6,99 €
*Ich bin die Tochter des Bürgermeisters. Er ist der Bad Boy der Stadt. Ich bin mit jemand anderem verlobt ... aber mein Herz gehört ihm.* Noah Becker bedeutet nichts als Ärger. Das hat mir Mama schon gesagt, als ich als Kind in der Kirche gegen seine Kirchenbank getreten und über unsere Spiele gekichert habe. Das hat die Stadt gesagt, als sein Vater gestorben ist und die Becker-Brüder durchgedreht sind. Und es wiederholt sich immer wieder in meinem Kopf, als ich in die Whiskeybrennerei trete, in der er arbeitet, um ein Hochzeitsgeschenk für meinen Verlobten zu kaufen. Er bedeutet Ärger. Schmutziger, verschwitzter, unverschämter Ärger. Aber ich kann Noah in unserer kleinen Stadt nicht entkommen. Und je öfter ich ihm begegne, desto wütender macht er mich. Denn er sieht, was sonst niemand sieht. Er sieht mich – mein wahres Ich. Das Ich, von dem ich nicht weiß, ob ich es sein darf. Ich bin Ruby Grace Barnett, die Tochter des Bürgermeisters. Bald werde ich die Frau eines Politikers sein, wie Mama und Papa es immer wollten. Bald werde ich das Erbe meiner Familie antreten, so wie ich es mir immer gewünscht habe. Bis der Junge, vor dem mich alle gewarnt haben, mich alles infrage stellen lässt, zum Beispiel, ob ich die Hochzeit, die ich plane, überhaupt will. Alle sagen, dass Noah Becker nichts als Ärger bedeutet. Wenn ich nur auf sie gehört hätte.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kandi Steiner
On The Rocks
Becker Brothers
(Band 1)
Übersetzt von Ronja Waehnke
ON THE ROCKS
(Band 1)
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel
»On the Rocks: An Age Gap, Small Town Romance (Becker Brothers)«
Copyright © 2019 ON THE ROCKS by Kandi Steiner.
All rights reserved.
The moral rights of the author have been asserted.
Alle Rechte der deutschsprachigen Ausgabe © 2025
On The Rocks
by VAJONA Verlag GmbH
Übersetzung: Ronja Waehnke
Korrektorat: Aileen Dawe und Lara Gathmann
Satz: VAJONA Verlag GmbH,
Umschlaggestaltung: Diana Gus unter Verwendung selbst gezeichneter Motive,
unter Verwendung von Canva
VAJONA Verlag GmbH
Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3
08606 Oelsnitz
Für alle, die Whiskey und Sonnenschein lieben.
Die es lieben, an langen Sommertagen auf der Veranda
zu sitzen, im Fluss zu baden und das Leben nicht zu ernst zu nehmen - das hier ist für euch.
Woran denkst du, wenn du das Wort Tennessee hörst?
Vielleicht ist dein erster Gedanke Country-Musik. Vielleicht siehst du sogar die hellen Lichter von Nashville, hörst die verschiedenen Bands, deren Klänge aus den Bars dringen und sich in den Straßen zu einer Sinfonie vermischen. Vielleicht denkst du an Elvis, an Graceland, an Dollywood und unzählige andere musikalische Wahrzeichen. Vielleicht spürst du das Prestige der Grand Ole Opry oder das Wunder der Country Music Hall of Fame. Vielleicht spürst du die Geschichte, die von der Beale Street in Memphis ausgeht.
Oder vielleicht denkst du an die Great Smoky Mountains, an frische Luft und Wandern, an majestätische Sehenswürdigkeiten und lange Wochenenden in Hütten. Vielleicht schließt du die Augen und siehst die Spitzen dieser Berge mit ihren weißen Gipfeln, hörst den Ruf des Tennessee-Waldsängers, riechst die frischen Kiefern und Eichen.
Wenn du an Tennessee denkst, kommst dir vielleicht all das und noch mehr in den Sinn.
Aber für mich war es nur ein zweisilbiges Wort.
Whiskey.
Ich sah das bernsteinfarbene, flüssige Gold jedes Mal, wenn ich die Augen schloss. Mit jedem Atemzug roch ich seine Eichen-Note. Meine Geschmacksknospen waren schon in jungen Jahren darauf trainiert worden, jede noch so kleine Nuance in der Flasche wahrzunehmen, und mein Herz wurde darauf getrimmt, Whiskey zu lieben, lange bevor es lernte, eine Frau zu lieben.
Tennessee-Whiskey war ein Teil von mir. Er lag mir im Blut. Ich war damit geboren und aufgewachsen, und mit achtundzwanzig Jahren war es für mich keine Überraschung, dass ich nun zu dem Team gehörte, das den berühmtesten Tennessee-Whiskey der Welt brannte und aufzog.
Das war für mich immer absehbar gewesen. Und es war alles, was ich jemals wollte.
Zumindest habe ich das gedacht.
Bis zu dem Tag, an dem Ruby Grace wieder in die Stadt kam.
Meine Ohren waren von leuchtenden, neonorangefarbenen Schwämmen verstopft, aber ich konnte immer noch Chris Stapletons raue Stimme hinter dem lauten Lärm der Maschinen hören. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn, als ich den Metallring auf ein weiteres Whiskeyfass spannte und es auf das Band schickte, bevor ich mit dem nächsten Fass begann. Der Sommer war nur noch wenige Wochen entfernt, und in der Brennerei schwoll die Hitze von Tennessee an.
Es war ein Privileg, in der Scooter Whiskey Distillery als Fassmacher zu arbeiten. Wir waren nur zu viert, ein eingespieltes Team, und wir wurden gut bezahlt für eine Arbeit, für die man noch keine Maschinen gebaut hatte. Jedes Fass wurde von Hand gefertigt, und ich habe jeden Tag Hunderte von ihnen aufgezogen. Unsere Fässer waren ein Teil dessen, was unseren Whiskey so erkennbar machte, ein Teil dessen, was unser Verfahren so einzigartig machte, und ein Teil dessen, was Scooter zu einem bekannten Namen machte.
Auch mein Grandpa hatte mit vierzehn Jahren angefangen, Fässer zu bauen. Er war derjenige, der den Standard gesetzt, den Prozess festgelegt und ihn zu dem gemacht hatte, was er heute war. So war der Gründer, Robert J. Scooter, zum ersten Mal auf ihn aufmerksam geworden. Es war der Beginn ihrer Freundschaft, ihrer Partnerschaft, ihres Vermächtnisses. Aber dieses Erbe war für meinen Grandpa, für meine Familie zu Ende gegangen. Selbst wenn ich von dieser Stadt weggezogen wäre, von der Brennerei, die für meine Familie ebenso ein Segen wie ein Fluch war, würde ich das nie vergessen.
»Hey, Noah«, rief Marty über das scharfe Schneiden eines weiteren Fassdeckels hinweg. Funken flogen um seine Schutzbrille herum, seine Augen waren auf mich gerichtet, nicht auf das Holz, aber seine Hände bewegten sich in einem gleichmäßigen, kenntnisreichen Rhythmus. »Ich habe gehört, dass du heute Morgen deinen persönlichen Walk of Shame zur Arbeit hingelegt hast.«
Der Rest der Besatzung kicherte, ein paar Pfiffe ertönten, während ich ein Grinsen unterdrückte.
»Was geht dich das an?«
Marty zuckte mit den Schultern und strich sich mit der Hand über seinen vollen Bart. Er war dick und dunkel, die Spitzen waren mit Grau gespickt, genau wie sein langes Haar, das sein großes Gesicht umrahmte. »Ich meine ja nur, vielleicht könntest du das nächste Mal wenigstens duschen. Seit fünf Uhr morgens riecht es hier nach Sex.«
»Das ist dieser Geruch?«, fragte PJ und hielt inne, um seine echte Brille unter der Schutzbrille zu richten. Sein Gesicht verzog sich, die dicken, schwarzen Gestelle hoben sich auf seiner faltigen Nase, als er den Kopf schüttelte. »Ich dachte, in der Cafeteria gibt es wieder Fischstäbchen.«
Das brachte die Jungs zum Lachen, und ich schlug unserem jüngsten Besatzungsmitglied auf den Arm. Mit seinen einundzwanzig Jahren war PJ der Neuling, der jüngste Bock, und er war auch bei Weitem der Kleinste von uns. Seine Arme waren nicht durchtrainiert, weil er jahrelang tagein, tagaus Fässer hochgehoben hatte, aber seine Hände begannen endlich, unter den Arbeitshandschuhen schwielig zu werden.
