Ostfriesennebel - Klaus-Peter Wolf - E-Book

Ostfriesennebel E-Book

Klaus-Peter Wolf

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Beschreibung

Wer ist Fabian Oberdieck? Ein liebevoller Vater und Ehemann oder ein Mörder und Identitätsschwindler? Ann Katrin Klaasen ermittelt in ihrem 19. Fall In der Norder Polizeiinspektion sitzt Carina Oberdieck, Mutter zweier Kinder, und erzählt Ann Kathrin Klaasen eine unglaubliche Geschichte: Der Mann, der derzeit bei ihr lebe, sei gar nicht ihr Mann, auch wenn er sich dafür ausgebe. Sie ist fest davon überzeugt, dass ihr Ehemann nicht mehr am Leben ist.  Auch wenn die Aussagen von Carina Oberdieck völlig verrückt klingen, bereiten sie Ann Kathrin Klaasen doch einiges Kopfzerbrechen: Sie hat keine Leiche und keine Zeugen. Und doch will sie dieser zutiefst verunsicherten Frau helfen. Als am nächsten Tag die Leiche einer jungen Frau auf den Bahngleisen gefunden wird, stellen sich viele Fragen ganz neu. Im 19. Fall für Ann Kathrin Klaasen geht es um ein perfides, kaltblütiges Spiel mit der wahren Identität eines Menschen. Wer ist hier wer, oder wer spielt welches tödliche Spiel?  »Schreiben ist mein Hobby, meine größte Leidenschaft, mein Glück.«  Klaus-Peter Wolf im Interview mit Aike Sebastian Ruhr, NWZ

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Seitenzahl: 656

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Klaus-Peter Wolf

Ostfriesennebel

Der neue Fall für Ann Kathrin Klaasen

 

 

Über dieses Buch

 

 

Wer ist Fabian Oberdieck? Ein liebevoller Vater und Ehemann oder doch ein Mörder und Identitätsschwindler?

Ganz genau weiß das auch Carina Oberdieck nicht mehr, denn der Mann, der mit ihr und den Kindern im selben Haushalt lebt, verhält sich in vielem so ganz anders als ihr Fabian. Carina Oberdieck glaubt, dass ihr Mann tot ist, ermordet von seinem eigenen Zwillingsbruder, also genau von dem Mann, der derzeit bei ihr ein- und ausgeht. Da es keine Leiche gibt, wird es schwierig für Ann Kathrin Klaasen, eine Ermittlung zu starten. Doch sie weiß, dass sie dieser zutiefst verunsicherten Mutter zweier Kinder helfen muss.

 

»Es macht einfach riesigen Spaß, deshalb schreibe ich oft stundenlang. Das ist mein Hobby, meine größte Leidenschaft, mein Glück.« Klaus-Peter Wolf im Interview mit Aike Sebastian Ruhr, NWZ

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Klaus-Peter Wolf, 1954 in Gelsenkirchen geboren, lebt als freier Schriftsteller in der ostfriesischen Stadt Norden, im selben Viertel wie seine Kommissarin Ann Kathrin Klaasen. Wie sie ist er nach langen Jahren im Ruhrgebiet, im Westerwald und in Köln an die Küste gezogen und Wahl-Ostfriese geworden. Seine Bücher und Filme wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bislang sind seine Bücher in 26 Sprachen übersetzt und über fünfzehn Millionen Mal verkauft worden. Mehr als 60 seiner Drehbücher wurden verfilmt, darunter viele für »Tatort« und »Polizeiruf 110«. Der Autor ist Mitglied im PEN-Zentrum Deutschland. Die Romane seiner Serie mit Hauptkommissarin Ann Kathrin Klaasen stehen regelmäßig mehrere Wochen auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, derzeit werden mehrere Bücher der Serie prominent fürs ZDF verfilmt und begeistern Millionen von Zuschauern.

Inhalt

[Motto]

[Hauptteil]

Als Weller und Ann Kathrin...

Zwei Polizisten aus Niedersachsen...

An der Tür hing ein...

Leseprobe: OstfriesenERBE

Leseprobe: Ein mörderisches Paar

»Romanfigur Rupert rettet Leben«

»Es ist besser, am Valentinstag verliebt zu sein als am Totensonntag tot.«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Aurich

 

»Wenn du für jede Frau, mit der du geschlafen hast, einen Schnaps trinken müsstest, Weller … könntest du noch fahren – aber ich läge im Koma.«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Aurich

 

»Der ist Praktikant bei der Spurensicherung. Der sieht ein knuspriges Spanferkel und glaubt, das Schwein sei am Apfel erstickt.«

Hauptkommissar Rupert, Mordkommission Aurich

Normalerweise war es hier oben im Flur der Polizeiinspektion ruhig. Wenn mal eine Tür geknallt wurde, waren es entweder der Durchzug oder Kommissar Rupert.

Beim letzten Mal war es hier vor ein paar Jahren laut gewesen, als ein Serienkiller versucht hatte, aus Ann Kathrin Klaasens Büro zu fliehen. Er hatte Marion Wolters in die Hand gebissen und war direkt in Jessi Jaminskis Faust gelaufen.

Jetzt tobten zwei Grundschulkinder durch den Flur und kegelten einen Stuhl gegen Ruperts Tür. Der wurde bei seinem Versuch, sich hochzuschlafen, gestört.

Er hatte davon geträumt, zum Polizeichef ernannt worden zu sein. Der Lärm hatte nicht nur ihn, sondern auch Marion Wolters aus ihrem Büro gelockt. Rupert und Marion sahen sich feindselig an.

Ein blonder Junge zerrte seinen zwei Jahre jüngeren Bruder über den Boden. Der Kleine versuchte sich zunächst an der Tür festzuhalten, dann an Rupert.

»Na«, fragte Rupert verständnisvoll lächelnd, »spielt ihr Cowboy und Indianer?«

»Nein«, konterte der Ältere, »wir spielen Klimakleber und Polizei.«

Ein Seufzer entfuhr Rupert: »Was macht ihr?«

Marion Wolters giggelte: »Sie spielen Klimakleber und Polizei. Ich glaub es nicht!«

Ihr schien das zu gefallen.

Der Kleinere klammerte sich immer noch an Ruperts Bein fest. Rupert bückte sich, löste die Hand des Jungen und schlug ihm vor, sich gefälligst woanders festzukleben. Dann drehte Rupert sich kopfschüttelnd um und verschwand mit dem Satz: »Was ist nur aus dieser Welt geworden?«, in sein Büro.

Marion Wolters versuchte, beruhigend auf die Kinder einzuwirken. Mit ihrer leisen, warmen Stimme gelang ihr das sogar: »Ihr seid doch bestimmt nicht alleine hier, oder?«, fragte sie und versuchte, Blickkontakt aufzunehmen, erst zu dem Älteren, dann zu dem Jüngeren. Der Große reagierte nicht, sondern zerrte an seinem Bruder herum. Der Kleine zeigte auf Ann Kathrins Tür und rief: »Wir sind mit unserer Mama da!«

Drei Stühle waren zu einer Pyramide aufgebaut, ein anderer lag quer im Flur, nahe bei der Treppe. Marion ordnete die Stühle wieder und stellte so im Flur eine Wartezimmeratmosphäre her.

»Setzt euch mal brav hier hin«, schlug sie vor. »Ich kann euch gerne Papier bringen und Stifte, dann könnt ihr etwas malen.«

»Au ja! Ein Atomkraftwerk, und das legen wir dann still«, forderte der Kleine.

Der Große rief: »Nee, wir lassen es explodieren!« Er machte eine Bewegung, als würde er es bereits in die Luft sprengen: »Boouuuwww!«

Marion Wolters, die den Umgang mit Kindern in dem Alter nicht gewohnt war, öffnete die Tür zu Ann Kathrins Büro. Die zwei sahen sich nur kurz an. Blicke genügten oft zwischen ihnen.

Ann Kathrin hatte diesen Bitte kümmere dich, ich schaffe es gerade nicht-Augenaufschlag. Sie wirkte angestrengt.

Ihr gegenüber saß die Mutter der Jungs. Sie hatte lange blonde Haare bis zu den Ellbogen. Sie redete verzweifelt auf Ann Kathrin ein: »Mein Mann war immer ein zärtlicher Liebhaber. Jetzt ist er ganz anders: Fordernd. Dominant. Egoistisch.«

»Ja«, sagte Ann Kathrin, »so etwas gibt es, Frau Oberdieck. Menschen verändern sich.«

Marion Wolters mischte sich ungefragt ein: »Das kenne ich. Am Anfang sind sie immer alle charmant, liebevoll, lesen einem die Wünsche von den Augen ab und später dann …«

Carina Oberdieck funkelte Marion Wolters an. Sie fühlte sich keineswegs von ihr bestätigt und verstanden. »So ist das aber nicht!«, behauptete sie.

Marion zuckte mit den Schultern und machte eine Geste der Ratlosigkeit.

Ann Kathrin erklärte: »Frau Oberdieck glaubt, ihr Mann sei gar nicht ihr Mann.«

Die Kinder sangen jetzt im Flur:

»Zickezacke Hühnerkacke,

unser Nachbar hat ’ne Macke,

immer wenn wir spielen wollen,

will er gleich die Bullen holen!«

Die Mutter stöhnte: »Ich weiß, dass Finn und Leon nicht einfach sind. Die Situation ist auch für die Kinder schwierig. Ich wollte sie nicht mitbringen, aber die Babysitterin hat mich im letzten Moment draufgesetzt, und ich …«

»Schon gut, ich kümmere mich«, sagte Marion und ließ Ann Kathrin mit der aufgebrachten Mutter allein.

