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Nach dem »Phantom-Fall« hat Ludwig Hiermeier dem Polizeidienst den Rücken gekehrt, um sich mit Katharina, die ein Baby erwartet, ihrem Bio-Bauernhof zu widmen. Ein mysteriöser Mord veranlasst seinen Freund und Mentor Richard Hofreiter, Chef der Amberger SOKO, ihn zurückzuholen. Als frischgebackener Kriminalkommissar jagt Ludwig dann vergeblich einen Serienmörder, der es auf Pädophile der gehobenen Gesellschaft abgesehen hat. Bei ihren Ermittlungen stoßen sie auf einen Ring von Kinderhändlern, die auch vor Polizistenmord nicht zurückschrecken. Zeugen verschwinden, es gibt immer mehr Leichen und schließlich weiß Ludwig nicht mehr, wem er noch trauen kann. Er muss sich auf einen gefährlichen Alleingang einlassen, um dem Mörder auf die Schliche zu kommen, während Mafia und prominente Pädophile versuchen, in all dem noch ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen.
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2022
Manfred Hirschleb
Oberpfälzer
Blutnächte
Ein Oberpfälzer Psychothriller
Copyright: © 2022 Manfred Hirschleb
Satz & Umschlag: Erik Kinting – www.buchlektorat.net
Verlag und Druck:
tredition GmbH
Halenreie 40-44
22359 Hamburg
Softcover
978-3-347-66191-2
Hardcover
978-3-347-66195-0
E-Book
978-3-347-66200-1
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1
Das kleine Dorf Recigär, unweit von Aminioas und 330 Kilometer von Bukarest entfernt, war eines der ärmsten im Land; eine Ansammlung heruntergekommener Häuser und Hütten aus Bruchsteinen und Holz, mit Dächern aus Wellblech oder porösen Zementschindeln, die leidlich die Sommerhitze abhielten, aber nicht den Regen. Verwitterte und windschiefe Holzzäune zeugten vom Verfall. Früher waren sie bunt bemalt, in Grün und Blau, wie die Türen und Fenstereinrahmen, von denen jetzt die Farbe abbröckelte. Überall nagte der Zahn der Zeit. Der Dorfbrunnen, der die Bewohner mit dem lebensspendenden Nass versorgen sollte, war versiegt, sodass das Wasser mühsam vom Fluss geholt werden musste. Ohne die Gärten, die mit Fäkalien gedüngt wurden, wären die meisten längst verhungert. Früher versank die Dorfstraße im Frühjahr und Spätherbst regelmäßig im Schlamm, doch seit zwei Jahren blieben die Regenfälle aus. Das Land ächzte unter der Dürre, sodass viele Tiere geschlachtet werden mussten. Das war nicht immer so. In der postkommunistischen Ära gab es Arbeit und genügend zu essen, doch jetzt … Abgehängt von den Segnungen der EU, die in den Taschen korrupter Politiker und dem organisierten Verbrechen versickerten, herrschte bitterste Armut. Diejenigen die ein Stück Land, ein Pferd oder eine Kuh besaßen, galten als privilegiert. Einige erhielten eine minimale Rente, andere wiederum lebten von dem Geld, das ihnen Angehörige aus dem Ausland schickten, während die Großeltern sich um die Kinder kümmerten.
Nicht so bei den Stoicas. Sie bekamen nichts. Seit Nicolaies und Zinas Eltern sie vor fünf Jahren verließen, hatten sie nie wieder etwas von ihnen gehört. Weder ein Brief noch ein anderes Lebenszeichen. Seitdem lebten sie von der Hand in den Mund. Opa bezog ein paar Leu Rente, was hinten und vorne nicht reichte, wären da nicht die Ziegen und Hühner gewesen. Die Ziegen lieferten Milch für den Käse und manchmal, an den Feiertagen, landete ein Zicklein als Festtagsbraten auf dem Tisch. Wenn ein Huhn keine Eier mehr legte, erging es ihm ebenso. Alles andere, wie Mehl, Zucker und Salz, musste gekauft werden. Für sich selbst brauchten Oma und Opa nur das Nötigste und verzichteten zugunsten der Kinder, insbesondere an den Festtagen, um ihnen diese zu verschönern.
Nicolaie war zwölf, erkannte aber sofort, was das schwarze Auto zu bedeuten hatte, das sich in einer Staubwolke dem Dorf näherte. Vor zwei Jahren war es schon einmal hier gewesen und als es wieder wegfuhr, fehlten Iliana und Radu. Sie war erst fünf und er sieben. Jeder wusste Bescheid, sogar der Bürgermeister Bogdan Ionescu, doch niemand verlor ein Wort darüber. Es war Tabu und Fluch zugleich – Tabu der Schande und Fluch der Armut.
Nicolaie erinnerte sich mit Wehmut daran, wie sie sich heimlich zum Haus des Ortsvorstehers geschlichen hatten, der als Einziger einen Fernsehapparat besaß. Und da die beiden zu klein waren, um durchs Fenster zu spähen, hatte Nicolaie aus alten Zaunlatten eine Kiste gezimmert. Fasziniert hatten sie dem Bericht über die Route 66 zugesehen. Amerika … eine Welt voller Wunder und so völlig anders als die ihre. Später trafen sie sich unten am Fluss und gaben sich das Versprechen, eines Tages in das Land ihrer Sehnsüchte zu reisen. Iliana träumte von einer Model-Karriere und sah sich schon auf den Seiten der Illustrierten, in der Mama ständig geblättert hatte und deren Bilder längst verblasst waren. Ihren Papa hatte sie nie kennengelernt. Radus und Nicolaies Traum war es, mit einer Harley Davidson auf der Route 66 in die untergehende Sonne zu brausen, obwohl sie Easy Rider nie gesehen hatten. Sie träumten von Amerika, bis Radu und Iliana mit der Limousine verschwanden.
Seit die Arthritis Răzvan plagte, saß er die meiste Zeit auf der Bank vorm Haus, seinem Lieblingsplatz. Obwohl die Sonne unbarmherzig herniederbrannte und die Hitze kaum zu ertragen war, linderte sie die Schmerzen in seinen arthritischen Gelenken. Er war sich der Bedeutung des schwarzen Autos durchaus bewusst, doch es gab Wichtigeres. Wenn es nicht bald regnet, muss ich die Ziegen schlachten. Und ohne Nicolaie, der das Wasser vom Fluss heraufholt, werden wir verdursten. Sie waren zu alt und gebrechlich, um den Hin- und Rückweg zu bewältigen.
Das Leben hatte tiefe Spuren in sein Antlitz gegraben. Voller Runzeln und Falten, das schlohweiße Haar von einem speckigen Hut bedeckt, saß er gebeugt da und stützte sich auf seinen Stock, der verhinderte, dass sein ausgemergelter Körper vornüber kippte. Keine Miene regte sich in seinem Gesicht, doch bei genauerer Betrachtung konnte man sehen, wie ein paar Tränen in seinen struppigen Bart sickerten. Er hatte Elend, Grausamkeit und Tod erlebt, sodass er sich keinen Illusionen mehr hingab. Und dennoch, bei dem Gedanken daran, was er vorhatte, rührte es sein Herz zutiefst. Es schmerzte unendlich, doch was blieb ihm anderes übrig? Verhungern, wie einige im Dorf? Aber dazu war er nicht bereit. Wenigsten für kurze Zeit kann ich die Katastrophe abwenden. Bogdan hat mir versichert, dass es ihr dort, wo sie hinkommt, besser ergeht und ihr nichts passieren wird. Hat er mich deshalb zum Verkauf ermuntert? Er hat doch selbst vier Kinder, warum hatte er keines verkauft? Gilt das nur für die anderen? Und die Einkäufer? Wer sagt ihnen, an welcher Haustür sie klopfen müssen?, ging es ihm durch den Kopf.
