Orte der Stille in Bayern - Dietmar Bruckner - E-Book

Orte der Stille in Bayern E-Book

Dietmar Bruckner

4,8

Beschreibung

Wo ist es in Bayern ruhig? Einige Orte drängen sich auf: die spirituelle Stille in der Benediktinerabtei Metten, die Ruhe in der Natur, etwa im Rhododendronpark von Schloss Dennenlohe oder im Sternenpark Rhön. Dietmar Bruckner zeigt, dass man in Bayern auch an ganz unerwarteten Orten Stille finden kann - angesichts von Dürers »Selbstbildnis im Pelzrock« etwa, in einem Feng Shui Park oder im Hotel Kranzbach bei Garmisch. Ja, es gibt beides in Bayern: Die klassische Stille und die so nicht erwartete Stille, gleich um die Ecke.

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Seitenzahl: 175

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Lieblingsplätze

zum Entdecken

Dietmar Bruckner / Heike Burkhard

Orte der Stille inBayern

Seen, Schlaf und Sterne

Impressum

Sofern hier nicht aufgelistet, stammen alle Fotos von Heike Burkhard.

Gymnasium Viechtach 24, 26, 28; Stefan Braehler 92; Werner Klug; Ernst Seckendorf 100; Andrea-Stölzl 110, 112, 114; Kuupd 132; Hotel Kranzbach 140; Hoberg, Annegret; Friedel, Helmut (Hrsg.): Franz Marc. München: Prestel, 2005. Seite 129, Abb. 39 158; bpk | Bayerische Staatsgemäldesammlungen 166; Sabine Kurz 174, 176

Die Angaben beziehen sich auf die Seitenzahlen in der gedruckten Ausgabe.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

2., aktualisierte Auflage 2017

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Katja Ernst

Satz: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Bildbearbeitung/Umschlaggestaltung: Alexander Somogyi

unter Verwendung eines Fotos von: © Jenny Sturm – Fotolia.de

Kartendesign: Mirjam Hecht; © The World of Maps (123vectormaps.com)

Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten

Printed in Germany

ISBN 978-3-8392-4988-8

Inhalt

Impressum

Stille als Refugium

Zum Beispiel in Bayern

1  Stau und Stille

Die Autobahnkirche Trockau

2  Die Kunst zu schlafen

Andreasstadel in Regensburg

3  Vier Wochen Handyfasten

Dominicus-von-Linprun-Gymnasium in Viechtach

4  Mein Freund, der Baum

Friedwald Fränkische Schweiz in Ebermannstadt

5  Ohne Robben und Ribéry: eine stille Arena

Allianz Arena in München

6  Stille mitten in der Stadt

Finanzgarten in München

7  Als selbst Gott eine Pause einlegte

Sonntags dahoam in Roth

8  Wenn die Glotze still ist

Bayerischer Rundfunk in München

9  Autofreie Stadt – nur eine schöne Idee?

Oberstdorf

10  Wo auch Prominente schweigen

Der Friedhof Aufkirchen

Exkurs I: Stille und Kreativität

In Zarathustras Zauberwald

11  Die Stille vor dem Ende: Ludwig II.

Schloss Berg und Votivkapelle, Berg

12  Nostalgie pur

Der Alte Kanal in Nürnberg

13  Solitäre Weinprobe an der Mainschleife

Kapelle Maria im Weingarten in Volkach

14  Secret escapes: Das Stille Örtchen

Fränkisches Freilandmuseum Bad Windsheim

15  »Na, beißt was?«

Weiheranlagen in Ebach

16  Der Baron und die Rhododendren

Schlosspark Dennenlohe in Unterschwaningen

17  Reise ans Ende der Nacht

Sternenpark Rhön

18  Das verwunschene Refugium

Garten der Familie Seckendorf in Gräfenberg

19  In luftiger Höhe

Baumwipfelpfad Bayerischer Wald bei Neuschönau

Exkurs II: Stillleben oder …

… der Gott der kleinen Dinge

20  »Still in den Tag«

Spirituelles Zentrum St. Martin in München

21  Wenn Kister kommt

Süddeutscher Verlag in München

22  Kurzandacht: eine Achtsamkeitsübung

Kirche St. Lorenz in Nürnberg

23  Bei den Benediktinermönchen

Kloster Metten

24  Schneewittchens Sarg

Ulmer Hof, Teilbibliothek I der Uni Eichstätt

25  Hier nervt keiner

Raum der Stille in Hersbruck

26  Die neue Unerreichbarkeit

Das Kranzbach in Krün

27  Wo die Energie wohnt: Qigong

Park in Altdorf

Exkurs III: Das Stille-Konzert 4’33’’ von John Cage

Festival des Hörens

28  Energie und Störfelder

Feng-Shui-Kurpark-Lalling

29  Wo der Blaue Reiter entstand

Gartenlaube in Sindelsdorf

30  Auf den Spuren Max Regers

Gasthof Waldfrieden in Brand im Fichtelgebirge

31  Privatissimum mit Dürer

Alte Pinakothek in München

32  Himmelwärts

Heinrich-Kirchner-Skulpturengarten in Erlangen

33  Die nackte Wahrheit: Aktzeichnen

VHS Augsburg

Exkurs IV: Wenn Lärm Spaß und Stille Angst macht

Von Einstürzenden Neubauten zum Leben ohne Netz

Quellenverzeichnis

Danksagung

Karte

Stille als Refugium

Zum Beispiel in Bayern

Stille ist eine kostbare Ressource und wie es scheint, wird sie immer kostbarer. Je mehr der gesellschaftliche Druck in Sachen (Selbst-)Optimierung wächst, umso größer wird das Bedürfnis nach Stille, Ruhe und Meditation. Kirchen und Klöster, Hotels und Restaurants, Buchhandlungen und Universitäten reagieren darauf. Das beginnt vom Kloster auf Zeit und endet noch lange nicht beim meditativen Sitzkreis, einmal die Woche, gleich hinter dem Münchner Marienplatz. Die Bahn, sonst eher eine zuverlässige Quelle von Unruhe, Lärm und Verdruss, hat sich zu einer handyfreien Zone entschlossen. Die Evangelische Landeskirche, im Bemühen, den Anschluss an die Gegenwart nicht zu verlieren, hat das spirituelle Reisen entdeckt und begleitet Stille-Touristen auf Berggipfel. Stade Zeiten heißt das neue Label, das von der Bayern Tourismus Marketing GmbH ersonnen wurde und so was wie ein weiß-blauer Stille-Atlas ist.

Und ein letztes Beispiel: Das Luxushotel Das Kranzbach, idyllisch gelegen zwischen Wetterstein und Karwendel und beliebter Zufluchtsort für erschöpfte Eliten, hat einen hauseigenen Ruhe-Index eingerichtet. Da kann der geneigte Gast dann nachschauen, wie ruhig es gestern wirklich war. Und ganz im Vertrauen: Es ist in aller Regel unglaublich ruhig. Dazu trägt auch bei, dass der Gast gleich an der Rezeption Smartphone und ähnliches Spielzeug abgeben darf. Dafür kann er dann in der Lounge die New York Times und die Hohe Luft lesen, was wenigstens keinen Krach macht. (Übrigens, Hohe Luft meint nicht das edle Hotel-Flair, sondern ist eine Philosophie-Zeitschrift aus Hamburg.)

Um all das wird es in diesem Buch gehen, aber noch um vieles mehr. Denn auch das Angeln bei Eckental, eine halbe Autostunde von Nürnberg entfernt, kann sehr entspannend sein und geht in aller Stille vor sich. Wie auch das Aktzeichnen an der Augsburger Volkshochschule oder der Besuch in der Allianz Arena, wenn die Bayern mal gerade nicht spielen. Dann ist es da fast so still wie in der Eichstätter Universitätsbibliothek, wenn nur die ganz Eifrigen da sind. Überhaupt Lesen, Lernen, Nachdenken und geistiges Arbeiten: Sie haben sich als Garanten für Stille und Konzentration erwiesen.

Übertroffen höchstens noch vom Schlaf, dem eigentlichen König der Stille. Ihm ist ein umfangreiches Kapitel gewidmet. Jürgen Zulley, einer der führenden Schlafforscher der Republik, plaudert darin über Schlafgewohnheiten, Schlafhygiene und inwiefern der Schlaf ein Abbild unseres Lebens am Tage ist.

