Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ein Putsch erschüttert am 15. Juli 2016 die gesamte Türkei, und Eren Hazar ist mittendrin. Der ambitionierte Leutnant — ruhelos und kampferprobt — ist ein Mitstreiter jener, die aufbegehren. Auf einer der Bosperusbrücken in Istanbul hält er an diesem Abend die Stellung, bis eine neue Mission ihn und sein Team tief ins Herz der Stadt führt. Ihr Ziel ist niemand geringerer als der Präsident, und die Fahrt dorthin bleibt nicht ohne Gefahren. Zu spät realisieren die Soldaten die Aussichtslosigkeit ihres Bestrebens; jemand arbeitet gegen sie. Aber Unterstützung ist bereits auf dem Weg, in Gestalt eines unerwarteten Verbündeten.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 520
Veröffentlichungsjahr: 2023
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Fabian Besecke
Operation Schaitan
—
Der Telekinet
Impressum
Copyright © 2023 Fabian Besecke
Alle Rechte vorbehalten
Fabian Besecke
Grambker Dorfstraße 12
28719 Bremen, Deutschland
E-Mail: [email protected]
@_besecke auf Twitter und Instagram
Coverdesign: Noel Sellon
13-stellige ISBN: 9798850744717
Independently published
Inhalt
Die Brücke der Märtyrer
Komplikationen
Ein verbitterter alter Narr
Planung
Operation Schaitan
Entscheidungen
Die richtige Seite
Ein konstantes Rauschen
Traumberufung
Sahins offene Worte
Der ausführliche Bericht
Das hypothetische Ende der Menschheit
Aufbruch
Erhitzte Gemüter
Furchtlos
Flucht aus Ankara
Kollision
Entschlossene Offensive
Solaks ehrliche Worte
Antworten
Fortschritt
Keine Zeit verschwenden
Nachtschicht
Rückkehr
Vorstoß im Innenhof
Massaker
Traurige Offenbarungen
Ein mordender Narr
Erwachen
Prolog
Die Sonne neigte sich langsam dem Horizont zu, als Istanbul am Abend des 15. Juli 2016 in einem Verkehrschaos versank. Kilometerlange Staus erstreckten sich von den majestätischen Bosperusbrücken bis tief in das Herz der Stadt und ließen hunderte von Autofahrern gefangen in einer träge dahinziehenden Kolonne zurück.
Frustriert und gereizt verließen viele von ihnen ihre Fahrzeuge, in der Hoffnung, einen Blick auf die Ursache des Stillstands zu erhaschen. Die meisten taten dies jedoch vergeblich. Lediglich jene in den ersten 300 Metern sahen, wer ihnen da den Weg versperrte.
In allen drei Fällen waren es Soldaten des Türkischen Militärs, schwer bewaffnet und begleitet von mächtigen Kampfpanzern, die ihre Kanonenrohre mahnend über die Automassen schweifen ließen.
Einige Soldaten hielten sich an den provisorischen Absperrungen auf und versuchten den aufgebrachten Fahrern in knappen Worten die Situation zu erklären. Der Rest der Truppen hatte sich im Hintergrund verstreut, war in ruhige Gespräche verfallen oder lehnte an den Kampfpanzern. Doch alle hielten sie stets ihre Waffen in den Händen und waren bereit für eine mögliche Konfrontation.
Den Zivilisten war ihre Anwesenheit zur Feierabendzeit ein Rätsel. Sie fürchteten sich, auch wenn sie noch nicht wussten, vor wem, und so breiteten sich die Spekulationen wie Lauffeuer aus.
Gab es mal wieder einen Terrorangriff? War ein Schwerverbrecher entkommen und machte die Stadt unsicher? Oder gab es gar eine kriegerische Handlung? Die angespannte Situation mit den Kurden war niemandem ein Geheimnis und auch der IS stand seit dem stetigen Machtgewinn in Syrien nahezu vor der Haustür. Aber von solchen Vorfällen hätten sie doch bereits erfahren.
Nein, es musste etwas anderes vor sich gehen. Und so grübelten die Bürger Istanbuls weiter über das Auftauchen der Soldaten, bis ihnen die ersten Meldungen im Internet und Radio schließlich die Augen öffneten. Denn die Brücken waren nicht die einzigen Orte, die vom Militär abgeriegelt worden waren.
Überall in der Türkei, an den wichtigsten Staatsgebäuden, den Hauptverkehrsadern und großen Zufahrtsstraßen, begannen Soldaten ihre Positionen einzunehmen. Bis zu 30 Mann pro Einheit, unterstützt von Mannschaftswagen, Panzern und schweren Jeeps mit montierten Maschinengewehren. Ihre Absichten blieben nicht lange im Verborgenen: Das Land befand sich mitten in einem Putschversuch.
Eren Hazar war der befehlshabende Leutnant über einen Trupp Soldaten, stationiert auf einer der Bosperusbrücken in Istanbul. Seit über 10 Jahren diente er bereits im türkischen Militär und hatte in dieser Zeit jeden Auftrag mit vollster Zufriedenheit seiner Vorgesetzten ausgeführt.
Mit seinen 29 Jahren stand er noch am Anfang seiner militärischen Laufbahn, auch wenn er sich in der jetzigen Situation seiner Zukunft nicht mehr allzu gewiss war.
Unter seinen Kameraden war er bekannt dafür, keiner Konfrontation aus dem Weg zu gehen, wovon seine vier Auslandseinsätze zeugten — alle im Auftrag der Nato. Es war weder die Lust am Töten, die ihn dazu trieb, noch ein innerer Todeswunsch; vielmehr sah er es als seine Pflicht an, dort zu helfen, wo er konnte.
Nun stand er nachdenklich hinter seinen Soldaten, die darum bemüht waren, den aufgebrachten Autofahrern den Grund für ihre Anwesenheit zu erklären. Wüste Beschimpfungen blieben dabei nicht aus, aber die Putschisten verhielten sich ruhig, stets bemüht um Deeskalation.
Eren Hazar starrte abwesend die Straße hinunter, sah, wie sich die Abendsonne auf den Dutzenden von Autodächern vor ihm spiegelte. Das tieforangene Licht blendete ihn leicht, aber daran störte er sich nicht. Für einen Moment gelang es ihm, die Geräusche aus seiner Umgebung auszublenden und sich in dem Anblick zu verlieren.
Vier Einsätze als Mitglied der türkischen Armee und doch war dieser Putsch, dieser Widerstand gegen die Regierung sein erster Dienst für das Volk. Natürlich hatten seine Aufträge im Libanon, und später in Afghanistan, der Stabilisierung des Nahen Ostens und damit auch dem Schutz der Heimat gegolten. Aber dieser Aufstand war doch etwas ganz anderes. Er war bei Weitem das wichtigste Ereignis seines Lebens. Eine direkte Chance auf eine dringend nötige Kurskorrektur, davon war der Leutnant überzeugt; er musste es sein.
Ein lautes Knacken ertönte aus seinem Funkgerät und schrak ihn aus seinen Gedanken. »Oberst Kaplan an Leutnant Hazar, bitte kommen«, schrillte es aus dem kleinen Kasten an seinem Gürtel.
Eren fluchte leise, verärgert über seine Unaufmerksamkeit. Er griff nach seinem Funkgerät. »Hier Eren Hazar«, antwortete er mit fester Stimme, »Was kann ich für Sie tun, Sir?«
Kaplan verlor keine Zeit: »Major Solak stößt im Zentrum auf stärkeren Widerstand als gedacht. Nicht nur, dass sich die Polizei geschlossen gegen uns stellt, sie geht dabei auch noch weitaus strukturierter vor als wir gehofft hatten. Leutnant, Sie müssen Operation Schaitan übernehmen, ich habe keinen anderen so fähigen Mann zur Verfügung. Wählen Sie vier Ihrer besten Mitstreiter aus, schnappen Sie sich einen Jeep und fahren Sie in Richtung Stadtzentrum. Wenn Sie unterwegs sind, kontaktieren Sie den Major, er wird Ihnen alle nötigen Informationen geben.«
Eren schluckte schwer. Er wusste, was da gerade von ihm verlangt wurde.
»Haben Sie verstanden, Leutnant?«, tönte es aus dem Gerät in seinen Händen.
»J-jawohl«, stammelte Eren.
»Sind Sie sich sicher, dass Sie zu allem bereit sind, wenn es darauf ankommt?«
»Jawohl, Herr Oberst«, antwortete er, diesmal mit kräftigerer Stimme.
»Gut, dann machen Sie sich unverzüglich auf den Weg. Ich werde noch ein paar Teams von anderen Posten abziehen und zu Ihrer Verstärkung senden, aber versprechen Sie sich nicht zu viel. Unsere Bewegung hat bei Weitem nicht genug Mitstreiter gewonnen, um einen Erfolg zu garantieren. Die Lage hier in Ankara ist bis jetzt überschaubar, aber ich weiß nicht, wie lange das noch so bleibt. Von Ihnen hängt also sehr viel ab, Leutnant, ich zähle auf Sie.«
Die letzten Worte des Obersts waren so voll trauriger Entschlossenheit, dass sie Eren einen kalten Schauer über den Rücken jagten. Einmal noch bestätigte er die Worte Kaplans, dann steckte er das Funkgerät zurück an seinen Gürtel.
Oberst Kaplan war ein berühmter Mann im türkischen Militär. Schon 1980 hatte er sich als junger Soldat an dem damaligen Machtwechsel beteiligt und sich nichts mehr als Frieden und Fortschritt für sein Land gewünscht. Und so war es für ihn eine Qual gewesen, den politischen Rückschritt der letzten Jahre zu erdulden, unfähig etwas zu tun.