»Nein, das ist nur das Höschen deiner Mutter, PJ. Sie hat es mir als Souvenir geschenkt. Hier«, sagte ich und griff in meine Tasche. Ich holte mein Taschentuch heraus und hielt es ihm unter die Nase, bevor er sich zurückziehen konnte. »Riech dran.«
»Fick dich, Noah.« Er schob mich mit einer Grimasse weg, während die Jungs in einen weiteren Lachanfall ausbrachen. Ich schüttelte das Taschentuch noch einmal über seinem Kopf, bevor ich es wegsteckte und nach weiteren Holzstäben für das nächste Fass griff. Ich brauchte zwischen einunddreißig und dreiunddreißig Holzbretter, um ein Fass zu bauen, und ich hatte es zu einer Wissenschaft gemacht – ich mixte und passte die Größen und die Breite an, bis das perfekte Fass gebaut war. Seit ich mit einundzwanzig Jahren angefangen hatte, Fässer zu bauen, hatte ich kein undichtes Fass gehabt. Es hatte nur sechs Monate gedauert, bis ich mein Verfahren im Griff hatte, und an meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag war ich dann der Schnellste in unserem Team, obwohl ich damals der Jüngste gewesen war.
Mom hatte immer gesagt, dass Dad stolz gewesen wäre, aber ich würde es nie genau wissen.
»Aber im Ernst«, fuhr Marty fort. »Das ist jetzt das dritte Mal, dass du dich aus Daphne Swans Haus geschlichen hast, während die Hähne hinter dir die Sonne aufgeweckt haben. Das muss ein Rekord für dich sein.«
»Er wird sicher bald einen Ring kaufen«, meldete sich das letzte Mitglied unseres Teams zu Wort. Eli war nur ein paar Jahre älter als ich, und er wusste besser als jeder andere, dass ich mich nicht auf Beziehungen einließ. Aber damit endete sein Wissen über mich, denn wie alle anderen nahm er an, dass ich ein Playboy war.
Sie gingen alle davon aus, dass ich bis ans Ende der Zeit Single bleiben würde, von Bett zu Bett hüpfend, ohne Rücksicht darauf, wem dabei das Herz gebrochen wurde.
Aber ich wollte sesshaft werden, einem Mädchen den Namen Becker geben und ein paar Kinder haben, denen ich hinterherlaufen konnte – vielleicht mehr als jeder andere in Stratford. Aber im Gegensatz zu all meinen Freunden, würde ich nicht einfach das erstbeste Mädchen wählen. Es gab viele schöne Frauen in unserer Kleinstadt, aber ich suchte nach mehr, nach einer Liebe wie der, die meine Mutter und mein Vater hatten.
Jeder, der meine Eltern kannte, wusste, dass ich wahrscheinlich noch eine Weile auf der Suche sein würde. »Daphne und ich sind nur Freunde«, erklärte ich und stapelte das nächste Fass. »Und wir haben eine Abmachung. Sie will nachts gehalten werden, und ich will wie ein Rodeo-Bulle geritten werden.« Ich zuckte mit den Schultern. »Betrachtet es als modernes Tauschgeschäft.«
»Ich brauche so einen Freund«, murmelte PJ, und wir lachten alle, als die Ladentür aufschwang.
»Touris im Anmarsch«, rief unser Manager, Gus. Er blickte auf die Papiere, in denen er herumwühlte, während seine Füße ihn in Richtung seines Büros trugen. »Noah, komm zu mir, wenn sie weg sind.«
»Ja, Sir«, antwortete ich, und obwohl die Jungs mir alle einen ominösen Blick zuwarfen, war ich nicht nervös. Gus hatte nichts als Respekt für mich übrig, genau wie ich für ihn, und ich wusste, vielleicht zu zuversichtlich, dass ich nicht in Schwierigkeiten war. Er hatte einen Job, der erledigt werden musste, und er konnte sich immer auf mich verlassen.
Die Tür schwang wieder auf, und die Hänseleien verstummten augenblicklich. Wir konzentrierten uns alle auf die bevorstehende Aufgabe, während mein Bruder eine Gruppe von Touristen hineinführte.
»Denken Sie daran, dass auch in diesem Bereich keine Fotos erlaubt sind. Bitte, stecken Sie Ihre Telefone weg, bis wir wieder nach draußen gehen. Da wir eine der letzten Brauereien sind, die noch ihre eigenen Fässer herstellen, wollen wir nicht, dass unsere Geheimnisse nach außen dringen. Wir wissen, dass mindestens die Hälfte von euch aus Kentucky hierhergeschickt wurde, um uns auszuspionieren.«
Die Gruppe lachte leise, alle Augen weit aufgerissen, als sie hereinströmten, um einen besseren Blick auf uns zu werfen. Marty hasste diese Touren, und ich konnte bereits sein missbilligendes Schnauben hören, als ob die Gruppe nur zu dem Zweck geschickt worden wäre, ihm den Tag zu versauen.
Aber ich? Ich liebte sie. Nicht nur, weil sie bedeuteten, dass Scooter Whiskey noch immer ein bekannter Name war, und damit ein sicherer Arbeitsplatz, sondern auch, weil sie eine Gelegenheit boten, meinen kleinen Bruder zu ärgern.
Ich hatte drei Brüder – Logan, Michael und Jordan.
Jordan war der Älteste von uns – vier Jahre älter als ich. Mom und Dad hatten ihn vor meiner Geburt adoptiert, und obwohl er vielleicht nicht so aussah wie der Rest des Becker-Clans, war er einer von uns, durch und durch.
Michael war mit siebzehn Jahren der Jüngste von uns, und zwischen ihm und seinem Abschlussjahr an der Highschool lag nur noch ein Sommer.
Und Logan, der gerade bei der Führung durch die Tür kam, war der Zweitjüngste. Er war zwei Jahre jünger als ich, was bedeutete, dass ich am liebsten auf ihm herumhackte. Er war schließlich mein erster kleiner Bruder.
Als die gesamte Gruppe drinnen war, winkte Logan uns mit einem breiten Lächeln zu.
»Das hier sind die feinen Herren, die als unsere Fassbauer bekannt sind. Vielleicht erinnern Sie sich an das Video, in dem Sie sie kennengelernt haben. Wie dort erwähnt, wird jedes unserer Fässer von Hand gefertigt, von nur vier aufrecht stehenden Herren: Marty, Eli, Noah und PJ.«
Wir winkten alle, als Logan uns vorstellte, und ich riskierte ein Grinsen in die Richtung des heißesten Mädchens der Tour. Sie war älter, vielleicht Mitte dreißig, und sah aus wie die Mutter von jemandem. Aber ihre Brüste waren so prall, wie ich sie mir an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag vorstellte, und sie sah mich an wie ein heißes Stück Brot nach einem Monat kohlenhydratfreier Diät.
Sie erwiderte mein Lächeln, während sie eine Strähne ihres hellblonden Haares um den Finger zwirbelte und der Gruppe von Mädchen, mit denen sie zusammen war, etwas zuflüsterte, bevor sie alle kicherten. Logan fuhr fort und erzählte, wie wir vier als Team jeden Tag mehr als fünfhundert Fässer herstellten, bevor wir sie zum Verkohlen auf die Straße schickten. Er erklärte, dass der Scooter Whiskey eigentlich klar war, wenn er zum ersten Mal in unsere Fässer kam, und dass es der Prozess des Eichenholzes und der Verkohlung war, der die bernsteinfarbene Farbe und den süßen Geschmack hervorbrachte, an den sie heute gewöhnt waren.
Obwohl meine Hände auf Autopilot liefen, beobachtete ich meinen Bruder mit stolzgeschwellter Brust. Sein Haar war sandfarben und walnussbraun, genau wie meins, obwohl sich sein Haar über die Ränder seiner Baseballkappe kräuselte und meins kurz geschnitten war. Er war ein paar Zentimeter größer als ich, was mich als Kind immer geärgert hatte, und er war schlank, weil er jahrelang Baseball gespielt hatte, während ich stämmig war, weil ich jahrelang Football gespielt hatte, bevor ich ein Fassbauer geworden war.
Wenn du als Junge in Stratford aufgewachsen bist, hast du höchstens einen Sport gemacht. Das war’s dann auch schon.
Obwohl wir unsere Differenzen hatten, konnte jeder, der mit uns in einem Raum stand, uns als Brüder erkennen. Logan war wie mein bester Freund, aber er war auch wie mein eigener Sohn. Zumindest hatte ich das so gesehen, nachdem Dad gestorben war.
