Panic Snap - Nala Martin - E-Book

Panic Snap E-Book

Nala Martin

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Beschreibung

Sharon hatte fest daran geglaubt, dass sie nie wieder als professionelle Domina arbeiten würde. Doch als sich ihr langjähriger Freund Patrick von ihr trennt, sie nicht genug Aufträge als freie Programmiererin erhält und von Geldsorgen geplagt wird, fasst sie den Entschluss, wieder in ihrem alten Job anzufangen. Im Hamburger Studio einer ehemaligen Kollegin findet sie einen Arbeitsplatz. Sie muss nun feststellen, dass sich ihre Arbeitswelt verändert hat: Anstatt klassischer Dominas gibt es fast nur noch Bizarrladys, die aktiv und passiv tätig sind. Hinzu kommt, dass sie mit Mitte dreißig zu den älteren Frauen im Studio gehört, die mit den zwanzigjährigen Kolleginnen um die Kunden konkurrieren müssen. Dennoch ist Sharon motiviert und optimistisch, schließlich ist sie erfahren und die einzige 'richtige' Domina vor Ort. Geprägt von den einschneidenden Erfahrungen mit dem dominanten Ex-Stammkunden Dave, dem sie sich ohne Safeword unterworfen hat und durch den sie in eine gefährliche emotionale Abhängigkeit geraten ist, nimmt sie sich vor, nie wieder ihre devote Seite im Studio auszuleben. Als jedoch der charismatische Gast Oliver dort auftaucht und Sharon ein finanziell verlockendes Angebot macht, erliegt sie seinem Charme und der Versuchung, erneut in die Rolle der Sklavin zu schlüpfen. Sharon versucht zunächst, die Spielregeln zu bestimmen und Oliver zu steuern. Sie legt ein Safeword fest, 'Panic Snap', das sie vor Grenzüberschreitungen schützen soll - obwohl sie genau weiß, dass keine Sichherheitsvorkehrung sie vor ihrem Schwachpunkt bewahren kann, dem Reiz der totalen Unterwerfung und der Verwirklichung ihrer dunkelsten Fantasien. Auch im zweiten Teil der Geschichte gelingt es der Autorin Nala Martin, das sexuelle Spiel am Abgrund so spannend wie einen Krimi zu erzählen. Explizit und radikal beschreibt sie die SM-Sessions ihrer innerlich zerrissenen Hauptfigur, die zwischen Selbstbestimmung und Machtverlust schwankt.

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Seitenzahl: 373

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NALA MARTIN

PANIC SNAP

EROTISCHER ROMAN

Für meine Liebsten!

EIN JAHR ZUVOR

»Ich geh schon!«, rief Sharon leise. Sie wusste bereits, was sie erwarten würde, wenn sie die Eingangstür öffnete. Sie atmete tief ein, griff nach der Türklinke und drückte sie nach unten.

»Moin!«, rief einer aus dem Trupp der vielen Helfer, die alle sofort ins Haus stürmten, direkt an Sharon vorbei, ohne sie zu beachten.

Sharon hörte, wie Patrick die Aufgaben verteilte.

»Die hier!«, sagte er und deutete auf einige Kisten, die an der Wand standen. »Das hier kommt auch mit. Und das hier«, fuhr er fort.

Sharon schluckte die aufkommenden Tränen hinunter, vorbei an dem dicken Kloß in ihrem Hals.

So fühlt es sich also an, dachte sie.

Sie ging ins Wohnzimmer, sah, wie es sich verändert hatte. Seinen Computer hatte er als Letztes abgebaut, gestern Abend noch, ehe er die Nacht wieder auf der Couch verbrachte. Seit Wochen schlief er schon nicht mehr im gemeinsamen Bett. Anfangs hatte sie sich Nacht für Nacht in den Schlaf geweint. Leise, ohne dass er es gehört hatte.

Der Platz auf dem Schreibtisch war nun leer. Staub hatte sich angesammelt. Katzenhaare, Flusen, Krümel. Sie würde die letzten Spuren seiner Anwesenheit später mit dem Staubsauger entfernen.

Sein lederner Schreibtischsessel war weg. Die Helfer hatten ihn schon in den Lkw verfrachtet. Sie konnte sich noch erinnern, wie er ihn damals mitgebracht hatte. Ein riesiges schwarzes, schweres Ungetüm. Ihre kritischen Blicke quittierte er damals mit: »Ich häng an diesem Sessel. Er ist so gemütlich.«

Sie hatte ihn gewähren lassen, und ja, er hatte recht: Dieser Sessel war unglaublich gemütlich. Sie hatte gerne darauf gesessen.

Patrick geht!, hämmerte es in Sharons Kopf.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Um nicht im Weg zu stehen, setzte sie sich auf die Couch, zog ihre Knie an ihren Körper und schlang ihre Arme darum, als wäre es das Einzige, woran sie sich klammern könnte.

Die letzten Wochen seit sie und Patrick sich getrennt hatten, hatte sie sich immer gefragt, wie es sich wohl anfühlen würde, ohne ihn zu leben. Ob sie unvollkommen wäre? Was würde ihr fehlen? Konnte man sich an eine solche Veränderung gewöhnen?

Das Leben mit Patrick hatte ihr immer Spaß gemacht. Sie hatte diesen Mann geliebt. Nicht vom ersten Tag an, nein, und auch nicht bis zum letzten Tag. Aber die Tage, die sie ihn geliebt hatte, waren intensiv, spannend, lustig, voller Höhen und Tiefen gewesen.

Sie hätten sich auseinandergelebt, hatte Patrick gesagt.

Er war eines Abends nach Hause gekommen, hatte sie zum Gespräch ins Wohnzimmer gebeten. Sie hatten sich auf die Couch gesetzt. Sharon hatte schon den ganzen Tag über ein schlechtes Gefühl gehabt, ein Gefühl, das ihr sagte, dass sich etwas verändern würde.

»Es passt nicht mehr«, hatte er dann gesagt, ihr in die Augen gesehen und sie gemustert. Er hatte sie nicht berührt, nicht in den Arm genommen. Er hatte sie einfach nur angesehen.

