Of Dreams and Gods - Sarah Whitefall - E-Book

Of Dreams and Gods E-Book

Sarah Whitefall

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Beschreibung

Die 17-jährige Malie ist eine Klarträumerin und kann im Schlaf tun, was sie will - sogar ihren verstorbenen Vater wiedersehen. Doch plötzlich taucht ein nervtötender Gott in ihren Träumen auf. Phynn braucht ausgerechnet Malies Hilfe, denn der Traumsand, der den Menschen ihre Träume beschert, ist verschwunden. Und das könnte verheerende Folgen haben.

Notgedrungen reist Malie mit Phynn in die Unterwelt. Um den Traumsand zu finden, müssen sich die beiden mit den Göttern anlegen. Und wenn Malie es sich recht überlegt, ist Phynn gar nicht so nervig wie gedacht, sondern eigentlich ziemlich lustig und charmant. Doch kann sie ihm vertrauen? Schließlich ist er ein Gott, und die verfolgen eigene Interessen ...

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Inhalt

Cover

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Über die Autorin

Impressum

Über dieses Buch

Die 17-jährige Malie ist eine Klarträumerin und kann im Schlaf tun, was sie will – sogar ihren verstorbenen Vater wiedersehen. Doch plötzlich taucht ein nervtötender Gott in ihren Träumen auf. Phynn braucht ausgerechnet Malies Hilfe, denn der Traumsand, der den Menschen ihre Träume beschert, ist verschwunden. Und das könnte verheerende Folgen haben.

Notgedrungen reist Malie mit Phynn in die Unterwelt. Um den Traumsand zu finden, müssen sich die beiden mit den Göttern anlegen. Und wenn Malie es sich recht überlegt, ist Phynn gar nicht so nervig wie gedacht, sondern eigentlich ziemlich lustig und charmant. Doch kann sie ihm vertrauen? Schließlich ist er ein Gott, und die verfolgen eigene Interessen ...

Sarah Whitefall

Of Dreams and Gods

»Wer unsere Träume stiehlt, gibt uns den Tod.«

Konfuzius

Kapitel 1

Lächelnd streife ich durch das kniehohe malvenfarbene Gras. Der Duft des nahen Kiefernwaldes kitzelt mich in der Nase und eine tiefe Zufriedenheit überkommt mich. An mir galoppieren mehrere pinke Einhörner vorbei, deren Mähnen wallend durch den lauen Wind fliegen. Eines von ihnen stoppt kurz, reckt seinen Hals und schaut sich mit aufgestellten Ohren um. Dann höre auch ich eine zauberhafte Melodie, die über allem zu schweben scheint.

Plötzlich erscheint vor mir ein Holztisch mit vier Stühlen. Auf diesen sitzen meine Eltern und meine Schwester. Sie essen und unterhalten sich, nehmen mich nicht wahr. Sehnsucht und Trauer steigen ziehend in mir auf. Ich möchte zu ihnen und an ihrem fröhlichen Gespräch teilhaben. Doch etwas hält mich ab. Es ist, als ob eine unsichtbare Barriere zwischen uns besteht.

Ein tiefer Glockenschlag ertönt und erfüllt mich sogleich mit einem heimeligen Gefühl. Ich schaue zu der großen Standuhr, die neben einem der Einhörner steht. Verwirrt blinzle ich. Auf dem Ziffernblatt sind weder Zahlen noch Zeiger zu sehen. Alles ist verschwommen. Gestern sind doch noch Zahlen drauf gewesen, oder nicht?

Warum kann ich die Zeit nicht lesen? Verwundert schaue ich mich um und blicke in den wunderschönen Sonnenuntergang, der ein Farbenspiel aus Grün- und Blautönen an den Himmel malt. Warum leuchtet die Sonne eigentlich grün?

Noch während ich den Gedanken zu fassen versuche, dass sie eigentlich gelb sein sollte, begreife ich: Ich träume! Ich befinde mich in einem Traum. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Es ist einfach unbeschreiblich, wenn mir klar wird, dass ich träume. Jedes Mal wieder.

Nur ein Gedanke, und sofort verschwindet der Tisch und mein Vater taucht alleine auf der Wiese auf. Er grinst mich an, kommt mir mit großen Schritten entgegen und nimmt mich in den Arm. Die trennende Barriere ist verschwunden.

»Hallo, Malie.«

Ich drücke mich an ihn und schließe für einen Moment die Augen. Seine Nähe tröstet mich und überdeckt das klaffende Loch in meinem Herzen. Natürlich weiß ich, dass es nicht real ist. Aber nur so kann ich ihn sehen und meinen Schmerz ein wenig lindern. Er riecht, spricht und lacht wie mein Vater.

Vor uns taucht das imposante Schloss auf, in dem sich meine Schule befindet. Obwohl ich mich hier noch immer nicht wirklich wohlfühle, kann ich dem Charme des viergeschossigen Gebäudes durchaus etwas abgewinnen. Mit seinen Giebeln und Türmchen strahlt es eine ganz besondere Magie aus.

Die schwere Holztür schwingt wie von Zauberhand auf und wir betreten meinen Wohnort. Das Internat. Obwohl ich schon ein Jahr hier bin, fühlt es sich noch immer nicht wie ein Zuhause an. Es war der letzte Wunsch meines Vaters, dass meine Schwester und ich eine richtig gute Bildung erhalten. Seiner Meinung nach würden wir sie hier bekommen. An meiner alten Schule habe ich mich deutlich wohler gefühlt, dennoch wäre es mir nie in den Sinn gekommen, das Internat zu verlassen und somit das Andenken an meinen Vater zu beschmutzen.

Hand in Hand gehen wir zur großen Aula. Hier wird Ende des Schuljahres die Zeugnisverleihung stattfinden. Alles ist bereits geschmückt. Genau so, wie es beim Abschluss meiner Schwester war. Die blauen und gelben Luftballons wiegen sich langsam hin und her, als ob ein leichter Wind weht. Auf der Bühne befindet sich nichts weiter als ein lackschwarzer Flügel.

Mein Herzschlag beschleunigt sich.

Zielstrebig führt mein Vater mich ebendort hin. Wäre er nicht hier bei mir, würde ich niemals so weit gehen. Das weiß ich, weil ich es schon Hunderte Male versucht habe. Seit seinem Tod.

»Du wirst wunderbar spielen, Sprosse.« Seine Stimme ist warm und er lächelt mir zu. Ein kalter Kloß bildet sich in meinem Magen. Er hat sich immer gewünscht, dass ich auf meiner Abschlussfeier spiele. Ich habe immer gelacht und gesagt, dass mich keine zehn Pferde auf eine Bühne bringen würden. Doch jetzt ist alles anders. Ich wünschte, ich hätte ihm seinen Wunsch zusagen können. Ihm sagen können, dass ich es für ihn tun werde.

Sanft drückt mein Vater mich die Treppe hoch und schiebt mich in Richtung des Flügels.

Ich bin mutig. Ich bin mutig. Das hier ist mein Traum, hier kann mir nichts passieren!

Mit zittrigen Fingern öffne ich den Deckel und streiche behutsam über die weißen Tasten, während mein Herz voller Vorfreude flattert. Ein kurzer Blick zurück in den Raum zeigt mir, dass wir nach wie vor alleine sind. Doch allein der Anblick des großen, wunderschön geschmückten Raumes, in den so unfassbar viele Menschen passen, macht mich ganz schwindelig.

Ein tiefer Atemzug, dann setze ich mich.

»Du machst das ganz fabelhaft.«

Seine Worte tun mir gut, auch wenn es nur Floskeln sind. Ich spüre seine Hand auf meiner Schulter, kurz drückt er sie einmal und zieht sich dann zurück. Wie hatte er das nur dauernd machen können? Vor anderen Menschen spielen? Vor Menschen, die auch noch Geld dafür bezahlt haben.