Genauso wie es nur eine Handvoll Fassbauer gab, galt das auch für die Fremdenführer. Sie waren das Gesicht unserer Brennerei und wurden nicht nur für ihr Wissen und ihr Charisma gut bezahlt, sondern erhielten auch ein hohes Trinkgeld von den Touristen, die in die Stadt kamen. Es war einer der begehrtesten Jobs, und Logan hatte ihn mit achtzehn Jahren bekommen – nach dem Tod seines Vaters, was bedeutete, dass er keine Hilfe erhalten hatte, um die Stelle zu bekommen.
Er bekam die Stelle, weil er der Beste war, und ich war stolz auf ihn. Und ich wusste, dass unser Vater es auch gewesen wäre.
Es war für unsere Familie keine Überraschung gewesen, als Logan den Job an Land gezogen hatte, denn er war sehr detailverliebt. So war er schon seit unserer Kindheit – nichts in seinem Zimmer war jemals fehl am Platz, er aß sein Essen in einer bestimmten Reihenfolge, und er erledigte seine Hausaufgaben, sobald er aus der Schule kam. Genau so, wie sie gemacht werden sollten, und dann erledigte er seine Hausarbeiten, bevor er überhaupt daran dachte, draußen zu spielen.
Damit Logan sich wohlfühlen konnte, musste alles ordentlich sein.
Der arme Kerl hatte fast seine ganze Rede hinter sich gebracht, als ich gegen das Fass trat, an dem ich gerade arbeitete, und der Metallring zu Boden fiel, was einen lauten Aufruhr verursachte.
»Ah! Mein Finger!«
Ich packte meinen rechten Mittelfinger fest und schnitt eine schmerzhafte Grimasse, während der Rest der Mannschaft zu mir eilte. Die Touristen schnappten entsetzt nach Luft und sahen hilflos zu, wie ich stöhnte und fluchte und Druck auf die vermeintliche Wunde ausübte.
»Was ist passiert?«
»Geht es ihm gut?«
»O Gott, wenn da Blut ist, werde ich ohnmächtig.«
Ich musste mich gegen den Drang wehren, über den letzten Satz zu lachen, von dem ich fast sicher war, dass er von der heißen Mutter mit dem tollen Vorbau stammte.
Logan sprintete herbei, sein Gesicht war blass, als er PJ aus dem Weg schob, um zu mir zu gelangen.
»Scheiße, Noah. Was hast du angestellt? Bist du okay?« Er klopfte PJ auf die Schulter. »Geh und hol Gus!«
»Warte!«, rief ich und verzog immer noch das Gesicht, während ich meine Hand hochhielt. Sie war zu einer Faust geballt, und da alle Augen auf sie gerichtet waren, ließ ich die Finger meiner freien Hand langsam neben ihr auffächern, als würde ich einen Jack in the Box öffnen, und schnippte meinen kleinen Bruder mit einem Grinsen weg.
Die Jungs lachten alle, als mein Bruder einen frustrierten Seufzer ausstieß und mit den Augen rollte, bevor er mich am Hals packte und würgte. Ich stieß ihn von mir, stahl seinen Hut und setzte ihn mir auf den Kopf, während ich auf seine Reisegruppe zustürmte.
»Tut mir leid, dass ich euch erschreckt habe«, sagte ich, wobei ich meinen Charme spielen ließ. »Ich konnte es mir nicht entgehen lassen, meinem kleinen Bruder hier das Leben ein wenig schwerer zu machen.«
Es gab immer noch einige verwirrte Blicke in unsere Richtung, aber langsam lächelten sie alle, als Erleichterung über sie hereinbrach.
»Geht es dir wirklich gut?«, hörte ich eine sanfte Stimme fragen. »Du bist nicht verletzt?«
Es war die heiße Mom, und ich lehnte mich mit einem Arm gegen eine der Maschinen, während ich ihr ein Lächeln schenkte.
»Nur durch die Tatsache, dass ich mein ganzes Leben ohne dich verbracht habe, Darling.«
Ihre Freundinnen kicherten alle, eine von ihnen trug einen BRIDE TO BE-Button, der mir vorher nicht aufgefallen war. Ihre Wangen waren immer noch rot, als Logan mir den Hut vom Kopf riss und mich zurück zum Fass schob, das ich fallen gelassen hatte.
»In Ordnung, Casanova. Lass meine Gruppe in Ruhe.«
»Ich beschere ihnen nur eine unvergessliche Tour durch die Scooter Whiskey Distillery, kleiner Bruder«, scherzte ich und zwinkerte der Schönheit noch einmal zu, bevor ich mich wieder an die Arbeit machte.
Logan machte bereits mit dem nächsten Teil seiner Tour weiter, während er die Gruppe hinausführte, und ich hielt meinen Blick die ganze Zeit auf einen blonden Hinterkopf gerichtet, bis sie aus der Tür war.
Ich stellte mir vor, dass ich sie später am Abend in der einzigen Bar der Stadt antreffen würde.
Marty schimpfte mit mir, weil ich so dumm war, während PJ und Eli mir dezent die Daumen drückten. Sie waren alle an meine Streiche gewöhnt, besonders auf Kosten meiner Brüder. Wenn man in der gleichen Stadt aufwuchs, mit den gleichen Leuten, die alle am gleichen Ort arbeiteten und den gleichen verdammten Job machten, lernte man, das Beste aus dem bisschen Spaß zu machen, den man in die tägliche Routine einbauen konnte.
»Noah.« Gus’ Stimme ernüchterte mich, also ließ ich mein überhebliches Grinsen fallen und machte mich auf seine Aufforderung hin gerade. »In mein Büro. Jetzt.« Er hatte sich noch nicht einmal von seinem Stuhl erhoben, aber ich wusste, dass ihm die Aufregung über den Streich nicht entgangen sein konnte.
Meine Zuversicht, als Scooter-Mitarbeiter unantastbar zu sein, schwand ein wenig, als ich meine Arbeitshandschuhe auszog und mich auf den Weg zu seinem Büro machte.
»Schließ die Tür«, sagte er, ohne aufzublicken.
Durch die plötzliche Stille klingelten meine Ohren ein wenig, und ich ließ die Tür zufallen, bevor ich mich auf einen der beiden Stühle ihm gegenüber setzte.
Gus beäugte mich über die Papiere hinweg, die er immer noch in den Händen hielt, und zog eine Braue hoch, bevor er seufzte und die Papiere auf seinen Schreibtisch fallen ließ. »Erstens: Auch wenn ich es zu schätzen weiß, dass du hier für ein bisschen gute Laune sorgst, solltest du keine Faxen machen, wenn es um die Sicherheit am Arbeitsplatz geht, okay?«
»Ja, Sir.«
»Ich weiß, dass Logan dein Bruder ist, und ich habe nichts gegen gelegentliche Streiche. Aber ein abgetrennter Finger ist nichts zum Lachen. Unser Gründer ist der Beweis dafür.«
Die Geschichte unseres Gründers, der an einer kleinen Fingerverletzung verstorben war, erzählten wir immer wieder den Reisenden, die hier vorbeikamen. Da war dieser gesunde Mann, älter, aber nicht krank, und am Ende war es sein Stolz, der ihn umbrachte. Er hatte sich in den Mittelfinger geschnitten, genau an der Stelle, wo er mit der Handwurzel verbunden war, aber anstatt es jemandem zu sagen, wickelte er ihn einfach ein und ging seiner normalen Arbeit nach.
Eine Infektion nahm ihm das Leben, lange bevor seine Zeit gekommen war.
»Ich habe es verstanden, Sir. Kommt nicht wieder vor.«
»Gut.« Gus lehnte sich in seinem Stuhl zurück und fuhr sich mit der Hand über seinen kahlen Kopf, während sein Blick wieder auf die Zeitung fiel. »Wir haben hier einen potenziellen Käufer, der eines unserer Einzelfässer haben möchte. Aber die Situation ist ein wenig prekär.«
»Wieso das?« Es war nicht ungewöhnlich, dass Gus mich bat, eines unserer seltenen Fässer potenziellen Käufern zu zeigen, meist älteren Herren, die zu viel Geld hatten und nicht mehr wussten, was sie damit anfangen sollten. Jedes Fass wurde für mehr als fünfzehntausend Dollar verkauft, wobei der größte Teil des Geldes an den guten alten Onkel Sam ging.