»Mein Fabian«, behauptete Carina Oberdieck, »lebt nicht mehr. Da können Sie mir erzählen, was Sie wollen, Frau Kommissarin.«

Ann Kathrin wollte wissen: »Wann haben Sie denn zum ersten Mal Zweifel bekommen, dass Ihr Mann nicht Ihr Mann ist?«

»Wir haben eine schwierige Phase hinter uns. Ich will nicht sagen, dass alles an den Kindern lag, aber das hat es nicht gerade einfacher gemacht … wir haben uns auf Probe getrennt, also, wir wollten mal eine Pause einlegen.«

»Und wie lange hat die Pause gedauert?«

»Ziemlich genau ein halbes Jahr. Fabian hat sogar eine Therapie angefangen. Wir haben uns geschrieben, und je weiter wir voneinander entfernt waren, umso näher sind wir uns gekommen. Plötzlich war es fast wieder wie am Anfang. Wir haben zunächst eine Fernbeziehung geführt. Zwischen uns lagen fast immer vier-, fünfhundert Kilometer. Wir haben uns aufeinander gefreut und dann, am Wochenende …«

»Ihr Mann hat also nie viel von der Erziehung der Kinder mitbekommen?«

»Nein. Aber wir haben uns dann in Norden ein Haus gekauft. Wir wollten hier leben. Am Meer. Wo andere Urlaub machen.«

Ann Kathrin trank aus ihrem Kaffeebecher warmes Wasser. Sie hatte plötzlich das Gefühl, sich der Frau gegenüber erklären zu müssen: »Ich würde Ihnen auch gerne etwas anbieten, aber das ist kein Kaffee. Manchmal trinke ich einfach gerne heißes Wasser. Es hat so etwas Klärendes. Wollen Sie vielleicht auch?«

Carina Oberdieck nickte. Ann Kathrin erhob sich, als sei das bereits eine Anstrengung für sie. Stumm ermahnte sie sich selbst, in Zukunft mehr Sport zu machen. Sie ging zum Wasserkocher, griff dann aber zur Thermoskanne. Daraus goss sie einen blauen Kaffeebecher voll.

Auf dem Becher stand: Nimm dir Zeit für Meer.

Frau Oberdieck nahm ihn gerne. Sie schlug die Beine übereinander und stellte den Becher auf ihren Knien ab, wo sie ihn mit beiden Händen festhielt. Sie trank aber nichts davon.

»Es ging immer so hin und her. Wir wollten das Haus schon wieder verkaufen und uns scheiden lassen … Aber ich hatte immer das Gefühl, unsere Ehe sei noch nicht wirklich gescheitert.«

Ann Kathrin befürchtete, die Frau könne noch Stunden so weiterreden, und da das Geschrei im Flur ziemlich laut wurde, versuchte sie ganz gegen ihre Gewohnheiten, das Gespräch abzukürzen: »Sie haben sich also entschieden, wieder zusammenzuziehen?«

»Ja. Zunächst vor allen Dingen auch wegen der Kinder. So waren wir zumindest gemeinsam in einem Haus, aber in getrennten Schlafzimmern.«

»Und wann haben Sie bemerkt, dass etwas nicht stimmte?«

Carina Oberdieck sah zur Tür, als müsse sie sich vergewissern, dass ihre Kinder noch nicht hereingekommen waren. Sie flüsterte: »Er wollte ständig Sex … er hatte im Bett andere Vorlieben und überhaupt … Fabian war im Essen ganz etepetete. Alles musste immer bio sein, höchstens einmal in der Woche Fleisch und dann natürlich ganz ausgesuchtes vom Biobauernhof. Und plötzlich geht der mit den Jungs ins Fußballstadion und Pommes essen …«

Ann Kathrin machte ihr ein Angebot: »Vielleicht hat Ihr Mann sich ein wenig verändert und kommt jetzt mehr aus sich heraus. Gerade wenn Sie sagen, dass er eine Therapie begonnen hat. Dazu die Trennungszeit …«

Frau Oberdieck ließ das nicht gelten. Sie tippte sich gegen die Stirn und verschüttete etwas von dem warmen Wasser, schien das aber gar nicht zu bemerken: »Plötzlich fährt der mit denen nach Köln zum 1. FC! Dabei war er doch Werder-Bremen-Fan. Nein! Das ist nicht mein Fabian! Ich spüre das ganz genau. Mein Fabian ist tot!«

Ann Kathrin war ein wenig ratlos. Sie nahm noch einen Schluck Wasser, lehnte sich in ihrem schwarzen Bürosessel zurück, versuchte, ruhig zu atmen und beide Fußsohlen fest auf den Boden zu drücken. Diese Frau war fest davon überzeugt, dass ihr Mann ermordet worden war und ein Fremder sich bei ihr eingenistet hatte. War sie ein Fall für die Psychiatrie?

»Ich bin«, sagte Ann Kathrin, »bei der Mordkommission.«

»Ich weiß. Deswegen bin ich ja zu Ihnen gekommen.«

»Wenn wir keine Leiche haben, dann ist es natürlich schwierig, von einem Mord zu sprechen. Sie reden von einem Mann, der sich verändert hat. Mal ehrlich, Frau Oberdieck, wenn jemand – gesetzt den Fall, es ist wirklich so – so tut, als sei er Ihr Mann, dann muss er ihm schon verdammt ähnlich sehen. Aber spätestens wenn Sie mit ihm ins Bett gehen, werden Sie doch bemerken, ob …«

»O nein. So einfach ist das nicht, Frau Klaasen. Das ist Fabians Zwillingsbruder.«

»Er hat einen Zwillingsbruder?«

»Ja. Sie sind eineiige Zwillinge.«

Das ließ die Geschichte in einem anderen Licht erscheinen. Ann Kathrin machte sich Notizen. Nicht etwa, weil sie sich wirklich etwas aufschreiben wollte, sondern damit die Frau das Gefühl bekam, ernst genommen zu werden. Oft veränderte es ein Gespräch, wenn sie begann, mitzuschreiben. Dabei spielte es gar keine Rolle, ob sie es wirklich tat oder nicht.

»Und Sie glauben also, dass sein Zwillingsbruder ihn umgebracht hat und jetzt statt seiner bei Ihnen wohnt?«

»Das glaube ich nicht, das weiß ich.«

Frau Oberdieck und Ann Kathrin sprangen gleichzeitig hoch und waren bei der Tür. Selbst Rupert trat erneut in den Flur, um zu gucken, was los war. Er verschränkte die Arme vor der Brust und amüsierte sich.

Marion Wolters saß auf einem Stuhl. Ihr linkes Handgelenk war mit einer Handschelle an der Lehne eines anderen Stuhls festgemacht. Die beiden Kinder liefen johlend in Richtung Treppe.

Marion versuchte, sich zu erklären: »Ich wollte sie beschäftigen. Wir haben doch kein Spielzeug hier. Sie haben mich gefragt, ob ich eine richtige Polizistin bin, ob ich Handschellen habe und …«

»Dann hast du sie ihnen gezeigt«, feixte Rupert. »Mariönchen, Mariönchen, du musst noch viel lernen.«

Die Mutter versuchte, ihre Kinder zu beschützen: »Die meinen das nicht böse. Die sind ein bisschen wild, aber sonst eigentlich ganz in Ordnung.«

»Ja, ganz goldige Kerlchen«, lachte Rupert, der froh war, dass der Kinderwunsch, den seine Frau Beate lange gehegt hatte, niemals in Erfüllung gegangen war.

Vielleicht hat mich das davor bewahrt, zum Kindsmörder zu werden, dachte er und zuckte plötzlich zusammen, weil er nicht wusste, ob er das nur gedacht oder laut gesagt hatte. Heutzutage wurde ja jedes Wort auf die Goldwaage gelegt, da konnte man sich leicht um Kopf und Kragen reden.

Ann Kathrin wollte Marion aus der misslichen Lage befreien und fragte sich, warum Marion es nicht selbst längst getan hatte. »Haben die Kinder etwa auch den Schlüssel?«, fragte Ann Kathrin.

Marion antwortete nicht, sondern presste ihre Lippen fest zusammen.

»Kommt sofort zurück!«, rief Carina Oberdieck hinter ihren Söhnen her.

»Früher«, behauptete Rupert, »hat man mit Taschengeldentzug gedroht, Stubenarrest oder dass es keinen Nachtisch gibt. Heute, habe ich gehört, soll es ausreichen, wenn man das WLAN-Passwort verändert, damit die Kleinen nicht mehr ins Netz kommen …«

»Ja«, fauchte Frau Oberdieck zurück, »herzlichen Dank für die Erziehungstipps!«

»Vielleicht hilft mir mal einer?«, fragte Marion und versuchte aufzustehen.

Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz kam die Treppe hoch. Ihr Gang hatte etwas Erhabenes an sich, und sie strahlte eine Autorität aus, die keine lauten Worte nötig hatte. Geradezu ängstlich wichen die Kinder zurück und flohen zu ihrer Mutter.

Frau Schwarz erfasste die Situation sofort. Sie musterte Marion Wolters, verzog den Mund und sprach dann schmallippig Ann Kathrin an: »Wie ich sehe, haben Sie mal wieder alles im Griff.«

Ann Kathrin Klaasen wunderte sich. Manchmal konnte Rupert wirklich ein netter Kerl sein. Er hatte eigentlich Dienstschluss, schlug aber vor, mit den beiden Jungs was zu unternehmen. Er versprach ihnen: »Wir drei Männer werden uns prächtig amüsieren«, und flüsterte dann Carina Oberdieck und Ann Kathrin zu: »Dann habt ihr ein bisschen Zeit, in Ruhe miteinander zu reden.« Er fügte hinzu: »Keine Angst, ich bringe sie wohlbehalten zurück«, und zwinkerte in Richtung der Mutter.

Man konnte das so verstehen, dass sie sich ruhig auf ihn verlassen sollte, vielleicht war es aber auch ein Flirtversuch. Bei Rupert wusste man ja nie.

Marion Wolters schaute brummig drein: »Ist das jetzt die Belohnung für die Kids, dass sie mit dir Abenteuer erleben dürfen?«

»Vielleicht«, konterte Rupert, »ist das auch eine besonders raffinierte Bestrafung.« Dann zwinkerte er Marion zu, die so etwas überhaupt nicht mochte und ihm als Antwort die Zunge rausstreckte.

