Of Death and Destiny - Luna Helmer - E-Book

Of Death and Destiny E-Book

Luna Helmer

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Beschreibung

Schicksal kehrt dir den Rücken, während um dich herum die Hoffnung schwindet ... Doch weder Iska noch Derryk werden sich mit diesem unausweichlich scheinenden Schicksal abfinden. Iska und Derryk stehen wieder am Anfang: alleine gegen die Welt. Nur diesmal getrennt, in unterschiedlichen Welten. Während sich Ki'Ajas Geschöpfe in den Welten ausbreiten und die Menschheit sowie die Dämonen bedrohen, ist das Schicksal ihrer Freunde ungewiss. Wer hat überlebt? Und wer ist bereit, sich auf ihre Seite zu schlagen und gegen den siebten Teufel zu kämpfen? Gejagt von Ka'Ji suchen beide ihren eigenen Weg zum Überleben. Schnell holt die Vergangenheit sie ein und uralte Geheimnisse kommen ans Licht - und mit ihnen womöglich der einzige Weg, Ki'Aja aufzuhalten. Auch wenn sie damit nicht nur ihre Verbündeten, sondern auch die Schöpfer ihrer Welt verraten werden ...

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Seitenzahl: 474

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Luna Helmer lebt meist in ihren eigenen Fantasywelten oder denen, die sie liest und schaut. Dadurch ist es kaum verwunderlich, dass sie die herumgeisternden Geschichten niederschreiben möchte.

Die Zeit, um dies zu tun, hat sie sich dann lieber während der Schule freigeschaufelt, statt eine Runde Online ausfallen zu lassen oder die neue Folge nicht zu beenden ... Während des Schreibens hatte sie daher leider auch keine Zeit, um an ihrer Prioritätensetzung zu arbeiten.

Ihr zweiter Wohnort ist in Hessen, wo sie mit ihren Eltern und zwei leicht dämlichen Katzen (sorry, aber …) lebt. Sie mag realistische Fantasy (und hasst es, über sich selbst in der dritten Person zu schreiben)

Für alle Tagträumer. Gebt nicht auf :)

Inhaltsverzeichnis

Was bisher geschah

Einsamkeit und Zeit allein

Kapitel 37: Iska

Kapitel 38: Derryk

Kapitel 39: Iska

Kapitel 40: Skee

Der Pfad am Rande des Abgrunds

Kapitel 41: Derryk

Kapitel 42: Iska

Kapitel 43: Derryk

Kapitel 44: Ka'Ji

Die Kunst des Wiedersehens

Kapitel 45: Skee

Kapitel 46: Iska

Kapitel 47: Derryk

Kapitel 48: Iska

Zwischen Tod und Ewigkeit

Kapitel 49: Skee

Kapitel 50: Derryk

Kapitel 51: Iska

Kapitel 52: Derryk

Der Dämon im Zeichen des Mondes

Kapitel 53: Derryk?

Der Dämon im Lichte der Sonne

Kapitel 54: Derryk

Von einem Rot so fern wie der Sonnenaufgang

Kapitel 55: Skee

Kapitel 56: Iska

Kapitel 57: Derryk

Kapitel 58: Iska

Von einem Rot so tief wie Blut

Kapitel 59: Derryk

Kapitel 60: Skee

Kapitel 61: Iska

Kein Vertrauen ohne Verrat

Kapitel 62: Derryk

Das Auge des Sturms

Kapitel 63: Derryk

Kapitel 64: Iska

Kapitel 65: Iska

Kapitel 66: Skee

Der erste Sonnenstrahl am morgen

Kapitel 67: Derryk

Kapitel 68: Derryk

Kapitel 69: Iska

Asche zu Asche

Kapitel 70: Skee

Kapitel 71: Iska

Von Vertrauen und Verrat

Kapitel 72: Iska

Kapitel 73: Ka‘Ji

Kapitel 74: Iska

Kapitel 75: Derryk

Kapitel 76: Iska

Kapitel 77: Skee

Kapitel 78: Derryk

Kapitel 79: Iska

Kapitel 80: Skee

Kapitel 81: Iska

End

Kapitel 82: Iska

Epilog: Skee

Unsere Teufel, Dämonen und Erzengel

Dämonenarten

Die Magiearten

Nachtrag

Die Magieformen

Kleines Wörterbuch der Alten Sprache

Was bisher geschah

Nachdem die Waise Iska als Halbteufelin erwacht ist und sich als Tochter der Teufelin des Todes Suruh herausstellt, muss sie ihren Zwillingsbruder Derryk zurücklassen. Sie sucht einen Weg in die dämonische Hauptstadt der Unterwelt, Neterya. Auf ihrer Reise dorthin verirrt sie sich in den Zirkus der dunklen Künste, ein mysteriöses Gefängnis für Dämonen mit seltsamen Insassen. Nachdem sie diesen Ort entkommen konnte, gelangt sie durch ein Portal nach Neterya.

In der Zwischenzeit hat Derryk die Bekanntschaft eines unbekannten, namenlosen Mädchens gemacht, welches ihn in die Hauptstadt Ashari begleitet. Dort bekommt er die Chance, einer dämonenjagenden Garde beizutreten. Nachdem er in einer Aufnahmeprüfung eine Sirene, eine Wasserdämonin, töten musste, akzeptiert diese ihn als Schüler. Direkt danach jagen sie das Mädchen, welches Derryk nach Ashari begleitet hatte und sich als Spionin eines fremden Landes entpuppte. Es gelingt ihnen, sie einzufangen und einzusperren.

In Neterya wurde Iskas Ankunft bereits erwartet. Die Dritte Seherin Rio‘t, eine Herrscherin Neteryas und Mitglied des mächtigen Rates der Zwölf, nimmt sie als Schülerin an und stellt ihr die Dämonin Skee als ihre Dienerin vor.

Derryk und Iska trainieren und lernen in den nächsten Monaten, machen neue Bekanntschaften und bauen sich ein Leben auf.

Derryk bekommt mit drei anderen Rekruten den Auftrag, drei Spione eines verfeindeten Landes ausfindig zu machen, unter ihnen eine dämonische Seherin. Mehrere Wochen gehen sie Hinweisen nach und beobachten Verdächtige, bis sie endlich eine feste Spur und Beweise finden.

Iska wird von Rio‘t unterrichtet, wenn auch nur in dämonischer statt teuflischer Magie und Geschichte. Sie beginnt, dem Rat der Zwölf und ihrer Lehrerin zu misstrauen. Ihre Freundschaft zu Skee verstärken dieses Gefühl, als sie mit der Zeit die Geschichte der Sklavin erfährt, deren Magie vom Rat weggesperrt wurde. Skee erzählt Iska von ihrer Abstammung einer dämonischen Mutter und einem Wächter als Vater, den Gesandten der Erzengel.

Rio’t nimmt sie mit in die Stadt der Seher und deren Heiligtum. Dort wird ein riesiges, mysteriöses Auge aufbewahrt. Durch dieses Auge nimmt Iska ungewollt Kontakt mit der ihrer Mutter Suruh auf. Außerdem beobachtet sie am gleichen Tag ein gefährliches Ritual, in welchem ein Mensch in eine Chameere, einen animalistischen Dämon, verwandelt wird.

Derryk und seine Kameraden verfolgen die Verdächtigen, finden sie jedoch tot vor. Die Todesursache ist ihnen zuerst ein Mysterium, doch klärt sich, als sie auf einen NakTey, einen seelenraubenden Dämon, in den Straßen Asharis treffen. Der Dämon hatte bereits einen seinen Kameraden getötet und entzieht beinah noch Ayin, einer Assassinen-Rekrutin, die Seele. Derryk versucht Ayin zu helfen, wird dabei jedoch selbst von dem NakTey erwischt.

Iska beginnt, eigene Nachforschungen anzustellen, mit Skees Hilfe und dem Rat eines Freundes der Dienerin: dem alten Alchemisten Ask und dessen Heilerschüler Lynn. Entgegen Rio‘ts Warnungen sucht und findet sie einen Weg, Skees Fluch aufzuheben. Und während ihrer Recherchen zu ihrer eigenen Familie wird sie von ihrer Halbschwester Ka‘Ji, einer gefürchteten Halbteufelin, besucht. Ka‘Ji versucht, Iska auf ihre Seite ziehen, doch sie lehnt ab.

Als Derryk nach dem Angriff des NakTey erwacht, fühlt er sich seltsam. Leer und als würde ihm etwas fehlen. Ihm wird gesagt, Luxj habe ihn und Ayin gerettet, doch das Mädchen liege noch immer im Koma. Nach ein paar Tagen wird Derryk entlassen und nimmt sein Training an Luxj‘ Seite wieder auf. Doch ihn überkommen plötzliche, fremde Gedanken, als wäre eine zweite Stimme in seinem Kopf. Derryk verhält sich aggressiv seinen Kameraden gegenüber und zieht sich zurück. Langsam verzweifelt er, er kann nicht verstehen, was mit ihm nicht stimmt. Im Verlies trifft er noch einmal auf das Mädchen, welches ihn vor einem Jahr nach Ashari begleitet hatte. Sie versucht, ihn vor etwas zu warnen, doch Derryk hört ihr nicht mehr zu und ignoriert ihre Worte.