Ich schließe die Augen, und meine Finger beginnen wie von alleine die Tasten anzuschlagen. Sanfte Töne erfüllen den Raum und zaubern mir Schmetterlinge in den Bauch.

Noten brauche ich nicht. Das Lied habe ich selbst geschrieben, direkt nach dem Tod meines Vaters.

Nach den ersten Tönen verschwindet meine Unsicherheit. Es gibt nur noch mich und die Musik. Sie ergreift Besitz von mir, taucht in mich hinein und lässt ein Kribbeln durch meinen ganzen Körper fahren, bis er im Takt jeder einzelnen Note mitschwingt.

Als die letzten Klänge verstummen, öffne ich langsam meine Augen. Und mein Herz setzt kurz aus: Da steht er wieder. Am hinteren Ende der Aula lehnt er gegen einen Türrahmen. Dieser komische Typ, der in letzter Zeit häufig in meinen Träumen auftaucht. Auch in den Klarträumen.

Mit verschränkten Armen steht er da und schaut zu mir herüber. Obwohl ihm ein paar Strähnen seines wuscheligen, weißblonden Haares vor den Augen hängen, kann ich ihr unnatürlich blaues Strahlen bis hierher sehen. Sein Blick bohrt sich in meinen. Doch anders als in der wachen Welt halte ich ihm stand. Schließlich kneife ich die Lippen zusammen und wünsche ihn weg. Wie sonst auch verschwindet er. Das ist mein Traum, und da kann ich ganz alleine bestimmen, wer mitspielt und wer nicht.

»Ich bin sehr stolz auf dich. Das wird toll werden.« Mein Vater lächelt mir zuversichtlich zu. Ich bin da nicht so sicher. Immerhin waren in meinen Träumen bisher keine Zuschauer, also außer dem weißblonden Kerl natürlich. Ich frage mich, warum er in meinem Kopf herumspukt. Sicher ist er kein Schüler. Habe ich ihn schon mal in einem Film gesehen? Oder steht er für etwas anderes? Dafür, dass ich mich schon viel mit Träumen beschäftigt habe, kenne ich mich ziemlich schlecht mit Traumdeutung aus. Eigentlich habe ich mich mehr mit dem praktischen Teil auseinandergesetzt. Wie man es schafft, sich im Traum bewusst zu werden, dass es einer ist. Was das alles bedeutet oder warum das überhaupt geht, hat mich bisher nie interessiert.

»Hast du dich schon angemeldet?«

Mit einem Ruck klappe ich den Deckel wieder zu. »Nein.«

»Vielleicht sollten wir beim nächsten Mal mit Zuschauern üben?«

»Mal sehen.«

»Malie, ich ...«

Das Einsetzen von Elton Johns Stimme, die herzerweichend I’m still standing schmettert, reißt mich abrupt aus meinem Traum. Es dauert einen Moment, bis ich mich zurechtfinde.

Weiße Wände, dunkle Möbel, das Regal mit meinen Büchern. Seufzend schließe ich noch mal die Augen. Ja, ich bin in meinem Zimmer. Im Internat. Auf Schloss Rindolf.

Unter der Decke im Bett auf der anderen Seite des Raumes wackelt es und Paulas Kopf taucht auf. Ihre roten Haare stehen in kurzen Stacheln von ihrem Kopf ab, während sie sich genüsslich streckt. Damit bringt sie mich zum Lächeln, weil sie ganz seltsame Verrenkungen macht, bei denen ich mir vermutlich alles ausrenken würde. Es war wirklich ein glücklicher Zufall, dass ihre ursprüngliche Mitbewohnerin das Internat verlassen hat, kurz bevor ich hierherkam. So durfte ich zu ihr ins Zimmer ziehen und wir haben uns auf Anhieb gemocht.

Paula hat sich bereits aufgesetzt und ein kleines blaues Notizbuch unter dem Kopfkissen hervorgeholt. Hier schreibt sie seit einiger Zeit morgens ihre Träume rein. Gute und schlechte.

»Dein Wecker lügt. Es ist nie und nimmer schon Morgen«, grummle ich.

»Schau mal, es ist bereits hell.«

»Kann gar nicht sein.«

Kichernd steigt sie aus ihrem Bett. »Komm schon, hoch mit dir.«

Murrend bringe ich mich ebenfalls in eine aufrechte Position und strecke den Rücken durch.

»Brav. Heute wird ein großartiger Tag, ich kann es fühlen.«

Paulas positive Einstellung bringt mich zum Grinsen. Ganz bestimmt, so wie alle anderen Tage hier. Nicht.

Aber es nutzt nichts. Ich stehe auf und mache mich fertig. Dann kann ich dem Tag begegnen, was auch immer er bringen wird.

*

Mit müden Augen schaue ich aus dem Fenster und sehe den Blättern der großen Kastanie zu, wie sie sich schwungvoll hin- und herbewegen. Der Wind wird von Tag zu Tag ein wenig stärker und es wird nicht mehr lange dauern, bis er die Blätter hinunterweht.

Frau Tischler hat gerade noch ein paar Zettel auf ihrem Tisch sortiert und beginnt schließlich die Stunde. »Wir haben in der letzten Woche Texte besprochen, in denen es um die christliche Vorstellung von Hölle und Fegefeuer ging. In den nächsten Stunden möchte ich gerne einen Vergleich anstellen mit anderen religiösen Ausdrucksformen. Wir werden uns die großen Weltreligionen genauer ansehen, aber auch antike Ansätze wie die griechischen, ägyptischen und römischen Vorstellungen.«

Ich muss ein Gähnen unterdrücken. Religion zählt ohnehin nicht zu meinen Kerninteressen, aber vermischt mit Geschichte ist es fast noch schlimmer.

Ein Klopfen an der Tür unterbricht ihren Vortrag und nachdem sie ihre Brille zurechtgerückt hat, dreht sie sich zur Tür. Sofort bricht im Raum unterdrücktes Getuschel aus, als Frau Dr. Rempert, die Rektorin, die Tür öffnet. Nur kurz streift sie die Klasse mit einem Blick.

»Kann ich Sie kurz sprechen?« Ist die Stimme von Frau Tischler schon durchdringend, so lässt einen die tiefe Klangfarbe der Rektorin beinahe vor Ehrfurcht erstarren. Niemand würde es je wagen, ihr mit etwas anderem als absoluter Höflichkeit und zur Schau getragenem Respekt zu begegnen.

»Ähm, ja ... sicher.« Unsere gutmütige, aber auch ziemlich verpeilte Lehrerin stakst sichtlich irritiert aus dem Klassenraum.

Sofort springen die ersten auf und nehmen an der Tür Stellung, um zu belauschen, was da vor sich geht.

Keine zwei Sekunden später fliegt das erste Papierkügelchen gegen meinen Kopf. Man sollte meinen, dass Leute in ihrem Abschlussjahr zu alt für so einen Kinderkram wären, aber nein. Zack, das zweite Kügelchen bleibt in meinen Haaren hängen. Ja, die sind wuschelig und ja, ich mache mir morgens nicht die Mühe, meine Haare aufwendig zu glätten oder ordentlich zusammenzubinden. Meistens bin ich froh, wenn ich Zeit habe, sie zu kämmen. Aber das heißt ja nun nicht, dass jeder, der möchte, irgendetwas hineinwerfen darf. Auch wenn es ganz wunderbar hängen bleibt.

