Ohne Geld singt der Blinde nicht – Ein Fall für Katharina Ledermacher - Richard Hey - E-Book

Ohne Geld singt der Blinde nicht – Ein Fall für Katharina Ledermacher E-Book

Richard Hey

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Beschreibung

Am Ufer des Teltow-Kanals findet man einen Beamten des West-Berliner Rauschgiftdezernats. Erschossen. War er einem großangelegten Rauschgifthandel auf der Spur? Ein Chemieprofessor, vor Kurzem erst aus der DDR nach West-Berlin gekommen, wird mit eingeschlagenem Schädel an den Strand eines kleinen Badeortes in Italien getrieben. Waren Geheimdienste am Werk? Die Oberkommissarin Katharina Ledermacher erhält den heiklen Auftrag, während eines Urlaubs in dem ligurischen Badeort inoffiziell und unauffällig nachzuforschen. Sie gerät in höchste Bedrängnis. Ein blinder Puppenspieler ist einer der Wenigen, die Durchblick haben. Eine Spur führt zurück zu dem erschossenen Beamten in Berlin und den Rauschgifthändlern.

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Richard Hey

 

 

Ohne Geld

singt

der Blinde nicht

 

 

Ein Fall für Katharina Ledermacher

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

Neuausgabe

Copyright © by Authors/Bärenklau Exklusiv

Cover: © by Steve Mayer, nach Motiven, 2023

Korrektorat: Katharina Schmidt

 

Verlag: Bärenklau Exklusiv. Jörg Martin Munsonius (Verleger), Koalabärweg 2, 16727 Bärenklau. Kerstin Peschel (Verlegerin), Am Wald 67, 14656 Brieselang

 

Die Handlungen dieser Geschichte ist frei erfunden sowie die Namen der Protagonisten und Firmen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen sind rein zufällig und nicht gewollt.

 

Alle Rechte vorbehalten

 

Das Copyright auf den Text oder andere Medien und Illustrationen und Bilder erlaubt es KIs/AIs und allen damit in Verbindung stehenden Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren oder damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung erstellen, zeitlich und räumlich unbegrenzt nicht, diesen Text oder auch nur Teile davon als Vorlage zu nutzen, und damit auch nicht allen Firmen und menschlichen Personen, welche KIs/AIs nutzen, diesen Text oder Teile daraus für ihre Texte zu verwenden, um daraus neue, eigene Texte im Stil des ursprünglichen Autors oder ähnlich zu generieren. Es haften alle Firmen und menschlichen Personen, die mit dieser menschlichen Roman-Vorlage einen neuen Text über eine KI/AI in der Art des ursprünglichen Autors erzeugen, sowie alle Firmen, menschlichen Personen , welche KIs/AIs bereitstellen, trainieren um damit weitere Texte oder Textteile in der Art, dem Ausdruck oder als Nachahmung zu erstellen; das Copyright für diesen Impressumstext sowie artverwandte Abwandlungen davon liegt zeitlich und räumlich unbegrenzt bei Bärenklau Exklusiv.

 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum 

Das Buch 

Ohne Geld singt der Blinde nicht 

1. Kapitel 

2. Kapitel 

3. Kapitel 

4. Kapitel 

5. Kapitel 

6. Kapitel 

7. Kapitel 

8. Kapitel 

9. Kapitel 

10. Kapitel 

11. Kapitel 

12. Kapitel 

13. Kapitel 

14. Kapitel 

15. Kapitel 

16. Kapitel 

17. Kapitel 

18. Kapitel 

19. Kapitel 

20. Kapitel 

21. Kapitel 

22. Kapitel 

Über den Autor Richard Hey 

Von Richard Hey sind folgende Romane und Kurzgeschichten ebenfalls erhältlich oder befinden sich in Vorbereitung 

 

Das Buch

 

 

 

 

Am Ufer des Teltow-Kanals findet man einen Beamten des West-Berliner Rauschgiftdezernats. Erschossen. War er einem großangelegten Rauschgifthandel auf der Spur? Ein Chemieprofessor, vor Kurzem erst aus der DDR nach West-Berlin gekommen, wird mit eingeschlagenem Schädel an den Strand eines kleinen Badeortes in Italien getrieben. Waren Geheimdienste am Werk? Die Oberkommissarin Katharina Ledermacher erhält den heiklen Auftrag, während eines Urlaubs in dem ligurischen Badeort inoffiziell und unauffällig nachzuforschen. Sie gerät in höchste Bedrängnis. Ein blinder Puppenspieler ist einer der Wenigen, die Durchblick haben. Eine Spur führt zurück zu dem erschossenen Beamten in Berlin und den Rauschgifthändlern.

 

 

***

Ohne Geld singt der Blinde nicht

 

Ein Fall für Katharina Ledermacher

 von Richard Hey

 

 

1. Kapitel

 

Katharina hatte sich an den Blinden gewöhnt.

Jeden Morgen, lange vor sieben, trat sie vorsichtig auf den Balkon von Roberts Wohnung. Der war laut baupolizeilichen Dokumenten längst abgerissen, überdauerte jedoch wegen Bankrotts der Abbruchfirma weiterhin Verwitterung und Verfügungen. Früher hatte sie Punkt sieben der Lärm der Glocken der Trinitatis-Kirche geweckt. Aber seit die Wilmersdorfer Straße zur Fußgängerzone umgebaut wurde und aus den Asphaltlöchern und schadhaften Pflastersteinen der ruhigen Krummen eine Durchgangsstraße geworden war, nahm die Verkehrsdichte nach sechs schlafbedrohend zu. Fensterklirren, Fußbodenzittern, Motorgedröhn machten nur Robert nichts aus. Er schlief noch, während Katharina auf dem Balkon mit Atemübungen ihren lahmen Kreislauf in Gang brachte und dabei aus der Höhe des vierten Stocks über die Linden- und Akazienwipfel des Karl-August-Platzes blickte. Unten fahrende und bremsende Autos, die sich an parkenden Autos vorbeischoben, der leere Kinderspielplatz zwischen Pissoir und Kirchenportal und gegenüber, auf der anderen Seite des Platzes, Backsteinfront, gläserne Eingangstür und freischwebende Vortreppe samt Fünfzigerjahre-Geländer des Studentenheims.

Meistens brauchte sie nicht lange zu warten, und der Blinde öffnete drüben die Tür. Seit drei Jahren begann der Charlottenburger Frühling, wenn sie den Blinden zum ersten Mal morgens vom Balkon aus sah, und der Sommer war zu ende, wenn der Blinde seine kurzen Spaziergänge auf den Nachmittag verlegte.

Der Schäferhund erschien als erster auf der Treppe, einer von den kleineren, grauen, nicht-neurotischen. Der Blinde hielt ihn am starren Geschirr. Der Hund schnupperte, blickte um sich, dann gingen sie beide behutsam die Stufen hinunter zum Weg, der zwischen Backsteinwand und ein paar Büschen mit zerfledderten Blättern auf die Straße führte. Dort bückte sich der Blinde, suchte am Halsband des Hundes, klinkte das Geschirr aus, und der Hund eilte, befreit, von Busch zu Busch, stöberte Ratten, Bierdosen, Papier auf. Der Blinde ging allein weiter, das Geschirr über dem Arm. Manchmal steckte er sich eine Zigarette an. Der Hund umkreiste ihn in großen Bögen, untersuchte Straßenbäume, Laternenmasten, Hauseingänge, den Inhalt einer umgefallenen Mülltonne.

Gelegentlich, im Herbst oder Winter, begegnete Katharina dem Blinden, wenn sie von der U-Bahn kam oder aus ihrem eigenen kaum noch benutzten Apartment im 8. Stock des Wohnhochhauses Krumme Ecke Bismarck, auf dem Weg zu Roberts Wohnung. Er ging mit kleinen schnellen Schritten genau in der Mitte zwischen Straßenbäumen und Häuserwand, unbekümmert um Regen, Dunkelheit, Straßendreck, ungeduldige Passanten, den Kopf vorgestreckt, gewöhnt, Informationen über die Umwelt abzuhorchen, einzuatmen. Und im schutzlosen Gesicht immer ein beharrliches Lächeln. Rempelte ihn jemand an, entschuldigte er sich freundlich. Im Sommer trug er offenes Hemd mit Weste, im Winter einen dünnen braunen Mantel, nie eine dunkle Brille, nie einen Hut, seine schütteren Haare bedeckten leichtgelockt den blassen Schädel.

Die Zwölfquadratmeterzelle, in der er mit Hund und vielen Blindenbüchern lebte, eine der dreißig des Heims, lag im Parterre. Wer auf der Straße vorbeiging und sich reckte, konnte durchs Fenster aktenbepackte Regale und den oberen Teil der Zimmertür sehen, falls nicht das schmuddelige Schnapprollo vorgezogen war. Von den Gemüsefrauen bei Hertie hörte Katharina, er sei aus Persien. Mehr wusste sie nicht über ihn.