Iska schickt Skee auf die Suche nach einem gewissen Artefakt aus Skees Vergangenheit, einem Amulett. Doch dazu muss Skee einen verbotenen Bereich im Archiv Neteryas betreten und wird erwischt - doch bevor ein Mitglied des Rates ihr den Todesstoß versetzen kann, rettet Iska sie und weist das Ratsmitglied in ihre Schranken. Damit zieht sie deren Zorn auf sich. Doch bevor dieser etwas tun kann, erreichen Iska schockierende Nachrichten.

Derryk verliert mehr und mehr seiner selbst und seines Verstandes. Die Stimme in seinem Kopf drängt ihn zu immer gewaltsameren Gedanken, bis sie ihn eines Nachts übernimmt. Besessen vom Fluch dringt Derryk in den Königspalast ein und tötet den König und die Königin. Er wird von den Wachen überwältigt und zum Tode verurteilt.

In Neterya werden Iska die Nachrichten zu ihrem Bruder zugetragen. Auch wenn sie Skee versprochen hat, ihren Fluch zu brechen, drängt ihr Herz sie dazu, Derryk zuerst zu retten. Da tauchen zwei von Ask geschickte Halbteufel auf, Akyma und Ifrat. Sie helfen Iska, das Ritual für Skee direkt durchzuziehen und den Fluch zu brechen. Somit begleitet die Dämonin Iska in die Oberwelt. Statt dort auf einen Kampf um Derryk zu treffen, gibt der neue König den Gefangenen frei. Er warnt Iska vor der Zukunft.

Abermals mit Asks Hilfe kann Iska den Fluch von Derryk in eine zweite Persönlichkeit verwandeln, die sich immer an Vollmond zeigen wird. Kurz darauf wird sie von dem Rat gerufen. Aufgrund ihrer Position als Halbteufelin überzeugt sie den Rat, Skee frei zu lassen, im Austausch gegen einen Gefallen - ein gefährliches Versprechen unter Dämonen.

Derryk wird von seinen Taten geplagt. Er kann seine Freiheit nicht mit seinem Gewissen vereinbaren und bittet darum, zurück nach Ashari zu dürfen, um sich zu stellen. Doch dort angekommen muss er feststellen, dass das Land von einem Befeindeten eingenommen wurde. So kann er nur noch der Hinrichtung seines Königs beiwohnen. In seinen letzten Momenten betraut der König Derryk mit der Aufgabe, seine Lebensschuld zu begleichen und Ashari zu befreien.

Zur gleichen Zeit wird Neterya von Ka‘Ji und Ki‘Aja angegriffen und zerstört. Iska, Skee, Ask und Lynn werden von der Halbteufelin konfrontiert und getrennt. Iska und Skee landen in einer Falle der Wächter. Skee wird auf eine entfernte Insel verbannt, ein Gefängnis für Dämonen. Iska tötet alle Wächter. Doch Neterya ist bereits gefallen. So bleibt ihr nur noch, der Stadt den Rücken zu kehren und einen Weg zu finden, ihre Freunde und Familie wieder zusammen zu bringen, um einen Krieg zu gewinnen …

Einsamkeit und Zeit allein

-37-

Iska

Die Bilder des brennenden Neterya verfolgten sie auf Schritt und Tritt. Ein so grundsätzlich anderes Bild als jenes, welches sich nun vor ihr erstreckte.

Eine Landschaft mit unzähligen Wasserfällen, welche von den Wolken entsprangen und die umstehenden Berge umhüllten, zog sich über den gesamten Horizont. Sie hatte noch nie so viel Wasser auf einmal gesehen. Das kristallklare Wasser wurde nur von schwarzem, glänzendem Gestein unterbrochen, was in unregelmäßigen Abständen aus der Oberfläche ragte. Die Kalten Quellen waren das Reich der Nymphen und Sirenen und lag weit abseits von Neterya. Hier sollte weder Ka’Ji noch ihre Armee sein. Zumindest nicht mehr.

Und der Weg hatte ihr Zeit zum Nachdenken gegeben. Zeit, die sie vermutlich nicht hatte, aber brauchte. Ihre Situation war … kritisch, milde ausgedrückt. Und sie brauchte dringend einen Plan, irgendeine Idee, wie es weiterging. Einen Weg zum Überleben, eine Strategie für einen Krieg. Alleine konnte sie nichts ausrichten und noch weniger, wenn sie in Neterya blieb. Hier lief sie nur Gefahr, von Ka’Ji, oder noch schlimmer Ki’Aja, entdeckt zu werden. Also brauchte sie ein Portal in die Oberwelt. Und von denen existierten nur eine Handvoll.

Als eine der wenigen Dämonen, die die Erlaubnis zur Oberwelt hatten, besaßen Nymphen ein solches. Außerdem waren sie neben den Animeen die umgänglichste Dämonenart. Hier war die Chance am größten, weiterzukommen.

Die Frage war nur, wo sich das Portal befand.

Iska trat näher an das Wasser heran. Kieselsteine und schwarzer Sand knirschten unter ihren Füßen, scharfe, glänzend weiße Muschelscherben schnitten durch den mitgenommenen Stoff ihrer Schuhe. Am Ufer hielt sie inne, dem Tor zu den Kalten Quellen. Die Nymphen hausten im flachen Gewässer in Unterwasserhöhlen und zwischen Algen oder in Felsenhöhlen über Wasser; Sirenen hingegen lebten tief unten am Meeresgrund. Und normalerweise waren zumindest Nymphen sehr gesellige und gesprächige Wesen. Doch die kristalline Wasseroberfläche lag ruhig, ab und an unterbrochen durch sachte Wellen.

Iska lief am Ufer entlang, der Sand unter ihren Lederschlappen knirschte unangenehm laut in der Stille und der Gedanke, dass der Sand nur auf Wasser lag und durch die Magie der Sirenen nicht einsank, bereitete ihr zusätzliches Unbehagen. Neben ihren leichten Fußabdrücken bemerkte sie weitere, tiefe Abdrücke aus drei Zehen und langen Krallen, die Löcher im Sand hinterlassen hatten. So etwas hatte sie noch nie gesehen. Sie hätte auf eine Chimäre getippt, doch das Territorium der Tierdämonen lag am anderen Ende der Unterwelt.

Steine fielen klappernd die steilen Felsen herunter, begleitet von unverständlichem Getuschel. Iska hob den Blick und suchte das dunkle Gestein ab, doch bis auf das Geflüster nahm sie nichts wahr.

Da blitzte eine blaugrüne Schuppe hinter einem Vorhang aus getrockneten, schwarzgrauen Algen auf, der einen Höhleneingang verdeckte. Dem Farbblitz folgte eine kleine Gestalt, ihre fahl-grüne Haut stach in der Dunkelheit hervor. Gelbgrüne Augen fixierten Iska. Der jungen Nymphe folgten zwei weitere Gestalten.

»Sind sie weg?« Beinahe verstand Iska die zaghaften Worte nicht, die Distanz verschluckte ihre Stimme.

»Sind sie weg?«, wiederholte die junge Nymphe genauso leise wie vorher. Sie hielt ihre Hände vor der Brust gefaltet und sah sich mit tellergroßen Augen um. Die zwei anderen versteckten sich hinter ihr.

»Wer?«

»Die Bestien.« Ihre Stimme zitterte.

Iskas Blick fiel kurz auf die Abdrücke im Sand zurück. »Dämonen?«

Die drei Nymphen schüttelten simultan die Köpfe. Die zwei jüngeren klammerten sich jetzt an die Arme der vorderen. Iska lief näher zu den Felsen, auf den die drei Kinder sich gewagt hatten. Doch bevor sie die Nymphen weiter ausfragen konnte, bemerkte sie tiefe Schrammen im Gestein. Jeweils zwei oder drei breite Kratzspuren nebeneinander. Der Stein glänzte an diesen Stellen metallisch grau. Als wäre er verwundet. Iska strich mit den Fingern darüber. Die Kälte jagte eine Gänsehaut ihren Arm herauf. Mit den Fingernägeln fuhr sie die Kratzer nach. Der ängstlichen Blicke bewusst ließ sie einen kleinen Teil ihrer Magie durch den Stein fließen.

Iska sah lediglich verschwommene Schatten, ihre Körper größer als Gorgonen oder Großaetris, mit Klauen länger als die Stacheln der Acqui. Statt einem klaren Bild vernahm sie einen stark hypnotischen Sog, der an ihrer Aufmerksamkeit zerrte und sie umzulenken versuchte. Selbst jetzt noch spürte Iska den Nachklang dieser Magie wie die schief-gestimmten Saiten eines Instrumentes. Eine zerrende Melodie, die in ihren Kopf einzudringen versuchte. Die Monster konnten andere kontrollieren. Die Ak‘Amjen, die dreizehnte Dämonenart.

Vor wenigen Tagen hätte Iska diese Magie stärker als ihre eigene eingeschätzt.

Ihr Blick zuckte wieder hoch zu den Nymphenkindern, die sich über ihren Felsen beugten und jede von Iskas Bewegungen mit ängstlichen Augen beobachteten.

