«Österreicher bist du erst in Jesolo» - Gerald Heidegger - E-Book

«Österreicher bist du erst in Jesolo» E-Book

Gerald Heidegger

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Beschreibung

Tarvis, Triest, Jesolo. Wenn die Österreicher über die Grenze in den Süden fahren, werden sie mehr als bloß sentimental. Bewusst als Österreicher fühlen sie sich einfach erst im Ausland. Was man daheim mit dem viel zitierten Grant belegt hat, verteidigt man im Ausland mit Stolz. So erklären die Österreicher gern, warum sie spezieller sind als andere. Raffinierter. Warum sie Witz haben. Und nicht so bierernst sind wie die Deutschen, die im Ausland immer nur die Fehler gegenüber dem funktionierenden Daheim suchen. Das Daheim der Österreicher ist nicht das Funktionieren. Es ist das Ideal. Und so schwillt spätestens auf dem Vaporetto in der Lagune von Venedig der Kamm vor Stolz: War das nicht alles früher Österreich? Waren «wir» nicht einmal groß? Reichte das Land nicht bis zur Adria?Österreicher bist du erst in Jesolo sucht nicht nach einer Sentimentalität oder nach der österreichischen Größe in der Vergangenheit. Gefahndet wird nach dem Mindset, welches das Land seit seiner Verkleinerung 1918 und einer behaupteten «Stunde Null» 1945 geprägt hat. Zu erkennen ist dieses Mindset erst mit dem Grenzübertritt. Und dem Blick hinüber nach Hause.

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Für Nils und Benedikt

GERALD HEIDEGGER

«ÖSTERREICHER BIST DU ERST IN JESOLO»

EINE IDENTITÄTSSUCHE

Gerald Heidegger

«Österreicher bist du erst in Jesolo»

Eine Identitätssuche

1. Auflage

© bahoe books, Wien 2024

Covergestaltung: Verena Repar

Titelbild: Campari-Schaukel von Rimini

atlantic-kid / Alamy Stock Foto

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Stadt Wien (MA7)

ISBN 978-3-903478-19-0

eISBN 978-3-903478-27-5

bahoe books

Fischerstiege 4–8

A-1010 Wien

Österreich

bahoebooks.net

Inhalt

Prolog. Das waren einmal und das sind jetzt wir

Eins. Im «schrägen Durchgang»:Österreich, Italien und die Verschiebung aller Grenzen

Zwei. Verstellte Selbstbilder:Ein anderes Erbe der Aufklärung

Drei. Der imaginäre Name Österreich

Vier. Grillparzer und die Geheimschrift Österreich

Fünf. Kultur als Notationssystem

Sechs. Erfindung der Tradition und Österreichs herausragende Stellung

Sieben. «Wiener Gemurksel»:Überlegenheitssehnsüchte 1938–45

Acht. Rückgriff statt Zäsur:Österreichs moderate Moderne nach 1945

Neun. Tiefengrund der Gegenwart:Von den 1980ern zurück in die 1970er Jahre und wieder weiter

Zehn. Geschichte und Aufdeckung:Die 1980er und die Folgen

Elf. Weltbürgerschaft und Warnung:Flucht nach Rom

Zwölf. Caorle liegt gleich am Karlsplatz

Bibliografie

«Solange das Geld, die italienische Oper und die Heimreise zu bezahlen, reicht, bleibe ich in Wien!»

Georg Friedrich Hegel, 1824, an seine Frau

«Forza Jesolo!»

Hans Krankl

Gabriele D'Annunzio (links) vor dem Flug nach Wien am 9. August 1918 mit dem Piloten Natale Palli.