Als die Kunde eines geplanten Putsches bis zu ihm vorgedrungen war, hatte er seine Entscheidung schnell getroffen. Binnen eines Tages hatte der alte Soldat sich dazu bereit erklärt, die Streitkräfte persönlich zu koordinieren und sich nicht, wie die Generäle, in einem Schutzraum zu verkriechen und auf den nächsten Morgen zu warten. Für diese Entscheidung respektierten die Putschisten ihn sehr, mehr als ohnehin schon. Und Kaplans Willensstärke war auch einer der Gründe, weshalb Eren heute Abend hier stand, bereit, für ihre Sache zu kämpfen.
Für den Leutnant gab es dabei nur zwei mögliche Szenarien. Entweder sie waren siegreich und stürzten die Regierung oder er würde wohl bei dem Versuch sterben. Sein halbes Leben in einem Militärgefängnis zu verbringen, eingepfercht auf wenige Quadratmeter, war einfach keine Option.
Angestrengt fuhr er sich mit einer Hand durch seine mittellangen, tiefschwarzen Haare und klopfte sich ein paar Male mit der flachen Hand auf den Hinterkopf, als wollte er sich all seine Sorgen aus dem Gehirn schlagen. Jetzt war nicht der Zeitpunkt für emotionale Ausbrüche. Für die nächsten Stunden musste er sich voll und ganz auf seine Aufgaben als Anführer konzentrieren.
»Duman, Yelken!«, rief er in Richtung Absperrung. Die beiden Soldaten drehten sich sofort um und schauten ihren Vorgesetzten fragend an.
Eren winkte sie mit einer kurzen Handbewegung zu sich. »Major Solak stößt im Stadtzentrum auf einigen Widerstand«, begann er, »Deshalb hat mich Oberst Kaplan soeben zum neuen ausführenden Befehlshaber von Operation Schaitan ernannt.«
Duman schnappte überrascht nach Luft: »Aber da geht’s doch um den Präsidenten!«
»So ist es«, bestätigte Eren gefasst, »Ich werde mit vier Mann und einem Jeep in Richtung Zentrum aufbrechen. Yelken, Sie sind mein Fahrer für diese Mission.«
Ahmed Yelken, der Jüngste aus Erens Trupp, nickte zum Verständnis und presste seine Lippen fest aufeinander.
Eren spürte die Anspannung in dem jungen Soldaten und legte ihm aufmunternd eine Hand auf die Schulter. »Ich habe von Ihrem Ausbilder gehört, dass Sie die schnellste Reaktionszeit Ihres Jahrgangs besitzen. Sie werden Ihren Job schon gut machen. Ach und sagen Sie bitte Oya, Karatas und Melek, dass sie sich ebenfalls bereit machen sollen. Abfahrt ist in fünf Minuten.«
»Danke, Sir; mach ich, Sir«, brachte Yelken hervor, dann verschwand er zu den Fahrzeugen.
»Duman«, wandte Eren sich an den zweiten Soldaten.
Als Unteroffizier hatte dieser den nächsthöchsten Rang und damit auch die Befehlsgewalt, sobald Eren verschwunden war.
»Sie sorgen dafür, dass alles so weiterläuft wie bisher. Bei Problemen, und vor allem, bevor Sie je einen Feuerbefehl erteilen, kontaktieren sie Major Solak; wenn dieser nicht erreichbar ist, dann Oberst Kaplan. Eröffnen Sie unter keinen Umständen eigenmächtig das Feuer — außer wenn es um das Leben eines Soldaten geht. Haben Sie verstanden?«
»Natürlich, Leutnant«, sagte Duman und salutierte vor seinem Vorgesetzten, »Viel Erfolg.«
Eren erwiderte die Geste und reichte ihm anschließend noch die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns morgen wieder«, sagte er und machte sich ebenfalls auf den Weg zu den Fahrzeugen.
Ein kurzer Blick auf seine Uhr, dann schwang er sich auf den Beifahrersitz eines der hohen offenen Geländefahrzeuge. 21:33 Uhr, wenn sie gut durchkamen, konnten sie bereits um 22 Uhr ihre Mission starten.
Neben ihm hatte Ahmed Yelken seinen Platz als Fahrer eingenommen. Akribisch kontrollierte er alle Anzeigen und Spiegel, wie ein nervöser Fahrschüler, der kurz vor seiner Prüfung stand.
Faruk Oya, Cihat Melek und Hamit Karatas beluden den Jeep mit einer Munitionsbox und einiger Ausrüstung, dann setzten sie sich der Reihe nach auf die Rückbank.
»Bereit?«, fragte Eren, während die Männer ihre Helme aufsetzten.
»Bereit«, antworteten sie im Chor.
»Gut, dann Kommunikation einschalten und Klappe halten. Die Einzelheiten unserer Mission erfahren wir während der Fahrt.« Mit diesen Worten wandte er sich zu Ahmed Yelken, der mit beiden Händen das Lenkrad umfasst hatte. »Also dann«, sagte Eren und atmete tief ein, »Fahren wir.«
Die Sonne verschwand gerade hinter dem Horizont im Westen, als der Jeep die Bosperusbrücke verließ. Eren schätzte den ersten Abschnitt der Fahrt als den sichersten ein und entschied sich daher, die Zeit für sein Briefing und das anschließende Gespräch mit Major Solak zu nutzen.
»Wachsam sein und zuhören«, befahl er in das kleine Mikrofon an seinem Hals und machte eine kurze Pause. Als er sich der Aufmerksamkeit seiner Kameraden sicher war, fuhr er fort. »Mir wurde vor wenigen Minuten von Oberst Kaplan persönlich das Kommando über Operation Schaitan erteilt. Das Ziel dieser Operation ist es, den Präsidenten der Türkei zu orten und in Gewahrsam zu nehmen.«
Wieder machte er eine Pause und wartete die Reaktionen der Soldaten ab; jedoch gab es keine. Ob es die Anspannung oder ihre Disziplin war, die sie zum Schweigen anhielt, konnte Eren nicht sagen, aber es machte auch kaum einen Unterschied.
»Wir werden uns vor Ort mit weiteren Einheiten treffen und hoffentlich einige Informationen über die Umgebung erhalten.«
Hamit Karatas, der ganz rechts, direkt hinter Eren saß, wirkte besonders angespannt. Seine Hände pressten sich fest um den Lauf seiner Waffe und seine Augen starrten unablässig auf die Mündung. Er war der einzige Abkömmling aus einer Familie, die seit vielen Generationen im Militär diente und es dort mitunter weit gebracht hatte. Sein Vater, General Örnek Karatas, war ebenfalls ein Mitglied der Putschisten.
Er galt als Mittelsmann zwischen den Divisionen im Einsatz
— allen voran Oberst Kaplan — und jenen hohen Militärs und Regierungsmitgliedern, die den Staatsstreich unterstützten, jedoch lieber im Verborgenen blieben. Für Hamit Karatas war es eine Last, diesen Namen zu tragen, begleitet mit all den Erwartungen, die man an ihn hatte. Und vor allem jetzt gerade fühlte er sich, als wären viele Augen auf ihn gerichtet. Er war einer der Ersten gewesen, die von dem Vorhaben erfahren hatten, direkt von seinem Vater, und er hatte keine Minute damit verschwendet, eine Entscheidung zu treffen.
»Leutnant Hazar ruft Major Solak, bitte kommen.«
Erens Worte beförderten Karatas wieder in die Gegenwart.
Einen Moment lang war in dem Jeep nur ein Rauschen zu vernehmen, dann meldete sich eine tiefe, kratzige Stimme: »Hier spricht Solak, ich habe bereits auf Ihren Anruf gewartet. Freut mich, Sie dabei zu haben, Leutnant. Kann ich direkt beginnen?«
»Ich habe Sie an alle Anwesenden durchgestellt«, bestätigte Eren, »Sprechen Sie, Major.«
»Gut, dann hören Sie genau zu, denn ich werde mich nicht wiederholen. Bis vor einer halben Stunde waren uns drei mögliche Aufenthaltsorte des Präsidenten bekannt. Aufgrund einiger vertraulicher Quellen konnten wir mittlerweile zwei dieser Orte ausschließen. Wir haben sicherheitshalber Erkundungsteams geschickt und — wie zu erwarten — keine Aktivitäten entdeckt. Übrig bleibt die private Winterresidenz des Präsidenten, ein beachtliches Anwesen im Norden der Stadt. Die genauen Koordinaten sende ich Ihnen jetzt zu.«
Ahmed Yelken, der Fahrer des Wagens, drückte einige Male auf dem Bildschirm des Navigationsgerätes herum, bevor eine detaillierte Wegbeschreibung darauf erschien.
»Empfangen«, bestätigte Eren in sein Mikrofon.
Solak fuhr fort: »Sie werden sich mit zwei weiteren Teams an der Südseite des Geländes treffen. Auf der Seite befindet sich auch der Haupteingang. Wenn Sie vor Ort ankommen, wird sich das Beobachterteam mit Ihnen in Verbindung setzen. Die haben seit zwei Stunden alle Ausgänge im Blick und können Ihnen eventuell zusätzliche, wichtige Informationen liefern. Ich werde mich währenddessen darum bemühen mit Luftunterstützung nachzukommen, sobald sich die Situation beruhigt hat. Für den Moment wird die Nutzung des Überraschungsmoments jedoch wohl Ihre vielversprechendste Vorgehensweise sein. Die Einsatzplanung überlasse ich komplett Ihnen, Leutnant, nur denken Sie daran, wir wollen den Präsidenten lebend, also richten Sie bitte kein allzu großes Blutbad an.«
»Ich verstehe«, antwortete Eren, »Wir werden unser Bestes geben.«
»Hoffen wir, das ist genug«, sagte Major Solak mit beschwörender Stimme, »Und eines noch, Leutnant. Bleiben Sie bei Ihrer Fahrt durch die Stadt so lange wie möglich auf den Hauptstraßen. Die halbe Bevölkerung scheint auf den Beinen zu sein und viele sind nicht gerade erfreut über unsere Anwesenheit. Halten Sie also stets die Augen offen und feuern Sie bei Bedarf einige Warnschüsse ab. Ihr Auftrag ist zu wichtig, als dass Sie sich von ein paar wütenden Zivilisten aufhalten lassen dürfen. Bei Zwischenfällen funken Sie mich umgehend auf dieser Frequenz an, ich werde dann den nächstmöglichen Posten verständigen.«
Noch einmal bestätigte Eren die Worte des Majors, dann war das Gespräch beendet. Er schaute auf den kleinen Bildschirm am Armaturenbrett und studierte die Karte, die dort zu sehen war. Sein zweiter Blick fiel auf die Uhr an seinem Arm; 21:41 Uhr, sie lagen gut in der Zeit.