Ihre unruhige, teilweise hyperaktive und verwirrende Art, die er früher akzeptiert hatte, war für ihn unerträglich geworden. Aber auch seine Witze, über die sie früher gelacht hatte, waren abgenutzt und nicht mehr lustig. Am meisten jedoch störte ihn, dass Sharon nicht reden konnte. Nein, das war natürlich falsch ausgedrückt: Sharon konnte reden, und das machte sie gut. Aber sie sprach selten über das, was sie wirklich fühlte und vor allen Dingen wollte. Sie hielt ihre Bedürfnisse an der falschen Stelle eisern unter Verschluss. Und das war für Patrick unerträglich geworden.

Sharon beobachtete, wie Patrick vor der Wohnzimmertür stehen blieb und mit einem der Umzugshelfer sprach. Sie stellte fest, wie abgekämpft er aussah. Wie müde und erschöpft er wirkte. Erschöpft von ihr, von seinem derzeitigen Leben mit und ohne sie. Er wollte nur noch weg und dem Ganzen ein Ende bereiten.

Aber auch wenn sie sich nun trennten, so würde Patrick immer ein Teil ihres Lebens bleiben, nicht nur in der Vergangenheit, auch in der Zukunft. Sie kannte das schon. Es war nicht die erste Trennung von einem Mann, der dennoch Teil ihres Lebens blieb. Denn Simon, das war Sharons und Patricks gemeinsamer Sohn, und Fi, Sharons Tochter, die irgendwie auch Patricks Tochter war, würden die Hälfte des Monats bei Patrick verbringen.

Sie könne dann ja, hatte er gesagt, arbeiten, soviel sie wolle.

Sharon wusste, dass er eine Schwachstelle erwischte. Sie hatte angefangen, auf selbstständiger Basis zu programmieren, und einige wirklich zeitintensive Großkunden an Land gezogen. Diese Kunden waren der Grund, warum Sharon das Haus alleine halten konnte. Patrick wollte es nicht übernehmen und Sharon sich auf keinen Fall davon trennen. Also überschrieb er ihr seinen Teil des Hauses, die beiden vereinbarten eine Abtretungssumme und nun lag die Verantwortung dafür auf Sharons Schultern.

Patrick sah Sharon auf der Couch sitzen und beobachtete, wie sie weinte. Er hatte Mitleid mit ihr, wusste, wie heftig die Trennung sie aus dem Sattel gerissen hatte. Sharon war ein Gewohnheitstier. Veränderungen verkraftete sie oft nur sehr schwer und es dauerte lange, bis sie sich an etwas gewöhnt hatte. Patrick war immer ihre Basis gewesen, ihr Ruhepunkt, wenn sie wieder rastlos war. Jetzt würde dieser Ruhepunkt wegbrechen. Patrick sorgte sich darum, was mit Sharon passieren würde, wenn er nicht mehr an ihrer Seite wäre. Aber andererseits, dachte er, läge es nicht mehr in seiner Verantwortung. Sharon war alt genug, ihr Leben selbst in den Griff zu bekommen. Sie war alt genug, sich eine neue Basis zu suchen, an der sie Kraft tanken konnte.

»Vorsicht. Hier sind Gläser drin!«, rief Patrick einem Helfer zu, ehe er zu Sharon ging.

Sie weinte, Tränen liefen unablässig über ihre Wangen.

»Warum?«, fragte sie verzweifelt.

»Ach Süße«, sagte Patrick und schloss sie in seine Arme. Es war nicht so, dass er sie nicht mehr mochte oder gar hasste. Im Gegenteil, er hatte Sharon immer noch furchtbar gerne. Aber er liebte sie nicht mehr. Es war eigentlich ganz einfach. Das Unerklärliche hatte immer so einfache Antworten.

Er griff in seine Hosentasche und zog ein Taschentuch hervor. Er hatte gewusst, dass der Abschied schwer werden würde für Sharon. Seit dieser Sache mit Dave hatte sie sich verändert. Sie hatte sich verkrochen, war zwar sehr emotional, aber sie staute ihre Gefühle auf. Anstatt darüber zu reden, brachen sie einfach irgendwann aus ihr heraus. Unkontrolliert und ungebremst. Etwas, was ihn überforderte. So wie jetzt. All die Wochen zuvor hatte sie keine Anzeichen gezeigt, dass die Trennung sie so sehr belastete. Hatte ihr Leid in sich gesammelt, gehortet und bewacht wie einen Schatz. Und jetzt kam alles hoch. Ausgerechnet jetzt, wo es so gar kein Zurück mehr geben konnte.

Patrick beobachtete sie eindringlich. Er wusste aber, dass es bei Sharon keine Nachwehen geben würde, die er mitbekommen würde. Sobald er durch die Tür wäre, würde sie nach außen hin in einen kalten, berechnenden Modus fahren. Diesen Modus würde sie so lange halten, bis auch ihr Gefühlsleben wieder stabil war. Nervende SMS, nächtliche Anrufe oder spontane Besuche, damit würde er nicht rechnen müssen. In diesem Punkt war seine Exfreundin konsequenter und zielgerichteter als einige andere Frauen, die er kannte. Hier war sie zu stolz, um sich die Blöße zu geben, jemandem nachzulaufen, der sie nicht haben wollte.

Doch es war eben auch genau dieser Stolz, der ihn zu seiner Trennung zwang. Ihr Stolz, nicht allzu viel über sich und ihre Gefühle preiszugeben. Ihr Stolz, ein Scheitern zu verstecken. Ihr Stolz, immer bis zum bitteren Ende jeden Weg alleine gehen zu wollen. Anfangs hatte Patrick gedacht, dass sie es allen beweisen wollte, dass sie es alleine schafft. Aber das stimmte nicht. Dazu war ihr Triumph zu klein. Mittlerweile war er sich sicher, dass sie es sich selbst beweisen wollte und musste. Dass sie gleichzeitig ihr engster Freund und schlimmster Feind war. Er wusste auch, so gut kannte er sie bereits, dass sie nach dem ersten Schock der Trennung innerlich die Ärmel hochkrempeln würde und sich wahrscheinlich so etwas sagen würde wie: Wäre ja gelacht, wenn ich das nicht auch schaffe.

Er sah sie an.

Er kannte sie in- und auswendig. Jede Regung ihres Gesichts verriet ihm, was los war. Sie war lesbar wie ein Buch, geschrieben in einer fremden Sprache. Hatte man die Sprache erst gelernt, konnte man es lesen. Was aber nicht hieß, dass man es auch verstand.