»Altern«, so der Mediziner, der beneidenswert ausgeschlafen zum Interview erschien, »ist nur ein anderer Ausdruck dafür, dass wir im Alter weniger schlafen und damit schlechter regenerieren. Das sieht man uns dann auch an.«

Bei der Auswahl der Orte wurde darauf geachtet, dass ganz Bayern vertreten ist und nicht nur München und Nürnberg, was ein Leichtes, aber auch ein bisschen einseitig gewesen wäre. Bayerischer Wald, Fichtelgebirge oder Blaues Land sollten nicht einfach ausgeblendet werden. Ebenso wenig der sternenklare Nachthimmel – ohne Lichtverschmutzung, wie die Experten das nennen. Wir haben ihn dann in der Rhön gefunden, im Sternenpark Rhön, um genau zu sein.

Ein letzter Hinweis noch: Dieses Buch ist weitestgehend vor Ort entstanden, also weder zusammengegoogelt worden noch sonst wie im Netz zusammengeschraubt. Wer es also gerne etwas verstiegen mag: Es herrscht der Primat der Realität gegenüber der Digitalität. Spätestens beim Zahlen der Hotelrechnung merkt man den Unterschied.

Dem Leser freilich, so hoffen wir zumindest, bleibt mit dieser Old-school-Recherche der Eindruck des Aufgewärmten und Klischeehaften erspart. Auch das Navi darf mal schweigen und Wikipedia ebenfalls. Und nun viel Spaß beim Lesen!

Modernes Leben

1  Stau und Stille

Die Autobahnkirche Trockau

Autobahnkirche Trockau /// St. Thomas Weg 1 ///

91257 Trockau /// 0 92 46 / 2 64 ///

www.autobahnkirche-trockau.de ///

 

Architektonisch interessant und sehenswert ist die

Autobahnkirche St. Christophorus Himmelkron ///

Bernecker Strasse 27 /// 95502 Himmelkron ///

www.autobahnkirche-himmelkron.de ///

Achtung, Autofahrer! Wussten Sie schon, dass der Stau, phänomenologisch betrachtet, Teil des fließenden Verkehrs ist? Im Unterschied zum stehenden Verkehr. Der steht, da hilft der schönste Euphemismus nichts. Der Stau dagegen, selbst der schlimmste, löst sich irgendwann auf. Dann geht es weiter. Halten dagegen kann ewig dauern. Woraus folgt: Da der Stau zum fließenden Verkehr gehört, gibt es ihn gar nicht. Er ist ein Phantom, eine Halluzination.

Nachzulesen beim Stauberater unseres Vertrauens Wikipedia. Wir nehmen es mit Dankbarkeit zur Kenntnis; und sollten wir demnächst wieder im Stau stehen, wollen wir uns mit der Einsicht trösten, dass wir ja eigentlich fahren. Zwar nicht wie die präpotenten SUVs, die über die Standspur brausen, bis ein paar beherzte Brummifahrer (und welcher Brummifahrer wäre nicht beherzt?) nach rechts rausfahren und dem Spuk ein Ende machen. Aber doch so ähnlich. Letzten Endes ist eben Fahren oder Nicht-Fahren auch nur Ansichtssache.

So ein Stau ist eine interessante Sache. Wie er entsteht, hat man uns inzwischen oft genug erklärt. Uns gefällt besonders der Schmetterlingseffekt, bei dem ein individueller Fahrfehler zu einer Kettenreaktion führt, die schließlich in einem Stau endet. A bremst scharf, B bis X bremsen ebenfalls scharf, am Ende stehen alle. Als ähnliche Fahrfehler sehen die Autobahn-Spezialisten: 1. zu dichtes Auffahren mit dem Risiko heftigen Abbremsens, 2. zu schnelles Aufschließen mit demselben Risiko, 3. geistige Unterforderung im zäh fließenden Verkehr (»Wie wenig es braucht, ein Auto zu lenken«, heißt es bei Martin Walser), 4. Kolonnenspringen, um auf der neuen Spur vielleicht schneller voranzukommen.

Daneben gibt es andere Ursachen. Dass der Gütertransport nicht konsequenter von der Straße auf die Schiene verlagert wird, ist eine davon. Auch die Mautfreiheit für den Transitverkehr fördert die Entstehung von Staus. Und natürlich Unfälle, Baustellen, Großereignisse et cetera.