Der kleinere Junge knuffte seine Mutter: »Siehst du, die Bullen machen das auch, Mama.«

Rupert konnte sich den Spruch nicht verkneifen. Er zeigte auf Marion: »Die ist kein Bulle. Guck sie dir doch an. Die ist eine Kuh.«

Er sprach das Wort Kuh so aus, als hätte er den Zusatz blöde verschluckt.

Die Jungs fanden ihn witzig und gingen mit ihm.

»Spielen wir jetzt in unserer Dienstzeit auch noch Babysitter?«, rief Marion Wolters hinter ihm her. Sie rieb sich die Handgelenke. Die silberne Acht hatte Spuren hinterlassen.

Rupert zeigte ihr den Stinkefinger, ohne sich zu ihr umzudrehen.

Ann Kathrin beschwichtigte Marion: »Nein, das macht er in seiner Freizeit.«

»Ach, tobt der jetzt seine Vatergefühle aus?« An die Mutter gewandt, mahnte Marion: »Passen Sie bloß auf. Der bringt denen nur Mist bei.«

»Ich finde«, konterte Carina Oberdieck, »er ist ein sehr netter Mensch. Wenn alle Polizisten so wären …«

»Über das Stöckchen springe ich nicht«, sagte Marion Wolters, reckte das Kinn vor und verschwand zu ihrem Arbeitsplatz am Eingang der Polizeiinspektion. Hinter der Glasscheibe – mit Blick auf die Tür – fühlte sie sich gleich besser.

Ann Kathrin schlug Frau Oberdieck vor, ins Café ten Cate zu gehen und bei ein, zwei Tässchen Tee weiterzusprechen.

Rupert versuchte erst mal, die Namen der Kinder herauszubekommen. Der Kleine nannte sich Luke Skywalker, der Größere Darth Vader.

»Und wie heißt du?«, fragte Luke.

Rupert überlegte noch, ob er die Filmnamen der beiden akzeptieren sollte oder nicht. Testeten die Kinder ihn gerade, wie locker er in Wirklichkeit war und ob man Spaß mit ihm haben konnte?

Noch bevor Rupert sich eine Antwort zurechtgelegt hatte, tönte Luke: »Er ist der fette Jabba!«

Damit brachte er Darth Vader zum Lachen.

Rupert plusterte sich auf und sprach mit verstellter Stimme: »Niemand würde es wagen, Jabba fett zu nennen! Mein Name ist Jabba the Hutt! Ich bin ein König. Ein Verbrecherkönig!«

»Ja«, freute Darth Vader sich, »und Luke Skywalker hat ihn umgelegt.«

Der Satz saß. Rupert holte tief Luft: »Ihr kennt euch also mit den Star-Wars-Filmen gut aus.«

»Ja, wir haben sie alle geguckt.«

Darth Vader zeigte auf Luke: »Er kann viele Dialoge auswendig.«

Der behauptete: »Alle!«

Rupert wollte mit den beiden Minigolf spielen, weil er sich dachte, dass sie auf dem umzäunten Platz nicht gut ausbüxen könnten, und als Kind hatte er Minigolf sehr aufregend gefunden. Er wollte ihnen ein paar Tricks zeigen.

Die beiden erklärten ihre Golfschläger allerdings sofort zu Lichtschwertern und begannen zu fechten.

Er versuchte, das zu verhindern, wobei er über der Augenbraue getroffen wurde. Es tat gar nicht weh, doch für einen Moment gingen die Lichter aus. Er lag auf der Bahn, und die beiden weckten ihn, indem sie ihre Bälle zwischen seine weit gespreizten Schenkel schossen.

Eigentlich hatte Rupert sich nur bereit erklärt, etwas mit den Kindern zu unternehmen, weil heute seine Schwiegermutter zu Besuch war. Sie hatte einen Kochkurs besucht und wusste jetzt, wie man veganes Essen glutenfrei zubereiten konnte. Da waren Rupert zwei Rüpel, denen er bei Gitti eine Bratwurst ausgeben konnte, wesentlich lieber.

Inzwischen bereute er seine Idee. So schlimm war seine Schwiegermutter ja im Grunde auch nicht. Wenn er vorher ein, zwei Whisky trank, ließ sie sich vielleicht ertragen.

Polizeidirektorin Elisabeth Schwarz passte das alles überhaupt nicht.

»Hier macht wohl jetzt jeder, was er will?! Wir sind«, stellte sie fest, »die Mordkommission.«

Sie musterte Ann Kathrin kritisch, die dabei war, mit Frau Oberdieck die Polizeiinspektion in Richtung Café ten Cate zu verlassen.

»Mooordkommission!«, rief sie noch einmal laut. »Weder Babysitter noch Ratgeber für alleinerziehende Mütter!«

Ann Kathrin kümmerte sich gar nicht darum, doch Carina fuhr herum, weil sie das Gefühl hatte, sich verteidigen zu müssen: »Ich bin nicht alleinerziehend! Bei mir wohnt nur der falsche Mann!«

Elisabeth Schwarz winkte ab und sagte leise zu sich: »Ja, damit stehen Sie vermutlich nicht alleine da. Den Satz würden viele Frauen unterschreiben …«

Als Ann Kathrin und Carina das Café betraten, sah Monika Tapper sofort, dass es Ann Kathrin nicht darum ging, mit einer Bekannten einen netten Plausch bei Kaffee und Kuchen zu halten. Manchmal nahm Ann Kathrin Zeugen oder auch Opfer, die von der Atmosphäre in der Polizeiinspektion zu sehr eingeschüchtert wurden, mit ins Café. Im hinteren Raum, dem sogenannten Zweiten Café, gab es dafür eine extra stille Ecke.

Ann Kathrin saß immer so, dass sie die Tür und den Raum beobachten konnte, während die zu befragende Person – meist waren es Frauen oder Kinder – sich immer mit dem Rücken zu allen anderen befanden. Das Gesicht sollte geschützt werden, denn manchmal flossen auch Tränen.

Das hier sah genau nach so einem Gespräch aus.

Monika legte vorsichtshalber eine Packung Papiertaschentücher auf den Tisch, die sie dann aber sofort gegen zwei weiche Servietten austauschte. Das sah doch unverdächtiger aus.

Die beiden bestellten eine Kanne Tee für zwei, und Monika, die sich sonst oft dazusetzte, fragte: »Ich nehme an, ihr beiden wollt allein sein?«

Ann Kathrin nickte kurz. Carina Oberdieck reagierte fast verängstigt auf die Frage. Sie wollte auf keinen Fall, dass sich jemand zu ihnen an den Tisch setzte.

Monika verstand. Sie schloss die Tür zum Zweiten Café und sagte ihren Servicekräften: »Wir besetzen jetzt erst einmal alle Tische hier vorne und bei dem schönen Wetter auch draußen. Ich glaube, die beiden brauchen ein bisschen Ruhe, um ungestört reden zu können.«

Sie legte auf einen Teller Baumkuchenherzen, Deichgräfinkugeln und einen Marzipanseehund, ohne dass die beiden es bestellt hatten. »Etwas Süßes für die Seele«, sagte Monika freundlich und verschwand gleich wieder.

Das Teegeschirr Ostfriesische Rose und der aus der Kanne strömende Duft schienen Carina zu beruhigen.

»Sie müssen sich«, begann Ann Kathrin das Gespräch, »um die beiden Kleinen keine Sorgen machen. Rupert hat zwar keine eigenen Kinder, aber ich glaube, die Jungs werden ihn mögen.«

Carina Oberdieck veränderte ihre Sitzhaltung und verschränkte die Arme vor der Brust, als müsse sie sich verteidigen: »Denken Sie bloß nicht, dass ihnen der Vater fehlt! Früher war das vielleicht mal so, weil mein Mann ewig unterwegs war. Aber jetzt … der hockt ja nur noch zu Hause herum, als sei er Rentner. Aber er versucht, den Kindern echt was zu bieten. Ausflüge, Spaßbad und so … Ich bin nicht immer einverstanden mit dem, was er macht. Erst hat er mit ihnen alle Folgen vom Weißen Hai geguckt, und jetzt sind sie bei Star Wars.«

Ann Kathrin, die keine Ahnung hatte, ab wie viel Jahren die Filme freigegeben waren, aber wusste, wie sehr kleine Jungs darauf abfuhren, Dinge zu tun, die eigentlich in ihrem Alter noch nicht erlaubt waren, beruhigte Frau Oberdieck: »Es ist doch schön, wenn er sich um sie kümmert und mit ihnen eine Ebene findet. Vielleicht will er ja einiges wiedergutmachen …«

Carina Oberdieck antwortete nicht, sondern goss sich Tee ein, der eigentlich noch ein bisschen hätte ziehen müssen. Dann warf sie Kluntjes hinterher und träufelte schließlich etwas Sahne in die Mitte.

Ann Kathrin konnte das gar nicht mitansehen. Sie schüttelte den Kopf: »Nein, eigentlich macht man das gar nicht so. Der Tee braucht noch ein, zwei Minuten, und dann …«, Ann Kathrin machte es vor, »kommt zuerst Kandis in die Tasse. Der Zuckerstein zerplatzt, wenn der heiße Tee darauf trifft, und die Sahne gießt man nicht in die Mitte, sondern lässt Wölkchen hereintropfen. Am Rand. Und zwar gegen den Uhrzeigersinn.«

»Gegen den Uhrzeigersinn?«

»Ja, so hält man in Ostfriesland die Zeit an.«

Mit dem Teeritual hatte Ann Kathrin schon so manchen Zeugen aufgelockert. Es vermittelte eine gewisse Sicherheit. Die Welt, die oft so düster und gefährlich erschien, verlor an Bedrohung, während sich die Sahnewölkchen auflösten.