Sie kannte aber das Zimmer. Früher hatte da ein Türke gehaust, der sich auf das Ingenieur-Examen vorbereitete. In einem der heißen Sommer Anfang der siebziger Jahre, nach wochenlanger Büffelei im stickigen Raum, fing er eines Nachts um zwei mit lauten Selbstgesprächen an und schrecklichen Schreien, bei geöffnetem Fenster. Das gellte über den düsteren Platz, über die in Straßenlampenlicht blinkenden geparkten Autos. Niemand kümmerte sich darum. Im Studentenheim und in den Nachbarhäusern rührte sich nichts. Schreie war man gewohnt, jede zweite Nacht schrie einer, nah oder fern, Besoffene, Verrückte, man nahm das hin.

»Aah!«, schrie es heiser aus dem finsteren Zimmer, dazu Faustschläge auf die Schreibtischplatte. »Ah, ich werde allen deutschen Männern die Schwänze abschneiden, allen!« Faustschläge. »Und den Frauen werde ich die Fotze abschneiden – nein, geht ja nicht. Also nur den Männern. Zuerst, aah, den Kapitalisten, dann den Professoren, den Busfahrern, den Zeitungsschreibern, den – ach was, allen!«

Katharina hatte um diese Zeit vierzehnstündige Arbeitstage, verursacht durch den plötzlichen Tod zweier Schöneberger Briefmarkenhändler. Die beiden friedlichen alten Herren hatten sich eines Abends bei einer Flasche Burgunder und vor offenem Kaminfeuer entweder gegenseitig mit Zierdolchen und Schürhaken umgebracht, sehr unwahrscheinlich, oder waren von einem spurlos verschwundenen Dritten getötet worden, wofür auch nichts sprach. Die Polizei hatte die verkohlten Reste einiger hundert wertvoller Marken in der Glut gefunden. Und Katharina suchte nun nach einer Antwort auf die Frage, wer, bei fast dreißig Grad im Schatten tagsüber und nur geringer Abkühlung nachts, im Kamin Feuer gemacht hatte. Und warum. Um Briefmarken zu verbrennen? Ein Aschenbecher und ein Streichholz hätten genügt. Verfeuert man einen halben Zentner Holz, um Briefmarken zu vernichten, die eine Menge Geld bringen konnten? Katharina musste ein Dutzend philatelistischer Sachverständiger sowie Kollegen und Familienangehörige der Verstorbenen befragen, zwei Dutzend Zeugen anhören, die zur vermuteten Tatzeit im Haus oder vor dem Haus irgendwas bemerkt haben wollten, die widerspruchsvollen Protokolle zweier Obduktionen vergleichen und die gebündelten ergebnislosen Recherchen ihrer Mitarbeiter in dicken Aktenordnern zur Kenntnis nehmen – abgesehen von den Besprechungen mit Vorgesetzten und Vertretern der Staatsanwaltschaft, die sich in diesen Tagen häuften, und nicht gerechnet das Verhalten einiger männlicher Kollegen, die davon überzeugt waren, dass die Kommissarin Ledermacher ohne ihre Hilfe mit Briefmarken und Schürhaken nicht fertig werden würde.

Katharina brauchte, mehr denn je, ein paar Stunden ungestörten Schlaf.

Nachdem sie dreißig Minuten den Faustschlägen und dem Gebrüll zugehört hatte, und nachdem sich Robert gähnend – »da kann man nichts machen« – Wachskugeln in die Ohren gestopft hatte, zog sie sich über, was sie im Dunkeln neben dem Bett fand, Roberts Jackett, ihre Hosen, lief hinunter und über den Platz zum Fenster des Türken.

»He«, rief sie während einer Pause zwischen zwei Faustschlägen ins dunkle Zimmer hinein, »hallo«.

Sofort war das Gesicht des Türken über ihr, weiß und schattig im Licht der Straßenlaterne, die Haare dunkel wie das Zimmer hinter ihm.

»Was willst du?«

»Schlafen«, sagte Katharina, »warum schreist du?«

»Schrei ich? Ja, ich schrei. Ich muss.«

»Aber es sind zu viele. Du schaffst das nie.«

»Was schaff ich nicht?«

»So viele Schwänze abzuschneiden.«

Der Türke starrte sie an, nickte, lächelte düster. Neben Katharina auf der Straße stand plötzlich ein kleiner Mann, der sich hochreckte und dem Türken eine Hand streichelte.

»Du, hör«, sagte der kleine Mann, »ich wohnen da gleich drüben.« Er zeigte über die Straße. »Ich mussen jeden Morgen um vier aufsteh, arbeiten. Ich krank, wenn nicht schlafen. Ich nicht schlafen, wenn du schrei.«

»Entschuldige«, murmelte der Türke und zog die Hand zurück. »Ich werde nicht mehr schreien.« Knallend riss er das Rollo vors Fenster.

»Dank«, sagte der Mann zum Rollo hinauf. Und wendete sich an Katharina: »Manchmal ich wollen auch schreien. Du auch, Frau, sicher.«

»Oh ja«, sagte Katharina, »und wie.«

»Jeder wollen schrein. Aber geht nicht. Gute Nacht jetzt.« Er gab Katharina die Hand, wendete ihr ein vor Erschöpfung glänzendes Gesicht zu, sagte einen jugoslawischen Namen, den Katharina nicht behielt, und eilte quer über die dunkle Straße davon.

In den folgenden Nächten schrie der Türke nicht. Dann fing er wieder an, aber nur jeweils für eine halbe Stunde. Einmal sprach Robert mit ihm, frühmorgens, in der ersten Dämmerung, unter dem halb hochgezogenen Rollo hindurch, lud ihn zum Abendessen in seine Wohnung. Der Türke schien fröhlich, sagte zu. Aber dann saß Robert nach einem Tag voller Schulärger doch allein vor dem talgig werdenden Hammel, den er so gut zubereiten konnte. Katharina war bis in die Nacht hinein in ihrem Büro mit dem Sortieren von Fehldrucken und Sondermarken beschäftigt, und der Türke kam nicht. Er schrie auch nicht mehr, war wenige Wochen später ausgezogen.

Und Katharina dachte kaum noch an ihn, seit sie den Blinden entdeckt hatte.

Der Blinde schien nicht zu leiden. Im Gegenteil, sein blicklos vorgestrecktes Gesicht mit dem sanften Lächeln wirkte tröstend, machte zuversichtlich. Wenn Katharina morgens auf dem Balkon stand und ihm nachsah, fühlte sie sich geborgen. Sie hatte das magische Denken ihrer Kinderzeit nie ganz aufgegeben. Leute, die ihre Logik fürchteten, hätte das einigermaßen überrascht. Aber für Katharina gab es zwischen dem Blinden und dem Balkon, auf dem sie stand, einen Zusammenhang. Der Balkon würde nicht abstürzen mit ihr, Unerfreuliches, Lästiges würde sich für einen Tag kaum ereignen können, wenn sie am frühen Morgen den Blinden nicht verpasste. Sein Lächeln hielt den Balkon samt Katharinas Welt im Gleichgewicht.

Eines Morgens, Mitte Juli, gab es ihn nicht mehr.

Katharina wartete, bis die Glocken dröhnten. Der Blinde erschien nicht.

Unwillkürlich war sie vom schmiedeeisernen Geländer zurückgetreten. Sie stand vor der Scheibe der Balkontür, die im Morgenlicht matt Katharinas Bild spiegelte. Sie hatte ein verblichenes Unterhemd von Robert an und einen fadenscheinigen Slip, den ihre Tochter seit der Schwangerschaft nicht mehr anziehen mochte. Langsam drehte sie sich um sich selbst. Sie war jetzt dreiundvierzig Jahre alt. Die Balkontür zeigte eine schlanke Frau mit etwas zu viel Hintern, mit kindlich gerundeten Schultern, die Robert liebte, und großen dunklen Augen unter schwarzen Haaren, die nicht sehr ordentlich zu einer Art Pagenfrisur geschnitten waren. Ihre Brüste fand sie in letzter Zeit unnötig, da sie niemanden zu säugen hatte. Aber sie waren nicht aufdringlich, hielten sich gut, die berühmte Handvoll, wie Roberts Vater mit glibberigem Altherrenlächeln festgestellt hatte; sie berührte sie gern. Unwillkürlich tastete sie nach Knoten und Verdickungen im Gewebe. Sie wippte ein wenig auf bloßen Füßen, wippte näher an die Scheibe heran, beugte den Kopf, um zu sehen, ob silberne Haare dazugekommen waren. Aber sie sah keine silbernen Haare und von der senkrechten Falte über der Nasenwurzel nur einen Schatten.