In der Tierwelt ist das Phänomen Stau übrigens weitgehend unbekannt. Ameisen etwa orientieren sich an den langsamsten; wer stehen bleiben muss, tritt zur Seite. Dazu fehlt beim Menschen, wie es aussieht, die kollektive Vernunft. Das Gen, Platz zu machen für andere, gibt es offenbar nicht. Er will vor allem seinen eigenen Vorteil wahren – mit der Folge des Nachteils für viele. Denn auch das ist wahr: Im Stau sind alle gleich, den roten Ferrari California ereilt dasselbe Schicksal wie den dahinkriechenden Trabi. Da hat man 490 PS unter der Haube und plötzlich sind alle Privilegien im Arsch. Crazy, oder?! (Vielleicht halten deshalb auch die Langsamen den Stau eher aus, während die Raser vom Dienst am meisten leiden. So gleicht sich alles aus im Leben, mental zumindest.)

Die Stille im Stau ist eine trügerische. Sie ist die Ruhe vor dem Sturm: explosiv, widerwillig, die Ambivalenz der Mobilität direkt vor Augen. Eine Herausforderung für Geist und Seele. Eine Blamage für Fortschrittsglauben und ein Leben auf der Überholspur. Zu überstehen nur für demütige Wagenhalter. Doch gerade das macht den Stau so interessant als psychosoziales Geschehen mit starker symbolischer Wirkung. Nichts geht und wir mittendrin. Was nun?

In den Autobahnkirchen, den »Rastplätzen für die Seele«, wie sie sich nennen, weiß man um die Folgen, die Stress auf der Autobahn haben kann. »Wir sind immer zur Stelle, wenn es zu spät ist und Tote und Verletzte gegeben hat«, sagt Josef Hell, Pfarrer der Gemeinde Trockau, die zwischen Pegnitz und Bayreuth liegt. »Man müsste aber im Vorfeld tätig werden, damit es gar nicht so weit kommt.« Als Notfallseelsorger und Feuerwehrmann wird Josef Hell gerufen, wenn es auf der A9 wieder mal gekracht hat. Oft ist das mehrmals am Tag der Fall.

Deshalb schlug der aus dem rumänischen Temesvar stammende Geistliche vor, die auf einer kleinen Anhöhe stehende Kirche als Autobahnkirche zu nutzen. Seit 2010 ist sie in Betrieb, mit beträchtlicher Resonanz. 25.000 Besucher hatte sie im letzten Jahr. »Danke für diesen Platz der Stille und Besinnung. Er hat uns sehr gutgetan auf dem Weg in den Urlaub«, schrieb etwa ein Ehepaar aus dem Schwarzwald ins Gästebuch. Daneben viele Eintragungen aus Übersee.

Trockau, der Finger Gottes, gut zu sehen von der Autobahn aus. Wer aus ihrem Getöse in die Kirche tritt, ist erstaunt von der tiefen Stille, die ihn empfängt. Tragende Backsteinsäulen, ein großzügiger, klar strukturierter Altarraum mit zwei Altären, eine flache, aus mächtigem Holz geschaffene Decke, bunte Fenster, durch die ein mildes Licht ins Innere fällt. Der Besucher spürt, wie er unwillkürlich durchatmet. Wie Spannung aus seinem Körper weicht, er den Fuß vom Gas nimmt, auch innerlich. Ob das alles schon Unfallprophylaxe ist, weiß niemand. Es spricht aber manches dafür.

Ein halbe Stunde weiter in Himmelkron, die nächste Autobahnkirche. Spektakulär modern gebaut. Wie eine Abschussrampe. Wie eine Sprungschanze. Gottes Bodenstation, wenn er ins Oberfränkische muss. Auch sie mit einem breiten Angebot, um zur Ruhe und Besinnung zu kommen. Gelegentlich, das wissen alle, kann eine Pause hier über Leben und Tod entscheiden.