»Wo sind die anderen Nymphen und Sirenen?«

Die Älteste streckte die Hand aus und deutete auf das dunkle Wasser. »Die, die noch da sind«, sagte sie zaghaft. »Viele sind weg. Sind den Bestien gefolgt.«

»Weshalb seid ihr nicht bei ihnen?« Iska nickte zum Wasser.

»Wir haben uns versteckt.« Die beiden hinter ihr nickten zustimmend, obwohl sie sich hinter der Ältesten zu verstecken versuchten.

»Könnt ihr mich zu ihnen führen?«

Bevor sie antworten konnten, geriet das Wasser in Aufruhr. Selbst die Massen unter den Steinen zitterte. Iskas Herz setzte einen Schlag aus, als sich die Luft um sie herum veränderte. Sie lud sich mit Magie auf. Sie flimmerte und knisterte, jagte herum frisch entstandener Sturm. Die dunklen Tiefen wirbelten umher, schlangen sich in einem Strudel umeinander und bildeten eine trockene Stelle mitten im See. Gestalten tauchten darin auf, Iska meinte kurz etwas Goldenes aufblitzen zu sehen, dann fiel eine leblose Gestalt aus dem Strudel. Ihre Haut glich den Wassermassen, die eine Sekunde später über dem Körper wieder zusammenschlugen. Und mit klopfendem Herzen sah sie die zweite Gestalt darin: ein hagerer Körper mit massiven Ketten und halbabgerissenen Flügeln. Sofort wandte sie den Blick ab, sah wieder zu den Kratzspuren im Felsen, doch selbst im Augenwinkel nahm sie die leeren Augenhöhlen wahr, in denen sich einfach nur ein tiefes schwarzes Nichts befand. Und sie hätte schwören können, dass sie sich direkt auf sie richteten.

Iskas Herz setzte einen Schlag aus. Ki’Aja.

»Schaut nicht hin!«, rief sie den Nymphen zu, doch sie nahm ihre Stimme selbst kaum wahr. Sie zitterte. Dann brach der Strudel endgültig in sich zusammen und es kehrte wieder absolute, unheimliche Stille ein.

Zuerst weigerte sie sich, nach den Kindern zu sehen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich alleine bei dem Gedanken, welches Szenario sie erwarten würde. Sie wusste nicht viel über Ki‘Aja, doch ein paar wenige Legenden kannte sie und sie glaubte jedes einzelne, abergläubische Wort der Menschen, Dämonen und Wächter. Nicht, weil alles hätte stimmen können. Nein, sondern weil es nichts gab, was nicht stimmen konnte. Ki'Aja war ein Schöpfer. Es gab nichts, was er nicht sein konnte, nichts, was er nicht tun konnte. Hieß es zumindest. Sie konnte nur hoffen, dass es nicht stimmte.

Die drei Nymphen zappelten herum, kratzten sich gegenseitig die Augen aus und rissen sich die Haut von den Knochen. Ihre Iriden und Pupillen verschwommen ineinander zu einer verworrenen Mischung aus Farben. Sie gaben den Zustand ihres Geistes wieder, völlig zerstört und zunichtegemacht, ein reines Chaos aus Verwirrung und Wahn. Hellrotes Blut bespritzte den Felsen und lief über ihre dürren Körper, während sie sich gegenseitig das Fleisch von den Knochen rissen und dabei kicherten und lachten.

Iska kletterte die Steine hoch. Ihr schauderte es bei dem Anblick der Kleinen. Sie rekelten sich in ihrem eigenen Blut. Iska konnte die Magie, die auf ihnen lag, nicht aufheben. Sie konnte sie nur erlösen. Daher schickte sie sie in einen tiefen Schlaf, nahm ihnen ihre Besinnung und ihre Energie. Ihr Herz zog sich zusammen und sie musste kurz stehen bleiben und in Ruhe Luft holen, bevor sie sich hinhockte und die Geister, die Seelen der drei Kinder von ihren Körpern trennte. Gleichzeitig hörten die Körper auf zu arbeiten, der Blutfluss versiegte und ihre Herzen gaben auf zu schlagen. Vor ihr lagen nur noch drei leere, blutverschmierte Hüllen. Zitternd zeichnete Iska ein Pentagramm in den Sand und schickte die drei fröhlichen Seelen hindurch in die Totenwelt. Danach verwischte sie das Zeichen wieder.

Ihre Hand ballte sich zur Faust. Diese drei waren Kinder gewesen. Kinder, die keine Chance in dieser Welt bekommen hatten. Sie kannte die Totenrituale der Nymphen nicht, weshalb sie die Kinder nicht begraben konnte. Auch wenn es ihr schwerfiel und einen weiteren Stich versetzte, ließ sie sie in ihrem eigenen Blut liegen und sprang von der Anhöhe wieder herunter in den Sand. Erst da bemerkte sie, dass ihre Schuhe durchweicht und klebrig waren und Sand ansammelten. Als sie sie auszog, sah sie nicht auf ihre Hände und achtete nicht auf den metallischen Geruch. Schnell eilte sie ans Wasser und wusch sich das Blut von Händen und Füßen. Dann watete sie zu der Leiche. Iska erkannte die reglosen Gesichtszüge der Nymphe, obwohl sie nie miteinander gesprochen hatten. Tikla, eine der Zwölf.

Sie zog die Nymphe aus dem Wasser und die Eiseskälte ihrer blaugrünen Haut kroch Iskas Hände hinauf. Keuchend legte sie die Nymphe im Sand ab.

Lebte noch jemand vom Rat? Lebten Ask und Lynn noch? Skee und Derryk? Die Gedanken kamen so plötzlich und so schnell, dass Iska sie sich nicht abwehren konnte. Mit zittrigen Fingern rieb sie sich die Arme, hoffte damit etwas gegen das beklemmende Gefühl in ihrer Brust tun zu können. Sie ließ sich in den Sand fallen, ihr Blick wanderte auf das Wasser hinaus. Donnernd hämmerte ihr Herz gegen ihre Brust. Ka'Ji hatte Ask und Lynn. Skee war entweder tot oder auf der Insel der beschworenen Dämonen. Sie hatte das Ritual nicht genau gesehen, doch es war der einzige Ort, an den Wächter Dämonen schicken konnten. Und Derryk befand sich im besetzten Ashari.

Und sie saß alleine mit vier Leichen vor den Kalten Quellen.

Das Wasser kräuselte sich und kleine Wellen breiteten sich darauf aus. Dann tauchten zwei Köpfe daraus hervor. Zwei Augenpaare richteten sich erst auf Iska, dann auf Tiklas Leiche, dann wieder auf Iska. Diesmal mit verengten Lidern. Elegant stiegen sie aus dem Wasser, ihre Kleider hingen nass an ihren wohlgeformten Körpern herunter und bedeckten lediglich die wichtigsten Stellen.

»Wer bist du?« Die Größere der beiden trat vor Iska, bläuliche Schuppen schimmerten an ihrem Körper. Iska stand auf und klopfte sich den Sand von der Kleidung. Falls diese glaubten, bedrohlich auszusehen, irrten sie sich.

»Iska A‘Shyr.«

Beide Dämoninnen überragten sie um einen guten Kopf, die Rücken ein wenig überstreckt, und ihre Augen leuchteten vor Arroganz. Doch als sie ihren Namen hörten, verschwand jeder Funke Überheblichkeit aus ihnen. Die Nymphen ließen die Schultern sinken und wechselten unsichere Blicke.

»Wo ist euer Portal in die Oberwelt?«

»Unter den Kalten Quellen.«

Iska nickte. Doch bevor sie auch nur einen Schritt gehen konnte, hielt die Nymphe sie auf. »Was passiert in Neterya?«

Ungewollt blieb Iskas Blick zuerst an Tiklas Leiche hängen, dann an dem Felsvorsprung, an dem sie selbst aus der Ferne hellrotes Blut das Gestein hinunterfließen sah.

»Neterya ist verloren«, antwortete sie schlicht. Dämonen scherten sich nicht um Tote, sie sie galten lediglich als Kollateralschaden. Tikla, die Kinder. Ihre Tode waren schade, doch kein wirklicher Trauergrund.

»Neterya ist erst ohne den Rat verloren.«

Natürlich. Ohne Stärke, ohne Führung brach Chaos aus. Ein Machtkampf, ein sinnloser Akt zu diesen Zeiten.

»Wie ich sagte«, entgegnete Iska und schritt von den beiden Nymphen weg. »Neterya ist verloren.«

Das Portal der Nymphen lag bei einer Unterwasserklippe und entpuppte sich als ein bodenloser Wasserfall leuchtender Wassermassen. Eine feuchte Höhle führte für Nicht-Wasserwesen hinunter, deren kleiner Eingang zwischen dem Strandufer und einem schwarzen Felsen lag und steil nach unten führte. Sand klebte an den Wänden und bedeckte den Boden, wieder knirschte es bei Iskas Schritten. Nach einiger Zeit hörte es sich nach Schnee an und ihre Erinnerungen schweiften kurz zu den zahlreichen kalten Winternächten in irgendwelchen Baumstümpfen ab. Auch wenn die Temperatur unter so vielen Massen eiskaltem Wasser überraschend angenehm war, fröstelte sie jetzt, wo sich das dunkle Blau vor ihr erstreckte und sie ein schwarzer Abgrund erwartete. Die Höhle hatte sie hinter den Wasserfall geführt, hinter das Portal. Doch es würde schon von beiden Seiten funktionieren. Hoffentlich. Höchstwahrscheinlich würde das Portal sie zum Nuhjy führen und das konnte fast überall in Ashari, Elen Laar oder Sakkar sein. In dieser Hinsicht faszinierte sie ihre Magie. Teleportationen konnte sie kontrollieren, doch Portale … So ganz hatte sie den Dreh mit den Dingern noch nicht raus. Und der einzige Weg in die Oberwelt führte nun mal durch Portale, Teleportationen wirkten nicht. Einzig Skees Neutralmagie besaß die Macht, Wesen aus eigener Kraft aus Neterya in die Oberwelt zu befördern. Iska biss sich auf die Lippe und verscheuchte den Gedanken. Oder Schwarze Magie. Doch so weit war sie noch nicht.