»Die Käuferin ist erst neunzehn Jahre alt.«
»Das ist illegal.«
»Danke, dass du das Offensichtliche aussprichst.« Gus schlug mit der Hand auf den Papierstapel, auf den er gestarrt hatte. »Sie ist eine Barnett.«
Ich pfiff. »Ah. Wir können also nicht nein sagen.«
»Wir können nicht nein sagen.«
»Aber wir können es auch nicht nach außen dringen lassen, zumal Briar County nur nach einem Grund sucht, uns wieder zu schließen.«
»Du kapierst schnell.«
Ich nickte und kratzte mich am Kinn. Die Barnetts waren eine der einflussreichsten Familien in der Stadt, gleich neben den Scooters und früher auch den Beckers. Die Barnetts hatten eine lange Reihe von Bürgermeistern in ihrer Familie, und wenn sie ein einziges Fass Scooter Whiskey wollten, gab es kein Nein – egal, wie alt unsere Interessenten waren.
»Wann kommt dieses Mädchen her?«
»Eigentlich ist sie jetzt hier. Deshalb habe ich dich herbestellt. Ich möchte, dass du ihr das Fass zeigst, aber halte es unauffällig. Mach nicht unsere normale Verkostung, nur um sicherzugehen. Zeig ihr den Raum, sag ihr, was sie für ihr Geld bekommt, und bring sie hier raus.«
»Werden ihre Eltern das Fass bei der Zeremonie abholen?« Jedes Jahr veranstalteten wir eine große Zeremonie – die man besser als Hinterwäldler-Party bezeichnen sollte –, um die verschiedenen Fässer, ihre unterschiedlichen Noten und Aromen sowie ihre neuen Besitzer vorzustellen. Wir hatten letztes Mal auch eines der Einzelfässer für die Stadt geöffnet, um es zu verkosten. Es war das einzige Fass, das nicht an den Höchstbietenden verkauft wurde.
»Anscheinend ist ihr Verlobter dafür verantwortlich. Er ist vierundzwanzig, also ist es legal.«
»Warum kann er dann nicht derjenige sein, der es sich anschaut?«
Gus zog die Stirn in Falten. »Ich weiß es nicht. Das Mädchen will es wohl als Hochzeitsgeschenk für ihn. Sie wartet übrigens, und ich will, dass das schnell erledigt wird. Kriegst du das hin?«
»Selbstverständlich.«
Ohne ein weiteres Wort entließ Gus mich, weil er mich gern seine Drecksarbeit machen ließ.
Ich schlüpfte in unser einziges Badezimmer in einem kleinen, abgetrennten Teil der Brennerei und wusch meine Hände und mein Gesicht, so gut ich es in der kurzen Zeit konnte. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre. Die Leute, die es sich leisten konnten, das Geld, das ich für ein gutes Auto ausgeben würde, für ein Fass Whiskey auszugeben, scherten sich einen Dreck darum, wie ich aussah, wenn ich es ihnen zeigte. Sie interessierten sich nur für das flüssige Gold darin.
Also trocknete ich mein Gesicht und meine Hände ab und wiederholte die Worte, die ich schon zu Hunderten von reichen Männern und Frauen gesagt hatte, als Gus’ Gedanken in meinem Kopf auftauchten.
»Bringen wir’s hinter uns.«
Jedes Mal, wenn ich zum Welcome Center gehen musste, erntete ich mehr als nur ein paar neugierige Blicke.
Mehrere kleine Gruppen von Touristen tummelten sich im Empfangszentrum, machten Fotos mit der Statue unseres Gründers und lasen über die Entwicklung unserer Flaschen im Laufe der Jahre, während sie auf ihren Termin für die Führung warteten. Als ich mich auf den Weg machte, drehten sich die Köpfe, sobald sie meine Erscheinung wahrnahmen. Das ergab Sinn, denn ich war immer schmutzig und stank auch ein wenig. Meine Mutter behauptete, der Grund dafür, dass sie stehen blieben und mich anstarrten, sei, dass ich ›so gut aussehe, dass ein Kirchenchor im Gleichklang stottert‹.
Sie sagte, das hätte ich auch von meinem Vater.
Ich hatte erwidert, dass es trotzdem an dem Gestank lag.
Ich lächelte ein Paar älterer Frauen in der Nähe des Ticketschalters an, die sich kein bisschen schämten, obwohl sie mich anstarrten. Ihre Ehemänner hingegen starrten mich an, als wäre ich ein Insekt, das zerquetscht werden müsste. Ich lächelte zurück und hielt meinen Kopf gesenkt.
»Noah Becker«, begrüßte mich eine laute, überschwängliche und vertraute Stimme, als ich mich dem Schalter näherte. »Was verschafft mir die Ehre?«
»Bin natürlich gekommen, um dich um ein Date zu bitten.« Ich lehnte mich lässig über den Schreibtisch und grinste eingebildet. »Was sagst du, Lucy? Darf ich dich diesen Freitag auf der Tanzfläche herumwirbeln?«
Sie kicherte und ihre hellen Augen funkelten über ihren erröteten Wangen. Ihre Haut war braun, aber ich sah immer einen Hauch von Rot darunter, wenn ich mit Lucy flirtete. Sie war so alt wie meine Mutter, eine süße Frau, die den Ruf hatte, uns alle in der Brennerei mit ihrem hausgemachten Süßkartoffelkuchen zu mästen.
»Du könntest nicht mit mir umgehen.«
»Oh, als ob ich das nicht wüsste.« Ich klopfte mit einem Fingerknöchel auf den Schreibtisch und sah mich in der Sitzecke um. »Ich bin auf der Suche nach der potenziellen Fasskäuferin. Sie sollte doch hier oben warten.«
»Ah«, machte Lucy und schürzte ihre Lippen, während sie sich an ihrer Wange kratzte. »Die Barnett.«
»So schlimm, hm?«
Lucy nickte in Richtung der Eingangstür. »Zu hübsch für Manieren, nehme ich an. Andererseits kann man es ihr auch nicht wirklich verübeln, wenn man bedenkt, wer ihre Mutter ist.«
Lucy redete weiter, aber mein Blick war zu dem Mädchen mit dem feurigen Haar geglitten. Das Sonnenlicht brachte das Kastanienbraun zum Leuchten, als wäre es das Rote Meer. Ihre Augen wurden von einer Sonnenbrille abgeschirmt, die zu groß für ihr Gesicht war, während sie auf ihren weißen Stöckelschuhen auf dem Bürgersteig auf und ab lief. Sie hatte einen Arm vor ihrer schlanken Taille, die durch den goldenen Gürtel darum betont wurde, und hielt sich mit dem anderen ein Handy ans Ohr. Ihre Lippen bewegten sich so schnell wie ihre Füße und waren in einem kräftigen Karminrot geschminkt.
Mit ihren gerade mal neunzehn Jahren war sie gekleidet, als wäre sie mindestens dreißig, und hatte einen Gang, der mir zeigte, dass sie sich nichts gefallen ließ.
»Sie ist vor ein paar Minuten rausgegangen, um zu telefonieren«, sagte Lucy und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf sich. »Soll ich ihr sagen, dass du bereit bist?«
»Nein, nein«, winkte ich schnell ab und ließ meinen Blick zurück zu dem Mädchen wandern. »Ich mache das schon. Danke, Lucy.«
Als ich in die Hitze von Tennessee hinaustrat und gegen die grelle Sonne blinzelte, fielen mir als Erstes ihre Beine auf.
Ich hatte sie natürlich schon von drinnen gesehen, aber erst als ich direkt vor ihr stand, bemerkte ich, wie schlank und definiert sie waren – von einer Muskellinie durchzogen, die ihre schlanken Waden betonte und durch die hohen Absätze, die sie trug, noch mehr hervorgehoben wurde. Sie war erstaunlich gebräunt, wenn man ihre Haarfarbe und die vielen Sommersprossen auf ihrer Nase und ihren Wangen bedachte, und diese bronzefarbene Haut stand in einem solchen Kontrast zu ihrem strahlend weißen Kleid, dass es schwer war, sie nicht anzustarren. Der Rock dieses Kleides war fließend und bescheiden, er enthüllte nur durch einen kleinen Schlitz ihren Oberschenkel, und ich musste mich im Geiste dafür ohrfeigen, dass ich einen verdammten Teenager anschmachtete.
»Mom, es ist mir egal, ob die Blumen altrosa oder rotrosa sind. Das hört sich für mich nach genau demselben Farbton an.« Sie hielt inne und drehte sich auf dem Absatz um, als sie das andere Ende des Bürgersteigs erreichte.