Prolog. Das waren einmal und das sind jetzt wir

Für ein Wiener Kind der 1970er Jahre waren der Geschmack einer Pizza und das Aroma von Olivenöl die ersten kulinarischen Fremderfahrungen im Leben. Im Alter von sechs Jahren hätte ich mich fast nach Hause gesehnt, wäre da nicht, an der Oberen Adria, die erste Begegnung mit dem Meer gewesen. Alle sehnten sich damals im Österreich der 1970er Jahre nach den Adria-Stränden. Fern- oder Flugreisen waren für die meisten noch gar kein Thema. Mein Onkel Bertl von der Nachbarstiege, der gar nicht mein Onkel war und eigentlich Engelbert hieß, war in der Expertise zu den idealen Urlaubsorten an der Oberen Adria nicht zu überbieten: In Grado zähle vor allem die Pineta, Lignano sei zum Campen da, Caorle überhaupt «der Traum». Caorle sprach er charmant mit einem «U» nach dem «A» aus, und beim Wort Bibione zählten die Pausen zwischen den Silben. «Und bis du dann in Jesolo bist», pflanzte ihn mein Vater, der auch Bertl hieß, «geht dir schon wieder dein Schnitzel ab». Das konnte der andere Bertl nicht auf sich sitzen lassen. Aber abstreiten konnte er es auch nicht. «Da unten werden wir erst richtig wir», schwadronierte der andere Bertl und zelebrierte den großen Philosophen des Lebens. Eigentlich meinte er mit seinem Da unten: «Das waren alles einmal wir.»

Vielleicht erkannten diese zwei Wiener aber auch, dass uns Italien von der Haltung näher stand als das gleichsprachige Deutschland: Gesellschaft und Theater sind für beide Länder eins. Die Pose ist ein nicht unwichtiger Bestandteil von dem, was man gemeinhin «Haltung» nennt. Und wenn ein Wiener den anderen auffordert, «doch kein Theater» zu machen, so ist damit die Aufregung zu einem Thema gemeint, der man immer auch etwas Künstliches unterstellt. Italien und ‹wir›, das war auf jeden Fall «ein Theater», wie man in Wien sagt.

Später, als ich während meines Studiums Reiseleiter war und jedes Jahr mit österreichischen Reisegruppen fünf-, sechsmal in die Toskana fuhr, um die Renaissance zu entdecken, fiel mir stets eines auf: Spätestens nach dem letzten Tunnel des Kanaltals, als man die Tolmezzo-Kurve hinter sich gelassen hatte, fingen die Gäste an Bord an, über «daheim» zu reden. Irgendwie triggerte schon der Anblick der rostigen Leitplanken am Straßenrand die wiedergefundene Wertschätzung für das Zuhause. Das, so könnte man einwenden, ginge anderen Nationen, gerade im benachbarten Ausland, doch nicht anders. Doch die Österreicher führten die Liebe ans Daheim in allen Gesprächen mit, in die sie sich mit Italienern radebrechend einließen. Wer sie daheim grantelnd erlebte, sah sie hier in Italien stolz. Dieses Land wollte der Welt erzählen, dass es etwas erreicht hatte, dass es klein, aber besonders war.

Der LASK, berichtete ein Mann aus Linz jüngst auf der Bootsüberfahrt von Punta Sabbioni nach San Zaccheria den neben ihn sitzenden Fans von Veneziamestre, die zum Heimspiel nach Sant’Elena unterwegs waren, würde sich bald groß in Europa machen. «Natürlich sind wir nicht Italien, aber da kommt noch was», kündete er den freundlichen Venezianern von künftig Großem aus dem kleinen Land.

Wenn Marco Arnautovic bei Inter einmal von Anfang an spielt und nach einem mehr als unauffälligen Match den einen genialen Pass macht, den sein Kollege Nicolò Barella zum Tor verwandelt, dann tanzen die Headlines in Österreich vor Verzückung zu dem wilden Genie, das ‹wir› in die Lombardei geschickt haben. Die Gazzetta dello Sport schrieb zum selben Ereignis am 24. Dezember 2023 nüchtern: «Der Österreicher hat alles falsch verstanden, aber zeichnen wir das Talent aus, trotzdem im Match zu bleiben bis zu dem Moment des genialen Passes an Barella, der das 2:0 markiert; und weil Weihnachten ist, geben wir ihm 6,5 Punkte.»

Österreichs Schlüsselbegegnungen mit Italien spielten sich eigentlich immer auf dem Boden des Theaters ab. Hatte Maria Theresia die Scala in Mailand nach dem Brand des Teatro Regio Ducale errichten lassen, so wurde dieses Opernhaus zum Schicksalsort österreichischer Herrscher bei den Besuchen auf italienischem Boden. Der mit toskanischer Färbung Italienisch sprechende Kaiser Franz I., der die wiedererlangten habsburgischen Besitzungen in Oberitalien unbedingt unter den Wiener Zentralismus pressen wollte, schleppte im neuen Jahr 1816 seine schwerkranke Frau Maria Ludovica zu einer Huldigungsveranstaltung in die Scala, die mehr als bemüht war. Am Palmsonntag desselben Jahres sollte Franz I. Maria Ludovica in Verona im Alter von gerade einmal 28 Jahren verlieren. 41 Jahre später besuchte Kaiser Franz Joseph im Jänner 1857 die Scala gleich zwei Mal, um dort gemeinsam mit seiner Frau Elisabeth den damals gefeierten jungen Tenor Antonio Giuglini zu erleben.