Ann Kathrin forderte Frau Oberdieck auf: »Jetzt erzählen Sie doch mal von Anfang an. Ganz in Ruhe. Wie hat das alles angefangen?«

Carina Oberdieck seufzte. Sie unterstrich ihre Worte mit Gesten. Ihre Finger wurden lebendig, als seien es eigenständige Personen. Mit der rechten Hand unterstrich sie Worte, mit der linken wehrte sie Falsches ab.

Ihre Hände sagten mehr als ihr Gesicht. Diese Frau zu lesen, schien ganz einfach zu sein, trotzdem war es schwer, aus ihr schlau zu werden.

»Mein Mann wollte irgendwie sein Leben wieder auf die Reihe kriegen. Beziehungen kitten und so. Der war ja von seinem Beruf vollständig aufgefressen worden. Ehrgeizig, karrieregeil …«, sie winkte mit der Linken ab. »So gar kein Familienmensch. Nie Zeit für Freunde. An seinem Gesicht konnte ich unseren Kontostand ablesen. Wenn was schiefging, war er unerträglich.«

Ann Kathrin verkniff sich die Frage: Was macht Ihr Mann denn beruflich? Sie hielt es für klüger, die Frau einfach reden zu lassen und dann später das Wesentliche für sich herauszufiltern. Die meisten Menschen hatten, wenn sie einmal begannen, ein großes Mitteilungsbedürfnis. Wer wollte nicht gern verstanden werden? Ann Kathrins aktive Zuhörmethode hatte schon oft zum Erfolg geführt.

»Plötzlich sollte dann alles wieder gut sein. Wir haben uns hier das Haus gekauft und versucht, unsere Ehe zu retten. Wegen der Kinder. Aber«, sie überlegte einen Moment, »aber nicht nur.«

Sie packte eine Deichgräfin aus dem rosa Stanniolpapier, betrachtete die Kugel eine Weile und biss dann, neugierig geworden, die Hälfte ab. Sie wollte nicht nur schmecken, sondern auch sehen, was drin war. Wollte sich nichts mehr vormachen lassen. Die Praline schien ihr Kraft, ja Lebensmut zu geben. Sie fuhr fort: »Er wollte auch das Verhältnis mit seinem Bruder wieder auf die Reihe kriegen. Die beiden hatten sich ja richtig voneinander entfernt. Nicht verfeindet, mehr so einfach verloren.«

»Hatte es Krach gegeben?«

»Nein, ich glaube nicht. Die haben sich einfach verloren. Sie wollten gemeinsam Urlaub machen, um sich wiederzufinden.«

Die Worte wiederzufinden unterstrich sie mit beiden Händen. Dann ließ sie den Rest der Deichgräfin unter ihrem Gaumen schmelzen und genoss das Himbeermarzipan in Prosecco-Ganache. Sie deutete auf die anderen Kugeln und sprach es fast wie eine Warnung aus: »Die können süchtig machen, Frau Kommissarin.«

»Ja«, sagte Ann Kathrin, »ich weiß.«

»Die sind dann Hals über Kopf nach Lanzarote.«

»Was meinen Sie mit Hals über Kopf?«

»Na ja, so spontan. Aber zurückgekommen ist nur einer. Und der behauptet, mein Mann zu sein. Ist er aber nicht. Es kam nicht Fabian zurück, sondern Florian.«

Erstaunt fragte Ann Kathrin: »Die Eltern haben die Zwillinge Fabian und Florian genannt? Selbst die Namen klingen ja zum Verwechseln.«

Carina zuckte mit den Schultern und breitete die Hände aus, als müsse sie ihre Unschuld beweisen: »Ja, so sind die. Die fanden das witzig. FF – Fix und Foxi, wenn Sie so wollen.«

»Und wo ist Ihrer Meinung nach Ihr Mann?«

Carina Oberdieck fischte ihr Handy aus der Tasche und zeigte Ann Kathrin ein paar Fotos: »Hier, das sind die letzten Bilder, die die beiden mir geschickt haben. Sie besichtigten den Vulkan Timanfaya. Haben wir auch mal gemacht, hier, sehen Sie, da essen sie Würstchen, die über Vulkanfeuer gebrutzelt wurden.«

»Ja, ich kenne den Ort«, sagte Ann Kathrin. »Ich war auch schon mal auf Lanzarote und habe natürlich den Timanfaya besucht. Er hat etwas Magisches. Ich fand es besonders beeindruckend, als Wasser in die Felslöcher geschüttet wurde und der heiße Berg es wieder ausspuckte wie ein Geysir. Ich bin damals schreiend zurückgesprungen und hätte mich fast verbrüht.«

Ann Kathrin ärgerte sich über sich selbst. Ich rede zu viel, dachte sie. Wir können jetzt nicht in Urlaubserinnerungen schwelgen, obwohl es vielleicht gut ist, wenn sie merkt, dass ich mich auskenne. Aber ich muss ihr mehr Raum geben. Es geht hier nicht um mich. Es ist immer schwierig, eine Balance zu finden. Es ist wichtig, sich als Kommissarin zu zeigen, aber auch als Mensch greifbar zu werden. Niemand vertraut einer anonymen Person, die einfach nur Kommissarin ist. Man will den Menschen dahinter sehen, glaubte Ann Kathrin.

Sie kam zum Wesentlichen zurück: »Was ist dort mit Ihrem Mann passiert?«

»Ja, Frau Klaasen, es tut mir leid, aber ich kann Ihnen nicht mit einer Leiche dienen. Der eine behauptet, der andere sei in den Vulkan gefallen.«

Ann Kathrin zuckte zurück. Sie hatte ja schon viele ungewöhnliche Geschichten gehört, aber das hier war doch ziemlich hart. »In den Vulkan gefallen?«

»Ja. Man darf da zwar nicht so nah ran, und es ist abgesperrt, aber der Mann, der jetzt so tut, als ob er mit mir verheiratet sei, behauptet, dass sein Bruder dort ein Selfie machen wollte, um seine Schüler zu beeindrucken. Angeblich hat er ihn noch gewarnt, aber er sei trotzdem hochgeklettert. Ja, und das war’s. Da kommt kein Rettungswagen. Man löst sich einfach in seine Bestandteile auf, verpufft wie Wasser.«

Carina Oberdieck musterte die Kommissarin mit nachdenklichen Blicken. Um ihre Geschichte glaubhafter zu machen, versicherte sie: »Das ist da nicht zum ersten Mal passiert, und es ist bestimmt auch nicht das erste Selfie-Unglück.«

Eins ist mal klar, dachte Ann Kathrin, die beiden waren wirklich dort und haben Fotos gemacht.

»Und Sie glauben«, sagte sie, »dass Ihr Mann dort in den Vulkan gefallen ist, und Florian kehrte zurück und hat sich als Fabian ausgegeben?«

»Ja. Und zunächst habe ich das auch gar nicht gemerkt. Wir waren ja alle unheimlich traurig und standen unter Schock. Er hat mich getröstet und ich ihn natürlich auch. Immerhin hatte er seinen Bruder verloren.«

»Sie dachten also, Ihr Mann sei zurückgekommen.«

»Ja klar, sonst wäre ich doch nicht mit dem ins Bett …« Zu ihrer Entschuldigung fügte sie hinzu: »Wer denkt denn auch so was?«

Ann Kathrin nahm einen Schluck Tee und aß vom Baumkuchen.

Carina Oberdieck klagte: »Plötzlich fingerte der dauernd an mir herum. Erst habe ich gedacht, na ja, er braucht jetzt besonders viel Liebe, und ich habe auch versucht, sie ihm zu geben. Aber das fühlte sich nicht wie Liebe an. Mehr wie einfach …« Sie suchte Worte, wedelte mit der linken Hand über ihrer Tasse herum und sagte: »Mehr wie einfach nur Sex. Auf eine gewisse Weise kalt. Als ginge es darum, möglichst viele Stellungen auszuprobieren. Erst dachte ich, er hätte im Urlaub vielleicht eine andere kennengelernt und mit der neue Erfahrungen gemacht …«

»So was soll schon vorgekommen sein«, sagte Ann Kathrin ruhig. »Vielleicht verändert Ihr Mann sich ja einfach ein wenig, auch durch den Schock, seinen Bruder verloren zu haben. Solche einschneidenden Ereignisse sind oft wie ein Paradigmenwechsel für Menschen. Einige kündigen ihre Arbeitsstellen, starten etwas Neues. Plötzlich wollen sie sinnvollere Dinge mit ihrem Leben anfangen oder es wenigstens in vollen Zügen genießen. Scheidungen sind nicht selten nach schlimmen Unfällen oder Krankheiten.«

»Ja, ja, das habe ich mir auch alles gesagt. Aber Sie würden es doch auch merken, wenn Ihr Mann gegen einen anderen ausgetauscht worden wäre, oder, Frau Klaasen?«

Bei dem Gedanken begann Ann Kathrin zu frieren. Sie schüttelte sich. »Ich vermute, ja. Aber mein Mann hat zum Glück keinen Zwillingsbruder. Da kann das wohl nicht passieren.«

Monika Tapper sah herein und fragte: »Kann ich noch was für euch tun?«

»Ja«, sagte Ann Kathrin, »ich glaube, ich brauche ein Glas Wasser.«

»Ich auch«, bat Carina Oberdieck.