Sie blickte ins leuchtende Blau. Zuerst würde sie ihre Freunde und Familie wieder zusammensuchen. Skee, Derryk, Ask und Lynn. Danach brauchte sie Unterstützung, Hilfe in ihrem Kampf. Und dann würde sie einen Weg finden, Ki’Aja aufzuhalten. Und wenn sie ihn nicht davon abhalten konnte, ihre Welt zu vernichten, würde sie ihm seinen Weg so schwierig wie möglich gestalten.

Iska hielt eine Hand ins Wasser. Der Anblick erinnerte sie an die einer frischen Wasserleiche. Weiß und knöchrig. Der Sog in die Tiefe zerrte an ihr und ohne noch länger nachzudenken, trat sie hinein und Eiseskälte umschloss sie wie eine zweite, unangenehme Haut. Nymphen und Sirenen waren kälteunempfindlich und jetzt wusste sie auch, weshalb. Sie merkte fast schon ihre Gelenke und Knochen einfrieren und wie Müdigkeit sie einnahm, während Zitteranfälle ihren Körper erschütterten.

Sie sah nichts außer einem verschwommenen Leuchten. Der Wasserfall zog sie hinunter, immer weiter und weiter. Und mit jeder erstickenden Sekunde verblasste der Raum um sie herum mehr, bis er sich gänzlich veränderte.

Sie schnappte nach Luft. Eine angenehme Wärme strich ihre nasse Haut entlang, die Kleider klebten ihr am Körper.

Sie stand inmitten eines Waldes in einer kleinen Quelle, klares Wasser sprudelte aus einer kleinen Rinne zwischen Kieselsteinen hervor. Die Pfütze, die das Wasser ihrer Kleidung unter ihr bildete, war größer als das Rinnsal.

Doch auch hellgraue Nebel sammelten sich zwischen ihren Beinen, die ihr viel zu bekannt vorkamen. Die Nebel verdichteten sich von einer auf die andere Sekunde und hüllten Iska in Dunkelheit und Kälte.

»Iska A’Shyr. Wie interessant.«

-38-

Derryk

Für den Bruchteil einer Sekunde herrschte absolute Stille auf dem gesamten Marktplatz. Niemand wagte es, einen Laut von sich zu geben. Nicht mal die feindlichen Besatzer aus Elen Laar. Der Schock der Exekution ließ Derryk erstarren. Die Bedeutung dessen wollte ihm noch nicht so ganz klar werden.

Dann begannen die Elen mit ihren Speeren und Schwertern auf den Boden zu stampfen und das dröhnende Geräusch ihres Sieges erfüllte den Platz. Als sich die Stimme des militärischen Anführers ein weiteres Mal erhob, verzog Derryk angewidert das Gesicht.

»Euer König ist tot!«

Die Shareji sahen sich untereinander an, anscheinend unsicher, wie sie zu reagieren hatten, jedoch hielt es niemand für angemessen, sich dem Siegeszug der Elen anzuschließen. Der Marktplatz, das eigentlich größte Zeichen von Asharis Freiheit, verwandelte sich in ein Gefängnis. Die aus dickem Stein und massiven Holz gebauten Häuser um die kleinen Marktstände wirkten nun wie dicke Eisenstäbe, die die Menschen in einen Käfig zwängten.

Derryks Blick fiel auf die Statuen, die hinter dem enthaupteten Xerrej emporragten. Fünf Personen, zwei junge Frauen und drei ältere Männer, alle in eiserner Rüstung und mit Waffen im Anschlag. Die Statuen gehörten einer Legende an, der Legende der Teilung der drei Länder, doch es war eine Legende von Freiheit und Zusammenhalt. Jetzt jedoch wirkten die Gesichter wie zu grimmigen Grimassen verzogen, als wollten sie ihren Unmut über die Eindringlinge zeigen.

Bezahle deine Schuld an Ashari zurück. Befreie es, befreie dein Volk.

Xerrejs Befehl hallte durch seinen Kopf. Derryk schauderte. Ihm war, als würden auch die fünf Statuen ihn eindringlich ansehen. Als hätten sie die Worte gehört.

Derryk A’Shyr, bezahle deine Lebensschuld.

Es war das einzige, was ihm hier noch blieb – seine einzige und letzte Aufgabe. Aber wie? Bei den zwölf Erzengeln, wie sollte er alleine Ashari befreien?

Seine Kiefer mahlten, als er sich zwischen den unschlüssigen Shareji und den feiernden, feindlichen Elen umsah. Zu diesem Zeitpunkt konnte er nichts ausrichten. Er war machtlos. Er musste sich Verbündete suchen …

Sein Blick fiel auf eines der Plakate mit seinem Gesicht drauf und dem großen Tot oder Lebendig Schriftzug. Konnte er überhaupt Verbündete finden? Er war ein Verräter, ein Mörder. Wer würde ihm glauben, geschweige denn helfen?

Er schob sich zwischen den Menschen hindurch, das Gesicht noch immer unter der Kapuze verborgen. Niemand beachtete ihn oder beschwerte sich, wenn er jemanden anrempelte oder unsanft zur Seite schob.

Hinter ihm ertönte nun zum dritten Mal die Stimme des Anführers der Elen, doch Derryk schenkte ihm keine weitere Sekunde Aufmerksamkeit, zumal die arrogante Stimme sowieso nur gedämpft an seine Ohren drang. Vielleicht sollte er zuhören, vielleicht sollte er sich einen Überblick über die Situation machen. Doch er tat es nicht, er drängte sich weiter nach hinten. Die Menschenmasse war größer, als er angenommen hatte.

»Hey, du!« Er verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen, als er das Scheppern von Rüstung zu nahe an sich hörte. Unter seiner Kapuze sah er nach hinten und erblickte das tödliche Glänzen einer sauberen Rüstung und unbenutzter Schwerter.

»Wo solls denn hingehen?«

Derryk schwieg, während sich eine schwere Stille über die nahestehenden Menschen legte. Ihre Blicke huschten von den feindlichen Soldaten und ihm hin und her.

»Ich habe dich etwas gefragt, Bursche. Wer glaubst du … Hey, bleib stehen!« Derryk stieß die Männer und Frauen beiseite und rannte durch die Menschenmenge. Manche Leute wichen ihm aus und er schlüpfte durch die schmalen Lücken. Schwere Schritte donnerten hinter ihm, auf die immer wieder empörte und ängstliche Aufschreie folgten. Ihre Rüstungen wogen zu schwer und waren zu unhandlich, damit sie ihn hätten einholen können, außerdem verrieten ihre aufgebrachten Stimmen, dass die Shareji ihnen die Wege versperrten.

Die Menschentraube spuckte ihn bei einem Stand aus, der Wolle und Mäntel verkaufte. Derryk fiel gegen einen Holzbalken, der das Dach des Standes trug, und verfing sich dann in mehreren Paaren weißer und hellbrauner Mäntel. Er war schon versucht, sich einen überzuwerfen, damit die Soldaten ihn vielleicht nicht mehr erkannten, doch da blitzte Metall in der Menge auf und Hände schoben die Menschen auseinander. Er befreite sich von der Wolle, warf dabei die Hälfte der Kleidung aus Versehen auf den dreckigen Boden und rannte in die Seitengasse, die sich zwischen zwei massiven Steinhäusern ergab. Er tauchte in die Schatten ein, presste sich mit dem Rücken an die Wand.

»Wo ist er hin?«

»Ach, lass ihn. Der kommt nich‘ aus der Stadt raus.«

Die Soldaten tauchten kurz vor der Seitengasse auf, sahen hinein und verschwanden auch schon wieder. Derryk hielt den Atem an und bewegte sich nicht. Mit lautstarken Beschwerden liefen sie den Rand der Menschenmenge entlang, verweilten jedoch glücklicherweise nicht lange in Derryks Nähe. Erleichtert atmete er auf. Da fiel ihm der steinerne Grauton seines Umhangs auf … Hatte er die Farbe verändert?! Derryk hob den Stoff an. Er fühlte sich noch gleich an, jedoch glich er nun den Schatten um ihn herum. Derryk schmunzelte. Iska hatte ihm einen Umhang geschenkt, der ihn perfekt tarnen konnte. Nicht schlecht. Wobei sie ihm das auch einfach hätte sagen können …

Der Weg hinter ihm führte in eine Sackgasse, die mit einer niedrigen Mauer endete, vor ihm füllte immer noch die versammelte Menschenmenge den Marktplatz. Die Häuser schienen keine Seiteneingänge zu haben wie die schäbigen Pubs und Bordelle am Außenrand der Stadt. Der glatte Stein bot auch nichts, an dem es sich gut klettern ließ, außerdem hatte sich seine kurze Ausbildung auch nicht auf so etwas konzentriert. Doch über die Mauer konnte er es schaffen, wenn er mit Anlauf die Mauer hochsprang und sich dann darauf zog. Beim zweiten Anlauf kniete er auf der schmalen Mauer, die viel gröber gebaut war als die Häuser drumherum. Da er sich immer noch in Schatten befand, lehnte sich Derryk an eine Hauswand an und sah hinunter. Die Straßen waren wie leer gefegt. Keine Menschenseele, kein Geräusch, nichts. Den Lärm rechts von ihm blendete er aus, die Menschen wurden lauter auf dem Marktplatz. Er schloss die Augen und genoss kurz das Gefühl, unbeobachtet und alleine zu sein.