Die gesamte Reise der beiden durch Oberitalien stand unter keinem guten Stern, was die Stimmung bei den Empfängen anlangte. Je nach nationalem Standort der Betrachtung war der Besuch des Kaiserpaares in Mailand ein Fiasko oder ein Ereignis, bei dem die junge Kaiserin die skeptischen Mailänderinnen und Mailänder mit ihrer offenen Art zu überzeugen wusste. Zwischen diesen historischen Wahrnehmungen steht auch noch der Sisi-Film, der nicht unwesentlich auf die populäre Geschichtsvorstellung Österreichs wirkte.

So war alles einmal Österreich im oberen Teil dieses ‹Da Untens›, nicht immer populär, aber doch geachtet. Und ein bisschen, auch durch den Hang zum Theatralen, waren die Italiener dann doch immer schon ‹wie wir›. Das stimulierte auf dem fremden Boden Selbstreflexion und zugleich auch den Vergleich. Waren die Italiener nicht auch: weniger regelkonform, flexibler und stets mit der Gabe zur Improvisation ausgestattet? Waren nicht ‹wir› wiederum die Italiener unter den Deutschen? Denn wenn sich Österreicherinnen und Österreicher im Ausland befinden, zählt eines gewiss auch mit: den Unterschied zu den Deutschen zu markieren. Während sich die Deutschen damit abgefunden haben, nicht gewollt zu sein, wollen die Österreicher das Gegenteil: gemocht werden – und letztlich auch: gesehen werden. Gerade auch in Italien, mit dem man bis zur Mitte der 1970er Jahre die schwierigsten Kapitel in den wechselseitigen Beziehungen überwunden hatte. Und denkt man an Themen wie die Südtirol-Frage, dann waren die zu überwindenden Hürden gar keine so kleine. Doch belastendes Vergangenes, das nahm im Lauf der Jahrzehnte gerade im Umgang mit Italien aus österreichischer Sicht ab. Zudem war Italien ein guter Ort, das wusste schon Goethe, um sich über das Eigene in einer Art des Selbstgespräches zu verständigen.

Weniger als den Deutschen freilich geht es beim Blick auf das Daheim von Italien aus um die Erinnerungen an das Funktionieren des eigenen Gebildes, an dieses Es-besser-Können. Es ist schlicht das Ideal, das für die österreichische Perspektive zählt. Und das Ideal, es schimmert erst aus einiger Blickdistanz durch alles durch.

«Österreicher bist du erst in Jesolo» sucht nicht nach einer Sentimentalität oder nach der österreichischen Größe in der Vergangenheit. Schon gar nicht ist es ein Versuch in der Reihe großer Mitteleuropabeschönigungen. Gefahndet wird hier nach dem Mindset, welches Österreich seit seiner Verkleinerung 1918 und einer behaupteten «Stunde Null» 1945 trägt. Italien ist eine gute Kontrastfolie und das österreichische Verhältnis zu Italien ein ausgezeichneter Seismograf, um der österreichischen Identitätskonstruktion einmal anders auf die Schliche zu kommen.

Tatsächlich hat das Land nach 1918 und auch nach 1945 keine neue Erzählung zu seiner Identität finden können, die ohne Bezug auf die Habsburgergeschichte auskommt. Auf der anderen Seite zieht es wieder Italienerinnen und Italiener als Touristen bei ihren Österreich-Besuchen hinein in einen Taumel, der historisch voller Widersprüche ist. Hatte Italien seine Identität, Selbstbestimmung und Freiheit nicht entscheidend vor allem auch gegen Österreich durchgesetzt? War der «Radetzky-Marsch» von Johann Strauss Vater nicht ein Werk für das Kaisertum, gegen die Revolution und auch für die Niederschlagung der bürgerlichen Emanzipationsbestrebungen in Italien? Zu all dem wird weiterhin alljährlich beim Neujahrskonzert applaudiert.