Ich starrte weiter auf ihre Beine.
»Ich bin nicht Mary Anne.« Wieder eine Pause. »Warum rufst du sie dann nicht einfach an? Sie würde sich sicher gern mit dir darüber streiten, welcher Rosaton besser ist.«
»Miss Barnett?«
Sie blieb auf halbem Weg stehen und schob ihre Sonnenbrille gerade so weit von der Nase, dass ihre eindringlichen, haselnussbraunen Augen mich anblitzten, bevor sie die Brille wieder aufsetzte.
»Ich muss gehen, Mom. Ich glaube, der …« Sie zögerte und begutachtete mein Aussehen. »Ich glaube, der feine Herr, der mir das Fass zeigen wird, ist hier.«
Ich grinste und verschränkte meine Arme vor der Brust. Wenn sie dachte, ich würde mich von ihrer Ich-bin-besser-als-du-Haltung abschrecken lassen, hatte sie sich geirrt.
»Ja, ich komme gleich danach nach Hause. Okay. Okay, okay.« Sie seufzte und wippte mit dem Fuß, bevor sie das Telefon von ihrem Ohr wegzog. »Okay, ich muss los, Tschüss.«
Als das Gespräch beendet war, atmete sie noch einmal tief durch und straffte dann die Schultern, als ob dieser Atemzug ihr Gelassenheit gegeben hätte. Sie zwang sich ein Lächeln auf die Lippen und ließ das Telefon in ihre große Handtasche gleiten, während sie auf mich zukam.
»Hallo«, grüßte sie und streckte ihre linke Hand aus. Sie baumelte schlaff von ihrem zierlichen Handgelenk, ein Diamantring von der Größe eines Viertel-Dollar-Stücks schimmerte im Sonnenlicht an ihrem Ringfinger. »Ich bin Ruby Grace Barnett. Zeigen Sie mir heute mein Fass?«
»Das werde ich.« Ich nahm ihre Hand, ihre weiche Haut war wie Seide in meiner schwieligen, schmutzigen Handfläche.
Ihre Nase rümpfte sich, sobald sie ihre Hand zurückzog, und sie untersuchte sie auf Schmutz, während sie in ihre Tasche griff und eine kleine Tube Handdesinfektionsmittel herausholte.
»Ich warte schon ewig.« Sie spritzte einen Tropfen des Reinigers in ihre Hand und verrieb es mit der anderen. »Können wir anfangen?«
Ich schnaubte und verstaute meine Hände in den Taschen. »Natürlich. Ich bitte um Entschuldigung, Ma'am.«
Ich machte mich auf den Weg in Richtung des Lagerhauses, in dem unsere Einzelfässer gelagert wurden, ohne darauf zu achten, ob sie mir folgte. Ich hörte das Klacken ihrer Absätze hinter mir, ihre Schritte wurden schneller, um mich einzuholen.
»Ma'am«, wiederholte sie ungläubig. »So nennen die Leute meine Mutter.«
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte ich, ohne dass eine wirkliche Entschuldigung in meiner Stimme lag. »Möchten Sie lieber Miss genannt werden?«
»Definitiv«, sagte sie und schob sich an meine Seite. Ihre Knöchel wackelten ein wenig, als wir die Schotterstraße erreichten. »Gibt es … gehen wir den ganzen Weg zu Fuß?«
Ich beäugte ihr Schuhwerk. »Das tun wir. Schaffen Sie das?«
In Wahrheit hatten wir einen Golfwagen speziell dafür reserviert, unsere Kunden ganz gemütlich zu den einzelnen Fässern zu bringen. Eigentlich wusste ich, dass ich ihn nehmen sollte. Miss Barnett war eine potenzielle Käuferin. Aber die Art und Weise, wie Lucy auf die Erwähnung ihres Namens reagiert hatte, und die Art, wie dieses Mädchen bei meinem Anblick die Lippen verzogen hatte, reichte aus, um mich den Wagen vergessen zu lassen.
Die kleine Miss Ruby Grace konnte in den Absätzen laufen, auf denen sie so gern stolzierte.
Sie verengte ihre Augen angesichts meiner Vermutung. »Ich schaffe das schon. Ich bin nur überrascht, dass Sie keine … Optionen für Ihre Kundinnen haben. Vor allem, wenn man den Preis des Produkts beachtet, nach dem ich mich erkundigen möchte.«
Die Worte klangen seltsam, als sie sie aussprach, mit einer gewissen Arroganz, die jedoch durch ihren Tennessee-Slang gemildert wurde. Es war, als wäre sie immer noch ein kleines Mädchen, das sich mit den Stöckelschuhen ihrer Mutter verkleidete und versuchte, älter zu sein als sie war.
Ich hielt abrupt an, und Ruby Grace wäre fast in mich hineingelaufen, bevor sich ihre Absätze in den Kies gruben.
»Ich könnte Sie tragen«, bot ich an und streckte meine Arme aus.
Ihr kleiner Mund klappte auf, ihr Blick glitt über mein schmutziges T-Shirt. Obwohl sie mich wie eine Schlammpfütze anstarrte, um die sie sich herum manövrieren musste, bemerkte ich den leicht rosigen Schimmer auf ihren Wangen, das Wippen ihres Kehlkopfes, als sie schluckte.
»Sie brauchen mich nicht zu tragen, Sir.« Sie rückte die Tasche auf ihrer Schulter zurecht. »Wie heißen Sie eigentlich?«
»Spielt das eine Rolle?« Ich lief weiter, und sie beeilte sich, mich einzuholen.
»Was soll das heißen?«
Es bedeutet, dass ich weiß, dass mein Name dir völlig egal ist und du ihn vergessen wirst, sobald du diese Brennerei verlässt und in deine kleine Silberlöffelwelt zurückkehrst.
Ich seufzte und biss mir auf die Zunge, um kein Arschloch zu sein. »Noah.«
»Noah«, wiederholte sie und presste danach ihre Lippen aufeinander, als würde sie jede Silbe meines Namens schmecken. »Schön, dich kennenzulernen.«
Ich reagierte nicht und griff stattdessen nach vorn, um die Tür des Lagerhauses aufzuschließen. Sobald das Schloss einrastete, riss ich sie auf und gab Ruby Grace ein Zeichen, einzutreten.
Sie trat durch den Türrahmen und schob ihre Brille auf den Kopf, während sich ihre Augen an das schummrige Licht gewöhnten. Der deutliche Geruch von Eiche und Hefe umgab uns, und als sich die Tür schloss, sah Ruby Grace mich mit großen, neugierigen Augen an.
»Warte«, sagte sie, als ich noch ein paar Lichter anknipste. »Du bist Noah Becker, nicht wahr?«
Die Haut an meinem Hals kribbelte bei der Art, wie sie meinen Nachnamen aussprach, als ob er in ihren Augen mehr über mich aussagte als meine schmutzige Kleidung.
»Und wenn ich es wäre?« Ich drehte mich zu ihr um, und sie war so nah, dass ihre Brust fast meine berührte. Sie war immer noch ein paar Zentimeter kleiner als ich, sogar mit ihren Absätzen, aber ihre Augen trafen meine selbstbewusst.
»Oh, es tut mir leid«, sagte sie und machte einen zaghaften Schritt zurück. »Ich habe es nicht böse gemeint. Es ist nur so, dass ich in der Kirche immer hinter dir gesessen habe. Als ich noch klein war.« Ihre Wangen flammten auf. »Wir haben dieses Spiel gespielt … ach, vergiss es. Ich komme mir so dumm vor.« Sie winkte ab und trat mit gesenktem Kopf noch ein Stück weiter weg. Dann stemmte sie die Hände in die Hüfte und wartete darauf, dass ich etwas sagte, um sie durch die riesigen Reihen von Fässern zu führen, aber ich starrte sie nur an.
Es war, als würde ich sie zum ersten Mal sehen.
Diese Entschuldigung, diese Selbsterkenntnis, sie war echt und wahrhaftig. Es war das junge Mädchen, das sie wirklich war, das durch die Fassade schlüpfte, die sie so gut gemalt hatte.
Und ich lächelte.
Denn ich erinnerte mich.