Sie blickte durch ihr blasses Abbild hindurch ins Zimmer. Unter dem Lärm der Glocken wachte Robert endlich auf. Er lag nackt auf dem Bett, neben ihm die verrutschte Decke. Der mit zartem Kinderflaum bedeckte Körper fing an, füllig zu werden. Robert bewegte sich zu wenig, machte keinen Sport, kochte zu gern. Über der Stirn lichteten sich die Haare, die allmählich grau wurden. Sie liebte diese unaggressiven, zurückweichenden Haare. Unterhalb vom Bauch waren sie noch dicht und dunkelblond. Auf ihnen ruhte, halb angespannt und leicht gebogen, der blinde Muskel, blass altrosa, ebenso angenehm zu betrachten wie anzufassen.

Der Balkon brach nicht ab. Aber Katharina fragte sich, ob weiteres Fett an Roberts Körper sie nicht stören würde. Und wie attraktiv eine Frau wohl wirkte, die die Marotte entwickelt hatte, nachts abgelegte Fetzen von Menschen zu tragen, die sie liebte.

 

 

2. Kapitel

 

Vom Büro aus rief sie das Studentenheim an.

Sie saß allein an einem der beiden abgenutzten Schreibtische, die gegeneinandergestellt waren. Die Tür zum Nebenzimmer hinter ihr war angelehnt, sie hörte Kommissar Gerfried telefonieren. Seine harte Stimme wiederholte Zahlen, Heroin in Gramm, Heroinbeimengungen in Prozent. Heinz Gerfried mit dem faltigen Gesicht, das ihn um mindestens zehn Jahre älter machte, und dieser Stimme, die oft klang, als zersplittere ihm der ausgeprägte Adamsapfel unter dem reinseidenen Rollkragenpulli, er war als Einziger von ihren früheren Mitarbeitern übriggeblieben. In den ersten Jahren hatte er gelegentlich zu verstehen gegeben, dass es ihm schwerfiel, eine Frau als Vorgesetzte zu dulden. Das hatte sich geändert. Jetzt wollte er nicht mehr weg. Er wusste inzwischen, er würde auch woanders der zweite sein. Manfred Zobel hingegen, der sich mit der Lässigkeit und dem Lächeln eines Film-Sheriffs durchs Büro bewegen konnte, war zum Staatsschutz versetzt worden, und Doris Wingert, die unter der Fülle ihrer rötlichblonden Haare jahrelang immer blasser und ausgetrockneter wirkte, hatte zur Überraschung des gesamten Referats plötzlich geheiratet und auf der Stelle gekündigt. Sie wollte künftig nur noch Ehefrau und Mutter sein. Das Merkbuch auf dem Schreibtisch gegenüber trug noch ihren Namen. Aber er war durchgestrichen. Darunter stand seit fünf Wochen: Renate Reschke, in großen energisch geschriebenen Buchstaben.

Katharina, den Hörer am Ohr, sortierte mit der freien Hand das frühmorgendliche Durcheinander auf ihrem Schreibtisch: Aktennotizen, Rundschreiben, kriminologische Nachrichten; die Aussagen zweier Polizeibeamten, die beschuldigt wurden, einen zweiundzwanzigjährigen Aushilfsfahrer und dessen zwanzigjährige Freundin geschlagen und getreten zu haben, die Aussagen des Aushilfsfahrers und seiner Freundin, die beschuldigt wurden, tätlichen Widerstand gegen die Staatsgewalt begangen zu haben, die Aussage der Oberkommissarin Ledermacher, die den Vorfall zufällig beobachtet hatte; ein Obduktionsbefund; zwei Packen Fotos. Der erste: Bilder eines jungen Mannes, der in einem engen Toilettenraum auf dem Steinboden kauerte, mit verdrehten Augen, Mund offen, Kopf gegen die Brille der Kloschüssel gelehnt, ein Fuß nackt, mit Einstich in die Vene an der Ferse. Sie betrachtete die aufgekrempelte Hose mit den ausgebeulten Taschen, das karierte Hemd mit den (auf einigen Fotos) zurückgestreiften Ärmeln, die entzündeten Einstiche in den Venen der Unterarme, das von einem weichen blonden Bart und halblangen Haaren eingerahmte graue Gesicht.

Als das Studentenheim sich endlich meldete, erkundigte sie sich bei einem unwillig antwortenden Mädchen nach dem Blinden, erfuhr, dass er Grippe hatte, hohes Fieber, dass man sich um ihn kümmerte, selbstverständlich, auch um den Hund, klar, und dem Mädchen war deutlich anzuhören, dass es darüber nachdachte, wieso eine Frau Ledermacher aus der Nachbarschaft sich interessiert zeigte am Gesundheitszustand eines blinden Persers.

Sie schob das Telefon zur Seite, überflog den Obduktionsbericht Günter Bender, Oberschüler, siebzehn Jahre, zehn Monate. Sie kramte dabei in der Schreibtischschublade und in den Fächern links und rechts, fand schließlich, was sie suchte, genau vor ihren Augen auf dem Metallsockel der Schreibtischlampe, die Lupe. Sie hielt sie vors Auge, betrachtete von neuem die Fotos: Spritze und Sandale in einer Pfütze neben dem nackten Fuß, das Gesicht, das nicht den Frieden des Todes zeigte, sondern Leiden, Ängste, Resignation. Aber in der linken ausgebeulten Hosentasche steckte, Rücken und Griff eben noch sichtbar, ein Revolver. Und mit diesem Revolver war vor zwei Tagen, in den frühen Morgenstunden, der Kriminalobermeister Ewald Hoff aus nächster Nähe erschossen worden.

Nebenan wiederholte Gerfried weiterhin Zahlen, schrieb mit.

Katharina zog ein paar Fotos aus dem zweiten Packen heraus: Ein Mann, etwa Mitte zwanzig, lag mit offenem Hemd auf einer nicht aufgepumpten Luftmatratze an der Böschung des Teltow-Kanals, gegenüber der Backsteinmauer des Kraftwerks Lichterfelde. Er lag im Gras, als nehme er ein Sonnenbad. Allerdings hatte er in Herzhöhe ein Einschussloch, verkrustetes Blut bedeckte das Hemd, das Blumenmuster der Luftmatratze war rötlich verfärbt. Auf dem Kopf trug er einen verbeulten Schupohelm für Kinder, aus Pappe, und in seiner rechten Hosentasche hatte sich ein Schraubverschluss mit Spiralfeder befunden, der wahrscheinlich zu einer Stabtaschenlampe gehörte. Katharina betrachtete auch das Foto von dem Schraubverschluss durch die Lupe. Der Verschluss schien neu, auf der Rückseite klebten noch Reste eines Preisschilds, aber er war zerschrammt, verbeult, offenbar war er gewaltsam von der Taschenlampe getrennt worden. Trotz sorgfältiger Suche in der näheren Umgebung der Leiche, im Gebüsch oben am Weg, unten im Gras am Kanalufer, Taschenlampe und Batterien waren unauffindbar geblieben.

Hoff hatte im Rauschgiftdezernat gearbeitet. Möglicherweise war er auf die Spur von Dealern geraten. Drei Tage vor seinem Tode hatte er Kollegen gegenüber Andeutungen gemacht und angekündigt, er werde, wenn an der Sache was dran sei, demnächst umfassend berichten. Der ehrgeizige Alleingang hatte ihm das Leben gekostet. Zwar hatte er sich gut getarnt, Klamotten, Haare, Ausdrucksweise stimmten, er hatte sich mit einer Injektionsnadel sogar Stiche in die Armvenen verpasst samt dazugehöriger Entzündung, er war, nach Meinung von Sachverständigen, nicht von einem Fixer zu unterscheiden gewesen. Aber diejenigen, hinter denen er her war, hatten mit dem Papphelm deutlich gezeigt, für wen sie ihn hielten.

Es mussten mehrere gewesen sein. Hoff war offensichtlich woanders getötet worden, winzige Bröckchen von Gartenerde an seinen Schuhen wiesen darauf hin. Dann erst hatte man ihn zum Teltow-Kanal transportiert. Katharina betrachtete das Foto der Schleifspuren im Gras. Sie betrachtete abermals das Foto des Jungen am Klobecken. Er sah schwach, hilfebedürftig aus.

»Wie hat er das gemacht«, sagte Katharina, ohne von den Fotos aufzublicken. »Die Straße ist zweihundert Meter entfernt, keine Spuren von Autoreifen auf Weg und Böschung, die Schleifspuren beginnen erst fünf Meter vor der Leiche. Er müsste den Toten samt Luftmatratze also zunächst getragen haben. Wenn er’s war.«

Gerfried war eingetreten, stand neben ihr, schwenkte ein Blatt mit Zahlen.

»Seine Fingerabdrücke am Revolver –«, begann er.