Ein Seitenblick nach hinten zeigt mir, dass Nele und Jana mit Piet ihren Papierkügelchen-Wettkampf wieder aufgenommen haben, den sie seit etwa zwei Wochen andauernd austragen. Dabei versuchen sie die kleinen Kugeln mit dem Lineal in ein Ziel zu flitschen. Leider sitze ich genau zwischen ihnen und dem Mülleimer, den sie heute ganz offensichtlich anpeilen, denn um ihn herum liegen schon einige weiße Bällchen. Genervt rolle ich mit den Augen. Das ist so kindisch.

»Ey, Sprosse, kannst du vielleicht mal deinen Kopf wegducken. Du bist im Weg.« Neles kräftige Stimme mit dem polnischen Akzent übertönt locker die flüsternden Gespräche meiner Mitschüler.

Ich presse die Lippen aufeinander. Mir gefällt es nicht, wenn sie mich so nennen. Den Spitznamen hat mir mein Vater wegen der unzähligen Sommersprossen gegeben, die sich in meinem Gesicht und auch auf meinen Armen tummeln. Ich habe immer gelacht, wenn er mich so genannt hat. Jetzt erinnert es mich nur daran, dass er das nie wieder zu mir sagen wird.

Innerlich fluchend versuche ich die beiden Papiergeschosse aus meinem wilden Haar herauszupulen. Am besten wäre es, ich würde sie mir wie Paula raspelkurz schneiden. Aber mein Vater fand meine langen Haare immer so schön. Kurz wird mein Hals eng.

»Sprosse, komm schon! Jana liegt gerade vorn und das können wir doch nicht auf uns sitzen lassen«, ruft Piet, Chef des Sportteams und Janas Freund.

Zu meiner Erleichterung kommt in diesem Moment Frau Tischler zurück in den Raum, und alle huschen an ihre Plätze. Hinter ihr betritt noch jemand das Zimmer und ein einstimmiges Aufseufzen ertönt.

Ein Typ. Natürlich.

Doch als ich ihn ansehe, kann ich es verstehen. Wie gemalt steht er vor der hellen Tür und verschränkt abwartend die Arme. Alles an ihm ist irgendwie dunkel. Nicht nur, weil er komplett in schwarz gekleidet ist, als würde er geradewegs von einer Beerdigung kommen. Gut, einer lockeren Beerdigung, denn er trägt Jeans und T-Shirt und keinen Anzug. Seine dunklen Haare hat er in so einem albernen Männerdutt hochgebunden, wobei ich zugeben muss, dass es bei ihm doch irgendwie gut aussieht. Aber er strahlt etwas Dunkles aus, beinahe ein bisschen unheimlich.

Überlegen mustert er jeden Einzelnen aus seinen fast schwarzen Augen. Auch wenn es sich blöd anhört, aber ich bin sicher, dass er bei mir einen Moment länger verweilt als bei den anderen. Unsicher beginne ich an meiner Nagelhaut zu knibbeln. Meine Mutter hasst es, wenn ich das mache, aber ich kann es nicht abstellen.

Ah, Mist! Die Papierkügelchen! Die blöden Dinger hängen immer noch in meinen Haaren. Na super! Wahrscheinlich hat er die gesehen und deshalb länger geguckt. Sicher lacht er sich innerlich gerade schlapp. Schon spüre ich, wie mein Herz noch schneller pumpt und mir Hitze ins Gesicht steigt. Ein sicheres Zeichen dafür, dass ich gerade knallrot anlaufe.

»Ja, also, das ist ... Entschuldigung, wie ist Ihr Name noch mal?« Frau Tischler ist total durcheinander, ich bin gespannt, wie sie gleich zurück in die Höllendarstellungen finden wird.

»Asim. Asim Chthonios.« Seine tiefe Stimme brummt durch den Raum und wieder kann ich vereinzelte Schnappatmer hören.

»Was ist das denn für ein Name? Kann ich ja gar nicht aussprechen«, flüstert Paula mir zu. Offenbar ist sie nicht sonderlich beeindruckt von ihm. Bestimmt wäre sie das bei einer weiblichen Version von ihm. Sie verdreht die Augen und hält sich kurz die Nase zu, um dann wenig später loszulassen und zu schnauben.

Ich muss schmunzeln. Ich wette, Paula merkt gar nicht, dass sie sich die Nase zuhält. Seit Wochen wiederholt sie das immer wieder, in der Hoffnung, diese Geste einmal im Traum zu machen. Denn während man träumt, würde man weiteratmen, auch wenn man sich die Nase zuhält.

»Ja, genau. Also, das ist Asim.« Verlegen knetet Frau Tischler ihre Hände. Ein wenig tut sie mir leid. »Wunderbar, ja. Also, Asim wird nun in Ihre Stufe gehen. Moment, ja ... «, kurz blickt sie hektisch durch den Raum und ich glaube, sie bemerkt erst jetzt, wer alles da ist und wer nicht. Ihr Blick bleibt an dem leeren Platz neben mir hängen. Dort sitzt eigentlich Viktoria, aber die ist seit einer Woche wegen eines familiären Notfalls zu Hause.

»Ja, ja, hier vorne, neben Malie, da ist erst mal Platz. Setzen Sie sich bitte dort hin.« Sie zeigt in meine Richtung und ich muss schlucken. Vermutlich werden uns jetzt alle beobachten. Allein die Vorstellung macht mich nervös.

»Atmen, Malie«, raunt Paula mir von der anderen Seite aus zu und ich schnappe kurz nach Luft. Ich bin froh, dass sie da ist und mich aus meiner Starre holt. Dankbar lächle ich ihr zu.

Dann lässt sich der große Kerl neben mir auf den Stuhl fallen und seine Präsenz verdrängt mich beinahe von meinem Platz. »Hi.« Er hat sich mir zugewandt und lächelt mich an.

Ich kann nichts anderes tun, als ihn einfach nur anzustarren. Seine Augen sind tatsächlich beinahe schwarz, die Pupille verschmilzt vollständig mit den Iriden. Das breite Lächeln, das er im Gesicht trägt wie angetackert, wandelt sich in ein spöttisches Grinsen. Dann streckt er seine Hand aus und fasst in meine Haare. Kurz bleibt mir das Herz stehen, wenn so etwas möglich ist. Fasst der Typ mich etwa an? Einfach so?

Mit einem kurzen Ruck zieht er das eine Papierkügelchen aus meinen Haaren. »Wow, trägt man das hier so? Ihr Deutschen seid ziemlich extravagant. Hätte ich gar nicht vermutet.« Seine tiefe Stimme geht mir durch Mark und Bein. Er schaut mich an, als ob er eine Antwort erwartet, aber mein Gehirn ist leer. Vollkommen leer. Vermutlich rollen da gerade ein paar verlorene Heuballen herum.

Paula stupst mich an und holt mich damit in die Wirklichkeit zurück.

Schnell setze ich ein Lächeln auf – also ich hoffe, dass es ein Lächeln ist, mein Gesicht fühlt sich seltsam taub an. Dann zwinge ich mich, den Blick abzuwenden und auf Frau Tischler zu richten, die tatsächlich wieder in ihren Monolog gefunden hat.

Paula rammt mir ihren Ellbogen in die Seite. »Dir läuft gleich Sabber aus dem Mund, jetzt krieg dich wieder ein.«

»Quatsch. Alles gut.«

Zum Glück dauert es nicht lange, bis mich das Klingeln erlöst.

Kapitel 2

In den folgenden Nächten habe ich keinen Klartraum. Enttäuschung macht sich in mir breit, jeden Morgen ein Stückchen mehr. Wie ein sich langsam aufbauender Akkord kommt nach jeder traumlosen Nacht ein Ton dazu, bis mich irgendwann der volle Klang unter sich begräbt. Gerne würde ich mit meinem Vater reden.