Die Streckenabschnitte zwischen den Brücken und dem Stadtzentrum waren derzeit die am dichtesten befahrenen Straßen in ganz Istanbul. Viele Arbeiter aus den äußeren Bezirken waren in den schier endlos langen Stau geraten und konnten nichts anderes tun, als abzuwarten.
An der großen Kreuzung, die Eren und seine Männer auf den Barbaros Boulevard bringen würde, passierten sie eine der zahlreichen Straßensperren; errichtet von ihren Mitstreitern. Eilig liefen die Soldaten zwischen stehenden Autos auf und ab, dirigierten, kontrollierten und beruhigten die bisweilen noch immer ahnungslosen Bürger. Ein Auge war dabei stets auf ihre Umgebung gerichtet.
Einer der Kontrolleure, bewaffnet mit Taschenlampe und Klemmbrett, näherte sich dem Jeep und leuchtete einen Moment lang auf die Front des Vehikels. Mit einer halbherzigen Handbewegung gestattete er den Männern Erens die Weiterfahrt. Ahmed Yelken blickte leicht verwirrt zu seinem Leutnant, der ihn nachsichtig anlächelte.
»Fahren Sie, Yelken«, sagte Eren und hob die rechte Hand in einladender Geste. »Alle Wagen, die sich heute im Einsatz befinden, haben eine geheime Markierung auf der Stoßstange. Eine kleine Sicherheitsvorkehrung, falls man versuchen sollte, uns zu unterwandern.«
»Davon wusste ich nichts«, hauchte Yelken verwundert.
Eren schmunzelte: »Deshalb auch "geheime Markierung".«
»Macht aber Sinn so etwas«, antwortete der Soldat nach kurzer Überlegung.
»Das tut es, Yelken. Kaum zu glauben, aber manchmal haben die da oben doch ganz gute Ideen.«
Der Barbaros Boulevard, der sie weiter in den Norden brachte, war größtenteils frei von Fahrzeugen. Früh war er von den Putschisten abgesperrt worden und wurde nun lediglich von Fußgängern überquert. Viele von ihnen flohen vor den Auseinandersetzungen in der Innenstadt, während andere — vor allem junge — Männer sich genau dahin auf den Weg machten. Ob Sie dies aus reiner Neugier taten oder noch andere Absichten hegten, konnte Eren nicht genau sagen, weshalb er zur Sicherheit eine erhöhte Wachsamkeit anordnete.
Einige hundert Meter weiter die Straße hinauf ging der Barbaros Boulevard in die Büyükdere Avenue über. Von vielen Unternehmen als Standort auserkoren, reihten sich hier dutzende Wolkenkratzer aneinander. Wie riesige Stacheln ragten sie weit in den bewölkten Abendhimmel hinauf und zählten zweifellos zu den eindrucksvollsten und modernsten Bauten der Stadt.
Der nächtliche Trubel, für den dieser Ort bekannt war, blieb an diesem Tag jedoch aus; die sonst mit Touristen gefüllten Bürgersteige waren gespenstig leer.
Eren kam dieser Umstand mehr als gelegen. Auch wenn es etwas Unheimliches an sich hatte; jeder ereignislose Meter, den sie zurücklegten, half den Soldaten, sich auf das vorzubereiten, was noch kommen mochte.
Kurz vor dem nächsten Richtungswechsel meldete sich Ahmed Yelken zu Wort:» Sir, ich habe einen Vorschlag für eine Alternativroute.« Der Fahrer des kleinen Trupps strich mit seinem Zeigefinger leicht über den Bildschirm des Navigationsgerätes, wodurch sich die Karte weiter in den Norden verschob. »Wenn wir dem Straßenverlauf noch etwas weiter folgen, dann können wir einige der engen Seitenstraßen umfahren. Die Strecke ist zwar länger als die bisherige, dafür aber wahrscheinlich sicherer.« Yelken tippte kurz auf den Bildschirm und markierte die von ihm vorgeschlagene Straße.
Viel Zeit blieb Eren nicht, um eine Entscheidung zu treffen. In weniger als 200 Metern würde ihre bisherige Route sie von der Hauptstraße hinunter in ein Geflecht aus engen Gassen führen, umgeben von meist mehrstöckigen Wohnhäusern. Eine Vorstellung, bei der dem Leutnant mulmig zumute wurde. Und so vertraute er seinem Fahrer, der sich sofort daran machte, den neuen Weg einzugeben. Was waren schon zwei Minuten mehr Fahrtzeit, wenn sie dafür unversehrt ankamen.
Um 21:47 Uhr bog der Jeep in die Sultan Selim Straße ein. Auch wenn diese deutlich schmaler war als die Büyükdere Avenue, bot sie immerhin noch eine akzeptable Einsicht. Die breiten Bürgersteige und hell leuchtenden Straßenlaternen machten einen überraschenden Angriff beinahe unmöglich. Etwa einen Kilometer fuhren sie so in westlicher Richtung, bevor Yelken das Fahrzeug in die erste enge Seitenstraße lenkte und es augenblicklich dunkler wurde um sie herum.
»Karatas, rechte Seite, Melek links«, brummte Eren in die Stille hinein, »Oya, Sie behalten die Dächer im Auge.«
Faruk Oya, der Stämmigste der fünf Anwesenden, saß in der Mitte der Rückbank. Er bestätigte den Befehl brummend und lehnte sich tief in das Sitzpolster. Sein massiger Kopf ragte sich weit nach oben und seine Augen zuckten angestrengt von einer Seite zur anderen.
Unaufhörlich waren in der Ferne Geräusche zu vernehmen. Einzelne Stimmen schallten durch die Luft, Schüsse, dann ein lauter Knall. Es war schwer, zwischen Feuerwerkskörpern und Explosionen zu entscheiden. Mit jedem Meter, den sie vorrückten, mit jeder neuen Kreuzung, die sie passierten, stieg der Geräuschpegel um sie herum an.
Wie aus dem Nichts erhob sich schließlich ein Stimmenchor auf der rechten Seite. Erschrocken wirbelte Eren herum und starrte in eine der vielen Seitengassen hinein, konnte jedoch nichts erkennen. Ein zweites Mal drangen die Stimmen an sein Ohr, doch jetzt begriff er, dass die Quelle viel weiter entfernt liegen musste. Eine Feststellung, die ihn zunächst beruhigte, bis ihm klarwurde, welche Menschenmenge nötig war, um solche Lautstärken zu erzeugen. Wie viele Demonstranten mussten sich wohl versammelt haben, in so kurzer Zeit.
»Schalten Sie die Nebelscheinwerfer ein«, sagte Eren an seinen Fahrer gerichtet.
Dieser reagierte zunächst nicht.
»Yelken!«, wiederholte sich der Leutnant diesmal etwas lauter, »Nebelscheinwerfer, jetzt!«
Der junge Mann schreckte hoch und schaute seinen Vorgesetzten mit unsicherem Blick an. Gerade wollte Eren zum dritten Mal ansetzen, da schnellte seine Hand zu dem kleinen schwarzen Hebel.
»Verzeihung, Sir«, brachte Yelken mühsam hervor, während er den kleinen Knopf ganz nach rechts drehte.
Eren musterte ihn mit ernstem Blick. »Ist mit Ihnen alles in Ordnung?«, fragte er schließlich mit harter und doch ruhiger Stimme.
Als Antwort bekam er eine Grimasse, die kaum noch als ein Lächeln zu erkennen war. »Alles bestens, Sir.«
»Das ist Ihr erster richtiger Einsatz, nicht wahr?«
»Ist es, Sir; also bis auf die Trainingsmissionen.«
Die Hände des jungen Soldaten krallten sich angestrengt um das Lenkrad. Seine Atmung war stoßartig und der Schweiß lief ihm seitlich den Kopf entlang.
Im Stillen verfluchte Eren seine Entscheidung, Yelken mit auf solch eine wichtige Mission genommen zu haben. Er hatte geglaubt, dass dieser der Situation gewachsen war, aber das schien ihm doch ein gewaltiger Irrtum gewesen zu sein. Angst war eine vollkommen natürliche und auch wichtige Eigenschaft eines Soldaten. Sie hielt ihn unter Umständen am Leben.
Yelken vermochte jedoch kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Und in dieser Situation konnte jener sie alle direkt in die nächste Häuserwand befördern.
Eren dachte nach, ohne die Straße vor sich aus den Augen zu lassen. »Yelken, hören Sie zu«, sprach er in das kleine Mikrofon an seinem Hals. »Wenn wir unseren Angriff starten, benötige ich einen Soldaten, der draußen bei den Fahrzeugen bleibt und den Außenbereich im Auge behält. Ich habe mir überlegt, Sie dafür abzustellen. Sie würden mir dann per Funk über mögliche Feindaktivitäten und Verstärkungswellen berichten, natürlich von einem sicheren Standpunkt aus. Das würde mir wirklich eine große Last von den Schultern nehmen, Sie jedoch von der aktiven Mission ausschließen.«
Einen Moment lang erstarrte Ahmed Yelken. Dann lockerte sich seine Haltung. Die Panik in seinen Augen verschwand, wenn auch nicht vollständig, und Eren konnte nahezu spüren, wie ein Schwall der Erleichterung seinen Sitznachbarn durchströmte.