Ann Kathrin suchte einen neuen Ansatz. Sie fragte: »Und wie ist es mit den Arbeitskollegen Ihres Mannes? Haben die nichts gemerkt? Was macht er überhaupt beruflich? Oder ist er seit dem Unfall krankgeschrieben?«

»Mein Mann war Location-Scout«, sagte sie nicht ohne Stolz. Und weil sie daran gewöhnt war, dass die wenigsten Menschen damit etwas anfangen konnten, erklärte sie: »Der berät Filmproduktionen, wo man was am besten drehen kann. Der kennt jeden Quadratmeter, alle Hotels, weiß, wo man am besten parken kann. Der hat Fotos vom ganzen Land. Soll ich Ihnen mal sein Archiv zeigen? Der war natürlich ständig unterwegs, immer auf der Suche nach noch besseren Drehorten, in ganz Europa, und auf den Kanaren hat er viel gemacht. Die wollen dort etwas für den Tourismus tun und wissen genau, was es bringt, wenn ihre Landschaft in Spielfilmen zu sehen ist. Bei den Summen, die dort fließen, fragt man sich, warum überhaupt noch jemand in Deutschland dreht – zumindest hat sich mein Mann das immer gefragt.«

»Er war also freiberuflich tätig?«

»Ja. Freiberuflich und wahrlich gut beschäftigt. Er hat auch eine eigene Firma. Er musste sich nicht mehr um jeden Mist kümmern. Drei Mitarbeiter.« Sie schluckte und sprach es aus: »Mitarbeiterinnen.«

Ann Kathrin spürte, dass ihr das nicht so gefiel. Mitarbeiter wären Carina Oberdieck lieber gewesen. Ann Kathrin hätte ein Monatsgehalt darauf gewettet, dass es junge, hübsche Frauen waren, mit denen Carina Oberdiecks Mann sich umgeben hatte.

Monika brachte eine große Flasche Mineralwasser und zwei Gläser.

Ann Kathrin goss sich eine zweite Tasse Tee ein. Monika sah ihr an, dass es gerade nicht ganz einfach war. Misstrauen und Verständnis rangen hier um die Vorherrschaft. Monika wusste nicht, worum es ging, doch sie mochte die Frau und hatte das Gefühl, sie würde die Wahrheit sagen. Mit einem Blick gelang es ihr, Ann Kathrin ihre Meinung zu vermitteln. Mehr war zwischen ihnen auch gar nicht nötig.

»Danke, Moni«, sagte Ann Kathrin, und nachdem Monika Tapper sie wieder allein gelassen hatte, formulierte Ann Kathrin es vorsichtig: »Wenn Ihr Mann davon gelebt hat, Fotos zu machen, Schauplätze auf ihre Verfilmbarkeit zu überprüfen, dann erklärt das vielleicht, warum er auf den Vulkan geklettert ist, um ein …«

Carina schlug mit der Faust auf den Tisch. Ihre leichte, kleine Teetasse hüpfte hoch und fiel um. »Nein, verdammt, das hat er nicht getan! Das ist ein richtiger Beruf, und, glauben Sie mir, mein Mann wusste, wie er den zu machen hatte! Er war einer der Besten!«

»Und jetzt merkt niemand, dass ein anderer den Job macht?«

»Wie denn? Er hat sich doch erst mal zurückgezogen. Hatte jeder Verständnis für. Der Bruder ist in einen Vulkan gefallen, da kann man sich schon mal ein paar Tage aus seinem Beruf verabschieden, oder? Die Mädels schmeißen den Laden wohl auch ganz gut ohne ihn. Der telefoniert zwei-, dreimal die Woche mit denen und lässt ihnen ansonsten freie Hand. Ich glaube, denen gefällt das sogar. Akquise macht er gerade nicht. Darin war er früher besonders gut, er konnte sich bei Filmproduktionen unentbehrlich machen. Aber im Grunde hat er das ja auch in den letzten Jahren gar nicht mehr nötig gehabt. Sie haben ihm die Bude eingerannt. Der wusste, wie man an Drehgenehmigungen kommt, kannte Gott und die Welt. Was glauben Sie, was alles möglich wird, wenn man der untalentierten Tochter des stellvertretenden Ministerpräsidenten oder Oberbürgermeisters eine kleine Rolle verspricht. Mein Fabian kannte die Tricks …«

Kritisch fragte Ann Kathrin: »Und wie ist es mit seiner Unterschrift? Kann sein Bruder die perfekt fälschen, oder stimmt damit auch etwas nicht? Wir haben Schriftsachverständige, die …«

Carina Oberdieck winkte ab: »Das haben die schon als Kinder geübt. Die Handschriften kann man nicht voneinander unterscheiden. Nicht nur die Unterschriften sind identisch, sondern das gesamte Schriftbild.«

Ann Kathrin staunte: »Der könnte Ihnen also einen Liebesbrief schreiben, und Sie würden höchstens an den Formulierungen merken, dass …«

»Fabian war kein Süßholzraspler. Seine Liebesbriefe hat Florian oft geschrieben. Zumindest war das so in ihrer Jugend. Das haben sie mir beide lachend erzählt. Sie fanden das komisch. Dafür hat Fabian Florians Bilder für den Kunstunterricht gemalt und ihm in Mathe geholfen. In Deutsch und Sprachen war Florian der Bessere.«

Ann Kathrin fragte: »Weiß Ihr Mann von dem Verdacht?«

»Er ist nicht mein Mann! Und ich hoffe, er hat es noch nicht gemerkt.«

»Warum?«

»Glauben Sie, ich will auch sterben?«

»Fürchten Sie um Ihr Leben?«

»Ist der Papst eine Frau?«

Ann Kathrin kündigte an: »Ich muss ihn aber befragen. Wie soll ich sonst weiterkommen? Wir können Ihnen Schutz anbieten. Ein Zimmer im Frauenhaus oder …«

Carina Oberdieck hob beide Arme hoch und ließ die flachen Hände auf den Tisch klatschen, als hätte sie vor, die Tasse diesmal noch höher springen zu lassen: »Ja, herzlichen Dank! Frauenhaus? Der wohnt in meinem Haus! Soll ich es ihm überlassen?«

»Sie können selbstverständlich auch in ein Hotel, oder wir helfen Ihnen, einen Ort zu finden, der …«

»Ich hatte eigentlich mehr die Hoffnung, dass Sie ihn verhaften würden und ich in Frieden weiterleben könnte. Stattdessen soll ich das Feld räumen??«

»Na ja«, erklärte Ann Kathrin, »wenn es wirklich nicht Ihr Mann ist, sondern, wie Sie vermuten, sogar der Mörder Ihres Mannes, dann wollen Sie doch sicherlich nicht länger mit ihm unter einem Dach wohnen oder das Bett mit ihm teilen, oder?«

»Darauf können Sie Ihren Arsch verwetten! Aber geht das denn nicht irgendwie anders?«

»Wie, anders?«

»Na ja, so, dass Sie mich raushalten.«

Ann Kathrin naschte noch mal vom Teller, um Zeit zu gewinnen. »Sie machen es mir nicht leicht, Frau Oberdieck. Ich könnte ihn natürlich zum Tod seines Bruders befragen, aber im Moment ist nichts wichtiger als Ihre Aussage.«

Carina Oberdieck brauchte jetzt wirklich die Serviette. Sie wischte sich zwei Tränen ab. Ihre Unterlippe zitterte, als sie die Bitte aussprach: »Helfen Sie mir, Frau Klaasen! Ich bin wirklich in Not. Mir brennt der Rock. Ich weiß nicht, was ich machen soll und auch nicht, wie ich es den Kindern erklären soll. Die finden ihren neuen Papa nämlich ganz toll.« Sie holte tief Luft: »Das geht so weit, dass ich mich inzwischen fremd in meiner eigenen Familie fühle. Ich bin der Fremdkörper, nicht er, verstehen Sie? Das geht so nicht weiter!«

Rupert schickte eine Nachricht auf Ann Kathrins Handy: Seid ihr so weit? Kann ich die Monster zurückbringen?

Ann Kathrin zögerte noch mit der Antwort, da schickte Rupert schon seine philosophischen Gedanken: Kinder sind kein Geschenk des Himmels. Sie sind eine Strafe für Leute, die Fehler bei der Verhütung gemacht haben.

Sekunden später kam eine dritte Nachricht hinterher: Aber sag ihr das bitte nicht. Sie hat so traurige Augen.

Ann Kathrin tippte in ihr Handy: Ja, und du bist bestimmt bereit, sie zu trösten, oder?

Klar!

Wehe …

Es wurmte Carina Oberdieck, dass Ann Kathrin sich mit ihrem Handy beschäftigte statt mit ihr: »Ja, dann danke ich Ihnen für Ihre Zeit, Frau Klaasen.«

Ann Kathrin steckte das Handy weg: »Mein Kollege bringt gleich Ihre Söhne zurück. Ich glaube, sie haben sich gut amüsiert. Unser Rupert ist ein ganz netter, kinderlieber Hauptkommissar. Ich glaube, er leidet ein bisschen darunter, selbst keine Kinder zu haben.«

Auch wenn Carina Oberdieck sehr mit sich selbst beschäftigt war, hörte sie doch den deutlich ironischen Unterton.

Als Rupert Luke Skywalker und Darth Vader zu ihrer Mutter zurück ins Café brachte, sah er aus, als hätte er einen 24-Stunden-Dienst hinter sich und gerade eine schwere Grippe überlebt.

Monika fragte freundlich: »Erst mal einen Kaffee, Herr Kommissar?«

Rupert ließ sich auf einen Stuhl fallen und streckte die Beine von sich. »Nee. Ich brauch ’n Schnaps!«

Darth Vader stand vor der Kuchentheke und forderte: »Ich will so ’n Stück da. Aber mit viel Sahne!« Luke Skywalker fragte: »Gibt’s hier auch Eis?«

Rupert hatte die Befürchtung, seine Bestellung könnte gleich untergehen, deshalb bekräftigte er: »Einen doppelten!«

Monika sah ihn an. Er stöhnte: »Ich brauche dringend Alkohol. Schokolade hilft jetzt nicht mehr. Pass auf, dass die beiden dir nicht das Café zerlegen.«

Auf den ersten Blick sah es für Karl-Heinz Alberts aus, als hätte jemand eine schlecht angezogene Schaufensterpuppe aus dem fahrenden Auto geworfen.

Er nahm die gut erhaltene blaue Schirmmütze der Deutschen Bundesbahn vom Kopf und beugte sich im Stellwerk näher zur Glasscheibe vor.

Als er die Treppe herunterlief, hatte er noch die Hoffnung, es könnte sich um eine Schaufensterpuppe handeln. Doch dort lag keine Puppe. Puppen bluten nicht.