Kurz darauf hielt der Wagen vor ihrem Haus. Die Insassen warteten, bis sich die Staubwolke gelegt hatte, und stiegen aus. Beide in Schwarz gekleidet, ging der Mann auf ihn zu, die Frau dagegen stützte sich auf die offene Wagentür und schaute verächtlich zu ihm rüber. Ich muss mich entscheiden, rang er mit seinem Gewissen, während drinnen auf dem Herd die Suppe köchelte. Ein paar verschrumpelte Möhren, Kartoffelstücke und etwas Grünzeug, mehr hatte der Garten nicht hergegeben.
Um die Kinder abzulenken, stellte Oma Stoica den Topf auf den Tisch, füllte die Teller und sprach ein Dankgebet. »Esst, die Suppe wird kalt. Opa kommt gleich«, ermunterte sie die beiden. Es gab nicht einen Tag, an dem sie das kärgliche Mahl nicht gemeinsam einnahmen. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf. All ihr Flehen hatte nichts bewirkt, denn als Oberhaupt der Familie duldete ihr Mann keinen Widerspruch. Schließlich hatte sie es aufgegeben, obwohl es ihr das Herz zu zerreißen drohte. Zina oder Nicolaie … wen wird es treffen?, fragte sie sich. Er hatte sich beharrlich geweigert, mit ihr darüber zu sprechen, und nun war es so weit.
Über den Löffel hinweg spähte Nicolaie aus dem Fenster und sah, wie Opa mit zitternden Händen das dünne Geldbündel zählte. Sofort war ihm klar, was das zu bedeuten hatte. Seit die Eltern sie verlassen hatten, war Opa Vaterersatz und Vorbild zugleich, der ihn stets liebevoll behandelt hatte, was gleichermaßen auf Zina zutraf. Die Erkenntnis, dass er sie verraten und an die Menschenhändler verkaufen wollte, traf ihn mit voller Wucht, sodass sein Herz heftig zu pochen anfing. Angst schnürte ihm die Kehle zu und er hatte das Gefühl zu ersticken. Der Gedanke, dass Zina … Damals hatte das Verschwinden seiner Freunde in ihm eine Leere hinterlassen, als hätte man ihm einen Arm oder ein Bein abgetrennt, und seine Träume von der Route 66 mit Gewalt aus dem Kopf gerissen. Seitdem träumte er nie wieder von Amerika. Was ihm blieb, war Zina. Wenn sie unten am Fluss saßen und angelten, um ihr kärgliches Mahl mit ein paar Fischen zu bereichern, versuchte er jedes Mal die Träume zurückzuholen – doch vergebens. Ich werde auf sie aufpassen, hatte er sich damals geschworen und sie nicht mehr aus den Augen gelassen. Er verfolgte sie auf Schritt und Tritt und beschützte sie wie seinen Augapfel. Außer Oma und Opa war sie das Einzige, was seinem Leben einen Sinn gab. In der Schule hatte es sich herumgesprochen, dass man von den verkauften Kindern nie wieder etwas hörte. Was blieb, waren die Erinnerungen an sie. Ständig quälte ihn die Angst, das schwarze Auto würde eines Tages vor ihrer Tür haltmachen. Iliana, Radu … hämmerte es in seinem Kopf, sodass sich alles in ihm auflehnte.
Wütend stieß er den Teller von sich, sprang auf und schrie: »Nein, nein … nicht Zina!« Panisch ergriff er ihren Arm, zerrte sie vom Stuhl und rannte mit ihr durch die Hintertür nach draußen, vorbei am Bretterverschlag, hinter dem die Hühner im staubtrockenen Boden herumpickten, und dem Pferch, in dem die Ziegen vor Hunger schrien. »Schneller, schneller, sie wollen dich mitnehmen.«, keuchte er. »Zur hohlen Weide unten am Fluss …«
Die kleine Zina, acht Jahre alt, mit schwarzen Haaren und dunkelbraunen Augen, in denen sich die Angst widerspiegelte, hielt Nicolaies Hand fest umklammert, um nicht hinzufallen. In ihrem bunten Kleidchen, das vom vielen Tragen fast durchsichtig war, zog Nicolaie sie unbarmherzig hinter sich her, wobei sie eine Sandale verlor. Opa hatte sie aus alten Autoreifen gefertigt.
Außer Atem erreichten sie die Weide unten am Fluss. Sie war uralt und der Stamm innen hohl, doch am Kopf hatte sie ausreichend Geäst, das Nicolaie Schutz bieten konnte.
»Schneller, Zina, kriech hinein und sei ganz still, sonst holen sie dich.« Er half ihr, sich durch die schmale Öffnung zu zwängen. Danach kletterte er den Baum hoch und versuchte sich, in der spärlichen Deckung der Kopfweide zu verstecken.
Während Nicolaie voller Angst zum Haus hinauf spähte, hatte Răzvan sich längst entschieden. Ein Leben für das ihre, aber würden die paar Leu ihnen über die schlimmste Zeit hinweghelfen? Und was wäre die Alternative? Verhungern oder sich wenige Monate des Dahinvegetierens erkaufen? Früher glaubte er an den Barmherzigen, der jedes Unrecht vergeben würde, sogar das, was er soeben getan hatte. Wenn es Gott gab, warum half er ihnen nicht? Die Hoffnung hatte er längst aufgegeben, denn ihr aller Leben bedeutete Tod und Verderbnis. Es gab keine Zukunft, nur das nackte Überleben. Er hatte gesehen, wohin Nicolaie und Zina gelaufen waren, und deutete zum Fluss hinunter, worauf hin der Einkäufer sich auf den Weg machte.
Die Frau setzte sich schweigend neben ihn auf die Bank, darauf bedacht, gebührenden Abstand zu halten. Ihr Blick galt dem Dorf, in dem sie das vierte Mal waren. Manchmal war es eins, ein anderes Mal zwei Kinder, die sie einkauften. Weder die Tränen des Alten noch das Schicksal des Mädchens interessierte sie. Sie wusste, was mit ihnen passierte, aber in diesem Geschäft war kein Platz für Mitleid oder Empathie. Sie waren Menschenhändler und das Einzige, was zählte, war Profit. In der Hinsicht verstand Mitrica, ihr Boss, keinen Spaß.
Unterdessen schweifte Răzvans Blick hin zu den verdorrten Wiesen und Feldern, über denen die sommerliche Gluthitze waberte. Soweit das Auge reichte alles Gelblichbraun, sogar die Blätter der Bäume sahen schmutzig gelb aus. Er hatte das Gefühl, als würde der Hauch des Todes das Land fest im Würgegriff halten und es nur eine Frage der Zeit sei, bis sie verhungern würden. Was für eine Wahl habe ich denn? Ohne Nicolaie werden wir das nächste Jahr nicht überstehen, versuchte er die Schreie, die vom Fluss zu ihm heraufdrangen, zu ignorieren. Obwohl es ihn zutiefst schmerzte, verschloss er Herz und Ohren.