»Ja«, sagte Katharina, »aber keine Schmauchspuren an der Hand.«

»Der tiefe Abdruck seiner Sandalen auf dem Weg oberhalb der Kanal-Böschung.« Gerfrieds Stimme klang plötzlich ungewohnt wohltuend. Vor ein paar Tagen war beim Kommissars-Stammtisch genüsslich verbreitet worden, man habe Gerfried eine private Sprech- und Rednerschule betreten sehen. »Der gelbe Blütenstaub an den Sandalen«, fuhr er fort. »Der gleiche Blütenstaub wurde an der Luftmatratze gefunden.«

»Vielleicht irre ich mich ja«, sagte Katharine friedlich. Sie meinte es auch so. Aber Gerfried hatte diesen Satz oft von ihr gehört, wenn sie vorhatte, trotz fehlender Beweise vorerst bei ihrer Ansicht zu bleiben. Er sah sie misstrauisch an, räusperte sich, vergaß den Wohllaut:

»Die Luftmatratze ist auch sonst nicht uninteressant. Die Kollegen haben Salzablagerungen gefunden. Meerwasserflecken. Mikroskopische Algenreste. Besonders an der Unterseite. Und innen winzige Spuren von Heroin. Die Luftmatratze ist präpariert und zum Transport von Heroin benutzt worden. Heroin übrigens von derselben Sorte, derselben Qualität wie das Heroin im Blut des Jungen da. Heroin«, setzte er hinzu, »aus dem Mainzer Sarg.«

Katharina spielte mit dem Knopf der Schreibtischlampe, schaltete Licht ein und aus. Sie erinnerte sich an Berichte, die vor Monaten in Zeitungen und Illustrierten gestanden hatten. Ein Mainzer war im Februar in Griechenland verunglückt. Ein Malermeister in den Sechzigern, der sein gutgehendes Geschäft verkauft und sich ein Haus auf dem Peloponnes gebaut hatte. Dort, am Rand eines kargen Dorfes, im Schatten von Ölbäumen, Blick von der weißen Terrasse übers ionische Meer, wollte er seinen Lebensabend verbringen. Ungeduldig war er seiner Frau vorausgefahren. Das Haus sollte bis März bezugsfertig sein, er wollte sich vergewissern, dass der Baumeister keine seiner Anweisungen außer Acht gelassen hatte. Am Tag der Ankunft, in der Abenddämmerung, glitt er auf einer noch ungesicherten Feuertreppe aus, schlug mit dem Kopf gegen die eisernen Stufen. So fanden ihn die Handwerker am nächsten Morgen auf der Terrasse. Weil er es sein Leben lang gehasst hatte zu fliegen, ließ die pietätvolle Familie den Sarg per Bahn überführen. Und weil er Pferde geliebt hatte, ließ man den Sarg vom Bahnhof zum Friedhof von zwei Rappen ziehen. Den altmodischen Leichenwagen mit den vier schwarzen Säulen und dem geschnitzten Baldachin über dem Sarg hatte der Beerdigungsunternehmer voller Sorgfalt hergerichtet. Der Verstorbene war beliebt gewesen, lange Jahre auch Präsident des Karnevalvereins. Nur dies eine Mal, und nur damit Frau, Töchter und Schwiegersöhne ein bewohnbares Haus in Griechenland vorfänden, hatte er darauf verzichtet, während der Fastnacht in Mainz zu sein. Der Witwe war es als Zeichen des Himmels erschienen, dass der Sarg am Rosenmontag frühmorgens in Mainz eintreffen sollte, »damit dess der Heiner doch nochemol dabei sei kaa.« So tröstete sie sich, tränenerstickt, laut lokaler Schlagzeile. Und ließ es sich nicht nehmen, zusammen mit der älteren Schwester den Toten am Bahnhof abzuholen. Die eigentliche Trauerfeier sollte erst Aschermittwoch sein. Aber der Sarg kam mit vier Stunden Verspätung an. Als der Leichenwagen sich endlich in Bewegung setzen konnte, waren die trauernden Frauen müde und zermürbt, die Straßen schon voll von lärmenden kostümierten Menschen. Die fanden den Leichenwagen mit den livrierten Greisen, die ihn kutschierten, und den tiefverschleierten Frauen, die Rücken an Rücken zu den Kutschern saßen, Blick auf den Sarg, ungeheuer komisch. Sie versuchten, auf den Wagen zu springen, hörten auf keine Erklärungen, keine Proteste, wollten den Sarg öffnen, waren überzeugt, dass er mit schwarzen Karamellbonbons gefüllt war, griffen hilfsbereit den Pferden ans Halfter, führten, zogen, schoben lachend und singend den Leichenwagen mit den erschöpft sich wehrenden Trauernden dorthin, wo der Rosenmontagszug vorbeikommen sollte. Sie meinten, der originelle Wagen dürfe da nicht fehlen, helau, helau.

Aber Unruhe und Gekreische waren für die Wallache, auch sie schon Greise, zu ungewohnt. Einer wollte sich dem Zugriff eines schellenklirrenden Hanswursts entziehen, riss den Kopf hoch, keilte aus und zerrte den Wagen zur Seite. Dabei stieß ein Vorderrad gegen den Bordstein, zerbrach, der Wagen stürzte um, Säulen und Baldachin splitterten, der Sarg, die Frauen, die Kutscher kippten langsam auf die Straße. Die Menge war begeistert, warf Konfetti. Unverletzt, aber voller Grausen sahen die Frauen, die mit zerrissenen Schleiern zwischen konfettibestreuten Pferden und Trümmern auf dem Pflaster hockten, dass der Deckel sich vom Sarg gelöst hatte. Und aus dem Sarg quollen kleine weiße Plastiksäcke. Vom plombierten Zinkbehälter mit dem toten Heiner keine Spur. Der Malermeister wurde auch später nicht mehr gefunden. Der Sarg enthielt sein Lebendgewicht plus Gewicht des Zinkbehälters in stoffverpackten Ziegelsteinen, 50 kg, und in Heroin, 140 kg, Gegenwert über 20 Millionen Mark. Noch niemals hatte in der Bundesrepublik so viel Heroin auf der Straße gelegen.

Als die Polizei den Sarg sichergestellt hatte, fehlten bereits zwei Drittel davon. Untersuchungen ergaben, dass es sich um Ware von erster Qualität handelte, Thebain plus Essigsäure-Ester, wie üblich, aber kein Strychnin oder andere verheerende Zusätze, um sie zu strecken. Stattdessen geringe Prozentanteile von Ascorbinsäure und Salizyl. Die ungewöhnliche Mixtur von Heroin, Vitamin C und Aspirin war danach vom Markt verschwunden. Bis jetzt.

»Die im Labor sind sicher?«, fragte Katharina.

»Absolut«, sagte Gerfried. »Dribbel-Anna hats in drei Sekunden gewusst.«

Dribbel-Anna nannten die Kollegen von O III, Organisiertes Verbrechen Rauschgift, ein neues Drogen-Analyse-Gerät in der polizeitechnischen Untersuchungsstelle (PTU). Es funktionierte unbedingt zuverlässig und mit größter Geschwindigkeit, teilte aber grundsätzlich jedes Ergebnis dreimal mit, und zwar im Abstand von jeweils 1,75 Minuten. Die rätselhafte Programmierung war nicht zu löschen. Versuche dazu beantwortete Dribbel-Anna mit Warnstreiks in Form kurzfristiger partieller Netzzusammenbrüche. Man musste sie gewähren lassen. In West-Europa gab es kein Gerät, das auch nur annähernd so effektiv arbeitete.

»Sie hat sogar festgestellt, dass das Aspirin wahrscheinlich aus den Vereinigten Staaten stammt«, setzte Gerfried hinzu, »winzige Spuren von typisch amerikanischem Verpackungsstanniol lassen das vermuten.«

»Könnte nicht jeder solche Heroinbeimischungen hinkriegen? Und überall?«

»Theoretisch ja, sagen die Kollegen. Aber kaum das komplizierte Mischungsverhältnis. Und die Sauberkeit des Heroins selbst, sein chemischer Zustand – sowas Gutes hätte es eben vorher nur im Mainzer Sarg gegeben.«

»Hübsch gesagt, bei zwei Toten.«

»So drückten sie sich aus.« Gerfried rieb mit dem Zeigefinger seine Nase. »Die Presseabteilung bittet übrigens um Informationen.«

»Gutes aus dem Mainzer Sarg – jetzt auch für Berlin«, sagte Katharina. Sie dachte einen Moment nach. »Also, die haben was davon in der Luftmatratze wiedergefunden.«

»Ja.«

»Und im Blut von Günter Bender.«

»Der hat außerdem noch Metaqualone geschluckt.«

»Metaqualone?«

»Gegen Rezept in jeder Apotheke erhältlich. Da heißt das Zeug Mandrax. Ein Beruhigungsmittel, ziemlicher Hammer.«

»Ah ja«, murmelte Katharina. »Man döst verblödet vor sich hin, nicht wahr.«

Ein befreundeter Schweizer Arzt hatte ihr vor fünfzehn Jahren Mandrax-Tabletten verschrieben, als sie sich von Ruedi Scheidt trennte. Sie sollte vor der Verhandlung einmal durchschlafen. Bis frühmorgens lag sie wach. Da nahm sie nochmal zwei. Als sie ein paar Stunden später nicht richtig zu sich kam, trank sie drei Tassen starken Kaffee. Danach kannte sie sich selbst nicht mehr. Ihr Rechtsanwalt verließ das Gericht verbittert. Zwar war sie geschieden worden, aber nicht im gegenseitigen Einvernehmen wie geplant, sondern schuldig, wegen böswilligen Verlassens der ehelichen Gemeinschaft, und die Tochter blieb beim Vater in Zürich.