Blick in den Rückspiegel: Im Stau sind alle gleich

2  Die Kunst zu schlafen

Andreasstadel in Regensburg

Ort des Interviews: Andreasstadel /// Andreasstraße 28 ///

93059 Regensburg /// 09 41 / 8 90 58 10 ///

www.kuenstlerhaus-andreasstadel.de ///

Jürgen Zulley: www.zulley.de ///

»Meine Weltabwehr absolviere ich … durch Schlafen.« (Odo Marquard in Endlichkeitsphilosophisches)

»Auch Schlafen ist eine Form der Kritik, vor allem im Theater.« (George Bernard Shaw)

»Gebt den Leuten mehr Schlaf und sie werden wacher sein, wenn sie wach sind.« (Kurt Tucholsky)

»Wir schlafen sämtlich auf Vulkanen.« (Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien III)

»Die Natur hat den Menschen drei Gegengewichte zu den vielen Mühseligkeiten des Lebens gegeben: die Hoffnung, den Schlaf und das Lachen.« (Immanuel Kant, manche sagen auch Voltaire)

»Im neoliberal-globalistischen Denken ist Schlafen nur etwas für Verlierer.« (Jonathan Crary in 24/7 – Schlaflos im Spätkapitalismus)

Ein kühler Frühlingstag Ende März. Die Sonne verliert sich hinter fett-weißen Schäfchenwolken. Wenn sie dann doch mal durchdringt, fehlt ihr die Kraft zur Wärme. In einigen Tagen beginnt die Sommerzeit, aber zum Sommer ist es noch ein weiter Weg.

Wir sind mit Prof. Jürgen Zulley, Deutschlands bedeutendstem Schlafforscher, verabredet. Als Treffpunkt hat er den Andreasstadel, das Regensburger Kulturzentrum direkt an der Donau, vorgeschlagen. Da sei er oft, hat er gemailt, zum Filmeschauen, bei Ausstellungen und Konzerten. Am Eingang zum Andreasstadel steht eine rote Bank, auf der er wie selbstverständlich Platz nimmt.

Jeans, grünes Sakko, ein bohemienhaft um den Hals geschlungener Wollschal, die Brille fein, fast filigran, kurze Haare, weltläufiges Auftreten, angenehme Stimme: Etwas sehr Legeres geht von dem 70-Jährigen aus, der 2010 in den Ruhestand ging. Von 1993 bis zum Zeitpunkt seiner Emeritierung hatte er eine Professur in Biologischer Psychologie an der Universität Regensburg. Daneben arbeitete er am örtlichen Uni-Klinikum, war lange Zeit im Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin und manches mehr. 2005 wurde er zum Schlafmediziner des Jahres gewählt. Zweimal im Jahr, im Frühling und im Herbst, gab Zulley seine Schlafseminare im Kranzbach-Hotel bei Garmisch-Partenkirchen.

Für das Gespräch hat er reichlich Zeit mitgebracht. Zwischendurch will ein Privatsender ein Interview von ihm zur Zeitumstellung: Kein Problem, eine halbe Stunde ist er weg, dann macht er bei uns just da weiter, wo wir unterbrochen wurden. Keine Frage, der Mann ist fit. Ausgeschlafen, könnte man sagen, wenn das nicht etwas doof klänge bei einem, der sein akademisches Leben mit Schlafforschung und Chronobiologie in den Max-Planck-Instituten Andechs und München verbracht hat. Nachzulesen alles in Mein Buch vom guten Schlaf. Endlich wieder richtig schlafen, mittlerweile das Standardwerk schlechthin, das auch munter die Bestsellerlisten rauf- und runterklettert.

Sein Credo: »Schlafen ist lebensnotwendig. Wenn also manche Menschen damit angeben, mit wie wenig Schlaf sie auskommen, ist das ziemlich dumm, weil sie damit wichtige Regenerationsvorgänge und Speichervorgänge unterbinden, die wir brauchen, um gesund zu bleiben. Ich hab es mal drastisch formuliert: Zu wenig Schlaf kann krank, dumm und dick machen.«

Die Folgen der Ökonomie an falscher Stelle sind für Jürgen Zulley auch klar: »Das Risiko für Erkrankungen steigt, die Lebensdauer verkürzt sich, das Gedächtnis verschlechtert sich und vieles andere mehr. Die Idee, das Schlafen beschleunigen zu wollen, ist absurd. Es ist ein autonomer biologischer Prozess.« Und dann ein sehr schöner Schlusssatz: »Im Alter wird der Nachtschlaf kürzer und leichter, das heißt, der Grad an Regeneration nimmt ab. Das sieht man uns dann ja auch an, das ist es, was wir ›altern‹ nennen können.«

Schlafen also. Muss man darüber überhaupt noch reden? Und kann man darüber reden, ohne in Binsenweisheiten zu versinken? Denn es stimmt ja: Keiner, der nicht wüsste, was Schlaf ist. Keiner, der nicht Nacht für Nacht seine Erfahrungen damit machte, gute wie schlechte, individuelle wie kollektive (zu denen beispielsweise der Verlust von Dunkelheit in den Städten gehört).