Zina kratzte und biss, doch der Mann zog sie brutal an den Beinen heraus und klemmte sie sich wie ein Bündel Wäsche unter den Arm, um mit ihr zum Haus zurückzukehren.
»Das darfst du nicht!«, schrie Nicolaie. »Nicht Zina!« In seiner kindlichen Einfalt nahm er sich vor, einmal Polizist zu werden, um sie wiederzufinden und die Leute zu bestrafen.
»Du kannst ruhig da oben bleiben, kleiner Pisser, beim nächsten Mal nehme ich dich mit«, erwiderte der Mann und machte sich auf den Rückweg.
Panisch sprang Nicolaie hinunter und eilte dem Mann hinterher, um sich an seinen Hosenbeinen festzuklammern. Doch vergeblich, mit jedem Schritt wurde er zur Seite geschleudert. Nach mehreren Versuchen und etlichen Schrammen gab er auf und trottete weinend hinter ihnen her.
Ins Haus zurückgekehrt, stieß der Mann den Jungen unsanft auf einen Stuhl und herrschte die Alte an: »Pass auf den Bengel auf, sonst nehme ich ihn ohne Bezahlung mit.« Dann ging er mit Zina hinaus.
In ihrer Verzweiflung nahm Oma Stoica Nicolaie an die Hand und zog ihn in die Küche, wo er sich schluchzend an sie klammerte. Ohnmächtig zusehen zu müssen, wie Zina in die Limousine gestoßen wurde, brachte sie fast um den Verstand. Sie würde ihr Enkelchen nie wieder sehen. Wenigstens Nicolaie würde dieses Schicksal erspart bleiben, aber sicher war sie sich nicht. Als gottesfürchtige Frau wusste sie, was ihr Mann soeben getan hatte und dass es eine Todsünde war. Ich werde täglich zum Allmächtigen beten, dass er … Er ist schon so alt … Sie klammerte sich an eine Hoffnung, die genauso ungewiss war, wie alles in ihrem Leben.
Bei dem Gedanken erschrak sie. Sie verspürte einen schmerzhaften Stich in der Brust, als sie sah, wie das Auto davonfuhr, während Nicolaie panisch aus dem Haus rannte und dem Wagen hinterherlief. Doch vergebens.
Keuchend ließ er sich auf die Knie fallen. »Zina … Zina …«, schrie er und streckte weinend die Arme nach ihr aus, als könne er sie diesen Teufeln entreißen. Im Fond der davonfahrenden Limousine sah er wie durch einen Schleier ihren flehenden Blick und ihre Lippen, die ihn stimmlos anflehten. Er vermeinte zu hören, wie sie nach ihm rief, bis der Wagen mit ihr in der Ferne verschwand. Der aufwirbelnde Staub verklebte ihm Mund und Nase, die Augen tränten und er bekam kaum noch Luft. In seiner Verzweiflung ließ er sich zu Boden fallen, rollte sich wie ein Fötus zusammen und weinte, bis er keine Tränen mehr hatte. »Zina … ich konnte dich nicht beschützen«, stammelte er schluchzend.
Das Gefühl versagt zu haben, ihr nicht helfen zu können, brannte sich tief in seine Kinderseele ein und sollte ihn nie wieder loslassen.
2
Endlich! Wie von Geisterhand öffnete sich das schmiedeeiserne Gartentor und ließ die Autos durch, die neben dem Haus parkten. Neidlos stellte er fest, dass jedes ein Vielfaches seines Jahresgehalts überstieg, und sah zu, wie der Hausherr die Gäste mit Handschlag begrüßte. Er saß in einer Astgabel und sein Bein drohte einzuschlafen, sodass er umständlich seine Sitzposition änderte. Mit hasserfülltem Blick sah er zu, wie sie im Haus verschwanden. Nichts deutete darauf hin, was hinter diesen Mauern bald geschehen würde. Doch er wusste es.
Aber wem würde es nützten, wenn ich das Schwein töte? Ein anderer wird seinen Platz einnehmen und diese Monster in Nadelstreifenanzügen weiter mit Jungen und Mädchen versorgen. Doch jetzt ist nicht der geeignete Zeitpunkt, ich muss das Übel bei der Wurzel packen. Kinderschänder umzubringen ist wahrlich kein Spaß, aber notwendig, denn es gibt einfach zu viele von ihnen. Nachdem ich den ersten getötet hatte, fühlte ich so etwas wie Genugtuung und das Gefühl, das Richtige getan zu haben, sinnierte er.
Er kannte die Kriminalstatistiken von sexueller Gewalt an Kindern und wusste, dass die Dunkelziffer weitaus höher lag. Zu über neunzig Prozent geschah es im Alter von 6 bis 14 Jahren, doch am schlimmsten empfand er die Tatsache, dass annähernd acht Prozent der Opfer unter sechs Jahre alt waren. Er hatte sich ausführlich damit befasst und wusste, dass der Anteil an Pädophilen wesentlich geringer ausfiel. Für die Unwissenden war Missbrauch gleichzusetzen mit Pädophilie, doch die Wahrheit sah anders aus. Kindesmissbrauch fand in allen Gesellschaftsschichten statt, ob Einzeltäter oder in Familien, und war weiter verbreitet, als einem die Medien vorgaukelten. Was ihn am meisten ärgerte, war die Tatsache, dass nur über die Fälle berichtet wurde, die aktuell aufgedeckt wurden, um die Auflagen in die Höhe zu treiben. Warum schreiben sie nicht präventiv, klären auf, um Eltern, Angehörige und die Öffentlichkeit zu sensibilisieren? Weil es niemanden interessiert, solange sie nicht unmittelbar betroffen sind, gab er sich selbst die Antwort. Immer das Gleiche – scheiß Sensationsjournalismus. Und was macht der Staat? Behörden, Ämter und Justiz sind nicht nur machtlos, sondern heillos überfordert, wie der Fall Lügde und andere zeigten.
Es wurde gemunkelt, dass die Polizei involviert wäre, warum sonst verschwanden Akten? Und da war die kleine Yvonne, die ihm nicht aus dem Kopf ging. Der Blick ihrer Augen, eine entseelte körperliche Hülle, die Perversen als Lustobjekt dienen musste. Damals hatte ihr Anblick ihm einen Stich versetzt und nie wieder losgelassen. Ab diesem Moment entschloss er sich, nicht mehr wegzusehen. Obwohl er in seinem Job Schlimmes erlebt hatte, tauchte er erstmals in die Abgründe unvorstellbarer Grausamkeiten ein. Bis dahin hatte ihm jegliche Vorstellungskraft gefehlt, zu was der Mensch fähig ist, und keiner hatte ihn darauf vorbereitet.