Ich war mir nicht sicher, wie ich nicht eins und eins hatte zusammenzählen können, aber andererseits, wie hätte ich die umwerfende, elegante Frau vor mir als dasselbe sommersprossige Kind erkennen können, das immer gegen die Lehne meiner Kirchenbank getreten hatte? Damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, und ich achtzehn, frisch von der Highschool und in der Kirche genauso gelangweilt wie sie. Ich konnte mich nicht einmal mehr an das Spiel erinnern, das wir gespielt hatten. Nur daran, dass es sie so sehr zum Kichern gebracht hatte, dass ihre Mutter ihr mit ihrem aufgerollten Programmheft auf das Handgelenk geschlagen hatte.
Ich lächelte bei der Erinnerung daran, und dann wurde es mir klar. Ich hatte mir gerade eine Frau angeschaut, die in der Kirche immer das nervige, kleine Kind hinter mir gewesen war.
Das ist ein neues Level von erbärmlich, Becker.
»Du warst eine kleine Nervensäge«, sagte ich schließlich.
Ihre Augen weiteten sich und ein kleines Lächeln umspielte ihre Lippen. »Sagt ein Becker. Ihr Jungs seid berüchtigt dafür, Ärger zu machen.«
»Wir wollen Spaß haben.«
Sie lachte. »So könnte man es auch ausdrücken.«
Ihre Augen funkelten ein wenig unter der schwachen Beleuchtung, als sie mich auf eine neue Art beurteilte. Sie sah mich nicht an, als wäre ich schmutzig und unter ihrer Würde, sondern so, als wäre ich ein alter Freund, der sie an ihre Jugend erinnerte.
Sie war erst neunzehn, aber die Traurigkeit in ihren Augen sagte mir in diesem Moment, dass sie ihre Unschuld schon vor langer Zeit verloren hatte.
Ich merkte nicht, dass ich sie anstarrte, dass wir uns immer näher gekommen waren, bis sie sich räusperte und einen Schritt zurücktrat.
»Also«, sagte sie und betrachtete die Fässer. Sie waren dreißig hoch und hundert zurück gestapelt, jedes von ihnen reifte bis zum perfekten Geschmack. »Welches dieser Schönheiten ist meins?«
»Die Einzelfässer sind hier hinten«, sagte ich und führte uns eine der langen Reihen von Fässern entlang.
Ruby Graces Augen musterten die hölzernen Ungetüme, während wir weitergingen, und ich öffnete den Mund, um die üblichen Verkaufsargumente für ein einzelnes Fass anzuführen – wie limitiert sie waren, wie niemand sonst ein solches Fass Whiskey hatte, das so schmeckte wie ihres, wie jedes Fass anders gereift war, für unterschiedliche Zeiträume und bei unterschiedlichen Temperaturen. Aber die Worte erstarben in meinem Mund, bevor sie herauskommen konnten, stattdessen formte sich eine Frage.
»Du kaufst also ein Fass für deinen Verlobten, hm?«
Ihr Blick war immer noch auf die Fässer gerichtet, ihre Augenwinkel verzogen sich ein wenig, als ein Atemzug durch ihre geschürzten Lippen entwich. »Das stimmt.«
Ich betrachtete wieder ihren Ring. »Wann ist der große Tag?«
»Sonntag in sechs Wochen«, seufzte sie und fuhr mit den Fingern über das Holz, während ihre Absätze in dem sonst so stillen Lagerhaus klackerten.
Mir entfuhr ein beeindruckter Pfiff. »Das ist ziemlich bald. Bist du bereit?«
Ruby Grace blieb stehen, ihre Finger immer noch auf dem Holz, während sie mich mit gerunzelten Brauen musterte. »Was?«
Ich zog eine Braue hoch. Habe ich etwas Falsches gesagt?
»Für die Hochzeit? Um zu heiraten? Du weißt schon, dich für den Rest deines Lebens an jemanden zu binden, diese kleine Sache, zu der du ja gesagt hast?«
Sie schluckte. »Ich … das hat mich noch niemand gefragt.«
»Niemand hat dich gefragt, ob du bereit bist, zu heiraten?«
Sie schüttelte den Kopf.
Irgendwie fühlten sich die Reihen der Fässer plötzlich kleiner und enger an, als würden sie sich auf beiden Seiten von uns bewegen und uns Zentimeter für Zentimeter zusammenschieben.
Die Tatsache, dass ihr niemand diese entscheidende Frage gestellt hatte, war so falsch – zumindest in meinen Augen. Da war dieses junge Mädchen, noch nicht einmal zwanzig Jahre alt, noch nicht einmal annähernd in den besten Jahren, und sie wollte sich niederlassen. Das war weder in Stratford noch irgendwo sonst in Smalltown, USA, ungewöhnlich. Viele meiner Freunde hatten direkt nach der Highschool geheiratet. Die meisten von ihnen hatten Kinder bekommen, bevor sie überhaupt einen legalen Drink zu sich nehmen konnten.
Aber irgendetwas sagte mir, dass das nicht das war, was Ruby Grace sich vorgestellt hatte.
»Ich frage. Bist du bereit?«
Sie blinzelte, und es war, als ob dieses Blinzeln sie aus den Gedanken riss, die sie in ihrem Kopf umhergeschleudert hatte. Ohne zu antworten, ging sie weiter und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Ich beobachtete, wie sie versuchte, die gleiche Fassade aufzusetzen, die sie getragen hatte, als sie sich mir vorgestellt hatte. Sie wollte die Welt glauben lassen, dass sie souverän war – eine geschliffene Frau, eine würdevolle Dame, die sich nichts gefallen ließ.
Aber die Wahrheit war, dass sie auch noch ein Mädchen war. Sie war immer noch neunzehn. Wer gab ihr das Gefühl, dass das nicht in Ordnung war? Einfach ein neunzehnjähriges Mädchen zu sein, das noch nicht alles verstanden hatte?
»Natürlich«, antwortete sie schließlich. »Anthony ist großartig. Er ist älter als ich, fünfundzwanzig, um genau zu sein, und er ist so reif. Er hat gerade seinen Master in Politikwissenschaften in North Carolina gemacht. Dort haben wir uns kennengelernt«, sagte sie und neigte dabei ihren Kopf ein wenig zu mir. »Auf einer Party auf dem Campus. Er sagt, als er mich das erste Mal sah, wusste er, dass ich eines Tages seine Frau werden würde. Das ist so süß. Und er ist auf dem besten Weg, sein Leben lang in die Politik zu gehen.« Sie lächelte, konnte aber das leichte Zittern in ihrer Stimme nicht verbergen. »Die Verlobung ging ein bisschen schneller, als ich erwartet hatte … wir kennen uns erst seit einem Jahr. Aber ich denke, wenn man es weiß, weiß man es. Verstehst du?«
Ich lächelte, statt zu antworten.
»Und Mom war so aufgeregt, als wir unsere Verlobung bekannt gaben, dass sie die Hochzeit sofort ausrichten wollte. Es ist verrückt, wenn man weiß, dass wir in sechs Wochen die Arbeit eines ganzen Jahres zu erledigen haben. Aber sie hat sich um vieles gekümmert … Gott, diese Frau liebt Projekte.« Ihre Stimme wurde von einem leisen Lachen unterbrochen, bevor sie weitersprach. »Und Anthony ist genau das, was sich meine Familie für mich vorgestellt hat. Wir verstehen uns gut, weißt du? Wir haben so viel Spaß.«
Warum hatte ich das Gefühl, dass sie versuchte, mich zu überzeugen? Oder vielleicht war es ja auch sie selbst, die sie zu überzeugen versuchte.
»Und du liebst ihn«, betonte ich.
Sie hielt inne und blickte mir in die Augen, während sie eine Haarsträhne hinter ihr Ohr strich. »Genau. Und ich liebe ihn.«
Ich hätte sie den ganzen Tag lang anstarren und sie wie ein Rätsel entschlüsseln können, dessen Antwort auf der Hand lag, wenn ich nur lange genug darüber nachdachte. Aber sie veränderte sich unter meinem Blick, und ein Blick auf den Stein an ihrem Finger erinnerte mich daran, dass sie das Puzzle eines anderen war, das er zusammensetzen musste – nicht ich.
»Hier sind sie«, sagte ich und klopfte auf eines der Fässer an der Rückwand. Sie waren genauso hoch gestapelt wie der Rest. Jedes Fass war mit einer Chargennummer und einer exklusiven, vergoldeten Plakette versehen, auf der alle Details standen, wann es destilliert und befüllt worden war, in welchen Reihen es im Laufe der Zeit gelagert worden war und mehr.