Das ist bei Männern nicht anders als bei Frauen, auch wenn diese im Schnitt bis zu zwei Stunden länger schlafen. Dafür haben sie auch eher Schlafstörungen als Männer, während diese mehr schnarchen. Selbst Träume sind geschlechtsspezifisch unterschiedlich, fanden Schlafmediziner kürzlich bei einem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) heraus. Während es in den Träumen der Männer eher kriegerisch zugeht, sehen sich Frauen beim Shoppen schöner Dinge zu. Auch der Schlaf hat eben seine Stereotype. Der Traum sowieso.

Überraschend ist jedoch vor allem eins: Obwohl der Schlaf als elementares menschliches Geschehen so alt ist wie die Menschheit selbst, ist die Schlafforschung eine sehr junge Wissenschaft.

»Die moderne Schlafforschung, die unser heutiges Wissen zum Phänomen Schlaf entscheidend voranbrachte, begann 1935 an der Harvard University in den USA«, erzählt Zulley. »Damals schlief zum ersten Mal ein Mensch in einem Labor, mit Elektroden am Kopf, die alles Messbare registrierten. Doch auch nach 80 Jahren Schlafforschung und einer Flut an Erkenntnissen kann bis heute nicht beantwortet werden, was Schlaf eigentlich ist.«

In dieser Ansicht stimmt Zulley mit einer anderen Koryphäe der europäischen Schlafforschung überein: Alexander Borbély. Der ungarische Pharmakologe forschte lange Zeit an der Universität Zürich zum Thema Schlaf. Sein wichtigstes Buch trägt den Titel Das Geheimnis des Schlafs, was eigentlich schon alles sagt über den Forschungsstand in Sachen Schlaf. In Sternstunde Philosophie, sonntags bei 3sat, antwortete Borbély auf die Frage, warum wir schlafen, in erfrischender Offenheit: »Wir wissen es nicht.« Immer wieder gebe es Theorien, die sich jedoch nach kurzer Zeit als falsch herausstellten.

Begnügen wir uns also mit Annäherungen, mit Detailwissen und der Hoffnung, dass daraus ein Gesamtbild entsteht. Hirnforschung und Neurobiologie mit ihren neuen Messungen und Methoden nähren diese Hoffnung. Zum Beispiel bei der Frage, was wir als Schlafstörung verstehen wollen. Klar ist eins: Die Tatsache, dass wir jede Nacht 28-mal aufwachen, dann aber wieder einschlafen, ist ganz normal, mithin also keine Schlafstörung. Die Antwort von Prof. Zulley geht denn auch in eine andere Richtung: »Von einer Schlafstörung sprechen wir dann, wenn der folgende Tag gestört ist. Wenn Sie Einbrüche an Konzentration, Arbeitsfähigkeit et cetera erleben. Das klingt zunächst mal merkwürdig, aber daran sehen Sie, dass der Schlaf in der Nacht davor nicht erholsam war. Ab vier Wochen in Folge haben wir es dann mit einer Schlafstörung zu tun.«

Die Gläser sind leer, das Aufnahmegerät voll. Von der Donau kommt es frisch und feucht herüber. Die Sonne hat längst kapituliert. Es hilft alles nichts: Wir müssen rein. In die Kinokneipe, in die Galerie, die der Andreasstadel auch ist.