»N-natürlich, Sir«, sagte Yelken und nickte kräftig, »Ich werde Sie nicht enttäuschen.«
Jetzt erreichte auch Eren die Erleichterung. Die Aufgabe, die er ihrem Fahrer gerade erteilt hatte, wurde eigentlich bereits von den Beobachterteams vor Ort erfüllt.
Überflüssig war es da, einen weiteren Mann für die Bewachung abzustellen, aber das spielte keine Rolle. Bei einer solch bedeutsamen und auch riskanten Mission konnte er keine zusätzlichen Risikofaktoren gebrauchen; auch wenn dies bedeutete, auf einen Kämpfer zu verzichten.
Nur wenige Seitenstraßen trennten das Team noch von ihrem Ziel, als in ihrer unmittelbaren Umgebung ein einzelner Schuss ertönte. Instinktiv zogen die Insassen des Jeeps ihre Köpfe ein, die Waffen fest in den Händen. Eren rief seinem Fahrer zu, sie umgehend aus den Gassen herauszubringen und dieser drückte das Gaspedal durch. Ungebremst rasten sie über den Asphalt.
Ein zweiter Schuss folgte und Eren konnte sich ein leises Schimpfen nicht verkneifen. Er verfluchte den offenen, spärlich ausgestatteten Jeep, der ihnen mit seinem dünnen Metallgestell keinen nennenswerten Schutz vor feindlichen Angriffen bot.
Der Soldat Melek meldete sich zu Wort. »Da sind welche auf dem Dach!«, schrie er aufgeregt, »Auf zwei Uhr, keine hundert Meter! Wir müssen nach rechts, schnell!«
In einem gekonnten Manöver brachte Yelken das Fahrzeug um die nächste Kurve und hinauf auf eine breite, von Gehwegen begleitete Straße. Eren verschaffte sich blitzschnell einen Überblick. Linke Seite Wohnhäuser — dreistöckig, mindestens — keine Aktivitäten. Rechte Seite Grünanlage und Menschen; viele Menschen. Der Anblick ließ beinahe die Kinnlade des Leutnants herunterklappen.
Einige hundert Meter vor ihnen schob sich eine riesige Gruppe von Demonstranten durch eine kleine Parkanlage. Die unzähligen, teilweise vermummten Gestalten waren kurz davor, in großer Zahl die Straße zu erreichen und würden ihnen in kürzester Zeit den Weg abschneiden.
»Fahren Sie!«, rief Eren aufgeregt und klopfte dem jungen Yelken auf die Schulter, »Halten Sie sich links und weichen Sie auf den Bürgersteig aus, wenn es sein muss, aber halten Sie bloß nicht an!«
Mit zunehmender Geschwindigkeit näherten sie sich der Menschenmenge. In der Ferne war zu erkennen, wie einige der Gestalten in die Knie gingen und, so vermutete Eren, kleinere Gesteinsbrocken vom Boden aufhoben — alles, was der Park zu bieten hatte. Andere hatten ihre Hände um die schmalen Hälse von Glasflaschen geschlossen und hoben diese drohend über ihre Köpfe.
Wenige Sekunden trennten die Soldaten von der ersten Mauer aus Demonstranten. Unablässig strömten sie auf die Straße und drohten, sie vollends zu blockieren.
»Festhalten!«, rief Yelken. Gekonnt schob er den Jeep über den Kantstein und brachte das Lenkrad unter Kontrolle.
Die ersten Flaschen flogen in hohem Bogen durch die Luft und landeten dicht vor dem Fahrzeug, wo sie augenblicklich in unzählige Scherben zersprangen. Die Luft füllte sich mit donnernden Sprechchören und wüsten Beschimpfungen.
Eren knirschte mit den Zähnen. »Haltet euch bereit!«, brüllte er entschlossen, »Wir werden uns auf keinen Fall aufhalten lassen!«
Als der Jeep die Menge erreichte, sprangen die Demonstranten erschrocken zur Seite. Yelken blieb seinen Anordnungen treu und dachte nicht daran, auch nur einen Moment lang seinen Fuß vom Gaspedal zu nehmen.
Unzählige Glasflaschen näherten sich den Soldaten und zerschellten an der Außenwand des Fahrzeuges. Karatas, der direkt hinter Eren saß, hielt sich schützend die Hände vors Gesicht. Er wagte es nicht, einen Blick auf seine Umgebung zu riskieren.
Sein Leutnant hatte derweil andere Sorgen. Mit einer Hand am Armaturenbrett drückte er sich tief in seinen Sitz und schaute aufmerksam in die aufgebrachte Meute. Stetig nach einer Gefahr suchend; dem Aufblitzen einer Waffe oder das helle Funkeln einer Benzinbombe. Selbst als sich ein Glassplitter tief in seinen Unterarm bohrte, ließ Erens Konzentration nicht nach.
Der Weg vor ihnen lichtete sich. Mit jedem gewonnenen Meter kam etwas mehr Asphalt zum Vorschein, aber die Gefahr war noch nicht vorbei. Dutzende Projektile flogen geradewegs auf die Soldaten zu; mittlerweile kamen sie größtenteils von der Seite. Die drei Männer auf der Rückbank zogen schützend ihre Köpfe ein und kreuzten die Arme vor dem Gesicht.
Faruk Oya, der seine Nachbarn um eine gesamte Kopflänge überragte, traf es am heftigsten. Blut quoll aus schmalen Schnitten an seinen Fingern und tropfte von dort aus auf seine Hosenbeine. Erneut wurden Glasflaschen durch die Luft geschleudert und zerbrachen an der Karosserie. Scheinbar hatte man es auf die Reifen des Fahrzeugs abgesehen, aber das interessierte Eren kaum. Keinesfalls könnten ein paar Splitter sie ernsthaft beschädigen.
Ihre Widersacher gaben jedoch nicht auf. Hinter dem Kern der Demonstranten tummelten sich die Ausläufer ein Stück weiter die Straße hinauf. Ganze Hände voll mit kleinen Steinen hatten sie in dem Park gesammelt und schleuderten diese in Richtung Fahrzeug. Nun hob auch Eren einen Arm schützend vor das Gesicht und nahm dafür einige Treffer an der unteren Magengegend in Kauf.
Ahmed Yelken hatte diese Option nicht. Mit beiden Händen am Steuer versuchte er den Wagen durch die wirre Menge zu lenken. Seinen Kopf hielt er so weit unten, dass er gerade noch auf die Straße schauen konnte und sich gleichzeitig nicht allzu sehr für mögliche Geschosse preisgab. So war es an seinem Helm, alles Weitere abzufangen, doch auch dieser konnte ihn nicht vollständig abschirmen.
Einer der Demonstranten, Eren hatte ihn zu spät entdeckt, war bereits auf die andere Seite der Straße gelangt. Halb hinter einer Hauswand versteckt hielt er einen beachtlichen Brocken in den Händen. Ein Ausfallschritt, die Arme zur Seite des Körpers, dann schleuderte er ihn mit all seiner Kraft nach vorn.
Für ein Ausweichmanöver blieb keine Zeit. In einer flachen Kurve näherte sich das Geschoss dem Fahrzeug, durchbrach die Windschutzscheibe, schleifte über das metallene Lenkrad und prallte von dort aus direkt in Yelkens Gesicht.
Besinnungslos kippte der Soldat vornüber und riss das Steuer dabei zur Seite. Alarmiert durch den plötzlichen Ruck wandte Eren sich um und begriff sofort. In aller Verzweiflung löste er seinen Gurt, um noch rechtzeitig an das Lenkrad zu gelangen, aber es war bereits zu spät. Der Jeep schwankte unkontrolliert von links nach rechts, jagte ungebremst über den Gehweg, und endete schließlich in einer Häuserecke, gefertigt aus rostbraunem Backstein.
Eren, halb über der Mittelkonsole kauernd, schaffte es nicht mehr, nach seinem Gurt zu greifen. Mit unfassbarer Wucht riss es ihn aus seinem Sitz und geradewegs durch die Reste der Windschutzscheibe. Eine halbe Drehung in der Luft, dann stieß er hart gegen die Häuserwand. Der Aufprall ließ seinen Schädel brummen, stechende Schmerzen breiteten sich in seinem Hinterkopf aus. Im selben Moment wurde ihm schwarz vor Augen.
Hamit Karatas richtete sich in seinem Sitz auf. Noch leicht benommen von dem harten Aufprall schaute er sich nach seinen Kameraden um und konnte lediglich den blutüberströmten Yelken vor sich auf dem Fahrersitz erkennen. Panik durchfuhr den Soldaten. Eilig tastete er seinen eigenen Körper nach Wunden ab, konnte aber, bis auf einige Blessuren, nichts finden.
Faruk Oya und Cihat Melek waren bereits auf den Beinen. Sie hatten den Unfall noch besser überstanden als er selbst und sich umgehend vor dem Jeep postiert. Zornig fuchtelten sie mit ihren Gewehren, um die lärmende Menge fernzuhalten.
Die Demonstranten hatten sie beinahe vollkommen eingeschlossen. In dichten Reihen standen sie nebeneinander, ihre Arme wütend in die Höhe gestreckt.
Angsterfüllt starrte Karatas in die Augen der meist jungen Männer, davon überzeugt, sie würden jeden Augenblick losstürmen und ihnen ein Ende bereiten. Er zuckte zusammen, als er einen der Soldaten seinen Namen rufen hörte. »Hamit! Hol Ahmed aus dem Fahrzeug, wir müssen uns in die Gasse zurückziehen. Na los, beeil dich!«
Es handelte sich um die Stimme Faruk Oyas, dessen Gestalt ihm im schwachen Licht der Straßenlaternen noch massiger erschien als sie ohnehin schon war. Verwirrt schaute Karatas zwischen seinen Kameraden hin und her, bis er verstand. Seine zittrigen Finger lösten den Gurt, bevor er sich das Gewehr auf den Rücken schwang und ungeschickt aus dem Fahrzeug kletterte. Erst jetzt merkte er, wie sehr seine Handgelenke schmerzten.