Während er dort saß, kamen ihm wieder Xerrejs Worte in den Sinn. Es ergab keinen Sinn, dass er Hoffnungen in Derryk setzte, in den Mörder seiner Eltern. Hinter ihm standen keine Armeen, keine Verbündeten, die ihm helfen konnten. Die Garde würde ihm nicht helfen, er hätte schon Glück, wenn sie ihn nicht auf den Scheiterhaufen warfen, sobald sie ihn erwischten. Doch solange er hier war, gab es nur den einen Weg: die Garde finden und hoffen, dass sie ihn wenigstens anhören würden. Vielleicht verfolgten sie bereits einen Plan, dem er sich anschließen konnte. Oder er fand wenigstens etwas Ausrüstung, um aus Ashari zu fliehen und sich einen neuen Plan auszudenken. In seiner unmittelbaren Nähe befanden sich drei Wachthäuser, doch diese wären im Moment zu auffällig und zu nahe am Marktplatz. Er sprang von der Mauer hinunter und trat aus den Schatten der Häuser ins wolkengedämpfte Sonnenlicht. Er lief zwischen Wohnhäusern und Geschäften entlang, bis er vor einem Wachhaus stehen blieb. Der Stein bröckelte bereits und dicke Holzbalken stützten ein kleines Vordach mit einem Schild daran, dass das Zeichen der Königsfamilie Zer’Ah zeigte.

Nachdem Derryk sich auf der Straße umgesehen hatte, betrat er das Wachhaus. Überreste der hölzernen Einrichtung, zersplitterte Stühle und Tische lagen verstreut und von Schwertern gezeichnet am Boden. Ein metallischer Geruch stieg ihm in die Nase. Er ahnte, was ihn erwartete und war nicht überrascht, hingerichtete Wachmänner hinter einer angelehnten Tür zu finden. Jemand hatte sie aufeinandergestapelt. Manche blickten aus leeren Augen ins Nichts. Ohne die Miene zu verziehen, nahm er sich das Schwert, an dessen Klinge am wenigsten Blut klebte. Und ohne einen weiteren Blick schloss er die Tür und trat eine andere zugeschlossene auf, die letzte im kleinen Flur. Lediglich eine Treppe kam dahinter zum Vorschein, die Fackeln an den Wänden waren gelöscht. In dem Chaos würde er nichts finden, um sie wieder zu entzünden, daher orientierte er sich an der Wand, während er ins Dunkle hinabstieg. Ohne die Fackeln wusste er nicht, wohin der Gang führte, obwohl er auch ohne Ziel gehofft hatte, hier unten Mitglieder der Garde zu finden. Mit einer Hand an der Wand und in der anderen das Schwert kam er langsam voran, bis er rotes Licht in der Ferne flackern sah. Der Gang führte zu den Verliesen. Dort würde er niemanden antreffen. Er musste zu einem anderen Wachhaus, einem Archiv oder einem Lagerraum gelangen, um –

Er drehte bereits um, als seine Gedanken an einer Person hängen blieben. Sein Griff um das Schwert verkrampfte sich und sein Blick blieb am roten Licht weit hinten hängen. Das letzte Mal hatte er Lura nicht zuhören wollen. Nun wusste er, dass sie die Wahrheit gesagt hatte. Doch da sie recht behalten hatte, hieß das auch, dass sie aus Elen Laar stammte und ihre Leute sie eventuell suchten. Wiederum brauchte er Verbündete und das Mädchen hatte sich damals nicht angehört, als wäre sie gut auf Ejen Nuur zu sprechen. Sie könnte ihm helfen.

Verdammt.

Derryk schob sich vorwärts, diesmal schnelleren Schrittes und auf das rote Leuchten zu, dann folgte er den Fackeln. Der Weg sah nicht so aus, als wäre er in den letzten Stunden benutzt worden, zumindest hatte hier kein Kampf stattgefunden. Außerdem hörte er nichts außer dem rhythmischen Echo seiner schnellen Schritte. Der Gang führte tiefer in das Labyrinth hinein, bis Derryk irgendwann das schiefe Klirren von rostigen Ketten hörte, welches sich mit lauten Männerstimmen vermischte.

»Wir hatten gewettet, dass wir dich hier finden und nicht am Hof«, polterte eine Stimme irgendwo zwischen kalter Emotionslosigkeit und amüsiertem Gelächter.

»Ha, Ohrom wird sich freuen, er hat ‘n ganzes Monatsgehalt gewettet.«

Kurz folgte Stille, dann lachten beide Männer auf.

»Kleine, du bist genau, wo du sein sollst.«

Vor Derryk erstreckte sich ein langer Gang mit Gefängniszellen auf beiden Seiten. Hier wurden die Fackeln noch nicht gelöscht. Vor einer Zelle standen zwei Männer in voller Rüstung, das rostige Metall glänzte praktisch im Gegensatz zu dem modrigen Gestein um sie herum. Die eiserne Tür stand einen Spalt breit offen. Dann musste das Luras Zelle sein. Auch wenn ihre Rüstungen aussahen, als würden sie keinen Schlag mehr aushalten, bezweifelte er, dass er gegen zwei solcher Berge eine Chance besaß. Außerdem bannten Schutzrunen dunkle Magie, sein Umhang würde ihm hier also auch nichts nützen.

Falls Lura antwortete, verstand er ihre Antwort nicht, aber die Körper der beiden Soldaten bebten vor Lachen.

»Deine Mission, wie du es nennst, hast du ausgeführt, das stimmt. Aber«, der Soldat, der gerade sprach, klopfte gegen das Eisen der Gitterstäbe vor Luras Zelle, »das hier ist dein Verschulden. So etwas ist kein Erfolg.«

Diesmal war die darauffolgende Stille, in der Lura wieder zu leise sprach, nahezu erdrückend. Doch die Soldaten machten keine Anstalten, eine Antwort zu geben, stattdessen trat einer von ihnen einen Schritt in die Zelle. Derryks Hand verkrampfte sich um den Griff seines Schwertes.

»Was ist mit meiner Familie?« Diesmal hallten Luras Worte eindeutig in den Tunneln wider. Bei dem Klang ihrer schwachen und schrillen Stimme stach Derryks Herz schuldbewusst.

»Du glaubst doch nicht ernsthaft, deine Familie hatte jemals eine Chance. Ihr seid Abschaum und erbärmlich, eine Schande …« Derryk setzte langsam einen Fuß vor den anderen, bedacht darauf, auf kein Steinchen zu treten und den Fuß jedes Mal abzurollen, um keine Geräusche zu machen.

»Eine Schande für unser Land, unser Volk. Ein Mix aus Mensch und Dämon sollte nicht existieren, Ejen Nuur weiß das. Ihr seid überflüssig, ungewollt …« Die Männer hatten ihm den Rücken zugedreht, einer von ihnen lehnte in Luras Zelle, der andere an den Gitterstäben mit verschränkten Armen. Die bemerkten Derryk nicht. Nicht mal, als ein Steinchen unter seinem Schuh knirschte.

»Nichts, was man am Leben lässt, wenn es seinen Zweck erfüllt hat. Nichts, um das man sich kümmert oder das man menschlich behandelt.«

Derryk hob das Schwert, grimmige Genugtuung flutete ihn bei dem Gedanken, dass sie nichts von seiner Anwesenheit wussten und auch nicht ahnten, dass er sie für ihre Worte bestrafen würde. Elen waren einmal zu viel auf den Kopf gefallen, wenn es um Dämonen ging. Ihr Hass auf sie überstieg den der anderen Völker bei weitem. Sie tolerierten keinen Tropfen Dämonenblut in ihrem Land, nicht einmal Heiler oder Alchemisten.

Doch da trat der Soldat wieder aus Luras Zelle und blickte direkt zu Derryk.