Es gab Dinge an ihr, die änderten sich nie. Ihr Haare zum Beispiel waren seit jeher rot. Lang und rot. Ihre Lippen schienen immer zu rufen: »Küss mich!« Und er hatte sie gerne geküsst. Ihre Augen, die so neugierig und gleichzeitig so kritisch in die Welt sahen. Sharon war immer perfekt gewesen für Patrick. Und er für Sharon. Vielleicht waren sie zu perfekt füreinander?

»Wir sind dann fertig!«, rief einer der Helfer, der ins Wohnzimmer gekommen war.

Sharon nickte, obwohl der Satz an Patrick gerichtet war. Der Helfer wollte noch etwas sagen, bemerkte dann aber, dass der Moment der falsche war. Er schwieg und verließ den Raum.

»Wenn ich noch etwas vergessen habe ...«, weiter kam Patrick nicht, denn seine Stimme versagte. Er hatte nicht erwartet, dass es doch so schwer werden würde für ihn.

»… dann ist es nicht aus der Welt«, sagte Sharon leise. Da war er wieder. Ihr Zwang, Angefangenes zu beenden. Angefangene Sätze konnte Sharon nicht stehen lassen. Sie musste sie beenden.

»Okay. Dann geh ich jetzt. Nächsten Freitag hole ich dann das erste Mal die Kids. Direkt aus der Schule und aus dem Kindergarten, in Ordnung?«

Sharon nickte.

Die beiden waren gerade bei Sharons bester Freundin, Kathi, damit sie das Drama des Auszugs nicht miterleben mussten.

Patrick wollte den Schlüssel fürs Haus vom Schlüsselbund abmachen, doch Sharon winkte ab.

»Ein anderes Mal«, erklärte sie mit erstickter Stimme. Sie konnte sich kaum noch zurückhalten, wusste, jedes weitere Wort würde ihre Tränenschleusen öffnen. Der Kloß in ihrem Hals erschien ihr unerträglich. Am liebsten würde sie ihm um den Hals fallen, ihn anbetteln, zu bleiben.

»Tschüss«, sagte Patrick leise, überlegte, ob er sie noch in die Arme schließen sollte. Er entschied sich, es zu lassen.

»Tschüss«, flüsterte Sharon, und das war das Wort zu viel. Ihre Augen füllten sich unkontrolliert mit Tränen und sie konnte nichts mehr sehen. Sie schluchzte auf und schloss die Tür. Und während er in den Wagen einstieg und ihn startete, sank Sharon weinend an der Tür zu Boden.

Dort saß sie eine ganze lange Weile. Die Stille um sie herum beruhigte sie eigenartigerweise. Patrick hatte einen Teil von ihr mitgenommen. Die Angst vor der Zukunft war leider nicht dabei gewesen. Sie saß in ihr, tief und fest verankert.

SHARON

»Aufwachen Sharon, heute ist der erste Tag deines neuen Lebens!«, rief mein Engelchen aufgeregt.

»Ja los, raus aus den Federn, faule Socke!«, rief mein Teufelchen.

Engelchen und Teufelchen waren sozusagen das Gimmick, welches mir mein Erschaffer mit auf den Weg gegeben hatte. Ähnlich einer lustigen, aber völlig unbrauchbaren Beilage in einem Comicheft, musste ich sie tolerieren. Sie waren einfach dabei, steckten in mir drin und mich teilweise mit guten, manchmal aber auch mit weniger guten Ideen an. Engelchen verkörperte dabei gerne meine moralische, anständige und ordentliche Seite, die nur mit Netz und doppeltem Boden spielte. Es hielt mir eine Standpauke, wenn ich unrechte Dinge dachte, sagte oder tat.

Mein Teufelchen hingegen stand für all die Dinge, die ich mir zu tun wünschte, aber selten den Mut hatte auszuleben. Mein Teufelchen war immer vorne und hielt mich dazu an, etwas egoistischer zu sein und ab und zu die politische Korrektheit und einige Hemmungen schlichtweg über Bord zu werfen. Letztlich mochte ich die beiden, ich hatte gelernt, mit ihnen und ihren Extravaganzen zu leben. Sie waren die Schuldigen, die mich zu einem eigenartigen, wenn auch irgendwie liebenswerten Wesen machten.

Ich war längst wach, tat aber gerne noch so, als wäre ich tot oder würde zumindest noch schlafen. Ich gähnte herzhaft und streckte meine Arme.

Der erste Tag meines neuen Lebens? Der fängt ja genauso an wie der letzte Tag meines alten Lebens!, dachte ich zynisch.

Ich warf einen Blick auf meinen Wecker, der friedlich neben mir tickte. Er sah so unschuldig aus, tat keiner Seele etwas zuleide, bis …

Weiter kam ich mit meinem Gedanken nicht, denn dieses grauenvolle technische Wunderwerk klingelte. Ich schlug einmal auf ihn drauf und er hörte auf. Eiligst stieg ich aus dem Bett und ging direkt in den Wohnraum. Meine beiden Kinder waren schon wach und saßen, wie sollte man es anders meinen, vor dem Fernseher. Ein Machtwort meinerseits, ein maulendes Raunen ihrerseits und schon war die Situation geklärt und beide setzten sich artig an den Küchentisch, um ihr Frühstück zu essen. Immerhin duldete ich derartiges Verhalten nicht, wenn Schule oder Kindergarten anstanden.

Vor einem Jahr ist Patrick ausgezogen, dachte ich, als mein Blick auf den Familienplaner fiel, in dem genau eingetragen war, welche Zeiten wie und bei wem verplant waren. Den Hauptteil meiner Zeit beanspruchten meine Kinder. Im 14-Tage-Turnus waren sie bei mir und während dieser Zeit hatte ich volles Programm. Neben Schule und Kindergarten standen Vereine auf der Tagesordnung. Kindergeburtstage, Veranstaltungen und sonstige »ganz dringliche« Termine, die man so als alleinerziehende Mutter unbedingt in seinem Terminplaner haben musste.