»Es gibt so viele«, sagte sie und ließ ihren Blick schweifen. »Wie soll ich da eines auswählen? Soll ich nach etwas Bestimmtem suchen?«
Ich kratzte mich am Kinn. »In jedem einzelnen dieser Fässer steckt ein unglaublicher Whiskey. Ein Teil dessen, was den Kauf eines Einzelfasses so verlockend macht, ist die Tatsache, dass man einen einzigartigen Whiskey erhält«, sagte ich und erinnerte mich endlich daran, ihr die Rede zu halten, die ich zuvor aufgeschoben hatte. »Normalerweise lassen wir unsere potenziellen Käufer ein paar probieren, um zu vergleichen, aber …« Ich schmunzelte. »Es gibt da dieses ganze Debakel mit dem gesetzlichen Mindestalter.«
Ruby Grace lachte. »Oh. Ja. Das alte Ding.«
Sie schwankte von einem Fuß auf den anderen und zog eine Grimasse, als sie die Fässer betrachtete.
»Geht es dir gut?«
Ihr Gesicht verzog sich erneut, als sie ihr Körpergewicht auf den linken Fuß verlagerte. »Ja. Tut mir leid, es sind nur diese blöden Schuhe. Ich habe meiner Mutter gesagt, dass ich keine hohen Absätze tragen muss, um Whiskeyfässer zu inspizieren, aber sie war nicht damit einverstanden, dass ich Stiefel trage.«
Für den Bruchteil einer Sekunde stellte ich sie mir in Stiefeln vor. Ich fragte mich, ob das braune Leder unter ihrem Knie abschließen würde, ob ihre Oberschenkel in den Shorts, die sie mit diesen Stiefeln kombiniert hätte, noch besser zur Geltung gekommen wären. Oder hätte sie eine Jeans getragen, die ihre Beine ganz verdeckt hätte?
Hör auf, über ihre Beine nachzudenken, Becker.
»Zieh sie aus.«
Ihre Brauen hoben sich, und ihre Augen weiteten sich, als sie meine sahen.
»Was?«, fragte sie und lachte. »Ich kann doch nicht einfach meine Schuhe ausziehen.« Sie warf die Arme hoch und deutete auf unsere Umgebung. »Wir sind in einem alten, dreckigen Lagerhaus.«
»Du tust so, als wärst du nicht in einer alten, dreckigen Stadt geboren und aufgewachsen.«
»Ja«, sagte sie und verschränkte die Arme. »Ich habe ja nicht gerade in der Brennerei gearbeitet oder Kühe am Stadtrand gezüchtet, nicht wahr? Als Tochter des Bürgermeisters hat man ein etwas anderes Umfeld.«
Sie versuchte, zu lächeln, aber ein leiser Fluch verließ ihre Lippen, als sie ihr Gewicht wieder verlagerte.
Ohne zu zögern, griff ich nach dem Kragen meines T-Shirts, riss es mir über den Kopf und legte es zu ihren Füßen auf den Boden. »Hier«, sagte ich und hielt meine Hand hin. »Da kannst du dich draufstellen. Es ist zwar kein frisch polierter Marmorfußboden, aber deine kostbaren Füße sollten es überleben.«
Ruby Grace klappte der Kiefer auf, während ihre Augen über meinen Unterleib und meine Brust wanderten. »Ich …«
»Schuhe. Ausziehen.« Ich zeigte auf ihre Füße. »Wenn du das tust, lasse ich dich ein paar Fässer probieren. Aber sag es niemandem, schon gar nicht deinen Eltern.«
Sie gluckste, stieg aber schließlich aus ihren Heels heraus. Sie fielen auf die Seite, während ihr ein erleichterter Seufzer über die Lippen kam, und ich sah, wie sich ihre geröteten Zehen auf meinem T-Shirt kräuselten.
»Gott, das fühlt sich so viel besser an.«
Ich schüttelte den Kopf und griff hinter die erste Reihe der Fässer, um die Verkostungsgläser zu holen, die wir dort untergebracht hatten. »Bist du immer so stur?«
»Ich bin nicht stur.«
»Ich schätze, das ist meine Antwort«, sagte ich und schenkte einen kleinen Schluck aus einem der Fässer ein, bevor ich ihr den Whiskey hinhielt. »Hier. Nimm einen Schluck.«
»Oh, nein«, sagte sie schnell und schüttelte den Kopf. »Ist schon okay. Wie du gesagt hast, ich bin minderjährig.«
»Du hast also noch nie einen Schluck Alkohol getrunken?«, fragte ich herausfordernd.
Sie biss sich auf die Lippe. »Also … ich habe es getan, aber keinen Whiskey. Das ist ein Getränk für Männer.«
Darüber lachte ich mich kaputt. »Was ist das denn für ein Quatsch? Whiskey ist ein Getränk für Männer?« Ich schüttelte den Kopf. »Es ist Whiskey. Und zwar ein teurer Whiskey. Und ich versichere dir, er ist köstlich – ob du nun Brüste hast oder nicht.«
Ruby Grace wurde rot und biss sich auf die Lippe, um nicht zu lächeln. »Gott, tut mir leid. Ich klinge wie meine Mutter. Eigentlich jeden Tag mehr«, sinnierte sie und blickte auf ihre Zehen hinunter, bevor ihre Augen wieder das Glas in meiner Hand fanden. Ich schob es ihr zu. »Nur einen Schluck. Du wirst nicht einmal annähernd einen Rausch verspüren. Aber so kannst du den Unterschied zwischen einigen Fässern schmecken, die auf unterschiedliche Weise gereift sind.« Ich schluckte. »Dann kannst du dir das perfekte Fass für deinen zukünftigen Mann aussuchen.«
Sie zögerte, aber ihre Hand griff nach dem Gläschen. Unsere Fingerspitzen berührten sich nur leicht, gerade genug, um mich dazu zu bringen, meine eigene Hand wegzuziehen.
»Und hey, Bonus«, fuhr ich fort und schüttelte die peinliche Spannung ab. »Du kannst hier so ›unladylike‹ sein, wie du willst. Ich werde dich nicht verurteilen. Du kannst sogar rülpsen, wenn du dich wirklich wohlfühlst.«
Ruby Grace lachte und beäugte den Whiskey, als wäre sie sich immer noch nicht sicher, bevor sie mit den Schultern zuckte und das Glas in meine Richtung kippte. »Ach, was soll’s. Hoch die Tassen.«
Sie nahm einen Schluck, zog dann eine Grimasse und streckte die Zunge heraus, sobald sie geschluckt hatte.
»Gott, das ist ja furchtbar.« Sie schüttelte den Kopf und schob das Glas zurück in meine Richtung. »Das mache ich auf keinen Fall noch mal.«
Ich lachte und spülte das Glas mit einem Spritzer Wasser aus den Flaschen aus, die wir in der Nähe aufbewahrten, bevor ich es erneut mit Whiskey füllte.
»Okay, das war mein Fehler. Vielleicht hätte ich dir vorher sagen sollen, wie man ihn kostet.« Ich reichte es ihr wieder, obwohl sie es anstarrte, als wäre es Gift. »Riech erst mal dran.«
Sie tat, was ich sagte, und die Unsicherheit überschattete ihr Gesicht, als sie wieder in meine Richtung blickte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es richtig mache.«
»Du bist dir nicht sicher, ob du richtig riechst?«
Sie verengte ihre Augen. »Du weißt, was ich meine. Ich weiß … ich weiß nichts über dieses Zeug.«
»Ist schon gut, deshalb bin ich ja hier.« Ich trat näher an sie heran, nahm ihr das Glas aus der Hand, und als ich zur Demonstration einatmete, roch ich nicht den Whiskey, sondern sie.
Sie roch nach Lavendel, wie ein offenes Feld in der Hitze des Sommers.
»Sieh zu«, sagte ich und holte noch einmal tief Luft, diesmal konzentrierte ich mich auf den Whiskey. »Du riechst zuerst daran und fragst dich, was du riechst. Eiche? Vanille? Honig? Ahorn? Jeder Whiskey ist anders, je nachdem, wie er gereift ist, wie die Fässer verkohlt wurden. Schau, welche Noten du zuerst erkennen kannst. Und dann«, fuhr ich fort und nahm meinen ersten Schluck. Ich ließ ihn im Mund verweilen, schwenkte ihn eine Runde und schluckte dann vorsichtig. »Schmecke ihn. Schmecke ihn wirklich. Schmeckt er an der Zungenspitze anders als ganz hinten? Brennt es beim Runterschlucken, oder ist es nur warm? Und wie ist der Nachgeschmack?«
Ruby Grace beobachtete mich fasziniert, ihre Lippen spitzten sich sanft und ihr Blick fiel auf meine nackte Brust, wo ein kleiner Tropfen Whiskey gelandet war. Ich wischte ihn weg und reichte ihr das Glas wieder.