Nach den Napoleonischen Kriegen und dem Wiener Kongress sollte Österreich die Vorherrschaft in Italien ausüben, freilich ohne über alle Gebiete am Apennin zu verfügen. Diese Aufgabe jedoch konnte Österreich nicht erfüllen, nicht zuletzt auch durch ein Nicht-Lesen der Welt. Just diese letzte Habsburgerzeit ist aber in Österreich die Identitätsschablone geblieben, weil diese immer auch gegen alle Einbrüche des Neuen, Modernen oder Widersprüchlichen gesetzt werden konnte.

«Österreicher bist du erst in Jesolo» erzählt somit vom Österreich-Paradoxon, Identität dort zu verorten, wo sie eigentlich am brüchigsten ist. Über die Heimat dann nachzudenken, wenn man nicht mehr in der Heimat ist. Und für die Sehnsucht nach sich selbst Vorstellungen zu bemühen, die nicht mehr jene der Zeit sind. Die Idee von Mitteleuropa und das Bild vom Schloss Miramare, es gefiel nicht zuletzt jenen Kulturwissenschaftern, die im Weltbürgertum weniger den Bürger als den alten österreichischen Adel wieder fanden.

Wenn der Historiker Oliver Rathkolb die Zweite Republik treffend als «paradoxe Republik» bezeichnet, so wird hier der Begriff der Paradoxie für eine längere Betrachtungsperiode verwendet. Schon die Aufklärung in Österreich war paradox, spielte sie sich doch zwischen den Polen staatlicher Verwaltungssteuerung und ungezügelten Selbstermächtigungsprozessen auf Seiten des Volkes – man denke etwa an die «Leserevolution» der 1780er Jahre – ab. Der Dichter, er war in Österreich im 18. und auch im 19. Jahrhundert ein Staatsdiener, bevor er als selbstständiger Autor nach 1918 begann, die Idee staatlicher Identität über das Terrain der Kultur zu formen.

Italien war mit seinem Risorgimento hierbei früher dran. Spätestens in der Fernliebe von Hugo von Hofmannsthal zu Gabriele D’Annunzio wird der Dichter zum Kommandanten des Selbstfindungsvorganges. Während D’Annunzio im Sommer 1918 über Wien fliegt und Flugblätter gegen Österreich und für den Stolz Italiens abwirft, bemüht sich Hofmannsthal beim letzten Kaiser Österreichs um die Gründung eines Kunstfestivals in Salzburg. Während D’Annunzio zum Mentor des Duce wird, verfasst Hofmannsthal pathetische Huldigungen auf den österreichischen Geist und die besondere Sendung seiner Heimat – und erreicht gemeinsam mit seinen Mitstreitern die Etablierung der Salzburger Festspiele als Projektionsspektakel für einen genuin österreichischen Geist.

Eine besondere Sendung prägt das Bewusstsein in Österreich. Trotz der Kleinheit in der Welt. Schon als amputiertes Kaiserreich nach dem Wiener Kongress sollte eine Gefahr überwunden werden: die von Revolutionen, von Umstürzen in der Welt. Geradezu sinnbildlich wirkt hier die Herrschaft des Hauses Habsburg in der Lombardei. Die aufstrebenden liberalen bürgerlichen Kreise sollten «entpolitisiert», die Abwehr der Revolution über den kalten Arm des Polizeistaates durchgesetzt werden. Alle Bilder, die ab den 1830er Jahren in Oberitalien entstehen, arbeiten gegen den österreichischen Zugriff auf das neue Selbstbewusstsein im Norden des Apennins. Bis in die Fankurven heutiger Stadien in Italien zieht sich eine Ikonografie gegen das Haus Habsburg, ohne dass es etwa den Fans im San Siro immer bewusst ist. Der «Radetzky-Marsch», er ist in Italien das Gegenteil von einem Werk, zu dem man wie in Wien klatscht. Der Marsch, der die Zurückgewinnung der Lombardei nach den Aufständen des Frühjahres 1848 und letztlich den Geist der Restauration gegen die bürgerliche Selbstermächtigung zelebriert, ist zu einem Stück österreichischer Selbstbestimmung geworden, der in Österreich sogar im Fußballstadion eingespielt wird. In Mailand dagegen weht in der Nordkurve von San Siro bei den Inter-Fans ein Transparent, in dem unter dem Motto «Io che amo solo te» («Ich, der nur dich liebt») die Verbundenheit mit dem eigenen Verein durch ein Sujet des malenden Revolutionsromantikers Francesco Hayez unterlegt wird. Sein Bild Der Kuss gilt als eine der großen Widerstandshaltungen gegen Österreich, obwohl es eigentlich nur den Abschied eines Soldaten von seiner Geliebten zeigt. Das populäre Bild beschwört Zusammenhalt gegen alle Einflussnahmen von außen. Und in der «Curva Sud», bei den Milan-Fans, kann man im Mailänder Stadtderby schon einmal die Losung von der «Tradizione meneghina» lesen: «Meneghina» als Synonym für typisch «milanese» geht auf den Meneghino der Commedia dell’Arte zurück. Und auch dieser selbstbewusste Charakter stand die längste Zeit als bürgerliche Widerstandsfigur gegen den Zugriff von oben. Kaum ein Mailänder wird sich erinnern, dass die Prachtbauten der Stadt aus dem späten 18. Jahrhundert von Wienern wie Leopold Pollack gestaltet wurden, der auch Architekt des berühmten klassizistischen Palazzo Reale ist, dem heutigen Ort der staatlichen Galleria d’Arte Moderna.