»Zusammen mit Kaffee wirkt der Hammer wie Heroin«, sagte sie.

»Oder mit Alkohol«, sagte Gerfried. »Der Junge hatte eins Komma sieben Promille.«

Katharina schob den Sessel zurück. Sie mochte nicht, dass jemand neben ihr stand, während sie saß. Am liebsten rannte sie, während sie nachdachte, hin und her. Im Büro gab es eine Diagonale, die seit Jahren von Möbeln freigehalten wurde. Und seit Jahren hatte sie blaue Flecken am Oberschenkel, von einer Schreibtischecke, die zu weit in die Diagonale ragte. Sie ging zum Fenster, schob ein dünnes Kissen, das auf dem Heizkörper lag, zurecht, kauerte sich hin. Hier war ihr bevorzugter Platz, wenn sie den Berichten von Mitarbeitern zuhörte. Ihre Schultern berührten grüne und rote Blätter einer Topfpflanze, die auf dem Fensterbrett stand. Renate Reschke hatte den Weihnachtsstern von Jugend II mitgebracht. Ihr Ehrgeiz war es, ihn am Verwelken zu hindern, das normalerweise im Frühjahr beginnt, und ihn bis zum nächsten Weihnachtsfest durchzubringen. Draußen auf der Straße rannten Schulkinder vorbei. Katharina hörte ihre Stimmen.

Die Sonne wärmte ihr durch die Fensterscheibe den Rücken. Seit Wochen der erste schöne Tag. Fast immer fror sie in den ersten Bürostunden, auch im Sommer. Sie hätte sich wärmer anziehen sollen. Aber dann wäre ihr in der Mittagshitze mulmig geworden. Sie hatte grobe Leinenhosen an, zwischen braunrosa und zimtfarben, am Bund gekraust, weit um die Oberschenkel, und nach unten enger werdend, ein Jungenshemd, dunkellila mit zimtfarbenen Streifen, darüber eine zimtfarbene lange Leinenweste mit vielen Taschen, rotbraune Stiefeletten mit flachem Absatz, teure Sachen, die feine Damen in Boutiquen und Kaufhäusern liegenließen, weil sie sich nicht trauten, und die dann, leicht verblichen, für ein paar Mark von Katharina geangelt wurden. Alles sehr bequem, nur im Moment wahrhaftig für sie noch zu kühl. Aber sie hatte nicht vor, sich ernsthaft um ihre Blutgefäße zu kümmern, die sich viel zu langsam dehnten oder zusammenzogen.

»In welcher Reihenfolge gelangten Heroin, Metaquadingse und Alkohol in Benders Blutkreislauf?«, fragte sie. »Ließ sich das feststellen?«

»Metaqualone«, sagte Gerfried mit leichter Betonung und setzte sich auf die Kante von Renate Reschkes Schreibtisch, eine für seine Verhältnisse ungewohnte Kühnheit. Vielleicht hatten sie ihn in der Rednerschule zu ungezwungenem Benehmen ermuntert. Er sah auf den Zettel.

»Metaqualone zuerst, gleichzeitig mit Alkohol. Dann, etwa eine Stunde später, eine Riesenmenge Heroin.«

»Zeit hätte er also gehabt.« Katharina sah an der roten Blüte vorbei auf die Straße. Die Kinder waren verschwunden. »Wann ist Bender gestorben?«

»Gegen drei Uhr früh.«

»Und Hoff?«

»Gegen zwei Uhr früh.«

»Könnte auskommen, oder? Erst Mandrax geschluckt, ein paar Klare gekippt, um sich Mut zu machen, dann Hoff umgebracht, zum Teltow-Kanal befördert, danach der goldene Schuss in die Fußvene.«

»Er war nicht allein«, sagte Gerfried.

»Nein, sicher nicht. Sie mussten ihm mindestens tragen helfen.«

»Er hat im Auftrag gehandelt. Sie haben ihn vollgepumpt.«

»Möglich.«

»Mit so viel Stoff, dass er übern Jordan ging. Sie wollten ihn weghaben, hinterher.«

»Auch möglich.« Katharina prüfte mit den Fingerspitzen, ob die Erde im Blumentopf feucht war. Sie war trocken.

»Aber seine Sandalen«, sagte sie.

»Seine Sandalen?«

»Sind ihm eine Nummer zu groß.«

Gerfried griff nach der Lupe, beugte sich über die Fotos. »Kann er von jemand anders haben.« Er richtete sich auf.

»Diese Penner teilen doch alles miteinander.« Er hatte fünfzehn Jahre gespart, sich keine Zigarette gegönnt, kaum ein Bier, um das einfache Reihenhaus zu erwerben, in dem er mit einer unauffälligen freundlichen Frau und mit unauffälligen ernsthaften Zwillingstöchtern lebte. Der Drahtzaun zum Vorgarten des Nachbarn war höher als üblich, wenn auch von wilden Rosen zugerankt.

»Der Schupohelm«, sagte Katharina.

Gerfried legte die Lupe hin, blickte zu ihr hinüber.

»Passt nicht zu Bender, dieser makabre Gag mit dem Papphelm, zugegeben. Aber zu den andern, die da eventuell mit drinstecken, zu diesem Gesocks von Dealern und Zwischenhändlern, zu denen passt er doch auch nicht, so wie wir sie kennen, zu diesen Primitivlingen. Wenn wir wissen, wo der Helm her ist, wissen wir, wem Ewald Hoff auf der Spur war. Vielleicht irre ich mich ja auch«, setzte er hinzu und lächelte. Plötzlich sah er wesentlich jünger aus, und Katharina ahnte hinter dem Lächeln den empfindlichen Jungen, der er einmal gewesen sein musste.

Das Telefon begann zu schnarren. Gerfried griff zum Hörer, nannte seinen Namen, und sofort wurde er wieder zehn Jahre älter, stand auf, sagte: »Moment« und hielt Katharina den Hörer entgegen. »Der Chef.«

Katharina rutschte von der Heizung, nahm den Hörer. Zugleich wurde von draußen die Bürotür geöffnet und unsanft gegen die Wand gestoßen. »’schuldigung«, sagte die zierliche junge Frau, die außer Atem hereinkam, »aber das wiegt vielleicht.« Und wuchtete vorsichtig ein großes Paket auf den Schreibtisch.

Katharina nickte ihr zu. »Haben Sie Kaffee mitgebracht?«, flüsterte sie.

»Ledermacherin. Solche Scherze schon am frühen Morgen.«

Sie hörte die ungehaltene Stimme des Referatsleiters an ihrem rechten Ohr, während die junge Frau vor ihr eine bedauernde Geste machte und den Kopf mit den unbeweglichen dunklen Locken schüttelte. Vor etwa einer Woche waren drei Polizisten erwischt worden, als sie aus einem Kaufhaus in Steglitz Kaffee, Zigaretten und Tonbandgeräte in ihren Streifenwagen verluden. Sie hatten bei der ersten Vernehmung zugegeben, sich schon öfter auf ähnliche Weise bedient und die Beute billig verkauft zu haben, Abnehmer für Kaffee seien insbesondere »höhere Polizeibeamte« und deren Sekretärinnen gewesen. Aber schon bei der zweiten Vernehmung hatten sie sich nicht mehr so recht an die »höheren Polizeibeamten« erinnern mögen. Der den Fall verfolgende Jungstaatsanwalt war nun auf den Einfall gekommen, einfach allen Chefzimmerinhabern und deren Vorzimmerdamen die drei Polizisten gegenüberzustellen. Um der ebenso lächerlichen wie peinlichen Situation zu entgehen, hatten sich die leitenden Herren der Westberliner Polizei eilig zu einer nicht weniger lächerlichen und peinlichen Kaffeekonferenz entschlossen. Die war allerdings ohne Ergebnis geblieben, abgesehen von einigen höhnischen Zeitungskommentaren, in denen die Rede gewesen war von kaltem Kaffee, der im Behördensand verläuft.

»Ich hab zu Renate Reschke gesprochen, die gerade gekommen ist«, erklärte Katharina. »Scherze am frühen Morgen liegen mir wirklich fern. Ohne eine Tasse Kaffee«, setzte sie hinzu. Und ärgerte sich sofort über den mäßigen Witz.