Der Nordwestwind spielte mit ihren blonden Locken und machte aus ihrer zerfetzten Sommerkleidung flatternde Fähnchen. Sie lag auf den Gleisen der Museumseisenbahn, kurz hinterm Stellwerk, neben alten, rostenden Metallteilen, Holzschwellen und Schienenstücken.

Die junge Frau trug ein buntes Sommerkleid. Sie war barfuß. Und sie war tot.

Karl-Heinz Alberts hatte sich diesen Tag wahrlich anders vorgestellt. Er wollte seine Begeisterung für alte Eisenbahnen mit einer Schulklasse teilen.

Er beschloss, zuerst die Polizei anzurufen und dann den Lehrer. Das hier wollte er den Schülern gern ersparen.

Das Haus der Familie Oberdieck lag im Neubauviertel im Norden von Norden, keine zweihundert Meter Luftlinie von Ann Kathrins Haus entfernt. Manchmal, wenn sie mit dem Rad zum Deich fuhr, war sie daran vorbeigekommen.

Im Vorgarten stand ein Trampolin, damit die Brüder sich richtig austoben konnten. Sie hatte sie dort hüpfen sehen und kreischen hören.

Hier wohnten viele Familien mit Kindern im Grundschulalter. Die Hecken und Bäume waren noch nicht größer als die Kinder. Gemeinsam wuchsen sie langsam zu prachtvoller Größe heran.

Im Distelkamp, wo Ann Kathrin wohnte, waren die meisten Kinder schon groß und zogen langsam aus, so wie damals ihr Sohn Eike. Zurück blieben die prächtigen Bäume, Hecken und Rosensträucher.

Bäume, dachte sie, gehen nicht fort, wenn sie erwachsen sind. Ihre Wurzeln werden immer tiefer, und sie spenden Schutz.

Dieser Gedanke stimmte sie fröhlich und traurig zugleich. Sie war in einem merkwürdigen Gefühlszustand.

Einen Moment zögerte sie noch. War sie in der Lage, jetzt so ein Gespräch zu führen? Trotzdem klingelte sie bei den Oberdiecks. Es kam ihr fast so vor, als hätte der Finger es selbsttätig gemacht, ohne sie vorher zu fragen.

Herr Oberdieck öffnete persönlich. Er trug ein weißes T-Shirt und eine verwaschene Jeans. Er war barfuß und sah sie auf eine durchdringende Art an.

Manchen Menschen, dachte Ann Kathrin, guckt die Blödheit aus den Augen. Bei dem hier ist es umgekehrt.

Er vermittelte seinem Gegenüber den Eindruck, es mit einem gebildeten, hochintelligenten Menschen zu tun zu haben. Dazu kamen ein gewisser Charme und gute Manieren.

»Entschuldigen Sie meinen Aufzug«, sagte er, »ich habe nicht mit Besuch gerechnet. Was kann ich für Sie tun?«

Sie stellte sich vor: »Ann Kathrin Klaasen, Mordkommission.«

Ihm war zum Scherzen zumute. Er hob die Arme und beteuerte grinsend: »Ich war’s nicht.«

»Ich würde Ihnen gerne ein paar Fragen stellen.«

»Gern. Worum geht’s denn?«

Er öffnete die Tür, ließ sie herein und entschuldigte sich für die Unordnung. In der sehr gemütlich eingerichteten Wohnung lagen überall Comichefte, Legosteine, Kinderschuhe, Plastikhelme, Schwerter und Pistolen herum.

»Ich habe viel von Ihnen gehört, Frau Klaasen.« Er breitete die Arme aus und deutete eine Verbeugung an: »Ich fühle mich tief geehrt, Sie in meiner bescheidenen Hütte begrüßen zu dürfen. Sie sind, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, eine Ikone. Ich habe Sie mal im Fernsehen gesehen, in einer Talkshow zum Thema Serienkiller. Also, wenn es nach mir ginge, würde Ihr Leben mal verfilmt werden. Aber ich bin ja nur ein kleiner Location-Scout.«

Dass die Familie, die hier wohnte, eine Nähe zu Film und Fernsehen hatte, war nicht zu übersehen. Die Lampen waren alte Scheinwerfer, die Couchgarnitur im Wohnzimmer bestand aus Kinosesseln.

Gegen Wellers Protest hatte Ann Kathrin sich entschieden, Herrn Oberdieck allein zu besuchen. Das entsprach zwar nicht den Dienstvorschriften, aber sie hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen weniger eingeschüchtert waren und freier sprachen, wenn sie nicht gleich zwei Kripobeamten gegenübersaßen.

Jetzt kam es ihr so vor, als würde sie damit mal wieder recht behalten. Sie musste nicht erst durch eine Wand von Abwehr. Stattdessen zeigte sich Herr Oberdieck sehr gastfreundlich. Sie standen jetzt gemeinsam in der Küche vor seiner neuen Kaffeemaschine, auf die er sehr stolz war. Er zählte auf, was für Möglichkeiten er hatte, ihr frischen Cappuccino, Espresso, Latte macchiato zuzubereiten, oder auch einfach einen Kaffee Crema.

Er tänzelte vor der Kaffeemaschine herum, als würde er mit ihr flirten, und war ein bisschen enttäuscht, als Ann Kathrin um ein Glas heißes Wasser bat. »Zu viel Koffein putscht mich zu sehr auf …«

Natürlich hatte seine Kaffeemaschine auch einen Knopf für heißes Wasser.

Er selbst machte sich einen Cappuccino, betonte aber, dass er dafür keine Kuhmilch verwendete, sondern Hafermilch.

Sie fand dieses Vorgeplänkel ganz gut. Sie setzten sich in die Kinosessel, und Ann Kathrin konfrontierte ihn direkt: »Es gibt Zweifel an Ihrer Identität. Können Sie beweisen, dass Sie sind, wer Sie sind, Herr Oberdieck?«

Entweder war er ein geborener Blender, hatte eine super Schauspielausbildung genossen, oder er war wirklich überrascht und amüsiert. Er hielt sich eine Hand vor den Mund, als hätte er Angst, sonst seinen Cappuccino quer über den Tisch zu prusten. Er wirkte dabei ein bisschen mädchenhaft.

Er schluckte, stellte seine Tasse ab, wischte mit den Fingern über seine Hosenbeine und stellte eine Gegenfrage: »Können Sie beweisen, dass Sie sind, wer Sie sind? Ann Kathrin Klaasen?«

Sie zeigte ihre Polizeimarke vor: »Selbstverständlich kann ich das beweisen.«

Er lachte: »Das ist jetzt nicht Ihr Ernst. Einen Ausweis habe ich auch.«

Er zog seinen aus der Jeans und legte ihn auf den Tisch. »Da – Fabian Oberdieck.«

Der Punkt ging an ihn.

»Es gibt das Gerücht«, sagte Ann Kathrin, »dass bei dem Unfall auf Lanzarote Fabian Oberdieck gestorben ist und Sie seine Rolle eingenommen haben.«

Er verzog grinsend das Gesicht. »Aber ich bitte Sie, Frau Klaasen! Welchen Grund sollte es dafür geben? Und spätestens meine Ehefrau hätte das doch gemerkt. Sie ist mit den Kindern unterwegs, aber falls Sie zum Abendessen bleiben wollen, können Sie gerne mit ihr und mit den Kindern sprechen. Es gibt getrüffelten Kartoffelstampf mit geröstetem Blumenkohl und Broccoli. Ich versuche, für meine Familie gesund und schmackhaft zu kochen.«

»Und fleischlos?«, hakte Ann Kathrin nach.

Er ahnte, dass sich hinter der Frage mehr verbarg als ein Gespräch über gute Ernährung.

»Ja, ich versuche, so viel wie möglich vegetarisch zu kochen und zu leben. So können wir doch alle etwas zum Erhalt unserer Welt beitragen. Aber ich mache keine Religion daraus. Alles Hundertfünfzigprozentige ist mir verhasst. Wenn Sie aber zum Abendessen bleiben, werden Sie nichts vermissen. Es sei denn, Sie mögen keine schwarzen Trüffel. Doch Sie sehen aus wie eine Frau, die so etwas zu schätzen weiß.«

Irgendwie erinnerte er sie an ihren Mann Frank Weller. Auch dessen Augen bekamen so einen Glanz, wenn er darüber sprach, was er kochen wollte. Genau wie Weller hatte dieser Mann Kochen zu einer Art Kunst erhoben. Zumindest sprach er so darüber.

»Wer verdächtigt mich denn, nicht ich zu sein?«, fragte er jetzt amüsiert, nahm noch einen Schluck aus seiner Tasse und wischte sich Milchschaum von der Lippe.

Plötzlich wehrte er ab: »Nein, lassen Sie mich raten: Ilona Meisenknecht. Stimmt’s?«

»Wie kommen Sie darauf?«

Er deutete Ann Kathrins Frage als Bestätigung: »Herrje, es stimmt also.«

Er stand auf, ging zum Aquarium und fütterte die Skalare. Sie schwammen zur Oberfläche und fraßen ihm praktisch aus der Hand. Der bunte Schwarm Neonfische erhielt nur, was die Skalare runterfallen ließen.

»Warum«, hakte Ann Kathrin nach, »hätte Frau Meisenknecht einen Grund, das anzunehmen? Haben Sie eine Erklärung dafür?«

Er setzte sich anders hin, legte den Arm weit von sich weg und legte die Hand über den zweiten Kinosessel, so als hätte er eine unsichtbare Freundin neben sich sitzen. Seine Finger schienen mit ihren Haaren zu spielen.

Er ist durchaus eitel, dachte Ann Kathrin. Er gibt sich Mühe, mich zu beeindrucken. Er will von mir gemocht werden.

Das Gespräch drohte eher in einen Flirt als in eine Verhörsituation zu kippen.