Prof. Jürgen Zulley vor dem Andreasstadel in Regensburg

Zeit für eine Schlussfrage. »Gibt es einen Königsweg zum guten Schlaf, Prof. Zulley?«

»Viele sprechen von Schlafhygiene, ich nenne es lieber Schlafkultur. Verkürzt gesagt bedeutet es: Alles, was Sie den Tag über erleben, nehmen Sie mit in den Schlaf. Und das führt zu der Überlegung: Was kann ich am Tag, am Abend, in der Nacht tun, um besser zu schlafen? Also mich bewegen, Pausen machen, den Tag strukturieren, Zeit haben für Freizeit, Sport, Kultur, Kontakte, für die Lust am Leben und Ähnliches. Und ganz wichtig ist, am Abend zu entspannen, zur Ruhe zu kommen. Herunterzukommen von Stress, Hektik und allen Erregungszuständen.«

Leicht gesagt und schwer getan. Der Kontinent Schlaf, so scheint es, wird gerade erst erforscht. Ein Fazit: Die vielleicht letzte Bastion an Privatheit ist in Gefahr. Sagt Jonathan Crary, der Kapitalismuskritiker. Polemisch überspitzt sagt er auch: Es ist kein Staat zu machen mit unserem Schlaf. Wenn wir schlafen, konsumieren wir nicht, produzieren nicht, kommunizieren nicht. Der Schlaf hat keinen Marktwert, sein Image ist schlecht. Wie der Koala in der Astgabel (tägliche Schlafzeit: 20 Stunden) hockt er in unserem Leben. Ohne Ehrgeiz, ohne Lust am Kämpfen, interesselos, absichtslos, bewegungslos. Er ist die Negation all dessen, was uns im Wachzustand wichtig ist.

Man könnte auch sagen: Er ist das Beste, was wir haben.

Eine kleine Auswahl an Schlafbüchern

3  Vier Wochen Handyfasten

Dominicus-von-Linprun-Gymnasium in Viechtach

Dominicus-von-Linprun-Gymnasium Viechtach ///

Jahnstraße 36 /// 94234 Viechtach /// 0 99 42 / 9 44 20 ///

www.gymnasium-viechtach.de ///

Jugendliche ohne Handy, geht das überhaupt noch? Oder gibt es Entzugserscheinungen ernsterer Art? Mit leichtem Frösteln erinnert man sich an die Congstar-Umfrage von 2012, als 60 Prozent der Jugendlichen zwischen 14 und 19 Jahren angaben, lieber auf Sex als aufs Handy oder Smartphone verzichten zu wollen. Bei den Mädchen waren es sogar 70 Prozent. Die Umfrage musste damals herbe Kritik an ihrer methodischen Vorgehensweise einstecken, so waren nur 600 Jugendliche befragt worden. Den Trend freilich, den die Erhebung deutlich machte, wollte niemand anzweifeln. Eine S-Bahn-Fahrt vor Schulbeginn oder nach Schulschluss hätte ihn auch schnell eines Besseren belehrt.

Denn auch die folgenden Beispiele sind nicht nur spektakuläre Ausnahmen: Laura, zwölf Jahre alt, hatte nach einer Woche Ferien 5.000 neue Mitteilungen auf dem Handy; Jeff, ebenfalls zwölf Jahre alt, bekam in den Weihnachtsferien 10.000, und der gleichaltrige Adrian bringt es auf 500 Nachrichten am Tag. Alle drei gehen in die Klasse 6d eines Hamburger Gymnasiums. Die Zahlen stammen aus einer Umfrage von Die ZEIT für die Schule. Sie addieren sich aus dem, was den Durchschnittsschüler pro Tag auf seinem Handy erreicht. Fragen, Fotos, Grüße, Videos, von WhatsApp und Instagram bis Twitter und Facebook. Jeder Schüler ein mittleres Postamt.

Am Dominicus-von-Linprun-Gymnasium in Viechtach wollten es Schüler und Lehrer deshalb genau wissen und sperrten Handys und Smartphones vier Wochen lang in den Schulsafe. Das übernahm Schulleiter Martin Friedel persönlich. Und weil man schon mal dabei war, verordnete man sich PC- und TV-Fasten gleich mit. »8b leider zurzeit nicht erreichbar« wurde als Motto ausgegeben, und damit alle Bescheid wussten, was da abgeht, wurde ein Satz blaue T-Shirts mit diesem Spruch gedruckt. Sie wurden von den 24 Schülern während der handylosen Zeit getragen, mit einigem Stolz sogar, auch wenn ein Schüler beim Einsammeln der Handys die Assoziation hatte: »Das hat schon ein bisschen an eine Beerdigung erinnert.« Weil aber die Klasse trotzdem durchhielt, gab es zur Belohnung ein Zeltlager. Mit Lagerfeuer, aber ohne Handys, logisch.