Es liegt an mir, etwas dagegen zu unternehmen, eine Mission, die meinem Leben einen neuen Sinn gibt. Ja, der Zufall hat mir in die Hände gespielt, ein kleiner Notizzettel mit Namen. Und jetzt kenne ich eure hässlichen Visagen, die ihr hinter der Fassade von Biedermännern zu versteckten versucht. Aber das wird euch nichts nützen. Ich bin nicht mehr bereit, tatenlos zuzusehen, wie ihr unschuldige Kinder missbraucht, um eure perversen Gelüste zu befriedigen. Herrje, ich bin hier, um mir Gewissheit zu verschaffen und nicht zu philosophieren, schalt er sich.
Sein Blick glitt hinüber zu der Villa mit ihrer verspielten Architektur. Sie stammte aus der Gründerzeit und lag etwas außerhalb, in Weiden-West nahe der B 470. Im Parterre mit dem großen Eingangsportal befanden sich die Wirtschafts- und Personalräume, im ersten Stock der Salon und die Zimmer, in denen die Kinder missbraucht wurden, wie er herausgefunden hatte. Das Dachgeschoss bewohnte der Hausherr. Von der halbrunden eingeglasten Veranda im ersten Stock hatte man einen weiten Ausblick auf den parkähnlichen Garten, durch den sich ein weißer Kiesweg zwischen uralten Bäumen und Büschen schlängelte. Rechts und links des Weges standen marmorne Skulpturen, die der griechischen Mythologie nachempfunden waren. Jetzt wirkte es etwas trostlos, doch wenn sich im Frühjahr alles in zartes Grün kleidete und die Blumenrabatten mit Stiefmütterchen, Tulpen und anderen Frühlingsblumen ihre volle Pracht entfalteten, konnte man sich vorstellen, in einem Schlossgarten zu flanieren. Umgeben war das Anwesen von einer übermannshohen Mauer, dahinter erstreckten sich ausgedehnte Wälder. Die Villa gehörte Branco Dumitrescu, einem üblen Zeitgenossen, der einen Kinderpornoring der Rumänen-Mafia betrieb und sein Geld mit Menschenhandel, Prostitution und Drogen verdiente. Seit seiner letzten Observation hatte sich nichts geändert, außer dass er Jürgen Petzolt, ein widerliches Exemplar von Kinderschänder, dem die Mädchen nicht jung genug sein konnten, als Ersten getötet hatte. Ohne den Zettel wäre er niemals auf ihn aufmerksam geworden, der Rest war Recherche.
Anfangs wollte er ein Zeichen setzen, wie Florian Seltenreich, dem Phantom, der Pädophile umgebracht und ihnen die Penisse abgeschnitten hatte, um sie damit zu ersticken. Der war 25, hochintelligent und kurz vor dem Abschluss des Medizinstudiums gewesen, ein Psychopath, der mit zehn Jahren missbraucht wurde und durchdrehte, als er seinem Peiniger begegnete und diesen dann auf grausame Art tötete. Zuvor folterte er ihn, sodass er die Namen weiterer Pädophiler erfuhr. Im Augenblick des Todes wurde bei ihm ein sexueller Kick von solcher Intensität ausgelöst, dass er auf sein Opfer ejakulierte. Später wollte es der Zufall, dass er seine Mutter im Wirtshaus zum Goldenen Hirschen in Kirchbichl traf, die ihn als Kind seelisch und körperlich misshandelt und dann verlassen hatte, sodass er bei seiner Großmutter aufwuchs und damit vom Regen in die Traufe kam. Seine Mutter brachte er um, in dem er ihren Kopf in eine heiße Fritteuse tauchte. Das war der Beginn einer grauenvollen Mordserie, die sich als blutige Spur durch die Oberpfalz zog. Seltenreich trieb wochenlang sein Unwesen, bis er von Ludwig Hiermeier, der damals der SOKO angehörte, erschossen wurde. Er erinnerte sich genau, hatte alles akribisch mitverfolgt, sah sich aber nicht als Nachahmer. Jemand musste dem Treiben dieser Bestien Einhalt gebieten, obwohl es letzten Endes auf dasselbe hinauslief. Es gab nur einen kleinen Unterschied, was die Motive betrafen: Das Phantom wollte mit seinen Taten die Öffentlichkeit aufrütteln, er dagegen die ultimative Bestrafung.
Nach der Versteigerung der Mädchen in der Villa war er Petzolt gefolgt. Zuvor hatte er dessen Gewohnheiten ausspioniert und war in seine Wohnung eingebrochen, um die Whiskyflasche mit K.o.-Tropfen zu präparieren. Statt ihm den Penis abzuschneiden, ritzte er ihm Mea Culpa in die Brust. Obwohl damit sein Rachedurst gestillt war, hatte er sich unbewusst gewünscht, zusätzlich ein Zeichen setzen zu können. Doch Petzolts Tod hatte nicht die erhoffte Wirkung gehabt. Unabhängig davon hielt die Polizei mit der Wahrheit hinterm Berg und ließ die Medien nur das wissen, was ihre Ermittlungen nicht störte. Ein Prozedere, das er kannte. Dass er Kindesmissbrauch nicht verhindern konnte, war ihm klar, aber mit jedem, den er töten würde, ersparte er anderen Kindern unsägliches Leid und konnte dem Zettel weitere Namen hinzufügen.
Er musste erneut seine Sitzposition ändern, um besser sehen zu können. Drinnen waren die Vorbereitungen in vollem Gange, während sich die Gäste auf der Terrasse unterhielten – diesmal ohne Petzolt und wieder zu fünft, stellte er grimmig fest. An Kunden schien es nicht zu mangeln. Er konnte nicht nur die Vorfreude in ihren Gesichtern sehen, mittels Richtmikrofon hörte er auch, wie sie sich ungeniert über die Vorzüge ihrer Opfer ausließen und welche Praktiken ihnen den höchsten Kick verschafften. Szenarien jenseits aller Menschlichkeit, die nur entarteten Hirnen entsprungen sein konnte. Falls er jemals gezweifelt hatte, wurde er abermals in seinem Vorhaben bestätigt. Je länger er zuhörte, desto wütender wurde er und hätte die Schweine am liebsten sofort abgeknallt. Es wühlte ihn dermaßen emotional auf, dass sein Herz bis zum Hals hinauf pochte und sein Kopf förmlich glühte. Obwohl die Nachtkühle seine Beine hochkroch, schwitzte er, und nur mit Mühe gelang es ihm, sich zu beruhigen. Er hatte recherchiert und festgestellt, dass die ehrenwerten Herren zwischen 50 und 70 Jahre alt waren und allesamt der High Society angehörten. Unternehmer, Banker, Immobilienmakler, New-Economy-Millionäre und Politiker. Alle hatten sie etwas gemein: Sie waren abartig und bezahlten jeden Preis, um ihre perversen Neigungen ausleben zu können. Er kannte ihre Vita und wusste, wo sie wohnten.