»Was haben Sie jetzt vor?«, fragte der Chef.

Katharina sah, wie Renate Reschke aus dem Paket umsichtig leere Blumentöpfe, einige Pflanzen, einen Zehnkilosack Erde und einen Fünfkilosack Kunstdünger herauswickelte, und sie bemerkte distanzierte Missbilligung im Gesicht Gerfrieds.

»In zehn Minuten Besprechung, hier bei uns, mit Erika Baumann von Jugend II, Korn und Plässke von O III, Mollton von PTU-Bio-Sero, Oldrich PTU Chemie, wegen Bender und Hoff.«

»Wie weit sind Sie mit Bender und Hoff?«

»Ich war gestern Mittag bei den Eltern von Günter Bender. Die haben eine Drogerie in Schlachtensee, schuften vierzehn Stunden und mehr am Tag, damit der Supermarkt paar Ecken weiter ihnen nicht die wohlhabenden Kunden wegnimmt. Der Junge sollte was Besseres werden. Aber sie hatten keine Ahnung von seinen Freunden, keine Ahnung, wie krank er schon war, machten sich nur Sorgen, weil er in der Schule schlechter wurde. Sie waren nicht sicher, ob sie das schon mal gesehen hatten, was er anhatte, als wir ihn fanden, Hemd, Hose, Sandalen. Dabei hing in seinem Schrank das gleiche karierte Hemd nochmal. Sie sagen, er hatte sein Taschengeld, hundert Mark die Woche, er konnte sich kaufen, was er wollte. Das Übliche. Dann, nachmittags, bei der Verlobten von Hoff. Eine Buchhändlerin. Sie glaubt, Hoff hätte die letzten drei Nächte vor seinem Tod Dienst gehabt. Ich hab ihr nicht gesagt, dass Hoff da vermutlich von sich aus unterwegs war. Auch sonst hatte sie keine Ahnung. Von nichts.«

»Auch nicht von einer Taschenlampe?«

Katharina wusste, Vorgesetzte müssen gelegentlich überflüssige Fragen nach Details stellen, um Sachkenntnis zu demonstrieren. »Auch nicht von einer Taschenlampe«, antwortete sie. Gegen ihre Absicht klang es leicht gereizt. »Reschke war bei Hoffs Großmutter«, sagte sie.

Renate Reschke, die Erde in Blumentöpfe füllte, schüttelte den Kopf: »Nichts.«

»Ebenfalls nichts«, sagte Katharina, »keiner weiß was.«

Pause. Katharina stellte sich vor, wie der Referatsleiter seinen kahlen Schädel massierte. Dann hörte sie wieder seine Stimme: »Mir wär’s lieb, die Besprechung könnte ohne Sie stattfinden. Und Sie kämen gleich mal rüber zu mir. Es ist dringend.«

Katharina zögerte.

»Wirklich«, sagte der Chef.

»Schon unterwegs«, murmelte Katharina. Während sie einhängte, sagte jemand hinter ihr melancholisch: »Wenn Sie vorher eine Tasse Kaffee wollen, ich hab welchen mitgebracht.«

Sie drehte sich halb um. Zobels Nachfolger lehnte fast so lässig wie Zobel in der Tür von Gerfrieds Büro, wie immer im hellgrauen Flanellanzug, wie immer mit düsterem Blick, zwei Kaffeepakete in den Händen, die er im Rhythmus eines langsamen Walzers auf und ab schwenkte. Sie stand auf.

»Danke, Breuer. Kaffee krieg ich beim Chef.«

Diesmal hatte sie keinen Witz machen wollen. Forschend betrachtete sie ihre plötzlich erheiterten Mitarbeiter. Es war nicht mehr wie früher. Sie wusste nicht, warum. Es lag nicht an den Neuen. Wahrscheinlich lag es an ihr. Ich verändere mich, dachte sie beunruhigt, wie erfreulich. 

»Gerfried wird die Besprechung leiten«, sagte sie.

 

 

3. Kapitel

 

Das Büro des Leiters des Referats Tötung war früher ein gemütlicher Ort gewesen. Aber die beharrlich sich durch alle Abteilungen, Gebäude und Etagen weiterfressende Neuorganisierung der Westberliner Polizei hatte alte Namen ebenso wie alte Einrichtungen vertilgt. Statt Tötung hieß es jetzt: VBM, was nicht Volkssport-Beobachtungsgruppe-Mord bedeutete, wie Zobel behauptete, sondern Verbrechungsbekämpfung Delikte am Menschen. Und statt der abgeschabten Polstersessel standen jetzt mit Leder bespannte Stahlrohrsitze da, den wackeligen Rauchtisch ersetzte ein fast ebenso wackeliger Würfel aus durchsichtigem Kunststoff, und der früher aktenüberhäufte Schreibtisch war ausgetauscht worden gegen einen länglichen Leichtmetallkasten, eine Art Vorgangserledigungsinstrument mit leerer polierter Schreibfläche, eingebautem Tastentelefon, Gegensprechanlagen, Bedienungsknöpfen für im Hintergrund aufgestellte Monitore, Direktverbindung zum Computer des Wiesbadener Bundeskriminalamtes sowie ein paar weiteren geheimnisvollen Schaltungen, die bei ihrer Einweihung vor ein paar Monaten zur Überraschung der geladenen Gäste aus dem inneren Bereich der Polizeiführung das Referat Delikte am Menschen mit dem Flensburger Computer des Verkehrszentralregisters im Kraftfahrtbundesamt sowie mit dem Sekretariat des Bischofs von Rottweil und dem Pförtner des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe verbunden hatten. Zugleich hatte der Fahndungscomputer irritierende Informationen über die unfreiwillig an der Telefonkonferenz Beteiligten verbreitet, die lange nicht begriffen, mit wem sie über was sprachen. Anschließend war es nicht leicht gewesen, dem Bischof zu erläutern, dass er nicht wegen Mordes an seiner Tochter gesucht werde, dem beinamputierten Pförtner, dass man ihm eine Berechtigung, Lastwagen mit Anhänger zu fahren, wegen seiner politischen Überzeugung weder entziehen noch erteilen wolle, den Flensburgern, dass man an einer Auflistung der privat von Westberliner Polizisten erworbenen Traktoren nicht interessiert sei. Nach dieser Panne waren alle Schaltungen überprüft worden, es hieß, sie arbeiteten jetzt einwandfrei. Aber auf viele seiner Beamten wirkte der Referatsleiter seitdem resigniert. Offensichtlich fühlte er sich mit der teuren Maschinerie in seinem Büro nicht mehr wohl, seit sie funktionierte. Er hatte verstanden, dass sie nicht für ihn, sondern für seinen Nachfolger eingerichtet worden war. Er sollte in einem Vierteljahr pensioniert werden.

Als Katharina eintrat, erhob er sich hinter dem Leichtmetallkasten. Nur eine einzige dünne Akte spiegelte sich auf der Schreibfläche. Er lächelte. Obwohl Katharina ihm nicht selten Schwierigkeiten machte, hatte er sich entschlossen, es als persönliches Verdienst anzusehen, dass in seinem Referat eine Oberkommissarin wirkte. In Hemdsärmeln, mit gelockerter Krawatte, ihm war schon ziemlich warm, kam er ihr um den Leichtmetallkasten herum entgegen, untersetzt, etwas füllig, aber immer noch recht straff, und zeigte auf eins der Stahlsitzgestelle, setzte sich ihr gegenüber. Sein früher schwarzgrau gemusterter Bart war weiß geworden, aber nach wie vor sorgfältig gestutzt. Er klaubte vorsichtig Pfeife samt Tabak vom Würfel, stopfte, zündete an, ließ es knistern, verbreitete den gewohnten angenehm duftenden Qualm. Zwischendurch fragte er beiläufig: »Wo solls denn hingeh’n im Urlaub?«

Katharina war sofort wachsam. Gespräche, die so anfingen, endeten gewöhnlich mit der dringenden Bitte, den Urlaub aus diesen oder jenen internen Gründen zu verschieben.

»Nach Schweden«, sagte Katharina. »In sechs Tagen. Die Termine liegen schon lange fest. Robert muss sich ja nach den Schulferien richten.«

»Schweden«, meinte der Referatsleiter, »ach ja, Schweden.«

»Wir haben da ein Holzhaus an einem See gemietet.«

»So eins mit Birken drumherum und einem Kahn vor der Haustür, ja, das ist schon schön. Obwohl, ich hätte Sorgen wegen dem Wetter. Im Süden, am Mittelmeer, da kann man sicher sein. In Schweden, ich weiß nicht.«

»Wetter ist egal. Ich kenn Schweden noch nicht, ich freu mich drauf.«

Der Referatsleiter lächelte, polkte an der Pfeife. »Und wie gehts dem verehrten Herrn Enkel?«

»Danke«, sagte Katharina, »vorige Woche schiss er noch normal.«

Sie entspannte sich ein wenig. Der Referatsleiter schlich um etwas herum. Aber es handelte sich offenbar nicht um den Urlaub. Ihre Auskunft schien ihn zu freuen. Er nickte. »Auch meine Enkelchen gedeihen. Manchmal frage ich mich, wie sie das machen, in dieser verseuchten, korrupten Welt, in der sie nicht mal, wie wir früher, in Ruhe zwei und zwei zusammenzählen dürfen. Haben Sie je begriffen, Ledermacherin, wie das mit der Mengenlehre geht?«

»Nie«, sagte Katharina.