Man mag es Österreich schon als große Leistung anrechnen, aus der radikalen Verkleinerung doch so etwas wie ein Selbstbestimmungsbewusstsein gewonnen zu haben. Man kam nur über die Behauptung einer besonderen Sendung des Landes dazu, die Verzwergung auf Deutsch-Österreich verkraften zu können. Die Schulung durch D’Annunzio war für Hofmannsthal nicht vergeblich, entdeckte er doch für Österreich in den 1920er Jahren, dass die Kultur das rettende Terrain für die Sicherung von Identität sein müsse. Kultur, das ist nicht Kritik und Differenzierung. Kultur ist in Österreich Bestätigung und Einübung in sich selbst. Und bis zur Gegenwart herrscht in dem Land das Gefühl vor, die Welt müsse man nicht gestalten, sondern man müsse sie vor allem: erzählen und dramaturgisch immer in die Idealvorstellung zwängen. Das ist die österreichische Form der Zentralperspektive: wir im Mittelpunkt der Welt. So muss gerade auch die Medienpolitik Österreichs besessen davon sein, die Welt von Österreich aus wegzuerzählen. Das ist mehr als Robert Musil einst mit der Scheidung von Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn gemeint hatte. Österreich ist die Übersteigerung der Welt. Vom Barock bis zum einstigen «Hausmeisterstrand» an der Adria. Im Sand der Lagune und im Schatten von Miramare kann sich ein Land gewiss sein: Österreich ist und bleibt besonders.

Die schon in der Restauration erhoffte Entpolitisierung der Welt, vorzüglich vorgelebt in der Herrschaft Österreichs in der Lombardei oder dem Veneto der 1830er und 40er Jahre, sollte bis in die Gegenwart ihre Schatten werfen. Politdebatten wurden in Österreich gerne zu Haltungsdebatten umfunktioniert, unabhängig davon, ob man im linken oder rechten Feld stand. Die großen Konflikte um das Burgtheater waren Haltungsdebatten, meist von Männern bestimmt und dominiert. Auch jetzt, in der Gegenwart, sind es Haltungsdebatten, nach denen gerade auch in Österreich die Welt sortiert wird. Leichteste Abweichungen der Haltung sorgen für tiefe Irritationen. Das, was heute als Moralisierung des Politischen in der Erregungskultur Sozialer Medien beschrieben wird, war in Österreich schon an der Tagesordnung, als es noch gar keine Plattformen wie Twitter oder Facebook gab. Österreich hatte sich. Und Österreich hatte Moral. Mit dieser Moral im Gepäck konnte gehandelt werden. Das Eigene, so die Losung, müsse klar vom ‹Anderen› geschieden werden.

Österreich ist für sich gerade in seinem Funktionieren ein Wunder. Eines, das sich nicht erklären will. Wer die Werke eines Franz Grillparzer oder Adalbert Stifter nicht nur aus dem Geist der Bewahrung in der Schulbildung verordnet bekam (was heute sicher aus vielerlei anderen Gründen nicht mehr passiert), der durfte ja immer über eines staunen: Die Welt war bei beiden dem Wahnsinn nie so fern. Aber der Zusammenhalt der Welt, er wurde durch eine Reihe unsichtbarer Gesetze garantiert. Nicht der Begriff, sondern die Summe der Gefühle und der Botschaften ordnen ein Land, das, wie Italien, zu sich selbst am ehesten auf der Bühne des Theaters findet.