Fiona, meine Tochter, pflegte nicht nur einen großen Freundeskreis, sie hatte auch kostspielige Hobbys wie Reiten und Tanzen. Außerdem besuchte sie einmal in der Woche einen Selbstverteidigungskurs. Ich war immer wieder aufs Neue beeindruckt, wie selbstständig sie schon war.

Simon, mein kleiner Sohn, hatte sich im Kindergarten ein soziales Netz aufgebaut, und selbst in diesem Alter gehörte es bereits zum guten Ton, sich miteinander zu verabreden und die Nachmittage miteinander zu verbringen.

Die beiden Geschwister waren in der Regel ein Herz und eine Seele. Üblicherweise setzten sie sich füreinander ein. Nur wenn es um das letzte Stück Kuchen oder Schokolade ging, brach ein erbitterter Krieg unter ihnen aus, der in regelmäßigen Abständen mit einer pädagogisch fragwürdigen Maßnahme meinerseits endete: Keiner bekam etwas davon, beide Kinder verzogen sich schmollend in ihre Zimmer und ich gönnte mir genüsslich das umstrittene Objekt der Begierde.

Auf dem Küchentresen vor mir lag die Post. Nicky liebte es, unseren Briefkasten auszuräumen, und machte das jeden Morgen vor dem Frühstück. Ein Brief von einer Versicherung war darunter und dann war auch noch eine Nachzahlung ans Finanzamt fällig.

Vor einem halben Jahr hatte ich einige meiner wichtigsten Kunden verloren und jetzt war ich so gut wie pleite. Ich schaffte es zwar, die laufenden Kosten zu decken, aber einfach war das nicht. Ich hangelte mich zwischen Mahnungen und Rechnungen durch, schob mein Geld von hier nach dort. Und jeden Tag konnte ein Posten eintrudeln, mit dem ich nicht gerechnet hatte. Schon eine kleine Reparatur am Auto oder am Haus konnte und würde mir zielsicher das finanzielle Genick brechen.

Ich ärgerte mich darüber und so manche Nacht blieb ich schlaflos, aber ich war nicht bereit, mein geliebtes kleines Häuschen aufzugeben. Es war zwar klein und nur ein Bungalow, aber es war meins. Und ich hatte fast alles im Haus mit Patrick gemeinsam gebaut. Kampflos würde ich das Haus niemandem überlassen.

Ich hatte wochenlang versucht, neue Kunden zu finden, mit denen ich die Lücken hätte schließen können. Ich hatte wie wild Klinken geputzt, hatte Energie, Zeit und Geld in Werbemaßnahmen gesteckt, aber es hatte nichts geholfen. Ich war nun kurz vor dem Ende der Fahnenstange und ich brauchte Geld. Das war mein zentrales Thema geworden und es frustete mich enorm.

Ich drängte meine Kinder zur Eile. Die beiden spülten ihre Brote mit Kakao hinunter und rannten in ihre Zimmer, um sich anzuziehen. Ich stellte meine heiß geliebte Kaffeemaschine an und legte ein passendes Pad ein. Während der Kaffee in meinen Kaffeebecher lief, ging ich hinüber zu meinem Schreibtisch und stellte meinen Laptop an.

»Mama, Hilfe!«, hörte ich meinen Sohn und sah, wie er mir entgegenkam. Er hatte sich in seinem Pullover verheddert. Ich half ihm dabei, seine Gliedmaßen zu sortieren und den Pullover ordentlich anzuziehen. Dann schickte ich ihn ins Badezimmer.

Ich hörte, wie meine Kinder stritten, wer zuerst ans Waschbecken durfte. Meine Tochter schrie, mein Sohn heulte kurz auf.

»Hey!«, rief ich. »Vertragt euch!«

Ich packte in Ruhe ihre Koffer, denn ab heute Nachmittag würden sie bei Patrick bleiben für die kommenden 14 Tage. Und für mich startete damit mein neues Projekt, um wieder Geld in die Kassen zu spülen.

Ich hatte mich lange mit meiner Freundin Kathi beraten, was ich denn tun könnte, um an Geld zu kommen. Nachdem für mich die Vorschläge meines Teufelchens, eine Bank zu überfallen oder einen uralten, steinreichen Kerl zu heiraten und ihn (an dieser Stelle verhinderte ein lautes »Piep« von meinem Engelchen, dass ich hören konnte, was ich mit ihm hätte machen sollen), nicht infrage kamen, mussten wir uns eine realistische Art und Weise überlegen, wie ich schnell zu Geld kommen konnte.

Also kam ich auf die Idee, mich wieder ins Studio zu setzen und durch die Laufkundschaft meine finanziellen Mittel zu erhöhen. Ich rechnete durch, auf welchen Schnitt ich kommen müsste, um in Ruhe leben zu können, und legte einen Zeitplan fest. Ich würde zwei Wochen fest im Studio arbeiten und nebenbei programmieren. Die andere Hälfte des Monats würde ich hauptsächlich Datenbanken programmieren und nebenbei mal ins Studio fahren, um den ein oder anderen Termin mit künftigen oder ehemaligen Stammgästen zu machen.

Ich durchforstete den aktuellen Markt und stellte fest, dass es kaum noch klassische Dominas gab. Nahezu alle waren berührbare Bizarrladys geworden, viele von ihnen spielten auf beiden Seiten, waren also auf der aktiven Seite Domina, auf der passiven Seite Sklavin oder Zofe. Ich fragte mich, ob man Männer tatsächlich noch mit meinem hinterlistigen Trick locken konnte. Ich hatte früher gerne getönt, dass ich auch als unberührbare Domina Sex mit meinen Gästen hatte, aber eben nur dann, wenn ich das auch wirklich wollte. Das war dann so gut wie nie vorgekommen, denn das Gros der Gäste passte einfach nicht in mein optisches Beuteschema. Außerdem gab es wenige Männer, die mich in ihrer passiven Neigung so sehr reizten, dass ich sie direkt in mir spüren wollte.