»Ich auch nicht. Aber die begreifen das, die kleinen Würmer.« Und im gleichen Tonfall, als handele es sich um weitere kleine Würmer: »Und unsere beiden Neuen? Wie machen die sich denn so bei Ihnen?«

»Ausgezeichnet«, sagte Katharina.

Was hätte sie sonst sagen sollen. Wieder dachte sie: etwas ist anders, es ist schon lange anders. Und wieder war sie sicher, dass das nur mit ihr, nicht mit den Neuen zu tun hatte. Sie kannte sie kaum, wusste nur wenig von ihnen, Alfons Maria Breuer zum Beispiel, auf ungeklärte Weise aus großbürgerlicher Kölner Akademikerfamilie zur Polizei abgesunken und nach Berlin geraten, hatte schon als Kind, wie er behauptete, gern Rätsel gelöst. Vielleicht hatte er über dem Rätsellösen eine akademische Karriere verpasst. Er betrachtete seinen Beruf sportlich. Bestrafung von Schuldigen interessierte ihn nicht. Katharina war sicher, wenn die Gesetze ihn nicht hinderten, wäre er imstande, einen Mörder, den er in monatelanger Kleinarbeit ausfindig gemacht hatte, sofort nach Festnahme wieder laufen zu lassen.

Ganz anders Renate Reschke, geborene Jakubeit, deren Vater, ehemals Hafenarbeiter in Königsberg, nach dem Krieg Busfahrer bei der Berliner Verkehrsgesellschaft geworden war. Zäh, mit fast stets geblähten kleinen Nüstern, hatte sich das hübsche Mädchen nach oben gekämpft: zur Kriminalpolizei. Und außerdem noch einen Archivar geheiratet, einen Sohn geboren, auf den die Schwiegermutter achtgab, sowie Karate gelernt. Vom Vater hatte sie nur das rollende ostpreußische »R« übernommen. Voller Energie ging sie jeden Tag von neuem daran, Leuten, die die bürgerliche Ordnung bedrohten, das Handwerk zu legen. Bürgerliche Ordnung, das war für sie: Wärme, Geborgenheit, Badezimmer für jeden. Und dass so viele Menschen weder Wärme noch Geborgenheit, noch ein eigenes Badezimmer kannten, war schuld der Eigensucht der vielen kleinen und großen Gangster. Deren Bekämpfung trennte sie allerdings sorgfältig von ihrem Privatleben. Zwar war sie auf geradezu altmodische Weise ihrem Archivar treu. Aber als es darum ging, den plötzlichen Tod eines thailändischen Mädchens aufzuklären, das zu viel über die Händler und Zuhälter gewusst hatte, von denen es verschachert worden war, da arbeitete Renate Reschke unter falschem Namen eben eine Woche in einem Massagesalon mit. »In Schwengeln kenn ich mich jetzt aus«, sagte sie danach bloß, »da kann mir keiner mehr was erzählen.«

Breuer hingegen, den die Kollegen Alfi, gelegentlich auch Mary nannten, vermied möglichst jeden allzu nahen Kontakt mit dem sogenannten Leben. Am liebsten saß er ungestört von Gerfried und Katharina am Schreibtisch und grübelte. Manchmal nahm er wahr, dass seine dunklen Augen Eindruck auf Frauen machten. Aber es schien, er nutzte das nur maßvoll aus. Milde mokierte er sich über die braven Röcke und Blusen der Kollegin Reschke, über deren spraygefestigte Frisur, und begriff nicht, dass sie seinen hervorragend sitzenden Flanellanzug mit Weste albern fand.

All das hätte Katharina dem Referatsleiter so kaum sagen können. Sie begnügte sich mit der lahmen Wiederholung: »Doch, ja, ausgezeichnet«, und blickte den Referatsleiter abwartend an. Der nickte, klopfte behutsam mit Zeigefinger und Mittelfinger der linken Hand den glimmenden Tabak im Pfeifenkopf fest und lockerte ihn sofort danach wieder auf, indem er mit einem verrosteten Sicherheitsschlüssel in ihm herumstocherte, den er, offensichtlich nur für diesen Zweck, an einer langen Metallkette ständig bei sich trug. Zugleich begann ein gelbes Licht auf dem Metallkasten zu flackern, und das bedeutete, wie sich zwei Sekunden später herausstellte, den Auftritt Zobels.

»Ledermacherin!«

Schnelle Schritte, Andeutung eines Handkusses, das war neu, Andeutung des Einsamer-Sheriff-Lächelns, das war geblieben. Aber er schien in höhere Gehaltsklassen aufgerückt zu sein. Der dunkle Anzug, wenn auch nicht so elegant geschnitten wie Breuers Flanell, verriet, dass er Macht hatte. Die Freude, seine frühere Vorgesetzte zu sehen, schien ehrlich, sein Bedürfnis, einleitenden Schnickschnack zu reden, gering. Dort, wo er jetzt den Staat schützte, im Präsidium am Tempelhofer Flugplatz, machte man, ließ er erkennen, wenig Worte. Früher hätte er seine Beine auf den Würfel gelegt, rote oder grüne Socken präsentiert, sich mit einer Hand aus der Hosentasche Streichhölzer und eine lose Zigarette gefischt, die Zigarette auch mit derselben Hand angezündet, während die andere lässig herunterzuhängen hatte. Jetzt nahm er manierlich, fast geräuschlos, auf dem Stahlrohrsitz neben dem Referatsleiter Platz, zog ein Etui aus der Jackettasche, bot Katharina eine Zigarette an. »Aber Zobel«, sagte sie friedlich.

»Ach, richtig«, meinte er. Dann kamen die Herren zur Sache. »Der Name Müller-Petri ist Ihnen ein Begriff?«, fragte der Referatsleiter.

Katharina dachte nach.

»Wo Sie doch jetzt Bender und Hoff haben, Ledermacherin. Internist, Gründer und Leiter eines Rehabilitationszentrums für drogenabhängige Jugendliche, Südwestkorso.«

»Vor ein paar Tagen war er im Fernsehen«, sagte Zobel.

Katharina erinnerte sich. Ein hagerer Mann mit Rollkragenpullover, dichtes weißes Haar, gebräuntes Gesicht, Wangenfalten. Mit knappen Handbewegungen unterstrich er die Antworten, die er einem Reporter gab. Sie hatte an Roberts Apparat den Ton zurückgedreht, weil das Telefon klingelte. Während sie ihrer Tochter zuhörte, erschien auf dem dunkel gestrickten Rollkragenpullover eine Schrift.

»Müller-Petri, ja«, sagte sie. »Professor Dr. Otto.«

Der Referatsleiter betrachtete seine Pfeife. »So ist es.« Er klemmte die Pfeife wieder in eine Zahnlücke. »Wir kommen gleich auf ihn zurück.« Indem er Qualmwolken ausstieß, beugte er sich aus dem Stahlrohrsitz rückwärts zum Leichtmetallkasten. Es gelang ihm, mit zwei Fingern die Akte zu fassen. Aufatmend und hustend setzte er sich wieder zurecht, nahm die Pfeife aus dem Mund, wedelte mit ihr den Rauch zur Seite. »Hier haben wir erstmal was anderes. Nämlich den Fall Frowein.« Und reichte die Akte an Katharina weiter.