Heute beabsichtigte er, Fotos von den Kindern zu schießen, dafür musste er seinen Standort wechseln. Er hatte herausgefunden, in welchem Rhythmus die Wachen ums Haus patrouillieren und dass die Dobermänner an der Leine geführt wurden. Es waren nur fünfzehn Meter bis zur Eiche mit ihren ausladenden Ästen, die er erreichen musste, um freien Blick in den Salon zu bekommen. Als die Gäste hineingebeten wurden, sprang er vom Baum, sprintete los und kletterte die Eiche hoch. Keinen Augenblick zu früh, denn einer der Hunde schlug an. Als der Wächter den Dobermann weiterzerrte, wischte er sich erleichtert den Schweiß von der Stirn und versuchte, es sich in der Astgabel bequem zu machen. Von hier hatte er freie Sicht in den Salon. Eingerichtet im Rokoko-Stil mit weißen Gardinen, rosaroten Vorhängen und Stuckarbeiten an Decke und Wänden, diente das Ambiente nur einem Zweck: Die Kunden sollten sich wohlfühlen. Er wunderte sich nicht, als kitschig herausgeputzte Damen mit blonden Perücken Champagner reichten. Einige der Gäste standen am sündhaft teuren Buffet und beluden ihre Teller. Er hatte das Gefühl, in eine Welt einzutauchen, die auf perfide Art und Weise die Abartigkeit auf die Spitze trieb, nur um den bevorstehenden Missbrauch in angenehmer Umgebung zu ermöglichen statt in schmuddeligen Hinterzimmern oder verwahrlosten Wohnwagen. Was für kranke Arschlöcher …
Er wechselte zur Kamera mit dem hochauflösenden Film, als Dumitrescu einer der Damen zunickte. Er kannte das Prozedere, das jetzt folgen würde. Mit etwas Glück könnte das eine oder andere Kind später identifiziert werden, um es in seine Familie zurückzuführen. Dass das illusorisch war und seinem Wunschdenken entsprang, wusste er allerdings genauso wie die Tatsache, dass sie nach Gebrauch in irgendwelchen Etablissements verschwinden würden, um erneut verkauft zu werden. Ohne Petzolt wüsste er nichts von den Versteigerungen und was mit den Kindern in der Villa passierte. Petzolt hatte ihm höhnisch erklärt, dass sie nicht für den Einmalgebrauch vorgesehen wären. Auch dass Dumitrescu die Ambitionen seiner Gäste im Vorhinein kannte. So war es ihm möglich, ihre Vorlieben zu bedienen, damit sie auf ihre Kosten kamen. Den Gesprächen auf der Terrasse hatte er entnommen, dass die heutige Besonderheit ein achtjähriges Mädchen war und der Meistbietende den Zuschlag erhielt.
Branco war mit der Lieferung zufrieden. Sein Bruder Mitrica schickte ihm übers Darknet einen Katalog und er suchte die Ware aus, die dann innerhalb einer Woche geliefert wurde. Es gab ein ausgeklügeltes Vertriebssystem, das Abnehmer in ganz Europa belieferte. Dass die Kinder wie eine Handvoll Obst oder ein Sack Kartoffeln von den Eltern gekauft, manchmal entführt wurden, berührte ihn wenig. Die verdammten Päderasten zahlten horrende Summen für ihre perversen Gelüste. Geld stinkt bekanntlich nicht, musste er insgeheim lachen. Ihm fehlte jegliche Empathie, obwohl er selbst zwei Kinder in dem Alter hatte.
Es war so weit. Um seinen Gästen unliebsame Überraschungen zu ersparen, hatte er die Kinder sediert, aber nur so viel, dass sie ansprechbar blieben. Manchmal verfielen einige in völlige Apathie, andere wiederum schrien vor Angst oder weinten, doch das hatte er im Griff. Nadja und Elena, zwei Wasserstoffblondinen, diesmal als Kindermädchen verkleidet, führten die Kleinen in den Salon. Die Jungen im Matrosen-, die Mädchen im Prinzessinnenlook herausgeputzt, wurden zur übergroßen Chaiselongue dirigiert. Schweigend saßen sie da und schauten geistesabwesend vor sich hin. Wäre da nicht das Blinzeln in ihren Augen, hätte man sie für Wachspuppen halten können.
Zähneknirschend musste er mit ansehen, wie die Gäste die Kinder mit lüsternen Blicken wie auf einer Viehauktion begutachteten, und Dumitrescu anerkennend zunickten. Alle vier Wochen das gleiche Szenario und immer mit neuen Kindern. Warum hält niemand diese Bestien auf?, wollte es aus ihm herausschreien. Er kochte innerlich und hätte sie am liebsten … Er war kurz davor, eine Dummheit zu begehen, konnte sich aber beherrschen. Jetzt einzugreifen wäre sinnlos, denn die Mafia verfügte über ein unerschöpfliches Reservoir an Nachschub. Seine Nachforschungen hatten ergeben, dass Branco Dumitrescu sein Geld neben diesen Aktivitäten noch mit Zwangsprostitution verdiente und Wohnungen in Amberg, Tirschenreuth und Schwandorf unterhielt. Um gegen die Eroscenter und Bordelle zu konkurrieren, verlagerte er seine Aktivitäten in Privatwohnungen. Die Kinder wurden gekauft, jugendliche Mädchen über Pseudo-Castingveranstaltungen ausgesucht und junge Frauen mit dem Versprechen auf einen Job im Ausland geködert. Letzteren nahm man die Pässe ab und nötigte sie, ihre Schulden für den Transfer ins gelobte Land abzuarbeiten. Wer sich weigerte, wurde verprügelt, drogenabhängig gemacht oder man drohte, den Angehörigen zu Hause etwas anzutun. Außerdem blieben sie nie lange am gleichen Ort. Bei absoluter Arbeitsunfähigkeit kam es vor, dass sie wie Müll entsorgt wurden. Den Kindern erging es nicht anders. Der Drogenhandel war längst vom profitableren Menschenhandel abgelöst worden.
Je mehr er darüber nachdachte, desto stärker brodelte der Hass in ihm. Verdammt, komm wieder runter, du bist hier, um Bilder zu schießen, ermahnte er sich. Für einen kurzen Moment spielte er mit dem Gedanken, die Fotos und Ergebnisse seiner Recherche anonym der Polizei zuzuspielen. Die Abteilungen Sitte und Organisierte Kriminalität könnten den Pornoring zerschlagen. Doch dann verwarf er die Idee, denn die Behörden in Osteuropa waren alles andere als kooperativ. Es würde sich nichts ändern, weil sie mit den Kriminellen zusammenarbeiteten oder sie deckten. Unsummen flossen in die Taschen korrupter Politiker und Beamte. Trotzdem, einen Versuch wär es wert, klammerte er sich an eine Hoffnung, von der er wusste, dass sie vergebens war.
Die Nachtkühle hatte rapide zugenommen und Nebelschwaden drückten in den Garten, sodass er Mühe hatte, klare Bilder zu schießen. Er fror und Eile war geboten, bevor die Kameralinse vollends beschlug. Er war kurz davor zu verzweifeln, als ein Windstoß den Nebel auseinandertrieb und die Sicht in den Salon freigab. Deutlich erkannte er ihre Gesichter, zoomt sie heran und drückte auf den Auslöser – und fuhr erschrocken zusammen. Nein, unmöglich, das konnte nicht sein. Sein Puls fing an zu rasen und sein Herz schlug bis zum Hals hinauf. Er hatte das Gefühl, ein eiserner Ring schnüre ihm den Atem ab. Mein Gott, diese Ähnlichkeit … Das ist nicht möglich! Für den Augenblick eines Wimpernschlages hatte sein Blick erhascht, was einst ein fröhliches Kind war – sein Kind. Einem ersten Impuls folgend wollte er die Villa stürmen, doch zugleich erkannte er, dass es nur ein Déjà-vu war und das Schicksal ihm einen Streich gespielt hatte. Sein Verstand weigerte sich anzuerkennen, was Jahre zurücklag und jetzt mit Macht emporgespült wurde, sodass sich die Erinnerungen mit Gewalt bahnbrachen. Die Fröhlichkeit und Unbeschwertheit, das glockenhelle sorglose Lachen, ihr Sonnenschein … auf dem Spielplatz, in der Kita und später der erste Schultag und dann … Ich musst cool bleiben!, riss er sich zusammen und versuchte, durch gleichmäßiges Atmen seinen Pulsschlag zu normalisieren.