»Mein Gott, das ist alles ewig her. Wir waren in der Pubertät, wie Jungs halt so sind. Florian war mehr extrovertiert, ein Mädchenschwarm. Ich eher zurückhaltend. Bei Frauen hatte er immer einen besseren Schlag als ich. Ilona war seine erste feste Freundin – also, was damals so als fest galt. Sie sind vielleicht zwei Monate miteinander gegangen oder drei. Dann verliebte er sich neu und hatte keine Lust mehr. Er schaffte es aber nicht, mit ihr Schluss zu machen, und dann …« Er sprach nicht weiter.

»Und dann?«, fragte Ann Kathrin.

Er lächelte sie breit an und heischte mit den Augen um Entschuldigung: »Herrje, ich war gerade solo. Er wollte sich mit seiner neuen Flamme treffen, ich hab den Namen vergessen, aber ich sehe sie noch vor mir. Ein elfenhaftes Wesen, lange Beine, schmale Hüften. Er war mit ihr verabredet und schaffte es nicht, Ilona zu enttäuschen. Sie war doch sowieso immer so hysterisch eifersüchtig.«

Er sprach nicht weiter, sondern beschäftigte sich wieder mit seinem Cappuccino.

»Und dann haben Sie ihm zu einem freien Abend verholfen?«, kombinierte Ann Kathrin.

Er nickte. »Das haben Sie schön gesagt. Sie hat nichts gemerkt, und sie war im Bett eine ganz andere Liga als die Mädchen, die ich vorher gehabt hatte. Nicht so schüchtern und verklemmt, sondern die ging richtig ran …« Er versuchte, das Gespräch aufzulockern und Ann Kathrin für sich zu gewinnen: »Also, was heißt schon im Bett … im Bett waren wir natürlich gar nicht. Weder sie noch ich hatten eine sturmfreie Bude. Damals haben wir es auf Parkbänken getrieben, im Stadtwald und in abbruchreifen Häusern. Sie kennen das doch bestimmt noch?«

Dazu sagte Ann Kathrin nichts. »Sie haben also mit ihr geschlafen und so getan, als seien Sie Ihr Bruder.«

»Ja, das war schon komisch. Wenn sie kam, stöhnte sie immer: Florian, Florian in mein Ohr. Ich konnte ja schlecht sagen: Ich bin Fabian.« Er klopfte sich auf die Schenkel, als sei das ein toller Witz gewesen.

»Und sie hat das nicht gemerkt?«

Er zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hat sie es ja gemerkt, aber es hat ihr gefallen. Wer weiß? Ich habe es genossen, solange es eben ging.«

»Und dann haben Sie mit ihr Schluss gemacht?«

»Ja, nicht ganz. Eher sie mit mir. Also, das Ganze ist aufgeflogen. Er kam mit seiner – jetzt weiß ich es wieder, sie hieß Jutta Kiesel – aus dem Kino, und Ilona und ich standen an der Kasse und wollten rein. Die beiden hatten hinten auf Loge gesessen und die ganze Zeit geknutscht. Diese Jutta hatte immer knallrote Lippen. So sah er auch aus. Das Gesicht voller Lippenstift und den Hals voller Knutschflecken. Er hat mich umarmt und gesagt: Fabian, der Film wird dir gefallen. Ich hab zwar kaum was mitgekriegt, aber die Musik ist geil. Ilona war furchtbar verletzt, schockiert, wütend. Sie hat einen unheimlichen Tanz daraus gemacht, was wir für Schweine wären. Sie verfolgt mich immer noch mit ihrem Hass.«

»Wie macht sie das?«

»Wenn irgendein Filmprojekt läuft, an dem ich mitgewirkt habe, taucht sie garantiert in den sozialen Medien als Kritikerin auf und macht das Ding runter. Natürlich macht sie das nicht unter ihrem eigenen Namen. Sie nennt sich dann Knutschmaus17 oder Flittchen13. Unter verschiedenen Namen hat sie auch immer wieder versucht, mir auf Facebook eine Freundschaftsanfrage zu stellen. Aber ich überprüfe natürlich die Profile, bevor ich die Freundschaften annehme, und man merkt ja sehr rasch, was ein Fakeprofil ist und was echt.«

»Sie nutzen also Facebook?«

Er breitete die Arme aus: »Na klar! Ich bin in der Filmbranche. Ohne Facebook, Instagram und so geht bei uns gar nichts. Man ist halt vernetzt und nutzt die Plattformen, um für seine Produkte zu werben.«

Ann Kathrin fragte sich, ob er die gleiche Geschichte erzählt hätte, wenn Weller dabei gewesen wäre.

»Haben Sie dieses Spiel nur mit Ilona Meisenknecht gespielt oder sind auch andere darauf hereingefallen?«

Er antwortete nicht direkt, sondern überlegte: »Ach, kam die Anzeige nicht von ihr?«

Bevor Ann Kathrin darauf eingehen konnte, heulte der Seehund in ihrem Handy jämmerlich auf.

Ann sah das Bild von Marion Wolters: »Entschuldigung«, sagte sie, »da muss ich rangehen.« Sie nahm das Gespräch an, stand auf und ging in den Flur. Dabei trat sie aus Versehen gegen Darth Vaders Schutzhelm. Mit röchelnder Stimme stöhnte der Satz aus der Sprechmuschel: »Ich bin dein Vater …«

Ann ging vor die Tür. »Was ist los, Marion? Du weißt doch, dass ich bei Oberdiecks …«

»Ann, wir haben einen richtigen Mordfall. Du musst zur Museumseisenbahn. Da haben sie eine Leiche gefunden. Die Kollegen von der Spusi sind schon unterwegs.«

Dass Marion von einem richtigen Mordfall gesprochen hatte, deutete für Ann Kathrin darauf hin, dass auch sie den Fall Oberdieck nicht ernst nahm.

Oberdieck erschien jetzt in der Tür und brachte Ann Kathrin das heiße Wasser. »Ich dachte, falls Sie noch Durst haben, Frau Kommissarin. Und Sie können auch gerne bei mir oben im Arbeitszimmer in Ruhe telefonieren …«

»Nein, danke, das ist sehr nett von Ihnen. Aber ich muss jetzt dringend los. Ich hoffe, ich darf noch mal wiederkommen, um mich weiter mit Ihnen zu unterhalten.«

Er verbeugte sich wie ein Schauspieler vor dem begeisterten Theaterpublikum: »Jederzeit gerne, Frau Klaasen. Es war mir eine Ehre und ein Vergnügen.«

Ann Kathrin ging zu Fuß zum Distelkamp zurück und stieg dort in den froschgrünen Twingo, doch der sprang nicht an.

Vermutlich, dachte sie, bin ich mit dem Rad schneller da, als wenn ich jetzt einen Dienstwagen rufe. Sie überlegte, ob sie Carina Oberdieck anrufen sollte, um sie zu beruhigen. Offensichtlich ahnte der Mann, mit dem sie im Moment zusammenlebte, nichts von ihren Verdächtigungen.

Aber Ann Kathrin zögerte. Hatte er das nur sehr überzeugend gespielt?

Warum hat er mir ohne jede Not von dieser Ilona Meisenknecht erzählt? Ich wusste nichts von ihrer Existenz. Er hat ziemlich viel ausgepackt, ja er war geradezu redselig. Sprach das nicht für seine Unschuld? Wäre er der falsche Ehemann, hätte er diese alte Geschichte, von der sie nichts wusste, doch gar nicht ausgeplaudert. Denn wessen er jetzt verdächtigt wurde, das hörte sich ja fast nach einer Wiederholung an.

Er war ihr auch überhaupt nicht erschüttert vorgekommen, so als würde er am Tod seines Bruders noch leiden und hätte den Schock nicht verarbeitet, ihn in den Abgrund des Vulkans stürzen zu sehen. Im Gegenteil, er hatte ganz auf easy living gemacht, offensichtlich ohne jede Angst, dadurch verdächtig zu werden.

Er verhielt sich wie jemand, der unschuldig war: Freundlich, kooperationsbereit und ein bisschen empört über den Verdacht. Aber man spürte doch die Gewissheit, dass er an den Rechtsstaat glaubte und deswegen davon ausging, dass ihm als Unschuldigem nichts passieren konnte.

Als Ann Kathrin bei der Museumseisenbahn eintraf, waren ihr Mann Frank Weller und drei Leute von der Spurensicherung bereits da. Zwischen ihnen tobte unausgesprochen wieder der ewige Kampf, wer den Tatort als Erster betreten durfte und wer ihn wie warum verunreinigen könnte.

Zu den dreien von der Spusi in ihren weißen Ganzkörperkondomen zählte auch Helmut Bent, der zwar als Spezialist für forensische Biologie, DNA-Analysen und Bodenuntersuchungen da war, den aber Ann Kathrin nicht leiden konnte. Seinen Umgang mit Toten fand sie respektlos. Einige behaupteten, das müsse so sein und Leute wie er seien eben abgehärtet. Um bei dem Job seelisch nicht völlig draufzugehen, hätten sie eine Mauer aus Kaltschnäuzigkeit um sich herum gezogen.

Ann Kathrin ging durch den großen Lokschuppen. Sie ließ sich von den historischen Eisenbahnen nicht ablenken, sondern versuchte, sich ganz auf die Situation zu konzentrieren. Wenn sie sich nicht täuschte, fotografierte dieser Helmut, dessen Nachnamen sie immer vergaß, der Toten unter den Rock.

Natürlich musste er Aufnahmen vom Tatort machen. Aber ihr kam das Ganze suspekt vor.

Vielleicht, dachte sie, bin ich auch einfach nur schrecklich ungerecht, und etwas an dem Typen regt mich total auf, zum Beispiel seine Art, über Frauen zu sprechen. Er macht sie zu Objekten.

Dass sie sich seit Jahren seinen Nachnamen nicht merken konnte, deutete Rupert als beginnende Demenz, doch sie wusste, dass es eher ein psychisches Problem war. Sie hasste den Typen so sehr, dass sie ihn ständig aus ihrer Kollegenliste strich. Heimlich wünschte sie sich, dass er vom Dienst suspendiert werden würde.