Außerdem habe ich morgens noch diffuse Erinnerungen an wunderschöne weißblonde Haare. Was will mein Unterbewusstsein mir da nur sagen? Vielleicht sollte ich mir doch noch mal diese Traumdeutungsbücher ansehen.

Dafür taucht Asim in fast allen meinen Kursen auf. Es ist fast schon unheimlich. Als ob er sich im Sekretariat meinen Stundenplan besorgt und einfach abgeschrieben hätte.

»Irgendwas stimmt doch mit dem nicht.« Paula stellt ihr Tablett neben meines auf den runden Tisch.

»Hallo, Paula, hattest du einen schönen Vormittag?«

Sie schnaubt, aber ihr Blick wird weicher. »Entschuldige. Hallo, Malie, wie war dein Musikkurs?«

Ich muss lächeln, obwohl ich genau weiß, worauf sie hinauswill. »Ganz wunderbar, danke.«

Paula verzieht das Gesicht. »Du hast ihn nicht gefragt wegen des Abschlussballs, richtig?«

Seufzend lege ich die Gabel auf meinen Teller. »Was soll das denn bringen? Er bestimmt nicht das Programm, und ich weiß ja auch noch gar nicht, ob ich da wirklich spielen will.«

Hätte ich ihr doch nie davon erzählt. Nun wird sie nicht müde, mich ständig daran zu erinnern, dass ich am besten direkt das Planungsteam für den Abschlussball aufsuche und um Erlaubnis frage.

Als ob das so einfach wäre. Und als ob die mich spielen lassen würden. Außer Herrn Grell und Paula weiß hier eigentlich niemand, dass ich Klavier spiele. Deshalb möchte sie, dass ich wenigstens ihn frage.

»Aber er ist der Herr über das Klavier.«

Ich zucke die Achseln, natürlich weiß ich, was sie bezweckt. Wenn ich es Herrn Grell erzähle, wird auch er nicht mehr lockerlassen. Er ist ohnehin der Meinung, ich sollte Musik studieren oder am besten direkt Pianistin werden.

»Hast du eigentlich schon von Jannis gehört?«

»Hmm?« Mit Jannis habe ich zwar Deutsch und Sport zusammen, aber ich habe noch nie ein Wort mit ihm gewechselt. Er ist ein eingebildeter Vollidiot, der glaubt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben.

»Nein? Komisch, er erzählt es seit gestern eigentlich jedem, der es nicht hören will.«

»Ach ja? Was denn?« Eigentlich interessiert es mich nicht die Bohne, was Jannis herumerzählt, aber ich begrüße den Themenwechsel.

»Er ist gestern mit dem Bus in die Stadt gefahren. Wollte wohl am Brunnen die Sonne genießen oder so. Egal. Dabei hat er gesehen, wie ein anderer Junge den Busfahrer mit seinem gesamten Kleingeld beworfen hat. Der ließ offenbar sein Schülerticket nicht gelten, weil es abgelaufen war. Ist das nicht total schräg?«

Ich zucke die Achseln. »Ja, schon.«

Sie seufzt. »Stell dir vor ... « Paulas weitere Ausführungen wandeln sich in ein Aufstöhnen, und in meinem Nacken beginnt es zu prickeln. »Kann man nicht mal in Ruhe Mittagessen?«, murrt sie und nimmt einen großen Schluck Kaffee.

Ich drehe mich um. Da steht Asim. Er schaut zu uns herüber und grinst. Schnell sehe ich weg und wende mich wieder Paula zu.

»Was will er nur immer mit dir?« Meine Freundin verschränkt die Arme. Es wundert mich ein wenig, dass sie so abweisend reagiert. Eigentlich ist sie wirklich ein Sonnenschein. Warum findet sie es so schlimm, dass er mich vielleicht mag? Ist jetzt nicht so, als würden mir Freunde die Bude einrennen.

»Was meinst du?«

»Na, der hängt sich irgendwie total an dich dran.«

Darauf kann ich ihr keine Antwort geben. Obwohl es nur Zufall sein kann, finde ich es selbst merkwürdig. Es interessiert sich nie jemand für mich. Nie.

Wenn ich mit Runa, meiner wunderschönen Schwester, zusammen unterwegs bin, dann passiert es manchmal, dass mich gut aussehende Jungs ansprechen. Aber die wollen nur alles über Runa wissen. Nichts über mich.

Aber Asim kennt Runa nicht.

Wieder werfe ich einen unauffälligen Blick über die Schulter. In diesem Moment schlendert dieser Asim genau auf mich zu. Ich kann sein Parfüm schon riechen, da schiebt sich plötzlich Jana zwischen uns.

Ich weiß nicht, was sie ihm sagt, aber er geht mit ihr zu einem anderen Tisch. Dem Tisch, an dem auch Nele und Piet sitzen.

»Und Faszination aus. Das war ja einfach.« Mit einem zufriedenen Lächeln stellt Paula ihre Kaffeetasse wieder ab.

»Was hast du denn überhaupt? Du bist doch sonst nicht so mürrisch.«

»Mürrisch?« Einen Moment sieht meine Freundin verärgert aus, lacht dann aber laut los. »Mürrisch? Was ist denn das für ein Wort?«

Ihr Lachen ist so ansteckend, dass ich mitlachen muss.

»O Mann, tut mir leid«, japst sie. »Ich schlafe im Moment nicht gut.«

»Ehrlich? Das ist ja blöd.« Normalerweise schläft Paula wie ein Stein. Offenbar beschäftigt sie etwas. Ob das mit Asim zu tun hat? »Geht es dir gut?«

Paula wedelt mit der Hand. »Egal. Gehst du nachher noch zu Herrn Grell?«

»Vielleicht.«

»Malie.«

»Ich sage doch, vielleicht.«

*

Von meiner Parkbank aus kann ich wunderbar über den vor mir liegenden glitzernden See schauen. Um mich herum stehen Grabsteine. Einer davon gehört meinem Vater. Ich höre meine Mutter schluchzen.

Keine Ahnung, wie lange ich hier schon sitze, aber bald müssen wir Runa vom Ballett abholen. Ich schaue auf meine Armbanduhr, erkenne jedoch nichts. Die Uhr ist total verschwommen.

Ah, ich träume. Endlich.

Papa.

»Hallo, Malie.« Sofort ist er da und setzt sich neben mich.

Seufzend lehne ich mich an ihn und tiefe Zuneigung durchflutet mich. Es tut so gut ihn zu sehen.

»Wie geht es dir?«

»Ach, Papa.«

»Hast du mit deiner Mutter gesprochen?«

»Nein.« Und ich habe es auch nicht vor.

Wir schweigen einen Augenblick. Auf der anderen Seite des Sees steht jetzt die Schule. Der weiße Kalksandstein glitzert im Sonnenlicht und eine beinahe ätherische Aura umhüllt sie. Bin ich froh, wenn ich dort wegkomme.

Mein Vater steht auf und reicht mir seine Hand. »Sollen wir?«

Nickend stehe ich auf und sofort befinden wir uns in der Aula. Wieder steht auf der Bühne der wunderschöne Flügel. Die Halle ist bereits geschmückt und bestuhlt. Ich weiß noch genau, wo wir im letzten Jahr saßen. Mein Blick schweift durch den Raum und bleibt plötzlich an einem Stuhl hängen. Da sitzt jemand! Ein weißblonder Kopf ist zu sehen. Was will der denn schon wieder hier? Ich muss unbedingt herausfinden, wofür weißblonde Jungen in Träumen stehen. Genervt kneife ich die Augen zusammen, aber als ich sie öffne, sitzt er da noch immer. Das gibt es doch nicht!

»Komm«, sagt mein Vater ruhig und schiebt mich weiter. Er bemerkt nichts. Natürlich nicht.