Allmählich gelang es ihm, seine Fassung zurückzugewinnen. Gottverdammt, ich werde sie töten, einen nach dem anderen – und nein, keine Polizei. Es war längst Zeit zu handeln.
Während er seine Ausrüstung verstaute, regte sich sein Gewissen. Obwohl er wusste, dass die Männer in ein paar Minuten mit den Kindern in den Zimmern verschwinden würden, konnte er nichts dagegen unternehmen. Wenn er jetzt den Notruf wählen würde, kämen die Schweine zwar ins Gefängnis und kein Anwalt könnte sie heraushauen, aber dann wäre es unmöglich, sie auf seine Weise zu bestrafen. Zwei Herzen schlugen in seiner Brust, weil er sich zwischen Pest und Cholera entscheiden musste. Und die Kinder? Werde ich jemals wieder einem in die Augen schauen können, ohne daran erinnert zu werden, sie ihm Stich gelassen zu haben? Werden sie mich in meinen Träumen verfolgen?, fragte er sich. Er war sich bewusst, dass sein Entschluss ihn sein ganzes Leben lang begleiten würde.
Er wartete ab, bis der Wächter um die Ecke bog, stieg vom Baum, und verschwand über die Gartenmauer. Er hatte, was er wollte.
***
Berauscht von dem Erlebnis mit der Kleinen, mittlerweile war es drei Uhr nachts, machte Martin Brunner es sich auf der Couch bequem. Der Cognac beflügelte seine Gedanken, die um das Mädchen kreisten. Wenigsten den Namen hatte er ihr entlocken können, während er sie behutsam in die Geheimnisse der Liebe und Sexualität eingeführt hatte, so wie er sie verstand. Obwohl ihn die Vorstellung aufs Neue erregte, nagten Zweifel an ihm, denn seit Langem lag er im Clinch mit seinem Gewissen. Seiner Veranlagung hatte er es zu verdanken, dass seine Ehe in die Brüche ging. »Gottverdammt, ich kann doch nichts dafür, genauso wenig wie die Schwulen oder Lesben. Diese scheiß Präferenz wurde mir in die Wiege gelegt und nun lastet sie auf mir wie ein Fluch«, ärgerte er sich. Es war nun mal sein Bedürfnis und er empfand sich nicht als Krimineller. In solchen Momenten blendete er sein Erwachsensein einfach aus. Um dem Mädchen nicht zu sehr wehzutun, hatte er Branco gebeten, ihr zusätzlich etwas zu verabreichen. Trotzdem hatte sie sich gewehrt und geschrien und sich danach wie ein verwundetes Tier zusammengerollt. Obwohl ihr Wimmern ihm in der Seele wehtat, war er gegen seine Dämonen machtlos. Dieses unbändige Verlangen und dann … als er in ungeahnte Höhen katapultiert wurde und die Qualen, die er ihr zugefügt hatte, alles vergessen ließen. Spätestens nach dem Verlassen der Villa verhallten ihre Schreie im Nichts. Ich bin weder abartig noch pervers, was wisst ihr Schreiberlinge schon von meinen Gefühlen, konstatierte er. Die Vorstellung, dass sie beim nächsten Mal nicht mehr da sein würde, empfand er allerdings als unerträglich. Wäre es möglich, sie noch einmal … Ich muss mit Branco reden, schließlich ist alles eine Frage des Preises, versuchte er sich einzureden. Dass das eine verschrobene Denkweise war und ihm jegliches Unrechtsbewusstsein fehlte, wies er weit von sich. Es existieren keine Schranken, weder ethische noch moralische, und trotzdem plagen mich Schuldgefühle. Nur wenn es mir gelingt, sie zu überwinden, bin ich wahrhaftig frei, versuchte er sich einzureden.
Martin Brunner, 56 Jahre alt, eins sechsundachtzig groß, von sportlicher Statur und imponierender Erscheinung, gehörte zu den New-Economy-Millionären, hatte sein Vermögen mit Windrädern gemach. Seine Villa befand sich in bester Lage von Neustadt am Kulm mit Blick auf den Rauer Kulm, ein knapp 600 Meter hoher Basaltkegel. Eigentlich ein Dorf mit etwas über 1.100 Einwohnern, galt Neustadt am Kulm dennoch als kleinste Stadt der Oberpfalz. Sein Dilemma hatte mit seiner Tochter Melanie begonnen. Nicht dass er es bereute, hatte er sich doch längst von allen Konventionen und Zwängen freigemacht, er hatte jedoch einen hohen Preis dafür bezahlt. Seit diesem unseligen Vorfall lebte er von seiner Frau und den Kindern getrennt – sie in München und er in seinem verwaisten Haus, einer Villa in bester Lage mit zehn Zimmern, einem Schwimmbad und einem Pool im Garten. Er kam sich vor wie ein Eremit und vermisste seine Töchter. Melanie war dreizehn und Jennifer fünf Jahre alt.
Während er sich nachschenkte, erhaschte sein Blick das Familienfoto, das auf dem Kaminsims stand. Sofort holten ihn die Erinnerungen ein, als wäre es gerade erst geschehen: Seine Frau verbrachte oft mehrere Tage mit Jennifer bei ihren Eltern, doch an diesem einen Tag kam sie unverhofft zurück. Damals hatte es ihm die Schamesröte ins Gesicht getrieben, als sie ihn und Melanie in eindeutiger Situation überraschte. Es war im Wohnzimmer auf dem Teppichboden. Sie waren beide nackt, sie saß auf ihm und spielte mit seinem erigiertem Penis. Melanie war frühreif, sodass er ihre kindliche Neugierde schamlos ausnutzen konnte, da sie gerade ihre eigene Sexualität entdeckte. Doch er wollte mehr. Als sie sich weigerte, hatte er ihr gedroht, ihre Mutter, ihre Schwester und er würden sie verlassen. Sie war gerade so weit gewesen, als Doro hereinplatzte und es vermasselte. Unbewusst fasste er sich an die Wange, als könnte er die Ohrfeige noch spüren, die sie ihm verpasst hatte. Dorotheas Worte hatten sich unauslöschlich in sein Gedächtnis eingebrannt: »Du bist ein widerliches perverses Monster, wie konntest du unserem Kind das antun? Denkst du gar nicht an uns und die Folgen?«, hatte sie geschrien. Sie hatte blindlings auf ihn eingeschlagen, wieder und wieder, bis sie erschöpft auf die Knie sank. Jennifer, die daneben stand, hielt sich die Hände vors Gesicht und weinte, während sich unter ihr eine Pfütze ausbreitete. Melanie war panisch auf ihr Zimmer gerannt. »Aber ich liebe sie doch … und Jennifer habe ich nie angerührt, ich schwöre es«, hatte er sich zu rechtfertigen versucht. Er sah das blanke Entsetzen in den Augen seiner Frau … und noch etwas: Scham. Scham darüber, was die Nachbarn sagen würden, wenn es bekannt würde. Am gleichen Tag zog sie aus und fuhr mit den Kindern zu ihren Eltern. Das war das Aus für ihre Ehe. Auf der einen Seite sah er sich als Opfer, gehetzt von seinen Trieben und Fantasien, auf der anderen fühlte er sich endlich frei. Doch es kam schlimmer: Dieses quälende Verlangen nach etwas Jüngerem, Unverbrauchtem, wollte ihn partout nicht loslassen. Dann hatte er das Darknet für sich entdeckt …
Verliere ich langsam den Verstand?, fragte er sich und füllte sein Glas randvoll. Entschlossen klappte er seinen Laptop auf und mit wenigen Klicks war er im Forum. Von Branco wusste er, dass Gänseblümchen in Schwandorf wohnte und seine Tochter ins Netz gestellt hatte: Kleeblättchen, vier Jahre alt. Bisher hatte er sich gescheut, doch jetzt …
Urplötzlich wurde ihm heiß, sein Puls raste, die Bilder verschwammen vor seinen Augen und das Zimmer begann sich zu drehen. Mit zitternden Fingern riss er am Hemdkragen, um besser Luft zu bekommen, gleichzeitig schnürte ihm Angst die Kehle zu, sodass er zum Handy griff, um einen Notruf abzusetzen, doch zu spät. Es entglitt seiner Hand, dann wurde ihm schwarz vor den Augen und sein Kopf fiel krachend auf die Tastatur.