»Junge, was …?«

Derryk holte aus, doch sein Schwert streifte die Rüstung nur noch. Stattdessen schnitt es in die Lücke zwischen den Armplatten. Blut floss über sein Schwert und die Rüstung und der Typ schrie auf. Derryk holte ein weiteres Mal aus, als der andere sich mit dem Schwert voran auf ihn stürzte. In einer geschmeidigen Bewegung ließ er sich auf ein Knie fallen, wich dem Schlag aus und erwischte dabei noch den Gegner vor sich am Unterschenkel. Dann machte er einen Satz zur Seite an die Wand, als Blut aus der Wunde hervorspritzte. Der Soldat ging zu Boden, unfähig weiterhin auf beiden Beinen zu stehen. Doch dieser kurze Moment der Unaufmerksamkeit kostete Derryk sein Schwert. Nur kurz blitzte Metall im Fackelschein auf, dann spritzte helles Blut über seine Handrücken. Plötzlicher Schmerz durchzuckte ihn und aus Schock ließ er sein Schwert fallen. Klirrend landete es vor seinen Füßen. Eine scharfe Schwertspitze legte sich drohend an seine Kehle, ehe er auch nur daran denken konnte, es aufzuheben.

»Nicht so schnell. Wer …?« Überrascht brach der zweite Soldat ab. Ein Nagel steckte tief in seinem Handrücken. Nach ein paar überforderten Herzschlägen brüllte er vor Schmerz auf und ließ das Schwert neben Derryks fallen. Derryk warf sich gegen ihn, sodass sie beide auf die harten Steine fielen. Schnell rappelte sich Derryk wieder auf und schlug mit den Fäusten auf den Soldaten ein, bis er bewusstlos liegen blieb. Dumpfer Schmerz pochte in seinen aufgerissenen Knöcheln. Erst jetzt entdeckte er die Frau, die sich schwächlich an den Gitterstäben aufrecht hielt. Er brauchte ein paar Augenblicke, bis er realisierte, dass es wirklich Lura war. Ihre Wangen waren eingefallen, ihre Haare mehr dunkelgrau als schwarz und sie sah aus wie ein wandelndes Skelett. Die dunkle Färbung unter ihren Augen hätte ebenso Schatten wie Veilchen sein können.

»Halt dich an mir fest«, sagte er nach dem ersten Schreck und sie schlang ihren Arm um seine Schulter.

»Ich hätte nicht gedacht, dich noch mal wieder zu sehen«, erwiderte sie mit der Andeutung eines Lächelns. Jetzt wunderte Derryk, wie sie eben so laut hatte reden können, ihre Stimme war kaum mehr als ein gebrochenes Flüstern.

Er wollte sich schon entschuldigen, als sich der erste Soldat wieder berappelte und schnaufend aufstand. Er schwankte etwas, hielt sich jedoch blutend auf beiden Beinen. Mit seinem Schwert in der Hand. Derryk stürzte zu den Schwertern am Boden, während sich der Soldat auf ihn stürzte. Doch bevor auch nur einer von ihnen sein Ziel erreichte, brach der Soldat zusammen. Ein Wurfmesser steckte in seinem Nacken.

Derryk blieb wie angewurzelt stehen und hob ruckartig den Blick. In den Schatten des Tunnels, von wo er selbst gekommen war, standen zwei Personen. Und auch wenn sie die Schatten zu ihrem Vorteil nutzten, erkannte Derryk sie dennoch sofort. Schließlich hatte er ein Jahr täglich mit ihnen trainiert.

Ayin und Luxj. Wortlos schritt Ayin auf sie zu, die Hälfte ihres Gesichtes hinter einem Tuch verborgen, zog das kleine Messer aus dem Hals des Soldaten und winkte ihnen ihr zu folgen.

»Angeberin«, murmelte Luxj und führte sie durch einen dunklen Tunnel bergauf. Er nahm eine Fackel von der Wand und entzündete sie. So konnten sie wenigstens darauf achten, nicht über irgendwelche losen Steine zu stolpern.

»Woher wusstet ihr, dass wir hier sind?«, fragte Derryk, als er die Stille nicht mehr aushielt. Er spürte keine Feindseligkeit von seinen ehemaligen Kameraden oder seinen ehemaligen Freunden, doch sicherlich auch keine Wiedersehensfreude.

Nachdem niemand für eine lange Zeit antwortete, fand Luxj knappe Worte: »Wir sollten dich finden.«

Derryk widerstand dem Drang, nachzufragen. Weder Ayin noch Luxj hatten Lust, mit ihm zu reden. Natürlich nicht. Sie schuldeten ihm nichts, keine Erklärungen, keine vielen Worte. Er ihnen allerdings schon, doch das musste warten.

Nach kurzer Zeit schlurfte Lura nur noch vor sich hin, ihr weniges Gewicht hängte sich immer mehr an Derryk. Er wollte sich nicht fragen, was die Garde dem Mädchen angetan hatte.

Sie trabten so lange durch den Gang, bis eine eiserne Tür vor ihnen auftauchte. Ayin öffnete sie vorsichtig, während Luxj die Fackel löschte und einfach ablegte. Durch die Türöffnung ergoss sich orangenes Licht, welches von mehreren Fackeln stammte, die in einem staubigen Raum an den Wänden hingen. Kisten und Papiere stapelten aufeinander. Sie standen in einem kleinen, geheimen Archiv der Garde.

Luxj stieg eine Holzleiter hoch, stieß die Luke auf und kletterte hinauf. Die Treppe führte in einen größeren Raum. Es herrschte ein chaotisches Durcheinander, doch alles hatte schon Staub angesetzt.

»Wir sind nicht mehr in Ashari«, erklärte Luxj kurz. »Nicht mehr direkt.«

»In der Mauer?«

»Darunter.«

Ayin reagierte nicht einmal auf seine Frage. Und auch wenn er es ihr nicht verübeln konnte, tat es ihm in der Brust weh.

Luxj und Ayin liefen schnellen Schrittes durch den Raum, schenkten weder dem Gerümpel Beachtung noch, ob Derryk und Lura ihnen folgten. In einer Ecke hing eine weitere Leiter an der Wand, die hinauf zu einer Luke führte.

Es brauchte sie ein paar Minuten, in denen sie durch das Innere der Mauer liefen, bis Luxj eine getarnte Tür aufstieß und sie frischer Wind empfing. Dichtes Gestrüpp und massive Bäume begrüßten sie, außerdem die hellen Strahlen der Mittagssonne, die sich durch die Baumkronen kämpften. Sie standen am Fuße einer der zwölf Hügel um Ashari.

Wortlos liefen sie den Hügel hinauf, tiefer in den Wald. Sie kamen wegen Lura noch langsamer voran als vorher, doch sie konnten es sich nicht leisten, eine Pause zu machen. Zuerst mussten sie ein wenig Abstand zwischen sich und Ashari mitsamt seinen Besatzern bringen. Dann konnten Luxj und Ayin hoffentlich sich dazu entscheiden, ihn in ihren Plan einzuweihen. Oder ihre Aufgabe, was auch immer. Derryk packte Lura etwas fester an der Hüfte, damit sie nicht abrutschte und fiel. Seine Finger verloren durch den Schweiß etwas an Grip.

Er hoffte zumindest, dass die beiden mehr im Kopf hatten als nur aus der Stadt zu fliehen.

Plötzlich begann der Boden unter ihnen zu leuchten und unbekannte Zeichen erschienen im erdigen Boden.

»Was zur …?!«, fluchte Ayin, brach mit einem erschrockenen Aufschrei jedoch ab, als sich ein dünner Ast um ihr Handgelenk schlang.

»Die Bäume!«, keuchte Luxj und drehte sich mehrmals um die eigene Achse. Von einer auf die andere Sekunde bewegten sich die Bäume, ihre Äste und Blätter streckten sich und griffen und schlugen nach ihnen.

»Eine Falle der Elen für Eindringlinge«, flüsterte Lura kraftlos und bevor Derryk nachfragen konnte, entriss ein Ast Lura aus seinem Arm. Sie verschwand hinter einem Vorhang aus Ranken und Blättern. Nun schlangen sich die starren Äste auch um Derryk. Es knarrte und raschelte, während sich Ranken und massive Äste um seinen Bauch, seine Beine und Arme wickelten. Sie rissen ihn von den Füßen. Er kämpfte gegen die Ranken an, die sich um seinen Hals schnüren wollten, doch gegen den Druck, den die Bäume auf seine Brust ausübten, konnte er nichts tun. Seine Bewegungen erlahmten, er rang nach Luft und keuchte, hustete, als er Dreck und Blätter auf der Zunge spürte. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen und seine Lunge schrie nach Sauerstoff, brannte, als sie keinen bekam.

Sein Sichtfeld wurde schwarz und er erschlaffte.

-39-

Iska

Sie hätte nicht gedacht, sich zweimal hierhin zu verlaufen. Vier Dämoninnen hatten sich vor ihr aufgebaut und hinter ihnen, zwischen den Nebelschwaden ragte das trostlose Zirkuszelt. Die Halbterris stand keine Armlänge von ihr entfernt, wie das letzte Mal zeigten ihre tiefschwarzen Augen keinerlei Emotion. Auch ihre Stimme klang monoton und verriet nichts von ihren Gedanken. Hinter ihr tänzelte die Sirene aufgeregt auf der Stelle, während die Animeere die Arme verschränkt hielt und den Eindruck erweckte, als wäre sie mit den Nerven am Ende.

Eine vierte Gestalt hielt sich im Hintergrund, eingehüllt in schwarze Gewänder.

Iska musterte die Halbterris mit ebenso wenig Regung.