Über Gustav Frowein hatten vor zwei Wochen die Zeitungen berichtet. DEUTSCHER PROFESSOR IN ITALIEN BERAUBT UND ERMORDET hieß es zunächst. Nackt, mit eingeschlagenem Schädel vor der Küste im Meer treibend, so war er von Fischern gefunden worden. AUCH GETÖTET VON FISCHERN? Einige Blätter wiesen dann darauf hin, dass der in Hamburg wohnende siebenundsechzigjährige unverheiratete Chemiker vor kurzem aus der DDR eingereist war, legal, aber nur mit Visum für die Bundesrepublik. Er hatte sich sofort einen Bundespaß ausstellen lassen und die Wohnung eines amerikanischen Gastprofessors in der Werderstraße übernommen. WAR FROWEIN FLÜCHTLING ODER SPION? Und: WAS WOLLTE OSTBERLINER PROFESSOR IN ITALIEN? LEICHE SCHWAMM VOR HAFEN DER ITALIENISCHEN KRIEGSMARINE LA SPEZIA! Hatte er vielleicht auch spezielle Aufträge für den Hamburger Hafen? Von Geheimdiensten war die Rede, von chemischen Kampfstoffen, von Nato und Warschauer Pakt. Konnte man denn glauben, dass er nur als Gastprofessor und nur zu einem wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch nach Hamburg gekommen war? War er wirklich aus Altersgründen emeritiert? Oder um beweglicher zu sein für Sonderaufgaben? Oder war er in Wahrheit aus dem Amt gedrängt worden wegen politischer Differenzen? Ließ denn die DDR einen offenbar wichtigen Mann einfach so mal in die Bundesrepublik? Oder hatte sich Frowein nur listig aus der DDR davongemacht? War sein Tod die RACHE DES STAATSSICHERHEITSDIENSTES DER DDR? Schon nach drei Tagen stellten die italienischen Behörden die Untersuchung ein. TOD DURCH UNFALL? WER SOLL DAS GLAUBEN? fragte zwar noch ein Boulevardblatt. Aber es erschien kein weiterer Bericht. Und die italienischen Zeitungen hatten sich von Anfang an mit ein paar Zeilen auf den Innenseiten begnügt. Streiks, Inflation, Mieten, Entführungen, Skandale um den italienischen Staatspräsidenten, Schießereien, Prozesse, Intrigen, was der im Mai von den Roten Brigaden ermordete Christdemokrat Moro gewollt hatte, was der Kommunist Berlinguer nie wollen würde, der Entschluss der Regierung, entschlossene Maßnahmen zu beschließen, all das war wichtiger als ein ertrunkener deutscher Professor.

Katharina blätterte in der Akte. Das Material war von Oberkommissar Mohrmann, 5. Inspektion, zusammengestellt worden. Auf den ersten Blick wirkte es verwirrend. Es enthielt, außer einer umfangreichen Biografie Froweins samt Wiedergabe von Urkunden, chemischen Formeln und deren Erläuterungen, auch italienische Texte sowie Daten über einen international bekannten Spezialisten für Kunstfälschungen namens Gigi Kerstensen, dazu noch einen Bericht des Hamburger Kriminalrats Blankenhorn über Froweins Aufenthalt in der Werderstraße. Immerhin wurde Katharina klar, warum das alles auf dem Schreibtisch des Referatsleiters geraten war: Frowein hatte die Werderstraße in Hamburg als zweiten Wohnsitz angegeben. Den Reportern schien das entgangen zu sein. Froweins erster Wohnsitz war Westberlin, Südwestkorso. Bei Professor Müller-Petri.

Katharina sah auf.

»Sein Halbbruder«, erläuterte der Referatsleiter. »Steht ein paar Seiten weiter.« Ihm war die Pfeife ausgegangen. Sein Ruf als Kürzestraucher hatte sich schon bis Hongkong verbreitet. Umständlich zündete er sie von neuem an.

»Wie kann er einen Bundespaß erhalten, wenn Westberlin erster Wohnsitz für ihn ist?«, fragte Katharina.

»Weil er zunächst Hamburg als ersten Wohnsitz angab. Unterlagen darüber am Schluss. Wir haben das noch nicht geordnet. Sowie er den Pass hatte, meldete er sich um: Berlin erster, Hamburg zweiter Wohnsitz.«

»Warum?«

Der Referatsleiter zuckte die Schultern.

»Was wollte er denn nun: hierbleiben oder zurück in die DDR?«

»Ich hoffe, Sie werden uns demnächst diese Frage beantworten können, Ledermacherin.«

»Ich?«

»Diese und einige weitere.« Der Referatsleiter hatte die Pfeife wieder in Gang gebracht. »Sehen Sie, Ledermacherin, nichts gegen unsere Kollegen in Rom, Turin, Bologna. Oder nehmen wir Duca Lamberti in Mailand, er ist absolut erstklassig. Nur, in der Provinz siehts weniger gut aus. Die sind da kaum qualifiziert, ersticken in einer unendlichen Menge von Kleinkram, geben sich keine Mühe, resignieren. Die schieben bloß noch weg, das kennen wir doch. Ich will nicht ungerecht sein, anderswo passiert Ähnliches, aber unsere Beamten hätten doch eine gewisse Scheu, möchte ich sagen, so schnell den Aktendeckel über einem ungeklärten Fall zu schließen.«

»Ja«, sagte Zobel, »die würden natürlich zunächst eine Konferenz der leitenden Herren veranstalten und erst dann den Fall ungelöst lassen.«

Der Referatsleiter nahm die Pfeife aus dem Mund und blickte Zobel ruhig an. »Ich fürchte, mit solchen Bemerkungen machen Sie sich nicht übermäßig viele Freunde unter leitenden Herren. Auch nicht drüben.« Und zeigte mit der Pfeife in Richtung Tempelhofer Damm.

»Das fürchte ich auch.« Zobel grinste. Er schien sich ziemlich sicher zu fühlen. »Aber meine Lehrerin hat mir beigebracht, dass es ohnehin schädlich sei, Freunde unter Vorgesetzten haben zu wollen. Schädlich für die Arbeit wie fürs Privatleben. Hat sie gesagt.«

»So, hat sie.« Der Referatsleiter seufzte. »Ja, dann wird es wohl stimmen.«

»Sie hat auch gesagt«, Katharina legte die Akte zurück auf den Leichtmetallkasten, »dass Vorgesetzte dazu neigen, in besonders heiklen Angelegenheiten dunkle Andeutungen zu häufen, statt klare Mitteilungen zu machen. Wenn ich richtig verstanden habe, soll ich mal eben nach Italien, in dieses Nest da bei La Spezia, und soll feststellen, dass der Professor nicht ins Meer gefallen ist, sondern erschlagen und reingeschmissen wurde.«

»So ungefähr. Denn es steht fest, dass Frowein nicht mehr geatmet hat, als er ins Meer stürzte. Kein Wasser in der Lunge. Er muss also vorher gestorben sein.«

»Warum nicht Mohrmann? Warum gerade ich?«, fragte Katharina. Aber sie kannte die Antwort schon.

»Sie haben selbst gesagt, Ledermacherin, die Angelegenheit ist heikel, und …« Der Referatsleiter brach rechtzeitig ab, betrachtete die Pfeife, die wieder zischte und brodelte. Katharina schwieg.

»Und eine Frau hat nun mal mehr Fingerspitzengefühl«, ergänzte Zobel ungerührt. Der Referatsleiter betrachtete ihn nachdenklich.

»Ich weiß, Ledermacherin«, sagte er dann schnell, »das könnte nun wieder unser altes Streitgespräch werden.«

»Wird es nicht«, sagte Katharina. »Ein paar Fragen hätte ich allerdings schon.«

Weil sie sich ärgerte, stieg ihr Blutdruck. Sie fühlte sich wohl.

»Bitte«, sagte der Referatsleiter, »natürlich.«

»Warum macht das nicht Duca Lamberti, zum Beispiel?«

»Lamberti ist nicht zuständig.«

»Wir sind noch weniger zuständig.«

»Wir sind für Frowein zuständig. Und wir haben Informationen, die man da unten nicht hat.«

»Warum geben Sie Ihre Informationen nicht den zuständigen italienischen Kollegen?«

»Erstens ist es schon schwierig, herauszufinden, in wessen Zuständigkeit das fällt. Carabinieri, Kriminalpolizei, wir wussten lange nicht, wer an der Sache dran war. Zweitens würden die Informationen wohl nicht mehr richtig verwertet. Um es vorsichtig zu sagen. Die haben den Laden schneller zugemacht wie wir unsere Informationen beibringen konnten. Jetzt werfen sie bloß in den Papierkorb, was sie noch von uns kriegen.«

»Wer war denn nun zuständig? Carabinieri oder die Kriminalpolizei?«

»Offenbar haben beide untersucht. Jedenfalls scheint das aus den Protokollen hervorzugehen.«

»Und beide haben einen Unglücksfall festgestellt?«

»Ja.«

»Spricht das nicht für Sorgfalt? Und dafür, dass es wirklich ein Unglück war?«

»Eher dafür, denke ich, dass überlastete Kollegen sich gegenseitig einen unangenehmen Fall zuschoben und schließlich froh waren, gemeinsam halbwegs glaubhaft ein Unglück feststellen zu können. Wir haben ihnen über Wiesbaden mitteilen lassen, wir hätten noch was. Sie haben sofort zurückgetickert, sehr aufmerksam, Fall schon erledigt, mille grazie. Fertig.«

»Da werden die aber ungeheuer froh sein, wenn ich mit dem Aktendeckel unterm Arm bei ihnen aufkreuze und sage, so Jungs, jetzt ist Mutter da, und nun hopp, rasch wieder an die Arbeit.«

»Die werden kaum ungeheuer froh sein«, meinte der Referatsleiter bedächtig.

»Eben.

---ENDE DER LESEPROBE---