Auf der anderen Seite angekommen öffnete Karatas die Vordertür und lehnte Yelkens Oberkörper behutsam in den Fahrersitz. Ein Schock traf den Soldaten, als er die linke Gesichtshälfte seines Kameraden erblickte. Direkt unterhalb des Haaransatzes klaffte eine etwa fünf Zentimeter breite Wunde. Die Haut war aufgerissen und hing in Fetzen über seiner Wange. Darunter sah es kaum besser aus. Yelkens linkes Auge war vollkommen mit Blut bedeckt, die Muskeln angeschwollen.
Unfähig, den Anblick weiter zu ertragen, senkte Karatas angewidert den Kopf. Erneut packte ihn die Angst. Er wollte weg, wollte hier verschwinden, aber seine Beine rührten sich nicht. Aus dem Augenwinkel erkannte er eine Gestalt, die sich zur Frontseite des Jeeps bewegte. Es war Melek, der aus dem gleichen Jahrgang stammte, wie er selbst. Der Soldat beugte sich zur Backsteinmauer hinunter, an der Eren Hazar noch immer leicht benommen kauerte. Schützend stellte er sich vor den Leutnant, die Waffe kampfbereit in den Händen.
»Hamit, wir müssen los!«, dröhnte Oyas Stimme erneut.
Hamit Karatas zwang sich dazu, wieder aufzuschauen und ballte angestrengt die Hände zu Fäusten. Jetzt war nicht der Zeitpunkt, um zu kneifen. Was würden denn seine Kameraden, und vor allem sein Vater von ihm denken, wenn er einen Verwundeten im Stich ließe? Mit aller Kraft zerrte er den bewusstlosen Yelken aus dem Fahrersitz und hinein in eine schmale Gasse zwischen zwei Wohnhäusern.
Die Lage wurde Sekunde um Sekunde brenzliger. Flaschen landeten vor ihnen auf dem Asphalt. Eine davon so dicht neben Karatas, dass sich ein Splitter tief in seinen rechten Unterarm bohrte. Von dem plötzlichen Schmerz schrie er überrascht auf, blieb aber nicht stehen. Die Traube von Menschen um sie herum verdichtete sich, der Lärm wurde beinahe unerträglich. Morddrohungen mischten sich unter die nicht abbrechenden Sprechchöre.
Faruk Oya, der zunehmend Probleme damit bekam, die Menge in Schach zu halten, wusste sich schließlich nicht mehr anders zu helfen. Verärgert richtete er seine Waffe schräg über die Köpfe der Demonstranten und feuerte einige Male in die Luft. Ein Ruck ging durch die Versammelten, einige taumelten erschrocken zurück und verloren das Gleichgewicht.
Karatas hatte inzwischen die Gasse erreicht und auch Melek folgte ihm zusammen mit dem Leutnant, der sich humpelnd auf dessen Schulter stützte.
»Wir können los!«, rief Melek seinem Kameraden zu und gemeinsam verschwanden sie in dem kaum drei Meter breiten Gang.
»Wir müssen Funkkontakt mit dem nächsten Kontrollpunkt herstellen«, keuchte Eren verbissen, »Und verdammt nochmal Yelkens Blutungen stoppen. Melek, führen Sie uns aus dieser Gasse heraus an einen sicheren Ort, ich komme allein zurecht. Oya, helfen Sie Karatas mit unserem Verwundeten!«
Wie befohlen lief Cihat Melek einige Meter voraus und hielt nach Gefahren Ausschau. Seine Kameraden warfen sich je einen Arm des besinnungslosen Ahmed Yelken über die Schultern und folgten so schnell sie konnten. Eren bildete den Schluss.
Ein Teil der Demonstranten hatte sich von der Hauptstraße gelöst und folgte den Soldaten durch die enge Gasse. Die Aufforderungen des Leutnants, zurückzubleiben, hatten keine Wirkung. Mit steigender Zuversicht beschleunigten sie und drohten, ihn und seine Männer einzuholen. Eren dachte nach und feuerte kurzerhand einige Schüsse in die Hauswände direkt über ihren Verfolgern.
Kleinere Stein- und Betonbrocken lösten sich aus den Fassaden und fielen zu Boden. Die Verfolger duckten sich erschrocken, sie zögerten für einen Moment.
Lange genug, damit die Soldaten um die nächste Ecke biegen und in dem Gewirr aus schmalen Straßen untertauchen konnten. Einzig die Schritte der Demonstranten hallten zwischen den hohen, schmalen Bauten, doch wurden stetig leiser. Schließlich verebbten sie gänzlich.
»Leutnant Hazar an Major Solak, bitte kommen!«
»Hier Solak, sprechen Sie.«
»Hatten Kontakt mit Zivilisten, etwa 2 Kilometer nordöstlich des Zielorts. Ein Mann verwundet, schwere Kopfverletzung. Bewegen uns zu Fuß durch die Seitenstraßen.«
»Verstanden, Leutnant, ich verbinde Sie mit unserem Kontrollpunkt im Norden. Werden Sie dazu in der Lage sein, Ihren Auftrag fortzusetzen?«
Eren schaute in die Gesichter seiner Männer. »Positiv, Sir, der Rest des Teams ist einsatzfähig. Setzen Sie bitte die anderen Teams über unsere Verzögerung in Kenntnis.«
»Ich kümmere mich sofort darum, leite Sie nun weiter.«
Die Verbindung brach ab. Ein kurzes Rauschen war zu vernehmen, dann meldete sich eine ältere, fast zu gelassene Stimme: »Kontrollpunkt Nord, Kommandant Akay. Was gibt es?«
Eren fasste sich kurz: »Hier Leutnant Hazar, Operation Schaitan. Wir sitzen fest, ein Mann schwer verwundet, benötigen dringend zwei Fahrzeuge an unsere Koordinaten.«
Der Kommandant am anderen Ende notierte sich die durchgegebenen Positionsdaten und schaute auf die neben sich ausgebreitete Stadtkarte.
»Unser Posten liegt etwa eineinhalb Kilometer nördlich von Ihnen, Leutnant. Können Sie uns nicht eventuell zu Fuß erreichen? Ich habe nur noch genau zwei Fahrzeuge hier und ich —«
»Negativ!«, unterbrach ihn Eren ungeduldig, »Unser Ziel liegt in der entgegengesetzten Richtung und wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Außerdem weiß ich nicht, wie lange unser Verwundeter noch durchhält. Wir benötigen dringend ein Fahrzeug für seinen Transport und ein zweites für die Fortführung unserer Mission. Ich muss Ihnen doch wohl nicht erklären, wie wichtig diese ist!«
Nachsichtig stimmte der Kommandant zu. Auch er musste von Operation Schaitan gehört haben.
»Also gut, Leutnant, ich schicke Ihnen zwei Wagen, zwei Fahrer und unseren Mediziner. Den will ich aber unversehrt wieder zurückhaben, denn er ist der Einzige, der uns noch bleibt. Rechnen Sie mit ihnen in maximal 15 Minuten und geben Sie mir jegliche Positionsänderungen direkt durch.«
Eren bedankte sich knapp und unterbrach die Verbindung. Mit zügigen Schritten schloss er zu Melek auf, der seine Truppe durch die schmalen Straßen Nordistanbuls führte.
»Möchten Sie übernehmen?«, fragte dieser, als er den Leutnant erblickte.
Aber Eren winkte ab. »Machen Sie ruhig weiter«, sagte er, »Sie kennen sich, glaube ich, sowieso besser aus in dieser Gegend. Wenn ich mich recht erinnere, sind Sie in diesem Stadtteil aufgewachsen, nicht wahr?«
»Etwas weiter östlich«, korrigierte Melek mit einem Lächeln, »Aber hier bin ich als Jugendlicher oft durch die Straßen gezogen.«
Eren erwiderte das Lächeln, ließ seinen ernsten Gesichtsausdruck jedoch unmittelbar wieder zurückkehren. »Wir müssen Yelken umgehend versorgen. Bei dem Blutverlust wird er wahrscheinlich keine viertel Stunde mehr durchhalten. Ein halbwegs sicherer Ort in der Nähe einer der Hauptstraßen; fällt Ihnen dazu etwas ein?«
Melek geriet ins Grübeln, bevor er wenige Augenblicke später eifrig nickte.
»Es gab da eine Bar«, murmelte er, »Keine Ahnung, ob die noch existiert, aber sie müsste ganz in der Nähe sein. Der Besitzer ist ein Herr Günal. Er sollte mich eigentlich wiedererkennen, so oft wie ich dort ein- und ausgegangen bin. Vielleicht hilft er uns. Zwei Minuten, länger sollten wir dorthin nicht brauchen.«
»Gut«, brummte Eren, »Uns bleibt sowieso keine Zeit für Alternativen. Führen Sie uns dort hin.«
Der Soldat nickte erneut und erhöhte umgehend das Tempo. Eren ließ sich wieder an das Ende der kleinen Gruppe fallen.
Drei Straßenecken später standen die Männer vor einem vierstöckigen Gebäude mit olivgrüner Betonfassade. Bei den obersten drei Stockwerken handelte es sich um einfache Wohnungen — unscheinbar und stockfinster —, das unterste beherbergte die Bar. "Yeni Beer Gün" stand auf dem Schild direkt über einer Reihe breiter Fensterscheiben. Die dunklen, abgenutzten Rahmen aus Eichenholz gaben dem Gebäude einen alten, aber auch seriösen Eindruck.
Behutsam drückte Melek den rostigen Hebel der Eingangstür hinunter und stellte erleichtert fest, dass sie nicht verschlossen war. Mit der Waffe vor dem Körper öffnete er sie einen kleinen Spalt. Seine Augen spähten in den spärlich beleuchteten Raum dahinter.