»Wie aufregend!«, quietschte die Sirene. »Niemand ist bis jetzt zweimal hergekommen!« Ihre grauen Haare fielen ihr wie ein Trauervorhang vor das Gesicht und sie schob sie sich hinter die Ohren. Die fehlenden Farben störten Iska jetzt schon, diesmal fiel es ihr viel mehr auf. Diesmal fiel ihr einiges mehr auf.

»Natürlich nicht. Niemand ist hier jemals rausgekommen«, entgegnete die Animeere mit einem Augenrollen.

Die Sirene seufzte belustigt. »Das stimmt nicht.«

»Der ach so heilige Rat der Zwölf hat uns verbannt und vergessen, einmal und – »

»Stimmt es?«, unterbrach die Halbterris das Schlangenmädchen. »Ist Neterya gefallen?«

»Ja.« Iska hatte nicht das Bedürfnis, die Situation weiter zu erklären. Stattdessen betrachtete sie ihre Gegenüber das erste Mal richtig. Keine von ihnen war älter als sie selbst. Keine von ihnen hatte sich in irgendeiner Weise verändert.

Der Zirkus war ganz der geblieben, der er das letzte Mal schon gewesen war.

»Neterya ist also gefallen.« Verächtlich schnaubend wendete die Animeere sich ab und verschwand hinter den dicken Baumstämmen, die die Umgebung vor dem Zirkus schmückten.

Iska sah ihr nach und bemerkte dabei aus dem Augenwinkel, wie sich Schatten um die Füße der Halbterris sammelten. In ihnen pulsierte eine verbotene Magie, die, wie Iska annahm, den Herzschlag der Terris nachahmte. Ruhig und stetig, unbeeindruckt von den Neuigkeiten. Ähnlich wie Iska sich fühlte.

»Die Frage ist nur, weshalb dich der Zirkus ein weiteres Mal gefunden hat.« Die Sirene stand hinter Iska. Freudig wiegte sie auf den Zehenspitzen vor und zurück, während sie wartete, dass die Terris ihr sagte, was sie tun sollte. Allerdings bedachte diese Iska nur mit einem seltsamen Blick. Ihre schwarzen Augen glitten prüfend über ihren Körper, doch Iska spürte, dass sie tatsächlich ihre Magie einschätzte.

»Nicht nur Neterya ist gefallen, nehme ich an.« Sie nickte in Richtung des Zirkus‘. »Drinnen ist es noch immer ein wenig gemütlicher als hier draußen.«

»Vor allem wenn die Bäume das Zelt verdecken wollen«, knurrte die Sirene und schlug ein paar Äste weg, die den Weg versperren wollten. Von den spärlichen Blättern, die sich noch an den Bäumen hielten, war kaum mehr als Skelette übrig. Auch die Baumstämme wirkten morsch und brüchig, als könnte man sie mit Leichtigkeit auseinanderbrechen.

Immer mehr Bäume versuchten, ihren Weg zu versperren. Die löchrige Fahne vom Zirkuszelt flatterte im nicht existenten Wind, deren milchige Weiß vermischte sich mit den Grautönen des unnatürlichen Himmels.

Sie folgte den vier Dämonen in das Zirkuszelt. Die Lounge bildete immer noch den trostlosen, zerstörten Sammelpunkt im Eingang des Zirkus‘. Schemen lungerten auf den hoch gelegenen Plattformen und leuchtende Augen verfolgten Iska auf Schritt und Tritt. Es waren mehr geworden. Vereinzelt entdeckte sie Schatten zwischen den Sitzen, die jedoch kaum als lebende Gestalt durchgehen konnten. Vor einem ausgerissenen Flügel blieb sie stehen. Vereinsamt lag er auf dem sandigen Boden.

»Einfach nicht beachten. Wer weiß, wem der gehört«, riet die Sirene schulterzuckend. Sie wedelte mit ihrer Hand jemandem zu, doch Iska konnte keine Zielperson ausfindig machen.

Sie stieg über das gespannte Leder und folgte der Terris, die vor einem torähnlichen Eingang wartete. Blutspritzer bedeckten den Boden. Bei ihrem letzten Besucht hatte sie zwar nicht auf den Boden geachtet, dennoch war sie überzeugt, dass die neu sein mussten. Neu und frisch.

Iska wusste immer noch nicht viel über diesen Ort, nur dass er als eine Art Bestrafung für Mischlinge oder Verbrecher unter den Dämonen diente, auch wenn sich solche Verbrechen nur schwer definieren ließen.

Doch dieser Ort bestand aus reiner Magie und nicht nur aus der Dunklen. Ein vertrautes Knistern umgab sie, wenn auch nicht so stark wie bei Ka'Ji oder Ki'Aja. Der Rat hatte diesen Ort mithilfe dunkler und schwarzer Magie erschaffen.

Iska folgte den vier Dämoninnen durch die langen, dunklen Gänge.

Theoretisch konnte dieser Ort nur existieren, wenn der Rat existierte. Magie verschwand, wenn ihr Beschwörer starb, außer es gab einen Nachfolger. Doch der komplette Rat war ausgelöscht worden.

Iska musterte ihre Umgebung. Alles wirkte dunkel, trostlos und … endlich. Die Gefühle von Zeitlosigkeit und Unendlichkeit waren verschwunden.

Viel zu schnell bog die Terris in einen Raum ein und schloss die Tür hinter Iska. Iskas Aufmerksamkeit wurde sofort von der Decke angezogen. Kleine, kaum erkennbare Risse hatten sich gebildet und dahinter leuchtete das schwarz-weiße Zelt hervor. Die Risse breiteten sich selbst in der Einrichtung des vermeintlichen Arbeitszimmers aus: den Regalen, Kisten, Stühlen und dem Tisch.

»Dir fällt es also auf. Der Zirkus löst sich auf. Der Rat ist gefallen«, bestätigte die Terris Iskas Gedanken.

»Ihr könnt diesen Ort nicht verlassen, selbst wenn er aufhört zu existieren. Wenn er sich auflöst, sterbt auch ihr.« Es war nicht mal mehr eine Frage.

»Na sieh mal an, du hast gelernt. Brav die Hausaufgaben gemacht?«

Iska hätte am liebsten den Kopf geschüttelt. Die sarkastische, alles hassende Fassade der Animeere konnte ihre Unsicherheit und Furcht nicht länger vor ihr verbergen. Sie sah durch ihre herablassenden Worte, sah die tief verborgene Angst.

»Jetzt sei nicht so. Viele hier haben es nicht mal bemerkt und Iska bemerkt es sofort. Das ist beeindruckend!«, hielt die Sirene dagegen. Sie baumelte kopfüber an einem Balken von der Decke, behielt sie alle dabei noch genau im Blick.

»Was ist in Neterya geschehen? Die Stärke des Rates hat zwar ihre Grenzen, aber es gibt nicht viele Lebewesen, die diese übertreffen.« Die Terris lehnte an einem Tisch, den Rücken einem zerbrochenen Spiegel zugewandt. In den Scherben erschienen die Umrisse von Flügeln auf ihrem Rücken, die in der Wirklichkeit nicht mehr existierten. Sie war also eine Mischung aus Terris und Acqui, höchstwahrscheinlich.

»Ki’Aja hat Neterya angegriffen und den Rat getötet.«

»Ki‘Aja?« Endlich regte sich etwas an Gefühl in der Stimme der Terris.

Über ihnen knarzte der Holzbalken, als die Sirene sich regte. »Ich dachte, die Teufel hätten ihn weggesperrt?«

Die Animeere lachte. »Ka’Ji hat ihn also tatsächlich befreit. Das Miststück hat es wirklich geschafft, die Teufel zu hintergehen und ihre Magie außer Kraft zu setzen.«

»Wir werden sehen, ob das von Vorteil ist«, durchschnitt die Terris die aufgewühlte Stimmung mit scharfem Ton. Ihre Gelassenheit bekam Risse und verriet allmählich ihre Emotionen, die sie hinter ihrer Maske angestaut hatte.

»Von Vorteil?« Iska fing den eisigen Blick der Terris auf.

»Ki’Aja würde die Dämonen niemals so schäbig in der Unterwelt wohnen lassen. Dies war auch mal unsere Welt. Wir haben sie ebenso …« Dunkle Schwaden breiteten sich auf dem Boden aus. Die Kälte strich um Iskas Beine. Sie schauderte, ignorierte die Drohung jedoch.

»Wir haben es Ki’Aja zu verdanken, dass wir in die Unterwelt verbannt wurden. Seinem Verlangen, seiner Sucht nach mehr. Ich kenne seine Geschichte.«

Die Terris stieß sich vom Tisch ab, um Auge in Auge mit Iska zu stehen. »Sicher tust du das, wer nicht. Zumindest die Zusammenfassungen. Es gibt viele Versionen des Unheiligen Krieges. In einer heißt es, Ki’Aja sei besessen von Macht, in einer anderen labt er sich an der Lebensenergie der Menschen, in wiederum einer anderen wollte er den Dämonen ein besseres Leben ermöglichen, geriet in Streit mit den anderen Teufeln und wurde in Ketten gelegt. Der Rat ist nicht unschuldig, Iska. Er legt alles so aus, wie er es eben braucht, um im Recht und an der Macht zu bleiben.«

Ki’Aja … Der Retter? Mit den Ak‘Amjen, die Lebewesen kontrollieren können?