Kathi fand meine Idee überhaupt nicht gut, musste dann aber nach viel Gezeter ihrerseits gestehen, dass sie leider über keine bessere verfügte. Und so telefonierte ich mit Andrea, einer alten Bekannten und ehemaligen Kollegin von mir, die seit einigen Jahren ein eigenes Studio in Hamburg hatte. Sie freute sich sehr, von mir zu hören, und bot mir an, zu ihr zu kommen und einfach auszuprobieren, ob das denn noch mein Ding wäre. Ich war verwöhnt gewesen in früheren Zeiten. Ich war nur in meinem ersten Jahr gezwungen gewesen, mich ins Studio zu setzen und die verpönte Laufkundschaft mitzunehmen. Danach hatte ich den Luxus gehabt, ausschließlich von meinen Stammgästen leben zu können, die sich streckenweise tatsächlich so sehr um mich rissen, dass ich oft schon Wochen im Voraus ausgebucht gewesen war. Einige Jahre später hatte ich mich komplett aus dem Gewerbe zurückgezogen. Hatte meinen Sohn geboren, eine normale Arbeit angenommen und war felsenfest davon überzeugt gewesen, nie wieder ins Gewerbe gehen zu müssen.

So sehr mir die Arbeit mit Stammgästen gefallen hatte, so sehr hasste ich das Sitzen und Warten auf neue Gäste. Das war hart und erforderte viele Nerven. Ich empfand es als sehr unangenehm, gemeinsam mit anderen Frauen um einen Mann zu buhlen. Schon allein deshalb hatte ich schnell das Niveau angezogen und entschieden, dass Gäste gefälligst um mich zu kämpfen hatten. Geholfen hatten mir damals sicherlich mein jugendliches Aussehen und mein gutes Händchen für den Markt. Ich hatte schnell herausgefunden, wo die Lücken waren, die ich füllen konnte.

Nachdem ich geduscht und mich aufgehübscht hatte, schnappte ich meine gepackten Sachen und fuhr in die Stadt.

Ich drückte auf die Klingel und wartete einen Augenblick. Ein kurzes Knacken kündigte an, dass ich sogleich eine Stimme hören würde.

»Ja bitte?«

»Sharon hier!«, rief ich und sofort summte die Tür und ich betrat das Gebäude. Von außen sah es aus wie ein riesiges Bürogebäude mit einer verspiegelten Fassade, hinter der man alles Mögliche vermuten würde, aber bestimmt kein Dominastudio.

Ich ging einige Treppen hinauf in den ersten Stock, lief durch den kleinen Flur. In der Tür stand meine ehemalige Kollegin und Inhaberin des Studios, in dem wir früher gemeinsam gearbeitet hatten.

»Hey! Es ist so schön, dich endlich wiederzusehen. Meine Güte, wie lange ist das her?«, fragte sie und schloss mich in ihre Arme und ich hatte den Eindruck, dass sie sich aufrichtig freute. Die Sache mit »Freundschaft« und »Kolleginnen« ist gar nicht so einfach in einer Frauendomäne wie dieser, wo Aussehen, Alter und Sprache entscheiden können, wer mehr verdient und wer womöglich leer ausgeht. Hatte man seinen 40. erreicht, fällten die meisten Dominas eine Entscheidung, die überwiegend mit der Konkurrenz zu tun hatte: Sie gründeten ein eigenes Dominastudio, um eben nicht mehr gegen die jüngeren, schlankeren, strafferen und vor allem enthemmteren Kolleginnen antreten zu müssen.

Ich war im Laufe meiner Zeit als aktive Domina häufiger gefragt worden, ob ich nicht ein eigenes Studio eröffnen wolle. Mit meinem Namen und meinem Ruf wäre das eine tolle Sache, wurde mir eingeredet. Doch im Gegensatz zu einigen Kolleginnen behielt ich meinen Realitätssinn. Ich hatte in all den Jahren gesehen, wie viele Dominas mit ihren Studios pleitegegangen waren. Wie sie am Existenzminimum krochen, ja sogar ihre Wohnung verloren oder auf Sozialhilfe angewiesen waren. Denn unterm Strich ist es die Frau, die unabhängig arbeitet, die oftmals mehr verdient.

Allein die Verantwortung, monatlich die Miete, den Strom, Heiz- und Nebenkosten in den Laden einzubringen, schreckte mich gehörig ab. Das Gewerbe war wenig berechenbar, eigens von mir geführte Studien zeigten zum Beispiel tiefe Umsatzeinbrüche während der Ferienwochen und Feiertage. Hinzu kam, dass wir eine Luxusdienstleistung anboten, also etwas, wo zuallererst gespart wurde. Wenn das Geld knapp sitzt, verzichtet der Mann auf teure Sexualpraktiken.

Dann wollte ein Studiobesitzer natürlich genug Frauen im Studio haben. Diese waren, ähnlich wie der Markt, ebenfalls kaum berechenbar. Zum Teil verschwanden sie ohne ein Wort des Abschieds von heute auf morgen oder stellten sich als unzuverlässige Mitarbeiterinnen heraus. Manch eine war dem Alkohol oder den Drogen verfallen, oder sie hatten einen Zuhälter an der Hand. Nichts, was man als Studioinhaberin unbedingt brauchte.

Und zu guter Letzt wollte man natürlich auch selbst überleben, von dem ins Haus gebrachten Geld seinen Anteil haben. Meine Berechnungen diesbezüglich zeigten mir klipp und klar: Mach keinen Mist. Bleib unabhängig und dir bleibt unterm Strich mehr.

Außerdem blieb ich so flexibler, konnte problemlos auch mal ein Zimmer in einem anderen Studio mieten oder als Gastdomina in anderen Studios fungieren. Nein, ein eigenes Studio käme für mich nie infrage.

Ich umarmte Andrea ebenfalls herzlich.

»Keine Ahnung, auf jeden Fall einige Jahre!«, antwortete ich. Ich konnte kaum glauben, dass wir uns tatsächlich so lange nicht mehr gesehen hatten.

»Komm rein«, rief sie und lief vor mir her.

Sie war älter geworden und hatte das ein oder andere Kilo hier und dort zugelegt, war aber immer noch gut aussehend und schmal. In ihrem Gesicht fielen mir die Sorgenfalten auf. Andrea hatte mir schon am Telefon erzählt, dass der Laden momentan nicht allzu viel abwirft. Sie konnte von Glück sprechen, dass sie einen stillen Teilhaber hatte, der etwas Geld in den Laden steckte. Ihre Vorgängerin hatte das Studio nahezu komplett heruntergewirtschaftet, weshalb ich mich damals entschlossen hatte, das sinkende Schiff zu verlassen. Ich hatte erlebt, wie der Gerichtsvollzieher klingelte und uns der Strom abgestellt wurde. Gut, dass es in einem Dominastudio immer Kerzen gab, und den Gästen konnte man problemlos erklären, dass wir derzeit unsere romantische Ader ausleben würden. Außerdem eignete sich Kerzenwachs super, um das Gegenüber zu quälen.