Ein älterer Herr, adrett gekleidet und mit über dem Kopf gekämmtem grauen Haar, stand gelangweilt hinter dem Tresen. Er schaute versonnen auf den kleinen Fernseher hinter sich an der Wand. Das Knarzen der in die Jahre gekommenen Türscharniere ließ ihn überrascht hochfahren.
Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte er sich um und wollte gerade darauf hinweisen, dass er heute geschlossen hatte, als er die Waffe in den Händen des Fremden erblickte. Das Lächeln verschwand augenblicklich, ein erschrockener Blick nahm dessen Platz ein. Melek verstand sofort und ließ langsam seine Arme sinken.
»Herr Günal?«, fragte er mit ruhiger Stimme, »Erinnern Sie sich an mich? Cihat Melek; ich habe mich hier früher öfter mal herumgetrieben.«
Langsam schritt er über die Türschwelle in den Raum hinein und auf den Tresen zu, bis er direkt unter einer der Deckenleuchten stand.
»Cihat, ja natürlich!«, platzte es da aus dem älteren Herrn heraus, »Hab dich gar nicht erkannt in der Aufmachung. Mensch, du bist ja doppelt so breit, wie ich dich in Erinnerung habe!«
»Ich weiß«, gab Melek leicht verlegen zurück, »Ich bin nicht mehr der Bengel, der ich früher einmal war, aber darüber müssen wir uns wohl ein anderes Mal unterhalten. Jetzt brauche ich Ihre Hilfe. Einer unserer Jungs ist verletzt und wir müssen ihn versorgen.«
Günals Blick wanderte, vorbei an dem Soldaten, zur Tür, durch die Faruk Oya und Hamit Karatas gerade den verletzten Kameraden trugen. Die Augen des alten Herren weiteten sich erschrocken, als er dessen Blutverschmiertes Gesicht erblickte.
»A-aber natürlich!«, stotterte er und lief hastig um den Tresen herum, »Legen Sie ihn hier auf den Tisch. Einen Moment nur, ich räume ihn kurz Leer. Was brauchen Sie, um ihn zu behandeln?«
Oya brummte zur Antwort: »Wasser und saubere Handtücher, alles Weitere habe ich dabei.«
Mit Leichtigkeit wuchtete der stämmige Soldat seinen Kameraden in die Höhe und legte ihn auf den freigeräumten Tisch. Hamit Karatas setzte sich an das obere Ende. Behutsam nahm er Yelkens Helm ab, griff nach einem Sitzkissen von einem der Stühle und platzierte es unter dessen Kopf.
An der Seite des Tisches entleerte Oya den Inhalt seiner Taschen. Zwei Mullbinden, etwas Iod zum Desinfizieren, eine kleine Tube Wundsalbe und eine Pinzette für eventuelle Fremdkörper. Er war der einzige aus der Gruppe mit einer erweiterten Sanitätsausbildung und so war es an ihm, den Verwundeten zu versorgen.
Mit einem leisen Klacken ließ Eren die Eingangstür hinter sich ins Schloss fallen. »Draußen ist alles sicher«, hauchte er dabei, »Uns scheint zum Glück niemand weiter gefolgt zu sein. Melek, helfen Sie mir, die Gardinen zuzuziehen.«
Von zwei Seiten machten sich die beiden Männer an den dicken Baumwollvorhängen zu schaffen und versperrten einer jeden Person die Einsicht ins Innere. Anschließend gab der Leutnant ihre neue Position an den Kontrollpunkt Nord durch.
Hinter dem Tresen erschien Günal in der Tür zur Vorratskammer. In der einen Hand trug er einen ganzen Stapel frischer weißer Handtücher, in der anderen einen Sechserträger Wasserflaschen. »Ist ohne Kohlensäure«, sagte er, während er sich den Soldaten näherte, »Ich hoffe das reicht, ich konnte auf die Schnelle keinen sterilen Eimer finden.«
»Keine Sorge«, antwortete Oya, der scheinbar keinerlei Anspannung verspürte, »Damit werden wir schon hinkommen. Danke für Ihre Hilfe.«
»Ach, das ist doch eine Selbstverständlichkeit.« Der alte Mann lächelte schwach und entfernte sich von dem Tisch. Unwillkürlich blieb sein Blick an der mit Blut und Hautfetzen übersäten Gesichtshälfte Yelkens hängen. Ein trauriger Seufzer entfuhr ihm, dann wandte er sich ab und schritt eilig wieder hinter seinen Tresen.
Melek folgte ihm. »Ist alles okay?«, fragte er und lehnte sich an einen der Barhocker.
»Sicher, sicher; ich hatte mir den heutigen Tag nur etwas anders vorgestellt. Etwas ruhiger vor allem.« Günal zögerte. »Seid ihr auch beteiligt an dem …?«
»Das sind wir«, bestätigte Melek, »Mittendrin und auf wichtiger Mission.«
Der alte Mann stutzte: »Könnt ihr die denn überhaupt noch fortführen?«
»Das müssen wir sogar. Jeder einzelne Soldat zählt heute Nacht.«
»Ihr lasst den armen Kerl aber doch nicht hier bei mir zurück, oder?«
Zur großen Erleichterung des Wirts schüttelte Melek bestimmt den Kopf. »Nein, keine Sorge. Wir haben bereits um einen Transport gebeten, der sollte in kaum zehn Minuten hier sein und dann sind Sie uns auch schon wieder los. Danke nochmal, dass wir hierbleiben dürfen.«
»Hättet ihr mir denn eine Wahl gelassen?«, erwiderte Günal mit einem schelmischen Grinsen.
Melek konnte sich ein heiseres Lachen nicht verkneifen. »Wahrscheinlich nicht …«, sagte er leise, »… wahrscheinlich nicht.«
Mit einer halben Körperdrehung nahm sein Gegenüber eine Flasche Schnaps aus dem Regal hinter sich und füllte gekonnt ein kleines Glas bis kurz unter den Rand. Zwei Schluck, dann war es leer. Erneut setzte er die Flasche an und füllte nach, bevor er auch Melek ein Glas anbot. Der Soldat lehnte jedoch dankend ab.
»So gern ich auch würde, ich muss heute bei klarem Verstand bleiben.«
»Na, da kann doch ein bisschen Schnaps sicher bei helfen«, neckte Günal und schüttete sich auch den zweiten Glasinhalt in den Rachen.
Faruk Oya und Hamit Karatas hatten das Gesicht ihres Kameraden mittlerweile ausgiebig gereinigt und inspizierten gerade dessen Verletzungen. Die Fläche rund um das linke Auge war geschwollen; sie glänzte in einem tiefen Violett. Das Auge selbst lag verborgen unter einer Schicht verkrusteten Blutes. Oya wagte es nicht, diese Stelle weiter auszuwaschen, unklar darüber, ob er womöglich nur noch mehr Schaden anrichtete.
Die Wunde an der Stirn war weniger besorgniserregend. Vorsichtig träufelte er etwas Iod auf den länglichen Schnitt und verband ihn anschließend mit einer der Mullbinden.
Karatas war währenddessen in ein tiefes Gebet verfallen. Leise murmelte er vor sich hin, während er mit beiden Händen fest die Tischplatte umklammerte. Eine große Hilfe war er nicht, aber Oya machte sich nichts daraus, er hatte alles im Griff.
Neben ihnen trat Eren an den Tisch. Mitleidig musterte er Yelken und fuhr sich dabei angestrengt durchs Haar. »Wie sieht's aus?«, wollte er wissen.
Die Frage richtete sich an Oya, der langsam seinen Kopf hob. Sein Gesicht zeigte eine Mischung aus Zuversicht und Bedauern, als er sprach: »Ich denke, er ist außer Lebensgefahr, Sir. Der Puls ist schwach, aber beständig. Jedoch weiß ich nicht, ob sein Auge noch zu retten ist. Das Jochbein ist vollständig zertrümmert und ich wage mich nicht weiter vor, ohne anständige medizinische Ausrüstung. Ich werde alles notdürftig verbinden und dann hoffen wir, dass er umgehend in ein Krankenhaus geliefert wird. Die Wunde an der Stirn ist schmal und schnell genäht, allerdings würde ich eine Gehirnerschütterung durch den heftigen Aufprall nicht ausschließen. Eventuell auch eine Fraktur am Stirnbein. Ich werde ihm auf jeden Fall noch ein Analgetikum spritzen, für den Fall, dass er aufwacht. Kann mir kaum vorstellen, was das für Schmerzen sein müssen.«
»Tun Sie das«, stimmte Eren zu. »Ist sonst noch jemand verletzt? Irgendwelche Blutungen, die gestoppt werden müssen? Es darf zu keiner Verzögerung mehr kommen, sobald die Fahrzeuge hier eintreffen. Karatas, hören Sie mir überhaupt zu?«
Der Junge Soldat, noch immer betend, schaute verwirrt auf. »Ja, ich … ähm.«
»Haben Sie irgendwelche Verletzungen?«
»Ich weiß nicht.« Prüfend hob er die Arme über den Tisch und wandte sie in alle Richtungen.
»Mensch! Spüren Sie das denn gar nicht?«, fragte Eren da plötzlich, als er den breiten Splitter in Karatas rechtem Unterarm entdeckte.
Dieser riss überrascht die Augen auf. »Ja … schon«, sprach er verwundert, »Muss ich wohl irgendwie verdrängt haben.«
Der Leutnant schüttelte verzweifelt den Kopf. »Verdammt«, fluchte er und stütze sich mit beiden Händen auf den Tisch. »Verlieren Sie mir jetzt nicht die Nerven, verstanden? Ich brauche Sie in den nächsten Stunden bei klarem Verstand. Oya, kümmern Sie sich bitte um seinen Arm, wenn Sie Yelken
soweit versorgt haben.«
Der Hüne nickte knapp und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.