Als er aufwachte, dämmerte der heraufziehende Morgen. Verwundert stellte er fest, dass er nackt, gefesselt und geknebelt am Kopfende seines Bettes saß. Er hatte zwar einiges getrunken, aber nicht so viel, dass es für einen Filmriss reichte. Ihm war speiübel und sein Schädel drohte zu zerspringen, außerdem hatte er Angst, sich zu erbrechen. – Er würde mit Sicherheit daran ersticken. Panik stieg in ihm hoch, sodass er wie von Sinnen an seinen Fesseln riss, um schließlich resigniert aufzugeben. Er versuchte, sich zu erinnern, aber da war nur gähnende Leere. Nein, nicht ganz, da waren Erinnerungsfetzen … eine Villa … ein Mädchen … sonst nichts.
Plötzlich sah er die Gestalt am Fußende seines Bettes, die aussah wie ein Alien. Verdammtes Arschloch, was machst du hier?, wollte er fragen, doch mehr als ein Grunzen brachte er nicht zustande. Urplötzlich erkannte er, dass das kein gewöhnlicher Einbrecher war, denn der eiskalte Blick schien ihn förmlich zu durchbohren. Siedend heiß fiel ihm Petzolt ein, der vor ein paar Wochen getötet wurde. Und dann begriff er, dass er heute sterben würde, nur nicht warum. Fragend schaute er den Fremden an.
»Du willst es wirklich wissen?«, fragte das Alien im weißen Ganzkörperanzug mit dem Mundschutz. »Ich sehe es in deinen Augen und werde es dir sagen: Weil du ein gottverdammter Kinderschänder bist. Wie jung müssen die Mädchen sein, um deine perversen Gelüste zu befriedigen? Vier, drei oder zwei Jahre alt? Jünger? Du bist Abschaum, schlimmer als Tiere, die würden so etwas nicht machen. Dich anzuklagen ist zwecklos, denn nach ein paar Jahren kämst du wieder frei. Wahrscheinlich käme es gar nicht dazu, weil deine Anwälte das verhindern würden. Und da dir jedes Unrechtsbewusstsein fehlt, wirst du weitermachen, als wäre nichts geschehen. Aber du bist verantwortlich dafür, dass die Kinder zu geistig leeren Hüllen werden, von den Schmerzen, die du ihnen zufügst, mal ganz abgesehen. Ich werde dich töten, damit die Welt ein kleines bisschen besser wird und du nie wieder Kindern wehtun kannst.«
Diesmal hatte er einen Glasschneider benutzt, um durchs Kellerfenster ins Haus zu gelangen und die Cognacflasche zu präparieren. Dann brauchte er nur abzuwarten, bis Brunner von seinem Besuch aus der Villa zurückkehrte. Ursprünglich hatte er beabsichtig, seinen eingeschlagenen Weg, ihm Mea Culpa in die Brust zu ritzen, fortzuführen, überlegte es sich dann aber anders. Ihn wie Petzolt zu foltern, um dem Zettel weitere Namen hinzufügen zu können, machte keinen Sinn, denn er besaß genug Informationen, um mit seiner Mission fortfahren zu können. Jetzt kam direkt die ultimative Bestrafung. Sollte die Polizei doch annehmen, die Rumänen-Mafia hätte das Schwein hingerichtet. Es war allgemein bekannt, wie sie mit Verrätern umzugehen pflegten. Er schraubte den Schalldämpfer auf den Lauf seiner Luger. Nein, kein Fanal, weder für ihn noch für jene, die folgen würden. Ein schneller Tod, mehr nicht.
Die erste Kugel durchbohrte Brunners rechtes Auge und ließ seinen Hinterkopf zerplatzen, die nächsten zwei bohrten sich in seine Brust. Martin Brunner, der Kinderschänder, war auf der Stelle tot.
Angewidert steckte er die Pistole ein. Ihm war klar, dass die Polizei irgendwann eine Verbindung zwischen den Opfern und der Villa herstellen würde, aber bis dahin hätte er seine Mission längst beendet. Ohne den Toten eines Blickes zu würdigen, wandte er sich ab, ging ins Wohnzimmer und nahm das Glas und die Cognacflasche an sich. Beim Hinausgehen zog er die Tür hinter sich ins Schloss. Nur noch drei …
3
Kriminaloberrat Rüdiger Hertle, eins neunzig groß, Anfang sechzig, von imponierender Statur mit streng zurückgekämmten, leicht ergrauten Haaren, tobte, was so gar nicht seine Art war: »Nach vier Wochen kein Ergebnis im Fall Petzolt und jetzt dieser Brunner! Das sieht doch aus, als wolle jemand das Phantom auferstehen lassen. Zugegeben, das Prozedere ist nicht das gleiche, das Motiv vermutlich schon, was aber nichts daran ändert, dass es sich bei den Opfern eindeutig um Pädophile handelt. Zumindest ergibt das die Auswertung ihrer Laptops. Das halbe Präsidium und meine besten Ermittler stehen da wie dumme Jungs, während der Mörder frei herumläuft. Was glauben Sie, Hofreiter, haben wir es mit einem Serienmörder oder mit einem durchgeknallten Verrückten zu tun?« Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme und schaute seinen SOKO-Leiter erwartungsvoll an.