«Wiedererkennungserlebnisse» hat das die Theaterwissenschafterin Hilde Haider-Pregler am Beispiel von Thomas Bernhard genannt – und im Grunde trifft sie damit den Geist einer Auseinandersetzung, die das öffentlich Wirksame stets aus dem Geist eines breit dargebotenen Volksstücks ableitet.1 Bernhards Texte nehmen in der jüngeren Vergangenheit des Landes nicht umsonst eine zentrale Stellung ein und verdrängen damit das dramatisch Differenzierte. Wenn also die «imaginierten Kopftheatererlebnisse», so noch einmal Haider-Pregler, das Wirksame verbürgen, dann war Bernhard der Meister darin.2

Differenziertere, theoretischere Betrachtungen zur Art des Theaters Österreich und des Theaters an sich, mussten da ausgeblendet werden. Knapp vor der Zeit der größten Theater-Skandale Bernhards, die Österreich immerhin das Gefühl gaben, am Leben zu sein, formulierte es die spätere Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek in ihrem Text Ich möchte seicht sein 1983 grundsätzlicher: «Ich will nicht spielen und auch nicht anderen dabei zuschauen. Ich will auch nicht andere dazu bringen zu spielen. Leute sollen nicht etwas sagen und so tun, als ob sie lebten. Ich möchte nicht sehen, wie sich in Schauspielergesichtern eine falsche Einheit spiegelt: die des Lebens. […] Ja, sie treten an die Stelle der Personen, die sie darstellen sollen und werden zum Ornament, zu Darstellern von Darstellern, in endloser Kette, und das Ornament wird auf der Bühne das Eigentliche. […] Und ich sage: Weg mit ihnen! Sie sind nicht echt. Echt sind nur wir. Wir sind das meiste, das es gibt, wenn wir schlank und schick in unsren eleganten Theaterkleidern hängen. Richten wir die Blicke nur noch auf uns! Wir sind unsere eigenen Darsteller.»3

Wenn Österreich in seiner Kleinheit doch der Mittelpunkt der Welt ist und sich auch sein Verhältnis zu den Nachbarn aus diesem Mittelpunktgefühl erzählt, dann ist das Konzept vom Welttheater, wie es etwa in Salzburg formuliert wird, gut gewählt.

Gerade das kleine Österreich möchte, verständlicherweise, seinen Anspruch auf die Geschichte wahren. Der Bezug auf die einstige Größe vor 1918 ist dabei nicht immer hilfreich. Zu sehr hat Österreich eigene Leistungen übersehen – oder sie sich auch, nicht zuletzt von einer bundesdeutschen Wissenschaft, zu leicht vom Brot nehmen lassen. Zu sehr hat sich Österreich in der Größen-Sentimentalität selbst verklärt – und aus Problem- und Aufgabenstellungen ein Ideal geformt. Bestes Beispiel: der Mitteleuropa-Begriff.

«Österreicher bist du erst in Jesolo» schaut bewusst von Italien aus auf die Geschichte Österreichs, weil eine Neubewertung der Leistungen, Versäumnisse und Identitätskonstruktionen ansteht. Über den Umweg Oberitaliens ist auch ein trefferendes Bild der Aufklärung in Österreich möglich. Diese Neujustierung kann auch so manch deutscher Einschätzung zum «katholischen Süden» zu einer längst fälligen Genauigkeit verhelfen.

Eins. Im «schrägen Durchgang»: Österreich, Italien und die Verschiebung aller Grenzen

Als sich Ende der 1960er Jahre bereits gut eine halbe Million Österreicherinnen und Österreicher im Sommer an die italienischen Adria-Strände aufmachen, liegt das Gros der schwierigsten Kapitel des österreichisch-italienischen Verhältnisses hinter beiden Ländern. Museen und Monumente erinnerten daran, dass man sich gerade im Verlauf des Ersten Weltkriegs teils unerbittlich bis auf den höchsten Berggipfeln gegenübergestanden war. Die Lösung der heiklen Südtirolfrage war damals zwischen Österreich und Italien noch offen.