Am Tresen hatte Melek dicht vor Günal Platz genommen. Leer starrte er auf die Flasche Schnaps vor sich, die Arme eng vor dem Körper verschränkt. Sein Gegenüber hatte sich abermals dem Fernseher zugewandt. Ununterbrochen wurde dort über den so plötzlichen Putschversuch berichtet, der das Land in Atem hielt. Die Sprecher wirkten besorgt. Von Angst und Ungewissheit sprachen sie und von einer wahrscheinlich langen, schlaflosen Nacht.
Melek sollte es kaum überraschen, dass man ihrem Aufruhr mit so viel Unbehagen begegnete, aber es brachte ihn doch ins Grübeln. Leise räuspernd beugte er sich weit nach vorn, um so Günals Aufmerksamkeit zu erlangen. Der alte Herr wandte sich mit einem gütigen Lächeln zu ihm um. Auch er beugte sich ein Stück vor.
»Ich weiß«, sagte Melek mit ruhiger Stimme, »dass das alles ziemlich unerwartet kam; aber was denken Sie über die ganze Sache? Panzer auf den Straßen, Tumulte in der ganzen Stadt und doch sitzen Sie hier und wirken so … entspannt. Macht Ihnen das alles denn gar keine Angst?«
Günal machte ein nachdenkliches Gesicht, den linken Zeigefinger schob er sich dabei vors Kinn.
»Angst würde ich es nicht nennen«, sagte er schließlich, »Natürlich bin ich gespannt, was passiert, aber ich fürchte mich nicht, falls du das meinst. Ich habe schon einmal eine solche Zeit miterlebt und auch damals hat es mich nicht wirklich betroffen. Nun bin ich noch älter und es kümmert mich wohl noch weniger.«
Melek stutzte: »Haben Sie denn keine Familie, um die Sie sich sorgen?«
»Nicht mehr. Meine Frau ist vor einigen Jahren verstorben und mein einziger Sohn lebt in Kanada. Irgendetwas mit Firmensicherheit und Computern macht er da, aber ich habe das nie so recht begriffen. Er kommt mich schon lange nicht mehr besuchen, hat seine eigene kleine Familie gegründet. Was mir bleibt, ist meine Bar und das wahrscheinlich solange, bis ich hinter der Theke tot umfalle.« Ein trauriges Lachen entrang der Kehle des Wirts. »Für Zukunftssorgen habe ich einfach keinen Platz mehr in meinem Leben.«
»Aber, was ist mit dem Präsidenten?«, frage Melek weiter.
»Was soll mit ihm sein?«
»All diesen dubiosen Kram, den er abzieht. Die Vetternwirtschaft, die Zensuren, all die Unschuldigen im Gefängnis. Sowas muss Sie doch wütend machen, oder nicht?«
Günal hob in einer schützenden Geste beide Hände vor die Brust. »Ich habe diesen Mann nie gewählt«, sagte er gelassen, »Und er ist mir auch nicht wirklich sympathisch. Wenn ich könnte, würde ich ihn sofort absetzen, klar, aber ich bin doch bloß ein alter grauer Mann. Meine Erfahrung sagt mir, dass nach einem Tyrannen meist noch ein weitaus schlimmerer folgt; oder stattdessen das blanke Chaos zu herrschen beginnt.«
Schweigend schaute Melek dem Wirt ins Gesicht. Dessen Worte gaben ihm nicht die Bestätigung, die er sich erhofft hatte, aber überraschen taten sie ihn ebenso wenig.
Während der nächsten Minuten war es still in der recht geräumigen Bar. Karatas, der mittlerweile anständig verarztet worden war, stand mit Oya zusammen hinter dem länglichen Tisch. Geduldig warteten sie auf das Zeichen ihres Leutnants, wonach sie sich ihren bewusstlosen Kameraden erneut auf die Schultern laden würden. Eren hatte sich vor der Tür postiert und spähte in regelmäßigen Abständen durch eines der Fenster hinaus auf die Straße.
Um 22:09 Uhr leuchteten in östlicher Richtung zwei grelle Scheinwerfer auf. Wenig später erkannte der Leutnant die zwei massigen Fahrzeuge militärischen Ursprungs, die im Schritttempo den Asphalt entlangrollten.
»Auf geht’s«, sagte er und öffnete die Eingangstür für seine Männer.
Melek bedankte sich noch einmal bei dem alten Günal und wandte sich gerade zum Gehen, als dieser ihn leicht am Ärmel packte. Seine gütigen Augen lagen direkt auf dem Gesicht des Soldaten, seine Worte waren schwer und mit Bedacht gewählt. »Vielleicht habe ich auch Unrecht«, flüsterte er, »und denke nur wie ein verbitterter alter Narr. Vielleicht könnt ihr wirklich etwas verändern. Ich weiß nicht, wie viele Umbrüche, wie viele Neubeginne es noch braucht, bis wir uns endlich alle einig sind und ich verstehe eure Wut. Wäre ich doch etwas jünger und mutiger, dann würde ich jetzt wahrscheinlich mit euch gehen; aber das bin ich nicht. Pass auf dich auf, hörst du, Cihat? Pass auf dich und deine Kameraden auf. Und wenn ihr es schafft, wenn ihr siegreich seid, kommt ihr hierher zurück und dann stoßen wir gemeinsam an, ja?«
Melek antwortete mit einem Lächeln im Gesicht: »Ich verspreche es, Herr Günal.«
Die beiden Männer gaben sich ein letztes Mal die Hand, dann folgte Melek seinem Leutnant nach draußen.
»Sind Sie Hazar?« Ein breiter, fast kreisrunder Kopf schob sich aus dem Seitenfenster des ersten Jeeps und schaute Eren fragend an.
»Der bin ich«, antwortete dieser knapp. »Welcher Wagen ist für den Verletzten?«
Der breite Kopf schwieg und deutete mit einem kurzen Nicken auf das Fahrzeug hinter sich, dann verschwand er wieder.
»Yelken in den Zweiten«, gab Eren an seine Männer weiter, »Oya, unterrichten Sie den Mediziner über seinen Zustand, aber machen Sie schnell.«
Gemeinsam mit Melek stieg der Leutnant in den vorderen Jeep, der zu seiner Erleichterung immerhin über ein anständiges Dach verfügte. Karatas und Oya stießen wenig später dazu.
Es war 22:20 Uhr, als der Transporter vor dem Anwesen des Präsidenten eintraf. Insgeheim ärgerte sich Eren Hazar über die wertvolle verlorene Zeit, aber letztendlich hätte er daran wenig ändern können. Nun galt es, sich voll und ganz auf die anstehende Mission zu konzentrieren und alle unwichtigen Gedanken aus dem Kopf zu verbannen.
An einer schwer einsehbaren Straßenecke, keine hundert Meter vom Eingang des Anwesens entfernt, hatten sich die beiden anderen Teams bereits versammelt. Erwartungsvoll sahen sie in die Richtung des ankommenden Fahrzeugs.
Ein großer, schlanker Mann, der an einem der abgestellten Jeeps lehnte, fiel Eren als Erstes ins Auge. Lässig hielt er eine Zigarette in der linken Hand, während seine Rechte den Griff eines Scharfschützengewehrs umfasste. Ganz in schwarz gekleidet stand er da und stieß den Rauch aus seinen Lungen, der im fahlen Licht der Laternen schwerelos nach oben stieg.
Als der Scharfschütze Eren erblickte, ging er in aller Ruhe auf ihn zu. Der Arm des Mannes spannte sich deutlich an, als er das riesige Gewehr vor seinen Körper hob. Der Lauf knapp über dem Boden schwebend, reichte der Schaft ihm noch immer bis zur Schulter. Und selbst das Objektiv schien größer zu sein als sein gesamter Kopf. Eren war beeindruckt, ließ sich aber nichts anmerken.
»Sie müssen wohl Leutnant Hazar sein«, sagte der lange Mann und stellte sich breitbeinig vor ihm auf. »Ismet Tosun mein Name, Leiter des Beobachterteams. Ich werde Sie und die anderen Teams über alles Relevante in Kenntnis setzen. Wir beginnen, sobald Sie bereit sind.«
Mit einer abrupten Bewegung schwang er sich das Scharfschützengewehr auf den Rücken und streckte Eren zur Begrüßung seine Hand entgegen. Der Leutnant erwiderte wohlwollend den Gruß und musterte sein Gegenüber. Auf Ende Dreißig schätzte er Tosun. Die Falten und einige Narben in seinem Gesicht ließen ihn wahrscheinlich älter erscheinen, als er war. Den Abzeichen auf seiner Kleidung nach zu urteilen, war er ein versierter Soldat und doch hatte Eren seinen Namen noch nie gehört.
»Sind Sie von hier?«, fragte der Leutnant, während sie sich gemeinsam den wartenden Teams näherten.
»Stationiert in Ankara, aber aufgewachsen bin ich in Istanbul. Ich habe persönlich darum gebeten, hier eingesetzt zu werden und meine Einheit ist mir gefolgt.«
»Von wie vielen Männern reden wir da?«
»Vier insgesamt«, antwortete Tosun, »Zwei davon im Norden des Anwesens, ein weiterer und meine Wenigkeit im Süden.«
Eren nickte zufrieden. »Gut, damit sollte sich arbeiten lassen.«
Als sie die kleine Gruppe von Soldaten erreicht hatten, traten zwei von ihnen — sie mussten etwa so alt gewesen sein wie Eren selbst — einen Schritt vor und begrüßten den Leutnant. Obergefreiter Celik und Obergefreiter Sahin waren ihre Namen, soweit es für diese Mission relevant war. Beide hatten sie jeweils drei Männer unter sich und konnten es kaum erwarten, ihren Angriff zu starten.
Tosun ließ sich davon nicht beeindrucken. Gelassen holte er eine Karte mit dem Grundriss des Anwesens aus einer Brusttasche und platzierte sie auf einer der Motorhauben.
Der zwölf Mann starke Trupp, unter der Führung von Leutnant Eren Hazar, stellte sich im Halbkreis um die Front des Militärfahrzeugs auf. Geduldig warteten sie auf die Ausführungen des Scharfschützen.