Kriminalhauptkommissar Richard Hofreiter, eins fünfundachtzig, schlank, dunkelgewelltes Haar, gut aussehend mit einem Oberlippenbart im Stile von König Ludwig II. sah auf den ersten Blick niemand den Polizisten an. Der durchdringende Blick seiner braunen Augen ließ beim zweiten Blick aber keinen Zweifel aufkommen, es mit einem knallharten Ermittler zu tun zu haben. Seine zurückhaltende und distanzierte Art im Umgang mit den Kollegen verlieh ihm den Nimbus von Unnahbarkeit. Hofreiter war ursprünglich in München bei der Mordkommission und hatte sich vor ein paar Jahren nach Amberg versetzen lassen. Niemand kannte den wahren Grund und die Obrigkeit im Präsidium schwieg sich darüber aus, was Tür und Tor für Spekulationen öffnete. Er selbst sagte dazu nichts. Als leitender Ermittler hatte er im Moment nicht das Gefühl, versagt zu haben, weil sie ja noch am Anfang standen. Er kannte seinen Chef als ruhigen, besonnenen und exzellenten Kriminalisten. Wie sollte er ihm jetzt erklären, dass sie im Moment zwar noch im Dunkeln tappten, den Mörder aber nicht für einen Irren hielten? Zumindest hatte er nun Gelegenheit, seinen Unmut über die Unzulänglichkeiten bei der Polizei kundzutun und meinte. »Ich glaube nicht, das sieht eher nach einem Racheakt oder einer Hinrichtung aus. Im Moment haben wir nichts in der Hand, was auf den Täter schließen lässt. Keine DNA, Fasern, Hautschuppen, Haare oder Fingerabdrücke, außer die Projektile und Hülsen. Die stammen von einer Luger, Kaliber neun Millimeter Parabellum, sind aber nicht in der europäischen Datenbank für Ballistik aufgeführt. Wir wissen nur, dass die Rechner der Opfer voll mit kinderpornografischen Material waren. Die ITler meinen, das wurde denen vermutlich nicht untergeschoben, die wären im Darknet unterwegs gewesen. Die Auswertungen ihrer Gesprächsnachweise waren allerdings sauber, vermutlich kommunizieren sie übers Darknet.« Und dann meinte er frustriert: »Wir hinken den Cyberkriminellen ständig hinterher und haben nicht mal speziell ausgebildete Beamte, die die Foren und Webseiten durchforsten können. Wir leben in einer digitalen Wüste, was DSL-Anschlüsse, insbesondere auf dem Land betreffen. Wie sollen wir da mithalten? Die Opfer waren reiche, in der Gesellschaft angesehene Leute. Wie das alles zusammenhängt, weiß ich noch nicht. Es wird dauern, das Motiv des Täters herauszufinden.«
»Aber …«, wandte Hertle ein.
Richard ließ ihn nicht ausreden. Hier ging es nicht um die Befindlichkeiten seines Vorgesetzten, sondern um Grundsätzliches, was die Polizeiarbeit betraf: »Und unsere Justiz? Wenn wir jemand schnappen, dauert es nicht lange und der Täter ist wieder auf freiem Fuß, weil die Haftzeit überschritten wurde. Der volle juristische Irrsinn«, rutschte es ihm raus. Er hatte das Gefühl, sich den Frust von der Seele reden zu müssen. Obwohl Hertle seinen Respekt hatte, war das digitale Zeitalter bei ihm noch nicht angekommen.
Hertles Zorn lag letztlich an seiner Angst, es erneut mit einem Phantom zu tun zu haben, so einem wie dem Täter, der im vergangenen Jahr den pädophilen De Klerk im Präsidium quasi direkt unter seinen Augen ermordet hatte. Sie hatten Florian Seltenreich monatelang gejagt, bis Ludwig Hiermeier ihn stellte und kurz darauf den Polizeidienst quittierte. Dass Hiermeier Richards Freund war, wusste Hertle. Ihm entging keineswegs, dass Hofreiter mit seinem Latein am Ende war. In den letzten Jahren wurde laufend gekürzt und die Polizei kaputtgespart, was nicht zu ändern war. Und jetzt saß sein bester Ermittler verärgert vor ihm, um ihm zu sagen, dass sie rein gar nichts hatten. Er gab ihm zu verstehen, er solle schweigen, stand auf, ging zum Fenster und schaute gedankenversunken auf die schneebedeckten Hausdächer. Letzte Nacht hatte es geschneit, doch die Idylle wurde zusehends von den Windböen zerstört. Er hasste den Winter und verbrachte mit seiner Frau die Urlaube auf Lanzarote, wo er ein Ferienhaus besaß. In diesem Jahr mussten sie zu Hause bleiben, denn die Corona-Pandemie hielt das Land fest im Griff und das würde sich so schnell auch nicht ändern. Das Schreckgespenst Lockdown und dann diese ganzen Hygienevorschriften … Seine Leute wurden zunehmend reizbarer, insbesondere die von der Schutzpolizei, die sich mit Querdenkerdemos und aggressiven Coronaleugnern herumschlagen mussten. Doch jetzt galt es sich den aktuellen Problemen zu widmen, denn der Druck der Presse lastete schwer auf ihm, so wie damals, als sie ihn förmlich in der Luft zerrissen hatten. Erst nachdem das Phantom unschädlich gemacht war, wurden sie von den Medien in den Himmel gelobt. Was für eine verlogene Bande! Im Nachhinein musste er trotzdem schmunzeln. Sie hatten die Interne ausgetrickst, als sie den pädophilen Staatsanwalt Joost van Brink versteckt hielten, weil Seltenreich ihn für seinen Showdown auserkoren hatte. Er brauchte damals einen schnellen Erfolg, denn Kriminaldirektor Häusler aus dem Regensburger Präsidium drohte, den Fall an sich zu reißen.
Eine heftige Windböe ließ die Scheiben erzittern und riss Hertle aus seinen Gedanken. In seiner Ratlosigkeit fiel ihm Ludwig Hiermeier ein. Ein Polizist nach seinem Geschmack. Unkonventionell. Jemand der über den Tellerrand hinausblickte, um neue Wege zu beschreiten. Dank seiner Zähigkeit und seines Durchsetzungsvermögens war es ihm gelungen, das Phantom zur Strecke zu bringen. Danach hatte er allerdings der Polizei den Rücken gekehrt. Trotzdem …
Abrupt wandte er sich um und sah Hofreiter fragend an. »Was halten Sie davon, Hiermeier als externen Berater hinzuzuziehen? Sie haben immer betont, was für ein brillanter Ermittler er ist, dass er über Intuition verfügt und sich in die Psyche eines Täters hineinversetzen kann wie kein anderer, insbesondere was psychopathische Täter betrifft.«
Mit allem hatte Richard gerechnet, nur damit nicht. Ihn in seinem Team zu haben, wäre mehr, als er sich wünschen konnte. Erfreut über den Vorschlag meinte er: »Das kann ich uneingeschränkt bejahen, aber er ist aus dem Polizeidienst ausgeschieden, außerdem kein Kriminaler. Wissen Sie, wie oft ich ihn erfolglos gebeten, ja beinahe genötigt habe, zur Kripo zu wechseln? Ich wollte ihn in meinem Team haben, doch er hat jedes Mal abgelehnt. Als ich ihm damals den Petzolt-Fall schilderte, hat er abgewunken. Er lebt auf seinem Hof und betreibt mit seiner Frau einen kleinen Hofladen, verkauft Bio-Obst und Produkte, die sie selbst herstellen, so was mit Enten und Gänsen. Außerdem ist seine Frau schwanger. Ich glaube nicht, dass er zurückkehren will.«