»Sofort. Geh ruhig schon vor.«

Mit ausgreifenden Schritten gehe ich auf den Typen zu. Lümmelt da auf einem der Stühle, als würde die Welt ihm gehören. Die langen Beine ausgestreckt, Hände in den Hosentaschen und dieses unerträgliche Grinsen im Gesicht.

Er hat nicht einmal den Anstand zusammenzuzucken, als ich mich vor ihm aufbaue.

»Verzieh dich! Das ist mein Traum!«, fahre ich ihn sofort an. In der Realität würde ich mich nie trauen, so mit Menschen zu reden, aber das hier ist ja nicht echt. Er schaut hoch und ich starre in seine Augen. Sie sind leuchtend blau wie Aquamarin. Aber davon lasse ich mich nicht ablenken. Auch nicht von diesen Grübchen, die sein Grinsen hervorbringt.

»Hallo, Malie.«

Woher kennt er meinen Namen? Ich verschränke die Arme. Natürlich, es ist ein Traum und alles hier wird von meinem Unterbewusstsein produziert. Klar kennt er meinen Namen.

»Bist du taub? Ich will, dass du verschwindest! Und zwar sofort!«

»Das würde ich ja gern«, murmelt er und ich stutze. Seine Stimme klingt angenehm, ein wenig rau. Und genervt. »Ich habe ganz schön lange hier auf dich gewartet. Wurde langsam auch Zeit.«

»Wie bitte? Das hier ist mein Traum, verdammt noch mal! Und ich kann kommen und gehen, wie ich möchte.«

Spöttisch zieht er eine Augenbraue hoch und das Grinsen wird breiter. In mir wächst der Wunsch ihm eine reinzuhauen.

»Gut, also da du jetzt endlich hier bist, können wir los.« Er steht langsam auf und hat auch noch die Frechheit, sich ausgiebig zu strecken. Wie eine Katze.

»Was stimmt mit dir nicht? Hau! Ab!« Noch mal schließe ich die Augen. Geh weg, geh weg. Ich bin in der Aula meiner Schule. Alles ist geschmückt. Ein Fl...

Ein leises Lachen reißt mich aus der Konzentration.

Ich öffne erst ein Auge und dann beide. Der Typ steht da immer noch und schaut auf mich herab, da er mich um einen Kopf überragt. Gut, ich bin auch nicht sonderlich groß.

»Du versuchst doch nicht gerade mich wegzuträumen, oder?«

Pah, der Kerl ist überhaupt nicht echt, ich brauche gar nicht mit ihm zu reden. Ein Flügel steht auf der Bühne, mein Papa ...

»Jetzt mal ehrlich, das funktioniert schon seit Wochen nicht. Du schickst mich nur immer vor das Schloss, und dann stehe ich da blöd rum. Und genau das ist der Grund ...«

»Wie bitte?!« Mist, jetzt bin ich doch auf ihn reingefallen.

»Ich kann seit Wochen nicht weg.«

»Nein, nein, nein. Die letzten Male konnte ich dich immer wegträumen. Und genauso wird das auch jetzt funktionieren. Das. Ist. Mein. Traum!«

Was ist denn nur los? Wieso kann ich diesen lästigen Typen nicht loswerden?

Sein Schnauben lässt Wut in mir aufkochen. Tief durchatmen. Er ist gar nicht echt. Und von einer Traumfigur werde ich mich doch wohl nicht so zur Weißglut bringen lassen.

Vielleicht geht er, wenn ich ihn ignoriere. Ich lasse ihn stehen und gehe zu meinem Vater auf die Bühne.

Genervtes Stöhnen.

Er ist gar nicht da. Gar nicht da.

»Ich bin bei dir.« Mein Vater steht lächelnd neben dem Flügel, als wäre nichts gewesen. Zum ersten Mal wirkt es auf mich allerdings nicht beruhigend. Eher im Gegenteil. Es hat etwas Groteskes, wie er da steht und nichts von der Stimmung mitbekommt.

Ich streiche meine Haare hinter die Ohren, straffe mich und setze mich auf den Hocker. Dann hebe ich den Deckel an. Das Bühnenlicht glänzt auf den schwarzen und weißen Tasten und mein Herz wird etwas leichter.

Ob ich es heute mit Zuschauern probieren soll? Ich werfe einen Blick zu den Stühlen. Blondie hat sich wieder auf einen fallen lassen und schaut mit verschränkten Armen und zusammengekniffenen Lippen zu mir herauf.

Nein, lieber keine weiteren Zuschauer.

Die ersten Töne erklingen, und als ich Note für Note sicherer werde, schließe ich die Augen. Doch dann spüre ich ein Kribbeln auf der Nase. Ich öffne sie wieder und erstarre. Blondie steht mir direkt gegenüber und lehnt auf dem geschlossenen Flügel.

»Mach ruhig weiter. Du spielst sehr gut. Lass dich nicht stören.«

Lass dich nicht ...

Verärgert lasse ich den Deckel zuknallen. Es hallt unangenehm in der großen Aula. Die Akustik hier ist erstaunlich.

»Hör zu, ich habe keine Ahnung wer du bist und was du hier tust, aber ich will, dass du verschwindest.«

Er rollt mit den Augen. Echt jetzt? Er hat die Nerven mit den Augen zu rollen?

Mir bleibt eigentlich nur eins zu tun. Und es ist so ärgerlich, weil ich lange auf diesen Klartraum gewartet habe. Aber so geht das nicht. Ich schließe die Augen.

»Ne, oder? Du versuchst doch jetzt nicht ...«

Mehr höre ich nicht. Der Traum löst sich auf und ich schlage die Augen in meinem Bett liegend auf.

*

Gebannt schaue ich auf den Bildschirm. Ich bin etwa eine halbe Stunde vor dem Weckerklingeln aufgewacht. Da ich nicht mehr einschlafen konnte, habe ich den Laptop eingeschaltet. Die Startseite meines Browsers hat mich direkt mit den tagesaktuellen Meldungen beglückt.

Gestern haben sich zwei Frauen in einem Supermarkt in Weidenau um einen Salatkopf geprügelt. Ja, da steht wirklich geprügelt. Und irgendein Celebrity hat in einem Wutanfall historischen Ausmaßes sein Haus zerlegt. Aber gut, diese Leute sind ja oft ziemlich exzentrisch.

Seufzend öffne ich das Sleepa-Forum. Hier tummeln sich jede Menge Menschen, die sich mit Träumen beschäftigen. Auch mit den luziden Träumen. Ich habe mich nach Austausch gesehnt, und so bin ich vor einiger Zeit auf das Forum gestoßen.

Als ich klein war, hielt ich es für ganz normal, dass ich meine Träume lenken kann. Erst mit der Zeit habe ich herausgefunden, dass dem nicht so ist. Meine Mutter und meine Schwester hielten mich für total übergeschnappt, als ich ihnen im kindlichen Übermut davon erzählte. Umso erleichterter war ich dann, später im Internet die verschiedenen Foren zu finden.

Tatsächlich habe ich ein paar Freunde gefunden, mit denen ich mich darüber austauschen kann. Wenn man sie Freunde nennen kann, denn persönlich habe ich bisher keinen von ihnen getroffen.

Das Chatfester poppt auf.

neo123: Gut, dass du da bist. Alles in Ordnung bei dir?

Neo, der mir seinen echten Namen bis heute nicht verraten hat, klingt ungewöhnlich besorgt. Er ist ein paar Jahre älter als ich und genießt in vollen Zügen ein unabhängiges Studentenleben.

Ich: Klar. Was ist los?

neo123: Ich kann Luce und Wil_li nicht erreichen.

Ich: Okay. Vielleicht haben sie zu tun und sind nicht die ganze Zeit am Computer.

neo123: Vielleicht. Ist mit deinen Träumen alles iO?

