schmale Haus und erblickte Zordura, die vor der Abschiedsgesellschaft auf ihn wartete. Er sah seine Eltern, aber nicht seinen Bruder; er sah Glosstor, aber nicht Velbaree.

»Bist du bereit?«, fragte Zordura leise.

»Überhaupt nicht«, antwortete er.

»Ich würde mir Sorgen machen, wenn du es wärst.«

Sie führte ihn zu seinen Eltern, die sich für Lydons Abwesenheit entschuldigten, doch Ardoas erklärte, dass er und sein Bruder am Abend bereits Abschied genommen hatten.

Es war an Ardoas und Zordura, den Abschiedszug vom Platz in der Mitte an den Rand der Siedlung zu führen. Die schweigende Gemeinschaft im Rücken, seine Lehrmeisterin an seiner Seite und dem Neuen entgegengehend, fühlte sich Ardoas wie in einem Klartraum, den er einen Moment lang hatte lenken können, ehe ihm die Herrschaft darüber entglitt. Er ging den Weg und wusste nicht mehr, ob er wirklich all das Vertraute zurücklassen wollte, um nach Derothur zu gehen.

Unterwegs zum Rand von Ilbengrund, kam ihnen beim Obsthain eine andere Gemeinschaft entgegen. Die Elfen trugen graue Kapuzenmäntel, und dennoch erkannte Ardoas die blasse Frau, die den Zug anführte. Es war Obureen, die im Unterricht seine Schwertschwester gewesen war und an diesem Tag ihren Körper an ihr Geschlecht angleichen würde.

Als der Zug auf Ardoas traf, blieb Obureen stehen, und so hielten auch Ardoas und Zordura an, ebenso das Gefolge auf beiden Seiten.

»Leb wohl, Ardoas!«, sagte Obureen. »Ich werde dich vermissen.«

»Leb wohl, Obureen! Ich werde dich und auch unsere Übungen vermissen.«

Obureen lächelte und wandte dann ihren Blick auf Zordura. »Danke, dass du mir damals die Fragen gestellt hast. Sie zu beantworten, hat mir geholfen, die Dinge zu erkennen.«

»Ich fühle mich geehrt, dazu beigetragen zu haben«, sagte Zordura.

Schließlich setzte Obureen ihren Weg fort, und auch Ardoas und Zordura führten ihren Zug wieder an.

»Bis vor Kurzem dachte ich noch, sie würde bei dem Körper verweilen«, sagte Ardoas, an Zordura gewandt.

»Es braucht Zeit, bis alle Dinge erwogen sind. Aber dann geht es oft ganz schnell.«

Ardoas dachte an seine eigenen Zweifel. Naromee war eine Frau gewesen, und so hatte er sich wie in manchem früheren Leben gefragt, ob die Tatsache, dass er keine Frau war, ihn daran hindern würde, sich an Naromee zu erinnern. In der vierten Inkarnation hatte er tatsächlich die Zeremonie vollzogen.

»Du denkst an Ardoana II.?«, fragte Zordura.

»Du kannst Gedanken lesen?«

»Nein, aber Gesichtsausdrücke. Hattest du in diesem Leben je Zweifel an dem, was du bist?«

»Die Leben meiner früheren Ichs haben mir deutlich gemacht, dass ich mich selbst finden muss. Besonders Ardowyns Schriften haben mir dabei geholfen.«

»Die der ersten oder die des zweiten?«

»Die der ersten. Die von Ardowyn II. halfen mir eher dabei, zu verstehen, wie unterschiedlich wir Seelengeschwister doch sind.« Bei diesen Worten musste er an die Frage denken, die immer wieder an ihm nagte: Würde er noch er selbst sein, wenn er die Erinnerung an seine früheren Leben fand?

Auf einer kleinen Lichtung am Rande der Siedlung schien ein weißer Torbogen im Boden verwachsen zu sein. Es war das magische Portal zu den Elfenpfaden, den Zauberwegen, die sich zwischen den Elfensiedlungen des Ostens, aber auch an ausgewählte Orte wie Derothur spannten und in einem langen Weg zu den Siedlungen des Westens führten. Es waren Pfade, die – so die Vorstellung – neben der Welt entlangliefen und einst von der Magie der begabtesten Elfen geformt worden waren. Noch war das Tor nicht entfesselt, sondern leer, und der Blick drang durch den Bogen hindurch zum Waldrand.

Ardoas wandte sich zu der Abschiedsgemeinschaft um. Seinen Eltern standen die Tränen in den Augen. Sie ließen die anderen nach vorne, damit sie von ihm Abschied nehmen konnten, doch sein Blick wanderte immer wieder zu ihnen zurück. Er hätte nicht erwartet, dass sein Abschied ihr Innerstes so sehr bewegte, schließlich war er nicht weit entfernt. Es bedurfte angeblich nur weniger Stunden auf den Elfenpfaden bis zu dem Portal, das nach Derothur führte.