Die Erinnerung an die absolute Macht Ki‘Ajas und seine unendliche Präsenz kehrte in ihr Gedächtnis zurück. In den tiefschwarzen Löchern, wo seine Augen hätten sein sollen, war keine Spur einer guten Absicht gewesen. Vielmehr das Gegenteil. Die Dämonen waren Ki‘Aja egal, wahrscheinlich auch Ka‘Ji. Einzig und alleine Macht, die Sucht nach der Unendlichkeit, allem Existierenden und der Zukunft, das alleine trieb Ki‘Aja an.

Iska musterte die drei Dämoninnen. Die Sirene, wie sie freudestrahlend, doch mit weniger Energie als letztes Mal an der Decke turnte. Die Animeere, voller Hass und Abscheu auf alles und jeden. Und die Terris, deren Maske langsam, aber sicher zerbrach. Sie hatten den Sinn für die Wirklichkeit verloren, sie waren zu lange eingesperrt gewesen. Vielleicht waren es auch sie, die sich alles zurechtlegten, wie sie es brauchten.

Da fiel ihr Blick auf die vierte Dämonin. Die Gewänder waren verrutscht und gaben nun ihr Aussehen preis. Ein kleines Mädchen, keine zehn Jahre alt. Ihre Augen waren zugenäht, an ihren Lippen hingen gelöste Fäden herunter und die schwarzen Haare fielen bis auf den Boden und verdeckten einen Großteil ihres Körpers. Sie sah nach einer Mischung aus NakTey und Mensch aus. Bis jetzt hatte sie kein Wort gesagt, nur mit versiegelten Augen vor sich hingestarrt und schwarze Tränen vergossen. Sie gab keinerlei Präsenz von sich – als existierte sie hier nur zur Hälfte. Iska hatte sie beinah vergessen. Was hatte es mit ihr auf sich?

»Mag sein, dass der Rat sich alles so zurechtlegt, wie er es braucht. Doch wer tut das nicht? Ihr hasst den Rat und das zurecht. Und er ist tot, jedes einzelne Mitglied. Auf ihn zu fluchen hat keinen Sinn mehr.«

»Mir egal, was Sinn macht. Der Rat bestraft uns auch nach dem Tod noch! Er reißt uns mit hinein. Du kannst hier vielleicht einfach so ein und aus gehen, wir können das nicht. Dein ach so heiliger Rat hat unser Leben auf dem Gewissen, Iska A‘Shyr. Wir sterben nicht nur, wir werden aufhören zu existieren!« Die Animeere näherte sich ihr ebenfalls, ihr zorn-verzerrtes Gesicht tauchte hinter der Terris auf.

Jahrzehntelang angestaute Magie pulsierte in ihr, die sie nicht benutzen konnte. Weggesperrt, doch nie vergessen. Jedes Wesen im Zirkus war einmal unglaublich mächtig gewesen, egal wie kaputt manche erschienen. Der Rat hätte sie nicht weggesperrt, wenn sie nicht mächtig wären, wenn sie nicht stärker wären.

»Wenn sich Ki‘Aja um euch scheren würde, würde er euch retten kommen und den Zirkus zerstören. Setzt ihr wirklich auf diese Hoffnung?« Iska sah, wie ihr Gegenüber die Hand nach ihr ausstreckte, noch bevor die Hand tatsächlich auf sie zuschoss. Dennoch wich sie nicht aus. Die Animeere packte Iska am Hals und drückte sie gegen die Wand.

»Sprich nicht von Hoffnung. Du weißt nicht, was es heißt, zu hoffen. Immer und immer und immer wieder und jedes einzelne Mal enttäuscht zu werden. Hoffnung ist ein verdammtes Kindermärchen. Sie existiert nicht.«

Langsam umschloss Iska die Hand der Animeere mit ihren Fingern, ihren Blick erwiderte sie noch viel kälter. »Ich weiß, wie sich aufgegebene Hoffnung anfühlt. Ich weiß, wie sich Einsamkeit anfühlt. Nicht in eurem Ausmaß. Aber maße dir nicht an, etwas über mich zu wissen, Animeere.« Damit ließ sie für einen kurzen Augenblick, einen Wimpernschlag lang, Magie durch ihre Fingerspitzen in die Hand der Animeere strömen. Diese zog wie vom Blitz getroffen ihre Hand zurück und starrte Iska ungläubig an. Dann wieder auf ihre Hand, auf der sich leichte Verbrennungen bildeten, dann wieder zu Iska.

»Du hast deine Magie noch?« Die Sirene brachte nicht mehr als ein stockendes Flüstern zustande und auch die Terris sah überrascht aus.

»Aber du kennst uns?«, knurrte die Schlange ihr gegenüber letztendlich nur zurück.

Iska griff auf ihre schwarze Magie zu und öffnete ihr Drittes Auge. Ein einzelner Blick genügte. »Ich kenne eure Vergangenheit. Eure Dörfer, eure Familien. Ich habe gesehen, wie ihr gemordet habt und verstoßen wurden, wie ihr geflohen seid, immer wieder und schließlich verbannt wurdet. Ich kenne nicht euch, ich kenne eure Geschichte.«

Jetzt brachte niemand mehr ein Wort hinaus. Iska konnte ihre unterdrückten, magischen Pulse deutlich spüren. Selbst die Sirene war wütend und verwirrt. Wenn sie ihre Magie hätten, könnten sie den Zirkus zerstören, diese vier allein. Es mochte sie viel Lebensenergie kosten, jedoch konnten sie es. Iskas Blick fiel wieder auf die vierte Dämonin. Sie strahlte am meisten Magie aus.

Iskas Herz machte einen Sprung.

Sie strahlte ungebändigte Magie aus. Keine Magie, die weggesperrt wurde. Die Magie des Mädchens weigerte sich, sich wegsperren zu lassen.

»Du kennst unsere Vergangenheit?«

Nachdenklich schüttelte Iska den Kopf. Wegen ihrer Vergangenheit mochten die Dämonen ihr leidtun, doch deswegen war sie sicherlich nicht hier. Sie brauchte Hilfe.

Skee. Ask. Lynn. Derryk. Sie musste sie retten. Sie hatte gar nicht mehr an den Zirkus gedacht, doch er scheinbar noch an sie. Dann musste sie dieses Glück wohl für sich nutzen.

»Wo ist der Seher?«

»Du verfluchte …«

»Du wirst ihn nicht finden«, unterbrach die Terris die Animeere scharf. »Er lässt sich nur finden, wenn er das will. Er kennt die Konstruktion des Zirkus‘ und er nutzt sie für sich.«

»Wo ist er?«

»Was willst du von ihm? Er hatte dir doch eine Heidenangst eingejagt.«

Iska schauderte leicht bei der Erinnerung. Oh ja, das hatte er. Doch das spielte jetzt keine Rolle.

»Ich brauche seine Hilfe. Ich muss … jemanden finden.« Die Dämonen mussten nicht wissen, wen sie finden musste. Oder dass es mehrere Personen waren. Dass sie herausfinden musste, ob Skee überlebt hatte und wie sie zu ihr kam. Wo sich Ask und Lynn aufhielten. Wie es um Derryk stand, wo er war. Außerdem … vielleicht konnte der Seher ihr ja einen Rat mit auf den Weg geben.

»Du bist eine Seherin. Finde sie selbst«, knurrte die Animeere. Iska knirschte mit den Zähnen. Skee würde sie auf der Insel nicht sehen, dafür reichte ihre Erfahrung mit der Kraft der Dritten Seher nicht. Die Insel war zu … besonders. Ask, Lynn und Derryk, aber … Verdammt, vermutlich wäre es die bessere Idee, zuerst Ask aufzusuchen. Doch das konnte sie nicht. Sie musste zuerst zu Skee, musste sichergehen, dass sie sicher war.

»Was hält dich auf? Beeinflusst dich der Zirkus doch? Bist du zu schwach für so einfache Magie? Oder -« Die Schlange lächelte. »Ist der Ort nicht zu erreichen?«

Iska blieb stumm und starrte nur stur zurück, während die Animeere sie zu bedrängen versuchte. Doch die Terris hielt sie auf.

»Was ist dein Ziel, Iska A’Shyr?«

Die Animeere zischte verärgert, zog sich jedoch zurück. Die Stimmung spannte sich an, auch wenn niemand Iska mehr bedrängte.

Ihr Ziel also? Träumereien und Hoffnungen. Dämliche, kindliche Hoffnungen in einem Konflikt, der so viel größer und älter war als sie.

»Ich werde diejenigen, die mir etwas bedeuten, wieder zusammenbringen. Ich werde retten und helfen, wo ich kann. Doch mein Ziel? Ki’Ajas richtigen Plan herausfinden und vereiteln. Ein neues Leben aufbauen. Was auch immer.«

Die Dämoninnen schwiegen. Ihre schwere, ungeteilte Aufmerksamkeit lag auf Iska.

»Ich vertraue weder den Erzengeln noch den Teufeln. Jedoch werden sie einen Grund gehabt haben, Ki’Aja wegzusperren. Und nach dem, was Ki’Aja, Ka’Ji und die Ak’Amjen bis jetzt schon angerichtet haben, stimme ich ihnen zu. Und ob es mir gelingen wird, spielt keine Rolle.«