Andrea hatte viel Liebe in die Räumlichkeiten gesteckt, als sie den Laden übernommen hatte. Dennoch merkte ich durchaus, dass ihr der Druck und der Stress auf der Seele lasteten.

Wir liefen durch den langen Flur, in dem neues Laminat ausgelegt war. Es roch vertraut, nach Kerzen, Latex, Lack und Leder, nach Reinigungsmittel und Parfüm. Die typische Feuchtigkeit der ewig duschenden Gäste hing in der Luft. Wir gingen bis zum Ende des Flurs und Andrea öffnete die Tür, die Tür zur Schlangengrube, wie ich Aufenthaltsräume wie diese im Geheimen gerne nannte.

Aufenthaltsräume für professionelle Frauen waren irgendwie immer gleich. Ein großer Tisch, viele Stühle, über deren Lehnen Klamotten hingen. Schrankwände oder Spinde mit langen Spiegelfliesen daran. Massenweise Kisten an den Wänden, durchsichtig, gefüllt mit Wäsche oder Sexspielzeug.

Berge von Papier, Kataloge, Bestellformulare, Zeitschriften. Stehende kleine Spiegel, Getränkeflaschen überall. Und natürlich: Schuhe. Massenhaft Schuhe in unterschiedlichen Stilen und Höhen. Jeder Schuhfetischist hätte seine wahre Freude daran.

Oftmals, je nach Größe des Raums, befand sich auch eine Couch darin, auf der man das ein oder andere Nickerchen halten konnte. Und natürlich durfte in keinem Aufenthaltsraum die Küchenzeile fehlen, mit einem Kühlschrank, in dem neben dem Mittagessen und den kalten Getränken auch noch die Poppersfläschchen gelagert wurden. Und natürlich an der Wand: ein Verbandskasten für die gröbsten Notfälle. Ich entdeckte außerdem noch die »Ausredenliste«, hinter der sich eine ganz besondere Geschichte verbarg.

So hatten wir vor vielen Jahren mal einen Gast, dessen Hoden sich im Laufe einer Session durch einige kleine Schläge blau verfärbten. Er hatte seiner Angebeteten dann erzählt, er wäre gegen den Schreibtischstuhl geprallt. Als er uns davon erzählte, konnten wir unser Lachen kaum zurückhalten und beschlossen, eine Liste zu erstellen, auf der wir die besten und skurrilsten Ausreden sammelten, um sie dann eventuell an andere Gäste weiterzugeben, die ebenfalls davon Gebrauch machen konnten. Selbstredend übernahmen wir keinerlei Verantwortung dafür, ob diesen Ausreden auch Glauben geschenkt wurde.

Der Raum war gut geheizt, was damit zu tun hatte, dass die meisten Frauen in Unterwäsche und Bademantel auf ihre Gäste warteten. Wenn ein Gast kam, warf man dann schnell etwas »noch Kürzeres« über und schon war man zumindest fürs Vorgespräch angezogen. Es roch nach Haarspray, Deo und Parfüm.

Der große Tisch, das Herzstück des Raumes, war vollgestellt mit Schminktaschen, Magazinen und Laptops. Ein Pulk von Handys lag darauf, was den Hintergrund hatte, dass die meisten Frauen neben einem dienstlichen Handy noch ein privates hatten. Manche Frauen inserierten unter mehreren Namen, sodass sie für jeden ihrer Nicknamen ein eigenes Handy, mit eigenem Angebot, hatten. Und manche von ihnen hatten noch einen Hauptberuf und auch dieses Mobiltelefon lag dann bereit, oftmals mit einer riesigen Notiz darauf: »Finger weg!«

Neben jedem Mobiltelefon lag ein Terminkalender mit einem passenden Kugelschreiber dazu.

In der Mitte des Tisches stand eine Schale Knabbereien.

Einige Augenpaare richteten sich auf mich, als ich durch die Tür kam. Das war der erste Moment, der mich immer etwas nervös werden ließ. Aber diese Nervosität ließ ich mir nicht anmerken. Denn der Schuss konnte schnell nach hinten losgehen.

Ich war nämlich nicht nur eine neue Kollegin für die Damen, mit der man sich vielleicht über das ein oder andere Outfit unterhalten oder von der man sich einen Schminktipp abholen konnte, nein, ich war auch Konkurrenz. Und so wie ich taxiert wurde, offenbar sogar eine ziemlich große.

Glücklicherweise war ich die einzige Rothaarige im Raum, sodass dieser Punkt schon mal erledigt war. Vor mir saßen drei Bizarrladys, die sowohl aktiv als auch passiv arbeiteten, und eine passive Dame. Ich wusste von Andrea, dass ich die einzige Domina im Studio sein würde. Ich rechnete mir viele Chancen dadurch aus, denn ich wusste, dass es genügend Gäste gab, die Switchern sehr skeptisch gegenüberstanden.

»Hi, ich bin Sharon!«, rief ich in die Runde. Ein Stimmenwirrwarr aus Antworten erreichte mich.

Ich bemerkte, wie ich gemustert wurde. Von oben bis unten.

Und auch ich sah mir die anwesenden Damen unauffällig an. Figürlich war alles vertreten, von der schlanken Dame bis hin zum Vollweib. Sie waren nahezu alle jünger als ich. Plötzlich hörte ich Schritte hinter mir und spürte, wie mir von hinten die Augen zugehalten wurden.

»Wer bin ich?«, fragte eine Stimme und ich erkannte sofort, wer dahintersteckte.

»Emma!«

Emma gehörte zu den passiven Damen, sie war schon seit Jahren im Gewerbe und eine jener Damen, die auch privat SM auslebten.

Ich schloss meine Arme um sie, froh darüber, ein weiteres bekanntes Gesicht zu sehen.

»Hier ist dein Spind, Sharon. Da kannst du deine Sachen unterbringen. Ich bringe dir gleich noch ein paar Kleiderbügel«, erklärte Andrea gutmütig und marschierte los.