»Und jetzt du.«
Sie atmete tief ein, als ob sie sich konzentrieren müsste, um es richtig zu machen, und dann wiederholte sie meine Schritte. Und dieses Mal lächelte sie, als sie geschluckt hatte.
»Wow«, sagte sie. »Es ist anders, wenn man es nicht einfach wie einen Shot runterkippt.«
Ich gluckste. »Das ist kein Shot-Whiskey. Das ist Tennessee Sippin’ Whiskey«, sagte ich und zog meinen imaginären Hut. Ich steckte die Hände in die Taschen und nickte in Richtung des nächsten Fasses. »Nimm ein bisschen von dem da.«
»Kann ich es selbst einschenken?«
Ich nickte. »Dreh den Ausguss nur ein wenig, nicht zu sehr. Du brauchst nicht viel, um zu kosten.«
Sie zögerte, als sie einen Schluck in ihr Glas goss, dann leuchteten ihre Augen auf, und ein kleiner Freudenschrei entwich ihrem Mund. »Ich habe es geschafft!«
Und in den nächsten zehn Minuten sah ich zu, wie Ruby Grace wieder ein Mädchen wurde.
Sie war so weit entfernt von der rotzfrechen Frau, die mir bei unserer ersten Begegnung ihre Hand wie einen Preis angeboten hatte. Sie war einfach nur ein Teenager, eine Studentin im zweiten Studienjahr, die Whiskey trank, etwas Neues lernte und Spaß hatte.
Ich fragte mich, wann sie das letzte Mal Spaß gehabt hatte.
Ich fragte mich, ob sie überhaupt jemals Spaß gehabt hatte.
So wie sie aussah, als sie lachte, hoffte ich, dass sie Freude erlebt hatte. Ich hoffte, es war nicht das erste Mal, dass dieses Lachen echt war, das erste Mal, dass dieses Geräusch seinen Weg in unsere Welt fand. Sie lachte so, wie der Wind wehte – leise und dann auf einmal laut, ohne sich dafür zu schämen, wie dieser Klang die Atmosphäre um sie herum dauerhaft verändern konnte.
Als sie sich für das gewünschte Fass entschieden hatte, schlüpfte Ruby Grace bedauernd in ihre Schuhe, und ich zog mein T-Shirt wieder an, bevor ich uns aus dem Lagerhaus in Richtung des Empfangszentrums führte.
»Also«, sagte ich und ging langsam, damit sie sich auf dem Weg zurück zu ihrem Auto nicht die Knöchel brach. »Was sind Anthonys Pläne, wenn du im Herbst wieder zur Uni gehst?«
»Was meinst du?«
»Zieht ihr zusammen und er nimmt dort einen Job an? Oder führt ihr für eine Weile eine Fernbeziehung?«
Sie lachte, ihr Haar fiel ihr ein wenig ins Gesicht, während sie unsere Füße beobachtete. »Ich gehe nicht zurück an die Uni.«
»Oh …« Ich hielt inne. »Willst du nicht?«
»Doch, schon … aber es hat keinen Sinn. Weißt du, was ich meine? Ich werde heiraten. Ich werde seine Frau sein, und ich werde so viel zu tun haben. Er ist bereits dabei, in die Politik einzusteigen, und er wird mich brauchen, um an seiner Seite zu sein, um Wahlkampf zu machen und Kontakte zu knüpfen und all das.« Sie zuckte mit den Schultern. »Dafür brauche ich eigentlich keinen Abschluss.«
»Ist es das, was du tun willst?«
»Es spielt keine Rolle, ob ich das tun will«, sagte sie schnell. »Es ist das, wozu ich gezüchtet wurde.«
»Gezüchtet?« Ich runzelte die Stirn. »Du bist kein Pferd. Du bist ein Mensch.«
Ruby Grace blieb mit einem abrupten Klacken ihrer Absätze stehen, als wir den Eingang des Welcome Centers erreichten, und verschränkte trotzig die Arme, als ihr Blick den meinen traf. Sie musste nicht einmal ein weiteres Wort sagen, damit ich wusste, dass ich den falschen Knopf gedrückt hatte und im Begriff war, dieselbe Frau in ihr zu wecken, die ich eine Stunde zuvor an dieser Stelle getroffen hatte.
»Hör zu, du weißt nichts über mich, okay? Oder meine Familie, oder was ich will oder was ich nicht will, also hör einfach auf, Vermutungen anzustellen.«
»Oh, sieh dich nur an«, schimpfte ich und machte einen Schritt auf sie zu. »Du benutzt schon wieder große Worte.«
Sie schnaubte. »Man sagt, dass sich nichts ändert, wenn man die Stadt verlässt und zurückkommt, ich schätze, du hast ihnen gerade recht gegeben.«
»Das ist mein Job«, schoss ich zurück. »Zu beweisen, dass die ominösen Leute recht haben. Ich bin froh, dass ich meine Aufgabe erledigen konnte.«
Wir waren einander verdammt nah, und die Flecken auf meinem cremefarbenen T-Shirt rebellierten gegen das strahlende Weiß ihres Kleides.
»Lucy wird dein Geld drinnen entgegennehmen«, sagte ich und nickte zu den Türen hinter ihr. »Herzlichen Glückwunsch zu eurer Verlobung.«
Ich drehte mich gerade um, als sich ihr Mund öffnete, aber ich schaute nicht zurück.
»Danke für die Verkostung«, sagte sie mit lauter und deutlicher Stimme.
»Sag es ruhig noch lauter, Prinzessin«, warf ich hinter mich. »Du würdest genauso in der Scheiße sitzen wie ich.«
Sie reagierte nicht darauf, und als ich doch noch einen Blick in ihre Richtung warf, glühte ihr niedliches Gesicht vor Wut, als sie die Tür zum Empfangszentrum aufriss.
Und ich konnte nicht anders – ich musste lachen.
Ich wollte sie nicht in meinem Kopf, aber verdammt noch mal, es hatte mir gefallen, diesem hübschen Vögelchen unter die Haut zu gehen.
»Igitt!«
Ich umklammerte das Lenkrad meines Cabriolets fester und versuchte nicht einmal, mein Haar zu bändigen. Mom würde sich ärgern, dass ich es durcheinandergebracht hatte, nachdem sie es an diesem Morgen gestylt hatte, aber das war mir egal.
Ich brauchte den Wind, um meine Wut wegzublasen.
»Sieh mal an, du benutzt schon wieder große Worte«, spottete ich in meiner besten Noah-Becker-Stimme.
Ich lenkte den Wagen um die nächste Kurve und machte eine weitere Runde durch die Stadt. Ich war noch nicht bereit, nach Hause zu fahren, war noch nicht bereit dafür, dass Mom mich mit tausend Fragen überhäufte, was für Blumen ich wollte und ob ich Schleifen oder Schnüre an den Lehnen der Stühle haben wollte. Ich war noch nicht einmal zwei Tage vom College zurück, und sie machte mich schon wahnsinnig.
Mir wurde ganz flau im Magen bei dem Gedanken an die University of North Carolina, an die Uni, die ich hatte besuchen wollen, seit ich mit meiner besten Freundin einen Roadtrip dorthin gemacht hatte, als wir sechzehn gewesen waren. Ich war angenommen worden, und mein erstes Jahr dort war genau so gewesen, wie ich es mir erhofft hatte.
Aber ich würde nicht zurückkehren.
»Ach, du willst nicht?«
Noahs Stimme traf mich wieder, als wäre sie der Tischtennisball und ich der Schläger, der ihn gegen die Wand schlug.
Ich seufzte und ein weiteres Wimmern der Frustration durchfuhr mich, während ich meine linke Hand über den Rand meiner Tür hängen ließ. Ich verlangsamte das Tempo, als ich auf die Hauptstraße einbog, denn ich wollte keinem der Kleinstadtpolizisten einen Grund geben, mir einen Strafzettel zu verpassen.
Gott weiß, warum sie so gelangweilt waren, dass es nicht viel brauchte, um angehalten zu werden.
Ich war mir nicht einmal sicher, warum ich so verärgert und frustriert über Noah war. Er hatte sich nur unterhalten und Fragen gestellt – aber es waren Fragen, die niemand sonst gestellt hatte. Und was noch schlimmer war: Es waren Fragen, auf die ich keine Antworten hatte – zumindest keine vernünftigen Antworten.