Einmal war sie ihm mit Weller gemeinsam in der Sauna im Ocean Wave begegnet. Sie hatte sich eigentlich sehr auf den Wellnesstag gefreut, doch die Anwesenheit von Helmut verdarb alles.

Sie hatte Weller zugeflüstert: »Wie guckt der mich an? Als würde er mich mit Blicken ausziehen!«

Weller hatte geantwortet: »Aber Ann, abgesehen von den Badelatschen bist du bereits nackt.«

Sie waren dann nach Hause gefahren. Weller hatte versucht, sich die Enttäuschung nicht anmerken zu lassen, und sich zu Hause angeboten, ihr die Füße zu massieren oder den Kopf. Da sie sich nicht entscheiden konnte, machte er dann beides.

»Ich hab so einen guten Typen wie dich gar nicht verdient«, hatte sie damals gesagt. Es war der Tag, an dem sie sich eine Fasssauna für den Garten aussuchten. Inzwischen war das Teil schon ein paar Jahre alt, und auf dem Dach wuchs Moos.

Sie ging neben den Schienen entlang. Das Stellwerkhäuschen sah für Ann Kathrin wie ein Tower aus vergangenen Zeiten aus, nur dass von dort keine Flugzeuge bei Landung und Abflug dirigiert wurden, sondern Züge. Wellers Gesicht nach zu urteilen, hatte er Lust, Helmut eine reinzuhauen. Die beiden waren also schon aneinandergeraten.

Helmut ignorierte Ann Kathrin völlig. Sie räusperte sich, aber er bemühte sich, ihr immer den Rücken zuzudrehen, während er weiter die Leiche fotografierte.

Sie tippte ihm von hinten auf den Rücken. Er fuhr herum, als hätte sie ihn mit einer Messerspitze gestochen.

Weller kam einen Schritt näher, bereit, seine Frau zu verteidigen. Die forderte: »Darf ich mal Ihr Handy sehen?« Sie hielt ihre offene Hand hin, doch Helmut schüttelte den Kopf. »Später. Noch sind wir hier nicht fertig. Dies ist ein frischer Tatort.«

»Ja«, konterte Ann Kathrin, »und ich leite die Ermittlungen.«

»Irrtum. Das macht die Oberstaatsanwältin. Aber die ist noch nicht hier.«

Das Gerede wurde Weller zu viel. Er nahm Helmut das Handy einfach ab und reichte es an Ann Kathrin weiter.

Weller und Helmut Bent standen sich wie zum Duell gegenüber. Beide Männer blähten ihre Brust auf und machten sich größer.

»Eigentlich schlage ich keine Mädchen«, provozierte Weller, »aber ich könnte heute ja mal eine Ausnahme machen.«

Ann Kathrin wusste, dass er nur versuchte, Helmut hinzuhalten, damit sie ein paar Sekunden Zeit hatte, sich die Bilder auf dem Handy anzuschauen. Sie wischte mit dem Finger drei, vier Bilder weg und schon fand sie, was sie befürchtet hatte. Die Oberschenkel und die Pobacken mit einem Rockfetzen.

»Sie scheinen sich ja mehr für ihren nackten Hintern zu interessieren als für Wunden oder die Tatwaffe.«

Er riss Ann Kathrin das Handy wieder aus der Hand, schaltete es aus und steckte es ein. »Der Hintern ist nicht nackt. Sie trägt einen Stringtanga!«

Weller feuerte seine Faust ab.

Ann Kathrin blockte seinen Unterarm in der Luft und bewahrte diesen fragwürdigen Helmut so vor einem blauen Auge und ihren Mann vor einem Disziplinarverfahren.

»Können wir uns jetzt«, sagte Ann Kathrin streng, »unseren Aufgaben widmen?!«

»Wer hat denn hier den Stress angefangen?«, fauchte Helmut Bent.

Dr. Anika Scholle kam mit großen Schritten über die Gleise angelaufen. Sie hatte ihre Praxis verlassen, um behilflich zu sein. Sie winkte Ann Kathrin zu.

»Was will die denn hier?«, maulte Helmut Bent.

Weller bekam schon wieder das Flackern in der Pfote. Er sang leise vor sich hin: »Meine Faust will unbedingt in sein Gesicht.« Mit links hielt er die Rechte fest, als hätte er Angst, sie könne sich selbständig machen.

Ann Kathrin belehrte Bent: »Man braucht eine Ärztin, um den Tod festzustellen, oder falls noch etwas zu machen ist, lebensrettende Maßnahmen einzuleiten. Schon mal davon gehört?«

Patzig antwortete Helmut Bent: »Die ist tot. Aber so was von! Schade drum. War ein schönes Gerät.«

»Gerät?«, wiederholte Ann Kathrin, als hätte sie es falsch verstanden.

Weller erklärte ihr: »Das ist ein Synonym für Fuckmachine.« Vorsichtshalber steckte er seine rechte Faust jetzt in die Tasche und befahl ihr, drinzubleiben. Er kontrollierte sie mit kritischen Blicken, denn er traute ihr nicht so ganz.

»Hatten Sie mal was mit ihr?«, fragte Ann Kathrin.

»Nee. Aber ich kenne sie. War ein heißer Feger. Hat in der Disco gern Männer heißgemacht und, wenn sie so richtig scharf waren, im Regen stehen lassen.«

Weller reagierte schadenfroh: »Ach, ist dir das so passiert?«

Ann Kathrin wurde jetzt richtig wütend. »Soll das eine Rechtfertigung für eine Vergewaltigung oder Tötung sein?«

Helmut zuckte nur mit den Schultern. »Warum sie jetzt so vor uns liegt, weiß ich nicht. Ich habe lediglich eine Frage wahrheitsgemäß beantwortet.«

Anika Scholle und Ann Kathrin umarmten sich kurz, aber herzlich. Anika wollte sich zu der Toten bücken, doch Bent hielt sie auf. Weller stieß ihn zur Seite, so dass Anika einen freien Weg hatte. Weller machte das mit links, seine Rechte blieb weiterhin fest in der Hosentasche.

Helmut Bent maulte: »Wenn die erst mit irgendwelchen Rettungsaktionen anfangen, ist für die Spusi immer so gut wie alles erledigt. Der Tatort wird verunreinigt und … hinterher liegen überall Schläuche herum, Pflaster, Verbandszeug, alles ist niedergetrampelt und …«, er hob die Hände zum Himmel, »so kann ich nicht arbeiten, verdammt!«

»Ja«, sagte Ann Kathrin, »wir haben alle unsere Probleme. Aber so wurde auch schon mancher Mensch gerettet, den wir sonst verloren hätten.«

»In dem Fall sind wir leider zu spät«, sagte Anika Scholle.

Helmut Bent guckte, als hätte er gerade einen wichtigen Punkt gemacht.

Ann Kathrin drehte ihm den Rücken zu und sah sich die Gegend rund um den Fundort an. Solche Streitigkeiten und emotionalen Dinge konnten schnell dazu beitragen, dass man etwas übersah und vom Eigentlichen abgelenkt wurde. Zwischen Federringen, Klammplatten, Hakenschrauben und Signalbauteilen fand Ann Kathrin einen roten Damenschuh, Größe 37. Der Absatz war so lang wie ihr Zeigefinger. Heute nannte man die High Heels, Ann Kathrin war noch mit der Bezeichnung Pumps oder Stöckelschuhe aufgewachsen. Sie selbst konnte darin nicht laufen. Sie hatte es ein paarmal versucht, aber sie kam sich vor wie auf Stelzen.

Ann deutete auf den Schuh und sagte zu Frank Weller: »Wo einer ist, da wird wohl auch noch ein zweiter zu finden sein. Sie ist mit den Schuhen sicherlich nicht hier über das Gelände gelaufen. Dann wäre der Absatz tief in den Boden eingesackt. Jemand hat die Leiche dort abgelegt und dann die Schuhe hierhin geworfen. Irgendwo muss der zweite sein.«

Weller entdeckte ihn zwischen Schienenstücken und Holzschwellen im Schotter. Er vermutete, dass sich daran die Fingerabdrücke des Mörders befanden. Er machte Fotos und sicherte dann das Beweisstück.

Die Tote hieß Annalena Walchum. Sie war erwürgt worden. Der Fundort konnte als Tatort aber ausgeschlossen werden. Irgendjemand hatte sie dorthin gebracht und verrenkt, als sei sie aufs Rad geflochten worden.

Rupert sah das alles ganz anders. Er vermutete ein Eifersuchtsdrama, irgendeinen sexuellen Hintergrund. Vermutlich war es ihr aktueller Freund gewesen oder ein Ex-Liebhaber.

Er hatte Ann Kathrin den Vorschlag gemacht, ihren Freundeskreis zu durchforsten: »Mädels erzählen sich doch alles. Lasst mich mit ihren drei, vier besten Freundinnen reden. Ich wette, sie liefern uns den Täter auf dem Silbertablett.«

Stattdessen hatte Ann Kathrin ihn dazu verdonnert, sich im Leben von Florian Oberdieck umzugucken, der ja angeblich auf Lanzarote in den Vulkan gefallen war.

»Vielleicht«, hatte Ann Kathrin orakelt, »findest du ja Auffälligkeiten. Möglicherweise gab es gute Gründe für ihn, zu verschwinden. Vielleicht ist etwas im Leben der Brüder passiert, wodurch die Karten neu gemischt wurden. Dass er tot ist, wissen wir nur, weil sein Bruder das behauptet. Die Fotos, die sie auf dem Timanfaya-Vulkan gemacht haben, beweisen nur, dass sie da waren. Mehr nicht.«

Rupert hatte ihr recht gegeben: »Wenn ich versuchen würde, für immer von der Bildfläche zu verschwinden, wäre das auf jeden Fall ein guter Vorschlag. In den Vulkan gefallen … puff, und man ist weg.«