Einmal noch zog dieser an seiner Zigarette, dann begann er zu sprechen: »Die Residenz verfügt über drei überirdische und einen unterirdischen Zugang. Über eventuelle Tunnel und Geheimschächte ist uns nichts bekannt, aber da es sich um kein offizielles Regierungsgebäude handelt, rechnen wir eher nicht damit. Der Haupteingang auf der Südseite befindet sich direkt hinter der Auffahrt; mit einem Rondell samt Brunnen im Zentrum. Der Durchgang verfügt über zwei Türen, beide aus massivem Holz gefertigt, aber ohne verstärkte Schlösser. Auf der Ostseite befindet sich eine Terrassentür mit angrenzendem Wintergarten. Die ganze Wand besteht dort aus Glas, allerdings wurden die Rollläden heruntergefahren. Aus welchem Material diese bestehen, ist uns leider unklar; es könnte beim Eindringen jedoch zum Problem werden. Außerdem kommen Sie dort um den Einsatz von einer Menge Sprengstoff oder schwerem Gerät wohl nicht herum. Auf der Westseite haben wir eine Lieferantenauffahrt.« Mit seinem Zeigefinger strich Tosun über die Skizze und deutete auf die Linien einer Straße, welche sich vertikal entlang des Gesamten Grundstücks zog. »Ein Rolltor versperrt Ihnen dort den Weg, kein besonders großes. Zwei kleine Sprengsätze und das ist Geschichte. Wesentlich leichter als der Wintergarten. Direkt dahinter befinden sich einige Vorratskammern und die Küche. Enge Räume, äußerst verwinkelt; dort könnte es zu Konfrontationen im Nahkampf kommen. Zuletzt wäre da noch der Hinterhof. Eine Rampe hinunter zur Tiefgarage, versperrt durch zwei große automatische Schwingtore, die Sie entweder kurzschließen oder ebenfalls aufsprengen können. Kommt ganz darauf an, wie viel Lärm Sie verursachen wollen. Hinzu kommen noch drei Notausgänge, die über schmale Leiterschächte an die Oberfläche führen; ein klaustrophobischer Alptraum. Für einen schnellen taktischen Rückzug eher nicht zu empfehlen.«
Tosun schwieg für einen Moment und ließ seine Zuhörer alles verarbeiten. Als niemand eine Frage stellt, sprach er weiter: »Der Außenbereich ist insgesamt relativ überschaubar. Rasenfläche im Osten, Pflastersteine im Norden, umgeben von einem etwa hüfthohen Zaun. Der Lieferanteneingang wird von einer knapp drei Meter hohen Mauer abgeschirmt. Notfalls werden Sie dort mit gegenseitiger Hilfe rüberkommen. Vor dem Haupteingang befinden sich ein paar Skulpturen und Büsche, die Sicht auf die beiden Türen ist jedoch stets gegeben. Zudem haben wir vom Beobachterteam die Fenster aus sicherer Entfernung im Blick, während Sie sich von Deckung zu Deckung vorarbeiten. Feindbewegungen gibt es außerhalb des Gebäudes keine. Halten Sie dennoch stets die Augen offen; es kann sein, dass man bereits von unserem Vorhaben weiß und bloß darauf wartet, uns aus dem Hinterhalt anzugreifen. Alles verstanden soweit?«
Die Versammelten nickten einvernehmlich.
»Gut«, sagte Tosun, »Dann kommen wir jetzt zu dem wichtigsten Teil. Das Innere des Gebäudes besteht aus drei Etagen. Im Untergeschoss die Tiefgarage; wie zuvor erwähnt über die zwei Tore im Norden zugänglich. Über die Anzahl an geparkten Fahrzeugen ist uns nichts bekannt, aber der Bereich ist ebenerdig und verfügt, bis auf ein paar Säulen, über keine besonderen Hindernisse.« Die rechte Hand des Scharfschützen bewegte sich in die obere rechte Hälfte der Karte und blieb schließlich auf einem kreisrunden Gebilde liegen. »Dies ist eine Wendeltreppe, die Einzige, die in das Erdgeschoss und darüber hinaus noch in den ersten Stock führt. Wenn Sie diese Treppe kontrollieren, ist der Weg nach unten abgeschnitten. Im Erdgeschoss befindet sich direkt hinter dem Haupteingang ein Empfangsbereich mit einer separaten Garderobe zu Ihrer Linken. Danach die Haupthalle, rechts der Speisesaal, links die Lagerräume und Küche. Der Empfang und die Halle bilden eine große freie Fläche und kaum Deckungsmöglichkeiten. Wenn Sie durch den Haupteingang stürmen, dann gehen Sie verdammt vorsichtig vor. Der Feind kann sich auf der anderen Seite des Raumes aufhalten und Sie laufen ihm direkt vor die Mündung. Im ersten Stock dann die Schlaf- und Wohnräume. Neun sind es insgesamt, auf der westlichen und südlichen Seite verteilt. Sie alle sind über den Hauptflur zu erreichen. Unsere Zielperson vermuten wir in einem der südlichen Zimmer, so weit von der Treppe entfernt wie möglich. Denken Sie daran, wir wollen ihn lebend; schießen Sie also nicht blind in die andere Seite des Raumes. Die Fenster sind alle verdeckt, so auch die Glasfassade auf der Ostseite; genaue Angaben über die Anzahl von Feinden kann ich daher nicht machen. Jedoch handelt es sich hier um den Präsidenten, machen Sie sich also auf einigen Widerstand gefasst.«
Mit einem leichten Kopfnicken signalisierte Tosun dem Leutnant, dass er fertiggesprochen hatte. Eren bedankte sich knapp und begann unverzüglich mit der Missionsplanung. Gemeinsam mit Celik, Sahin und dem Scharfschützen kauerte er dicht über dem Plan und diskutierte alle möglichen Herangehensweisen. Zügig gingen sie dabei vor, denn jede verstrichene Minute erhöhte das Risiko auf zusätzliche Gegenspieler.
»Wo genau sind Ihre Männer postiert?«, fragte Eren an Tosun gerichtet, der sich erneut eine Zigarette angezündet hatte.
»Hier und hier.« Der Anführer des Beobachterteams deutete auf den nordwestlichen und den südöstlichen Teil der Karte.
»Verstehe«, sagte Eren, »Begeben Sie sich mit einem Team weiter in den Osten und behalten Sie den Wintergarten im Auge, nur für den Fall. Das zweite Team möchte ich direkt im Süden haben. Schießen Sie ausschließlich auf mein Kommando, ich will nicht riskieren, dass Sie womöglich noch einen Kameraden erwischen.«
Tosun bestätigte, und Eren fuhr fort: »Celik, Sie und Ihre Männer bilden Team Alpha. Sie gehen zur Nordseite und warten auf meine Befehle. Und nehmen Sie etwas Sprengstoff für die Tore mit; wir wählen die laute Variante. Sahin, Team Bravo, Sie gehen zum Rolltor auf der Westseite, direkt neben den Lagerräumen. Bringen Sie zwei Ladungen an und warten Sie ebenfalls auf mein Kommando. Mit Ihnen wird unsere Infiltration beginnen. Meine Männer und ich nähern uns als Führungsteam dem Haupteingang. Für alle Teams gilt, lediglich Blend- und Rauchgranaten einzusetzen. Tödliche Schüsse nur nach Feindidentifizierung und nur, wenn Ihnen keine andere Wahl bleibt — das hier ist eine Entführung, kein Tötungskommando. Und jetzt bereiten Sie sich vor, wir starten um exakt 22:35 Uhr.«
Eren entließ die beiden Obergefreiten, die eilig zu ihren Teams zurückkehrten. Auch der Scharfschütze machte sich gerade auf den Weg, als der Leutnant ihm einige Schritte folgte.
»Tosun, kann ich Sie noch einen Moment sprechen?«
Der lange, hagere Mann drehte sich um. »Aber natürlich«, sagte er, »Worum geht es?«
Dicht vor dem Soldaten blieb Eren stehen und sprach mit leiser Stimme: »Sind Sie sicher, dass Sie niemanden gesichtet haben? Eine Streife vielleicht oder jemand Auffälliges in Zivil?«
»Absolut sicher, Sir. Seit über zwei Stunden sind wir nun schon auf Position, ohne jegliche Aktivität.«
Eren stutzte: »Finden Sie das nicht auch seltsam? Schließlich geht es hier um den Präsidenten des Landes.«
»Ich verstehe, was Sie meinen«, brummte Tosun, »Und ich habe mich bereits dasselbe gefragt. Aber welch bessere Tarnung gibt es, als eine absolut unbewachte Residenz? Von außen würde kein Mensch auf die Idee kommen, dass sich hier der mächtigste Mann des Staates befindet. Im Idealfall haben unsere Informanten so gute Arbeit geleistet, dass nicht einmal die Männer dort drinnen über unsere Anwesenheit Bescheid wissen.«
»Hoffen wir es«, erwiderte Eren und blieb skeptisch. »Halten Sie auf jeden Fall weiterhin Ausschau, Tosun, nicht bloß was das Gebäude betrifft. Wenn Major Solak hier eintrifft, muss er wissen, womit er es zu tun bekommt. Kontaktieren Sie ihn notfalls persönlich, wenn ich verhindert bin.«
»Verlassen Sie sich auf mich«, sagte der Scharfschütze entschlossen. Erneut wandte er sich zum Gehen. »Und viel Glück da drinnen.«
Eren Hazar und Faruk Oya gingen vor dem Haupteingang in Stellung und horchten gebannt ins Innere. Absolute Stille herrschte auf der anderen Seite, kein einziger Laut, der durch das Holz drang. Karatas und Melek hockten einige Meter hinter ihnen, versteckt zwischen einigen Büschen, und behielten misstrauisch ihre Umgebung im Auge.