Ich: Wie meinst du das?

neo123: Ich habe seit einiger Zeit keine Klarträume mehr.

Ich stutze und Mitleid macht sich in mir breit. Neo hat ziemlich regelmäßig luzide Träume, in denen er Dinge anstellt, die ich mich nicht einmal traue zu denken. Hoffentlich dreht er jetzt nicht total durch. Manchmal habe ich bei ihm den Eindruck, dass er sein Leben mehr im Traum lebt als in echt. Dass er nur dort sein kann, wer er ist, und ausleben darf, was ihn ausmacht.

Ich: Hast du eine Vermutung, woran das liegen könnte?

neo123:Ich habe schon mit anderen gesprochen und denen geht es genauso. Das ist doch verrückt. Und jeder kennt ein paar, die einfach nicht mehr zu erreichen sind.

Ich: Okay. Das hört sich furchtbar an. Ich sag dir sofort Bescheid, wenn ich etwas höre.

Kurz kommt mir ein Gedanke. Eigentlich ist mit meinen Träumen nicht alles in Ordnung. Immerhin gibt es da jemanden, der sich immer wieder in meine Klarträume drängt. Meine Finger liegen schon auf den Tasten, doch dann zögere ich. Immerhin ist es nicht vergleichbar mit dem, was Neo erzählt. Immerhin habe ich Klarträume. Wer weiß schon, warum ich immer von diesem blonden Idioten träume. Ehrlicherweise habe ich keine Lust, das mit Neo zu analysieren.

neo123: Ja, mach das. Me11i hat erzählt, dass ein Freund von ihr gar nicht mehr wach wird. Der liegt jetzt irgendwie im Koma.

Ich: Was? Das gibt es doch nicht!

neo123: Ich klappere jetzt alle ab, die ich kenne, vielleicht weiß ja jemand etwas. Pass auf dich auf!

Damit ändert er seinen Status auf offline und lässt mich mit einem diffusen Gefühl der Unruhe zurück. Eigentlich habe ich ihn bisher nicht als sonderlich paranoid eingeschätzt. Wahrscheinlich haben Luce und Wil auch ein Leben außerhalb des Internets. Im Gegensatz zu Neo, der buchstäblich Tag und Nacht online ist. Aber ein komisches Gefühl bleibt dennoch zurück.

Seufzend schließe ich den Laptop wieder. Paula liegt noch schnarchend in ihrem Bett.

Leise stehe ich auf und verlasse unser Zimmer. Wenn ich schon wach bin, kann ich die Zeit auch sinnvoll nutzen.

Morgens ist das Schloss immer wie ausgestorben. Die anderen Schüler stehen vermutlich erst kurz vor dem Frühstück auf. Es ist ruhig, niemand stört mich. Statt mich zu gruseln, genieße ich es, unbehelligt durch die Flure zu streifen. Meine Schritte hallen von den schwarz-weißen Jugendstilfliesen wider. Hohe Sprossenfenster geben den Blick auf den Garten und den angrenzenden Wald frei. Die frühen Morgenstunden sind meine liebsten, wenn die Welt noch in dieses ganz besondere Licht getaucht ist. Zwischen Nacht und Morgen.

Unter den Fenstern gibt es gemütliche Sitznischen mit dunklen Sitzpolstern, in denen ich oft lese. Der Gang vor mir öffnet sich in eine Art Halle, von der aus zwei Musik-‍, drei Kunsträume und zwei kleine Rumpelkammern abgehen. In Letzteren befinden sich die gesammelten Instrumente der Schule, Lehrwerke und ein paar alte Stühle.

Sie alle sind natürlich immer abgeschlossen, aber Herr Grell hat mir schon vor einer ganzen Weile den Schlüssel gegeben, damit ich zu jeder Zeit herkommen und spielen kann. Ganz schön nett von ihm. Oder auch leichtsinnig. Aber was sollte ich schon Verrücktes anstellen?

Der Musikraum ist der schönste Raum der ganzen Schule. Und das will was heißen, denn das Schloss ist schon etwas Besonderes.

Das Tageslicht flutet durch die bodentiefen Fenster und malt wunderschöne Muster auf den grauen Linoleumboden. Auf der rechten Seite warten die Klappstühle auf die ersten Schüler.

Und zu meiner Linken steht es: das holzfarbene Klavier. Zugegeben, so schön wie der lackschwarze Flügel aus meinen Träumen ist es nicht, aber es erfüllt seinen Zweck. Ich setze mich auf den Hocker und öffne den Deckel. Die weißen Tasten sind bereits etwas abgenutzt und auch die schwarzen glänzen nicht mehr so schön. Aber der Klang ist vollkommen in Ordnung und letztendlich ist es das, was zählt. Nur die Akustik ist im Musikraum nicht so gut.

Sanft streiche ich einmal über die Tasten. Ich spüre, wie in meinem Körper alle verirrten Zahnrädchen an ihren richtigen Platz rutschen. Ein unerklärliches, aber starkes Gefühl von Angekommensein erfüllt mich. So geht es mir immer, wenn ich an einem Klavier sitze. Mein Kopf leert sich und das Gedankenkarussell kommt zum Stillstand. Das Lied für meinen Vater verlässt meinen Kopf und erklingt im Raum. Mit geschlossenen Augen finden meine Finger sicher die Tasten.

Fast ist es, als ob mein Vater jetzt bei mir wäre. Als ob er seine Hand auf meine Schulter legt und meiner Musik lauscht.

Ein Rascheln reißt mich aus meinen Gedanken. Mitten im Takt stoppe ich und schaue auf. Im Türrahmen lehnt Asim.

»Entschuldigung, ich wollte dich nicht stören.»

O. Mein. Gott. Habe ich die Tür nicht wieder abgeschlossen? Hat er mir etwa zugehört? Warum ist er überhaupt um diese Uhrzeit hier?

Mein Mund wird trocken und ich kann ihm nicht antworten. Nicht einmal, wenn ich wüsste, was ich sagen soll.

Langsam stößt er sich ab und kommt auf mich zu. »Das war gut. Richtig gut.«

Er lächelt, aber ich starre ihn immer noch an. Bestimmt hält er mich jetzt für geistig eingeschränkt. Malie, denk nach! Was könnte ich jetzt sagen?

»Du solltest auf einer Bühne spielen oder so.«

»Ähm ja ... nein ... also, ich muss jetzt auch los.« Ah, total gut. Und richtig schlagfertig. Innerlich verdrehe ich die Augen, schließe den Deckel und stehe mit wackeligen Beinen auf.

Asim bleibt jedoch noch am Klavier stehen. Will der etwa hierbleiben? Ich muss wieder abschließen.

Also räuspere ich mich. »Der Unterricht fängt ja auch gleich an.«

Statt mich zur Tür zu begleiten, setzt er sich auf den Klavierstuhl. Jetzt stehe ich im Türrahmen und schaue ihm zu. Er öffnet den Deckel und streicht über die Tasten, so wie ich es eben noch gemacht habe. Ob er mich schon dabei gesehen hat?

Und dann beginnt er zu spielen. Die Töne erreichen mein Herz und füllen es mit einer warmen Melancholie. Meine Knie werden weich. Ich kenne das Stück, es ist eine Komposition meines Vaters. Eine feine Gänsehaut zieht meine Arme hinauf bis zu meinem Hals. Meine Kehle wird eng und meine Augen füllen sich mit albernen Tränen. Als ich das Lied zum letzten Mal gehört habe, saß mein Vater bei uns zu Hause am Klavier. Zwei Tage später war der Unfall. Ich muss schlucken.

»Woher kennst du das?«, flüstere ich.