Da war ich wieder. Zu Hause. Wie früher, wie ganz früher, als ich angefangen hatte. Ich wusste, dass die Frauen hier allesamt auf Laufkundschaft warteten. Es war wie das Warten auf ein Urteil. Manche Männer waren dann auch noch so offen und ehrlich und erklärten, dass die Brüste zu groß oder zu klein wären, man zu dick oder zu dünn sei. Manches war nicht einfach zu schlucken, auch wenn Geschmäcker bekanntlich verschieden sind.

Ich kannte aber auch die süchtig machende Mischung aus Hochgefühl und Erschöpfung, wenn man an einem Tag mal eben 800 Euro oder mehr auf den von den High Heels müden Beinen aus dem Studio trug und nur noch ins Bett fallen wollte. Und das war Anreiz genug, Stunden auf einen Gast zu warten. Jeder einzelne von ihnen konnte derjenige mit den im übertragenen Sinne goldenen Eiern (in zweierlei Hinsicht) sein.

Ich sortierte meine Sachen in meinen Spind. Meine geliebten Bullenpeitschen lagerte ich eingerollt in einem Beutel aus Leinen. In eine Papprolle steckte ich meine Rohrstöcke. Auf die Kleiderbügel sortierte ich meine Garderobe. Ein schwarzes Taillenkorsett, eine schwarze Seidenbluse. Ein Lederkleid, ein Lederrock, ein Satinrock. Mehrere Oberteile, Hosen und Unterwäsche legte ich fein säuberlich zusammen auf das Regalbrett. Meine Nylons lagerte ich in einer kleinen Schachtel.

Mein aktuelles Lieblingsoutfit, die weiße Bluse und das Rüschenhöschen, hängte ich gemeinsam mit einem schwarz-weiß gestreiften Stoffkorsett auf einen anderen Bügel. Meine Schuhe, die ich einzeln in Schuhschachteln aufbewahrte, stapelte ich am Boden des Spinds. In einem seidenen Beutel lagen meine Spitzenschuhe, die ich für die ein oder andere Tramplingsession benötigte, bei der ich, auf dem Gast stehend, meine Ballettübungen vollführte.

»Wow, du hast eine Menge Schuhe!«, rief eine der Damen.

Aufgrund einiger unschöner Begebenheiten in meinem Leben hatte ich mittlerweile eine beachtliche Schuhsammlung, denn ich war das, was man im Allgemeinen als »Frustshopper« bezeichnete. Hatte ich Liebeskummer oder andere Sorgen, zog ich los und kaufte Schuhe. Und davon hatte ich mehr als genug gehabt, in den letzten Jahren.

Ich atmete tief ein, betrachtete mein Werk und ließ mich schließlich auf einen der freien Stühle sinken. Ich war wieder hier, zurück in meinem alten Leben. Ich würde Stammgäste treffen, aber auch die Laufkundschaft mitmachen. Die Spannung, nicht zu wissen, was der Tag bringt – Euphorie oder Enttäuschung –, hatte einen ganz eigenen Charakter. Mir kamen die Worte meiner Freundin Kathi in den Kopf, die mich gefragt hatte, ob ich das wirklich wollte. Ob ich mich wirklich da hinsetzen wollte, zwischen all die jungen Dinger. Ich blickte in die mir größtenteils fremden Gesichter. Sie waren so jung, doch so manche von ihnen schien bereits eine Menge gesehen zu haben. Ob ich auch jemals so ausgesehen hatte? Hand aufs Herz – ich wäre niemals hierhergekommen, hätte ich keine Geldprobleme. Aber davon wusste Andrea nichts. Ich tat alles, um den Mythos einer freien und unabhängigen Entscheidung zur Rückkehr aufrechtzuerhalten. Auf meiner Website hatte ich geschrieben, dass ich mich wieder nach dem Studioalltag sehnte, Abwechslung in meinem Alltag benötigte. Ich hatte die Werbetrommel gerührt, in der Hoffnung, möglichst bald wieder einen vollen Terminkalender und damit auch einen vollen Geldbeutel zu haben. Ich hatte kokettiert mit allen Praktiken, die individuell möglich wären.

Kathi hatte mich gefragt, ob ich meine, wirklich für alles gerüstet zu sein. Ob ich alle Eventualitäten bedacht hätte. Was wäre, wenn Dave wieder ins Studio käme?, hatte sie gefragt. Ich hatte pflichtbewusst geantwortet, dass ich ihn aus dem Studio werfen würde. Sie hatte mich gefragt, ob ich meine größte Schwäche im Griff hätte, und damit meinte sie meine Schwäche, dass so manch ein Mann es schaffte, nicht meine aktive, sondern meine passive Ader anzufixen. Ich hatte ihr erklärt, dass ich dagegen nichts machen konnte, dass das häufiger passierte, auch innerhalb meines Alltags, ich aber meine passive Ader nur dann pulsieren lassen würde, wenn ich der Meinung wäre, dass es richtig sei. Und selbstverständlich nicht im Studio, auf gar keinen Fall. Zumal die, die zu mir kamen, in der Regel auch nicht aktiv waren. Kathi kannte dann auch noch meinen hohen Anspruch an die Männerwelt und wir kamen zu dem Schluss, dass es sicherlich kein weiteres Mal passieren würde, dass mich ein Mann so in seinen Bann ziehen würde.

Nun also war ich bereit, auf die Welt losgelassen zu werden.

Gerüstet mit dem Willen, Geld zu verdienen und dabei auch noch Spaß zu haben. Ich war hoch motiviert und dennoch etwas ausgebremst. Das lag daran, dass sich mein Leben in den letzten Jahren drastisch verändert hatte. Und nachdem Patrick sich von mir getrennt hatte und ausgezogen war, hatte ich innerlich meine Ärmel hochgekrempelt und mir fest vorgenommen, ein tolles, erfülltes Leben zu führen. Und verdammt noch mal, wenn ich mir das vornahm, sollte das auch funktionieren!

Ich zog mir eine Strumpfhose und einen kurzen Rock an, dazu ein Korsett. Ich war gerade fertig, als es an der Tür klingelte. Einige Minuten später kam Andrea in den Raum und klärte uns auf.