Als in den 1970er Jahren noch größere Massen nach Italien strömten und sich der breitere soziale Aufstieg auch im Urlaubsverhalten verfestigte, war im Umgang mit Südtirol durch das so genannte «Autonomiepaket II» eine tragfähigere Lösung für ein besseres Auskommen beider Staaten gefunden worden. Über den Brenner, vor allem aber über den in den Medien damals auch «schräger Durchgang» genannten Weg durch die Tunnelstrecken des Kanaltals, zog es die Urlaubshungrigen an die Strände der Adria von Grado bis hinunter nach Cattolica. In der Vor-Schengenzeit hat «das Urlaubsabenteuer» beim Schranken von Thörl-Maglarn, «erst richtig begonnen», wie der Sozialwissenschafter Wilhelm Berger das Reisegefühl von damals treffend beschrieb: «Die Bewohner des ‹schrägen Durchgangs› haben mit den Durchreisenden ein Geschäft gemacht, ehe die Autobahn sie wegkanalisierte.»4 Den Mussolini-Wein konnte der Herr Karl auf seinem Weg in die Fremde jedenfalls schon in Tarvis erwerben. Gefragt waren damals für jede Form des Geschäfts das Schmiermittel der Völkerverständigung: und das hieß Devisen. Der Lire-Schein mit den von Jahr zu Jahr mehr werdenden Nullen ist auch Teil der Italienerfahrung, die sich in dieser Zeit verfestigte. So wie die Erinnerung an jene Händler, die hinter der Grenze nicht nur eine Uhr am Handgelenk trugen, sondern gleich zehn am ganzen Arm. «Den Herrn Karl», war Helmut Qualtinger im Rückblick auf die von ihm mitgeschaffene Figur sicher, sei nicht eine genuin österreichische, die «kann es überall geben. In Italien könnte er Carlo heißen. Zuerst war er Monarchist, danach sehr von Mussolini beeindruckt. Heute ist er glühender Vertreter der Republik.»5

Jetzt standen sie sich also neu gegenüber, die Italiener und die Österreicher, freudig angeregt durch die Geschäfts- oder Ferienerwartung.

Das Italien-Bild der Österreicherinnen und Österreicher wird schon seit Mitte der 1960er Jahre neu kalibriert. Auch im Bereich der Eliten kommt es auf der Seite Österreichs zur Revitalisierung vergessen geglaubter Sentimente. Mitteleuropa und der Habsburgermythos werden als Idee wiederbelebt und geistern im Schatten des Kalten Krieges durch ein Land, das sich mit der Moderne in Kunst und Literatur nach 1945 nur allmählich wieder anzufreunden beginnt, seine intellektuelle Arisierung nur sehr langsam überwindet und umso lieber solidere Fundamente der Identitätsfestigung herbeisehnt. 1963 veröffentlicht der junge Triestiner Germanist Claudio Magris seine Doktorarbeit, die bereits 1966 beim Salzburger Otto-Müller-Verlag auf Deutsch unter dem Titel Der habsburgische Mythos in der modernen österreichischen Literatur erscheint (und noch mehrere Auflagen erleben wird). Mit Magris wagt ein Italiener an der sprachlichen Nahtstelle dreier Welten das, was der heimischen Germanistik bis dahin nicht gelungen war: Die Entwicklung der modernen österreichischen Literatur mit der Herrschaft der Habsburger zusammenzudenken, ohne dabei die ewige Erbschaft des Barocks zu bedienen, wie vor ihm ein Josef Nadler. Magris schlägt einen anderen großen Bogen und zieht Verbindungen zwischen der gerade in Oberitalien so wirksamen maria-theresianischen Zeit und der Moderne. Deutlich benennt er die ungeschriebenen, in allen Handlungen aber immer tatkräftig vollzogenen Gesetze der speziellen österreichischen Sendung und überwindet auch den kulturpessimistisch fundierten Blick auf Gründerzeit und Moderne, wie etwa der vor den Nationalsozialisten geflohene Hermann Broch. Der spezielle Charakter der moderneren österreichischen Literatur, so könnte man Magris zusammenfassen, entstehe aus einer als besonders gedachten, geradezu göttlichen Sendung in Verbindung mit der gehobenen Verwaltungsanstrengung der Habsburgermonarchie. Überspitzt könnte man die bereits in der Ersten Republik entstandenen und bei Magris breit besprochenen Texte eines Joseph Roth oder auch Robert Musils Mann ohne Eigenschaften im Sinne Magris’ als Spitze des großen österreichischen Beamtenromans bezeichnen. Der Österreicher, er distinguiert sich gegenüber der Welt durch ein besonderes Verhältnis zur