»Keine Ahnung, muss ich irgendwo mal gehört haben. Schönes Lied, nicht?«

Seine Stimme klingt nicht, als ob er mich verarschen will. Trotzdem ist alles in mir angespannt wie eine Bogensehne. Er unterbricht sein Spiel und schaut auf seine Uhr. »Oh, wird Zeit, dass wir in den Unterricht kommen. Mit Frau Leopolt ist nicht zu spaßen, da sollten wir besser nicht zu spät kommen.« Er grinst und langsam weicht meine Anspannung. Gegen meinen Willen muss ich lächeln. Dann steht er auf, schließt den Deckel und geht an mir vorbei.

Mit klopfendem Herzen ziehe ich die Tür zu und schließe ab. Herr Grell verlässt sich auf mich und ich möchte dieses Vertrauen nicht verspielen.

»Es ist toll, dass du hier spielen kannst. Ich nehme an, du bist absichtlich morgens früh hier, wenn sonst niemand unterwegs ist? Niemand außer mir natürlich.«

Ich zucke die Achseln. »Schon möglich.«

»Du bist gut. Das hast du nicht nötig.« Sein Blick ist offen, und in meinem Herz wächst ein kleiner Ball Stärke.

»Danke.« Mehr fällt mir nicht ein. Obwohl ich es ernst meine, weiß ich nicht genau, was ich von Asim halten soll.

Schweigend gehen wir zum Unterricht, aber es ist kein unangenehmes Schweigen.

*

Inmitten eines Ritterturniers, auf dem bunt gekleidete Burgfräulein die Ritter mit Münzen bewerfen, werde ich mir bewusst, dass ich träume.

Manchmal bin ich doch verwundert, welch seltsames Zeug mein Unterbewusstsein nachts verarbeiten muss. Aber gut, einen Wimpernschlag später ändert sich die Szenerie und ich stehe vorm Internat. Es regnet. Wow, ich kann mich nicht erinnern, dass es jemals in meinem Traum geregnet hat. Aber es ist auch egal, ich will ja in die Aula.

Ich schließe die Augen, und als ich sie öffne, befinde ich mich genau an jenem Ort, an den ich gerade noch gedacht habe. Ein Lächeln stiehlt sich auf mein Gesicht. Es hat wirklich seine Vorteile ein Klarträumer zu sein.

Heute ist die Aula leer. Weder verschönern die vielen Luftballons die Halle noch stehen Stühle bereit. Aber der Flügel steht an Ort und Stelle. Das reicht mir. Aber wo ist mein Vater? Ich würde ihn gern nach dem Stück befragen, das Asim gespielt hat.

Wieder mache ich die Augen zu und denke fest an ihn, doch er taucht nicht auf. Das ist merkwürdig. Ein fieser Druck legt sich auf meine Brust und kaltes Kribbeln durchfährt meinen Körper. Bin ich doch nicht richtig wach? Das Aussehen der Aula kann ich ebenfalls nicht bestimmen. Sofort kommt mir Neo in den Kopf. Verlieren wir unsere Fähigkeit?

»Wenn du mir mal zuhören würdest, könnten wir vielleicht eine Lösung finden.«

Wie von der Tarantel gestochen wirbele ich herum. Dabei donnere ich dem weißblonden Typen versehentlich den Unterarm ins Gesicht.

»Ach du Scheiße!», stöhnt er und hält sich das Gesicht.

»Herrgott noch mal! Musst du mich so erschrecken?«

»Tschuldigung, passiert nicht wieder«, nuschelt er.

»Tut mir leid.« Auch wenn ich nicht weiß, wo er herkommt, muss ich ja nicht unhöflich sein. Wahrscheinlich ist der Typ genauso eine Anomalie wie das Fehlen meines Vaters. Vielleicht verliere ich wirklich die Fähigkeit des Klarträumens.

»Also, irgendetwas stimmt nicht.«

Ich verdrehe die Augen. »Und da bist du dir ganz sicher?«

»Ja, so etwas ist bisher noch nie vorgekommen.«

»Tatsächlich? Dich hat noch nie jemand geschlagen? Kann ich gar nicht glauben.«

Er seufzt. »Du nimmst das noch immer nicht ernst. Ich hänge hier fest. Deine Träume sind bisweilen ganz amüsant, aber auf Dauer würde ich gerne wieder nach Hause.«

Der Typ sieht meine Träume? Obwohl er natürlich kein echter Mensch ist, finde ich die Vorstellung unangenehm. Wenn ich mich schon manchmal über mein Unterbewusstsein wundere, was muss er dann erst denken? Aber er denkt ja gar nicht, erinnere ich mich. Er ist kein Mensch wie ich, sondern eine Traumfigur, die für irgendetwas steht, das ich wirklich dringend mal erkunden sollte.

»Du verlierst die Kontrolle über die Träume. Und ich kann nicht weg. Etwas stimmt nicht.«

»Aha. Und wie genau kommst du überhaupt hierher? Also, mal angenommen, du bist keine Traumgestalt – wie kommst du in meinen Traum?« Ich verschränke die Arme.

Er zieht eine Augenbraue hoch und sieht dabei auch noch entnervend gut aus. »Was ich hier mache, tut erst mal nichts zur Sache, das bringt dich nur durcheinander. Wichtig ist nur, was wir jetzt machen.«

Wie bitte? »Es ist nicht wichtig, was du hier machst? Das sehe ich anders, Freundchen. Und wenn du irgendetwas von mir willst, dann erklär es mir.«

»Du würdest mir sowieso nicht glauben.«

»Ach nein? Versuch es mal!«

»Es geht dich aber nichts an. Nachher erzählst du das in der wachen Welt herum. Da kann ich gut drauf verzichten.«

»Dann kannst du meine Hilfe schön vergessen. Und die brauchst du ja wohl, sonst würdest du mir hier nicht auf die Nerven gehen.«

Jetzt verschränkt er ebenfalls die Arme und funkelt mich an. Ich funkle zurück. Der hat sie ja nicht mehr alle! Was treibt denn mein Unterbewusstsein dazu, sich solch einen bescheuerten Typen auszudenken? Diese Kombination aus attraktiv und nervtötend ist doch nicht gesund.

»Ich bin Phynn«, presst er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und sieht aus, als hätte er Schmerzen dabei. Idiot.

»Toll. Phynn. Wahnsinn. Und weiter?«

Ob der sich jetzt jede kleine Information so aus der Nase ziehen lässt?

Er seufzt tief und ich kann sehen, dass er aufgibt. »Ich bin ein Oneiroi.«

Ich muss mir ein Lachen verkneifen. »Ein Oneiroi? Was ist das denn?»

Sofort bekommt sein Gesicht wieder diesen arroganten Ausdruck. »Von allen möglichen Koimamais musste ich ausgerechnet an eine Ungebildete geraten.«

»Eine Ungebildete? Sag mal, geht’s noch?» Ich stemme meine Arme in die Hüften. Was ein arroganter Arsch. Ich bin ziemlich gut in der Schule und habe schon einige Bücher gelesen, von deren Existenz viele in meinem Alter nicht einmal wissen. Da muss ich mir nicht vorwerfen lassen, ungebildet zu sein.

»Jetzt sei nicht so empfindlich. Wir Oneiroi sind die Traumgötter.«

Nun steigt das Lachen an die Oberfläche. Ich pruste los. »Ein Traumgott? Ist klar ...«, japse ich, als ich wieder Luft bekomme.

»Siehst du, ich hab gewusst, dass du es nicht verstehst.« Er klingt beleidigt. Der ist total übergeschnappt. Ein Traumgott, also ehrlich.

»Okay, okay. Gut, ein ... Traumgott.« Ich muss mich echt zusammenreißen, um nicht wieder loszulachen. »Und, wie viele gibt es davon?«

»Das kann ich dir nicht genau sagen. Sehr viele. Immerhin träumen ja alle Menschen.«

»Und was ist eure Aufgabe?« Außer friedlichen Träumern auf die Nerven zu gehen natürlich.

»Wir bringen die Träume, damit ihr Menschen eure Erlebnisse verarbeiten könnt. Ihr würdet sonst durchdrehen, glaub mir.«

Okay, jetzt mal zusammengefasst. In meinem Traum sitzt ein Typ, der glaubt, er wäre ein Traumgott. Aber aus irgendeinem Grund kann ich ihn nicht verschwinden lassen. Könnte es bedeuten, dass er die Wahrheit sagt? In meinem Kopf beginnt es zu klopfen. Echt jetzt? Man kann im Traum Kopfschmerzen bekommen?

»Hörst du mir noch zu?«

Ups. Hat der etwa noch weitererzählt? Wie peinlich.

»Äh, ja sicher. Menschen drehen durch ... habe ich gehört.«

Er seufzt auf. Meine Güte, wie kann man nur immer so genervt sein? Vielleicht sollte er mal Yoga probieren oder so.

»Also, hilfst du mir jetzt, oder was?«

Wobei soll ich ihm helfen? Ich habe wohl doch etwas mehr verpasst. Vielleicht sollte ich einfach auf meine Träume verzichten. Geht das überhaupt? Außerdem könnte ich nicht darauf verzichten, meinen Vater wiederzusehen. Aber jetzt muss ich erst mal hier raus. Meine Gedanken fahren Achterbahn, ich sollte mich zuerst in Ruhe sortieren. Das geht nicht, wenn er hier ist.

»Nein, nein, nein. Nicht schon wieder. Das gibt’s doch nicht!«

Ein genervtes Knurren begleitet mich beim Aufwachen.

*

Bereits seit zwei Stunden liege ich wach. Nach diesem verrückten Traum habe ich keinen Schlaf mehr finden können. Ich habe keine Ahnung, wie ich den Tag durchstehen soll. Eine Weile habe ich noch das Internet durchforstet und weitere Fälle gefunden, in denen Menschen unerklärlicherweise ins Koma gefallen sind. Außerdem wird in den einschlägigen Foren heiß darüber spekuliert, warum im Moment niemand mehr luzide Träume hat. Es scheint fast, als wäre ich die Einzige, die es noch kann. Mein Magen brodelt aufgeregt und eine latente Übelkeit beschleicht mich. Was hat das zu bedeuten?

Es gibt andere, die ihre Träume viel besser steuern können als ich. An mir ist absolut nichts besonders, ich ... ich habe jemanden in meinen Träumen, der von sich behauptet, ein Traumgott zu sein. Ein Gott der Träume. Das kann doch kein Zufall sein.

Neo hat mir eine E-Mail geschrieben, in der er noch mal nach meinem Befinden fragt. Wenn es nicht so verrückt wäre, fände ich es ganz süß, dass er sich so um mein Wohlergehen sorgt.

Endlich klingelt der Wecker und Paula setzt sich mit einem Ruck auf. Sofort beginnt sie, ein fröhliches Lied zu summen. Es ist mir ein Rätsel, wie man morgens schon so gute Laune haben kann.

»Komm schon, Sonnenschein. Ein neuer Tag wartet auf uns.« Paula verschwindet weiterhin summend in Richtung Badezimmer.

Einen Moment bleibe ich noch unter der warmen Decke und stehe dann doch auf. Es nutzt ja nichts.

Als Paula zurückkommt, bin ich immerhin schon angezogen.

»Kennst du die Oneiroi?«

Sie schaut mich überrascht an und schüttelt dann langsam den Kopf. »Wen? Onireu? Nein, noch nie gehört. Was ist das denn?«

»Traumgötter.« Vielleicht. Oder eine durchgeknallte schizophrene Störung in meinem Kopf.

»Oh.» Ihre Augen blitzen interessiert auf. »Das klingt spannend. Warte kurz.«

Sie huscht zu ihrem Bett und holt das kleine Buch unter dem Kissen hervor. Stirnrunzelnd betrachtet sie es und hält sich dabei kurz die Nase zu.

»Du machst das schon ganz automatisch, oder?«

»Wie bitte?« Irritiert sieht sie mich an.

»Du hast dir gerade die Nase zugehalten.« Ich muss lächeln.

»Oh, hab ich das? Sehr gut. Vielleicht mache ich das endlich mal, wenn ich träume. Eigentlich müsste es doch bald so weit sein.«

»Ich denke schon. Wenn du die Reality Checks schon wie selbstverständlich machst, ist es wahrscheinlich, dass du es auch im Traum machst.« Innerlich schüttle ich kurz über mich den Kopf. Das klingt selbst in meinen Ohren skurril. »Bald kannst du deinen Traum steuern und erleben, was du willst.«

»Einmal beim Coachella Festival dabei sein.«

»Oder zur Titanic tauchen.«

»Filmstar sein.« Sie seufzt. »Allerdings habe ich schon länger nichts mehr geträumt. Zumindest habe ich es mir nicht gemerkt. Und dabei klappte es inzwischen richtig gut.«

»Sicher träumst du.« Kurz kommt mir Phynn in den Kopf, der gesagt hat, dass es fürchterlich wäre, wenn Menschen nicht mehr träumen könnten. Ist an seiner Geschichte vielleicht doch etwas dran?

»Egal.« Sie nimmt den Stift in die Hand, öffnet ihr Traumbuch und streicht die Zeile unter dem heutigen Datum durch. »Du wolltest etwas über Traumgötter erzählen?«

Ich zucke die Achseln. »Irgendwie kann ich nicht mehr alles im Traum kontrollieren und so verändern, wie ich möchte.«

»Muss ja schrecklich sein.« Sie lacht und ich verdrehe die Augen. »Schon gut. Also, du glaubst, das liegt an diesen Onireu-Leuten?«

»Oneiroi. Aber ich weiß nicht genau. In meinem Traum kommt immer wieder ein Typ vor, der von sich behauptet einer zu sein.«

»Ein Traumgott?«

Ich nicke und sie pfeift durch sie Zähne.

»Klingt bescheuert, oder?«

Sie schmunzelt. »Auch nicht verrückter als das, was du sonst über deine Träume erzählst.«

»Vermutlich dreht mein Unterbewusstsein im Moment nachts durch.« Ich zucke die Achseln. »Allerdings haben wohl auch andere Probleme mit den Klarträumen. Ich habe da ein komisches Gefühl.«

»Hmm«, Paula massiert sich die Nasenwurzel, was bei anderen nach Konzentration aussieht, bei ihr aber einfach nur drollig wirkt, »wenn wir jetzt gemeinsam versuchen, etwas darüber herauszufinden, hilft uns das auch nicht wirklich weiter.«

»Wieso nicht? Das ist eine gute Idee. Lass uns nach dem Unterricht recherchieren.«

»Nein, ich versuche alleine etwas darüber herauszufinden. Wenn du etwas darüber liest, wissen wir ja nicht, ob du dir nicht alles ausdenkst im Traum.«

»Wie?«

»Na, ich suche eine Information, die du bestimmt nicht hast. Dann schreibe ich dir eine Frage auf und du fragst das diesen Heini. Dann nennst du mir die Antwort und ich kann sagen, ob es stimmt.«

Langsam fällt bei mir der Groschen. »Dann haben wir den Beweis, dass er die Wahrheit sagt. Was ziemlich abgedreht wäre.«

Ein Grinsen stiehlt sich auf Paulas Gesicht. »Ganz genau.«

»Dann lass uns erst mal diesen Tag hinter uns bringen.«