»Einer von den Studiohoppern«, erklärte sie. Ein Studiohopper war ein Gast, der durch sämtliche Studios tingelte. Er zeichnete sich dadurch aus, dass er über viel Insiderwissen verfügte und nahezu jede professionelle Dame in der Szene kannte.

»Oh. Wer denn?«

»Der Jungspund«, erklärte Andrea und die Frauen nickten wieder.

»Aber nicht Don Giganti?«, rief ich aus.

Die Damen hatten Fragezeichen auf den Gesichtern.

»Don Giganti, der gut aussehende Hamburger Kerl, der eigentlich Nico heißt und immer von allen Frauen eins mit dem Gürtel haben will«, erklärte ich nun.

»Ja. Genau der. Jede schnallt einen Gürtel um und dann im Laufe der Session ziehen wir ihm selbigen über den Körper.«

»Nein, ich glaub es ja nicht. Dass es den Kerl noch gibt! Mensch, Unkraut vergeht aber irgendwie auch nicht«, sagte ich mit einem Lächeln im Gesicht.

Don Giganti besuchte verschiedene Studios. Es verging oft eine Weile, bis er wiederkam, manchmal mehrere Monate.

»Alles klar, Sharon, ich merke schon, du kennst ihn. Ihr macht nur 15 Minuten, vier Frauen insgesamt. Du bist dabei, Sharon«, sagte Andrea.

Wir zogen uns um, ich wählte eine enge Hose und zog einen edlen Ledergürtel durch die Laschen. Don Giganti gehörte ansonsten eher zu den einfacheren Gästen, er hatte in der Regel keine Kleidungswünsche. Wir gingen zu ihm, er musste vor uns auf die Knie sinken und uns die Schuhe sauber lecken. Wichtig war ihm, zu sehen, wie wir die Gürtel aus den Laschen zogen. Es wurde regelrecht zelebriert, was der ganzen Situation wieder einen ganz besonderen Touch gab.

Dann schlugen wir ihn hintereinander mit dem Gürtel auf den Hintern oder Rücken. Zum Schluss durfte er sich auf den Boden legen und sich selbst befriedigen, während sich eine der Bizarrladys über sein Gesicht kniete und ihm einen netten Einblick verschaffte.

So schnell, wie er gekommen war und Aufregung verursacht hatte, so schnell war er wieder gegangen. Wir hatten den kleinen silbernen Raum benutzt dafür, denn dieser verfügte über einen weichen Teppichboden, auf dem der Gast gemütlich liegen konnte. Wir Frauen hatten unseren Spaß mit ihm und er mit uns. Und das war letztlich doch eigentlich das Wichtigste: dass es allen Spaß machte. Und so schrieb ich, als ich wieder im Aufenthaltsraum am Tisch saß, nach langer Zeit den ersten Gast in mein heiliges Büchlein. Ich beschrieb, wie er aktuell aussah, welche Frauen dabei gewesen waren und was sie dabei getragen hatten. Ich schrieb auf, in welchem Raum wir gewesen waren. Denn auch jemand mit einer kurzen Session sollte Abwechslung bekommen, fand ich.

Es klingelte erneut an der Tür, während ich die letzten Informationen aufschrieb. Ich heftete das Blatt im Reiter »G« ab, als Andrea erneut in die Küche kam.

»Sharon, ein Gast, der zu dir möchte. Er sagt, er hat deine Website entdeckt und möchte sich mit dir unterhalten«, erklärte sie.

Das fängt ja richtig gut an!, dachte ich und ging sofort zu ihm, um ein Vorgespräch zu führen.

Ein nervöser Jüngling, etwa 25 Jahre alt. Ich musste zugeben, dass ich mit den jüngeren Vertretern der bezahlenden Zunft nur selten wirklich gut zurechtkam, was damit zu tun hatte, dass die junge Zunft es nicht nur dreckig wollte, sondern oftmals auch die Hochzeitsnacht für kleines Geld erwartete.

Der Jüngling erklärte mir, er sei Student. Das war für mich schon ein Zeichen, dass er mir gleich erklären würde, dass er wenig Geld habe, und mich fragen würde, ob ich ihm nicht einen Preisnachlass gewähren könne.

Derartigen Situationen versuchte ich immer mit Feingefühl zu begegnen. Ich kannte Kolleginnen, die sofort dem Gegenüber über den Mund fuhren und ihn aus dem Studio warfen. Das fand ich allerdings zu unhöflich. Also beschloss ich, ihm zu erklären, dass er sich eben keinen Porsche kaufen könne, wenn er dafür kein Geld habe.

Ich fragte ihn, wie viel Geld er denn ausgeben könnte, und er erklärte mir, dass er Geld für eine halbe Stunde dabeihätte.

Ich fragte ihn, was er sich denn vorstellen würde.

»Bondage, auf jeden Fall. Japanisches Bondage. Und Schläge, aber ohne Spuren bitte, ich gehe heute Abend noch ins Schwimmbad. Darf ich dich eigentlich auch ficken?«, fragte er unverblümt.

Die Jugend von heute war so ungestüm!

Ich verneinte.

»Okay, darf ich dich lecken?«, fragte er.

Ich verneinte erneut.

»Ich bin eine unberührbare Domina«, erklärte ich.

Er nickte, aber ich stellte fest, dass er keine Ahnung hatte, wovon ich sprach.

»Hast du denn eine Kollegin, mit der ich das machen kann?«, fragte er hektisch.

Ich verabschiedete mich und schickte eine der Bizarrladys zu ihm. Sollte die sich doch von ihm ablecken lassen, dachte ich. Und trotzdem war ich etwas bedrückt, dass ich ihn nicht für mich gewonnen habe. Immerhin ging mir dadurch natürlich auch Verdienst durch die Lappen.

Während ich versuchte, meine Enttäuschung zu verbergen, klingelte es erneut an der Tür. Wenige Minuten später stand Andrea wieder bei uns: »Ein neuer Gast, er war noch nie hier. Er ist noch etwas unschlüssig, weiß also noch nicht, was er will. Geht doch bitte alle rein und stellt euch kurz vor.«

Die Frauen sprangen sofort auf und es entstand ein geschäftiges Treiben. Sie griffen nach Kleidern, Korsetts und Schuhen, zogen sich die Lippen noch mal nach oder bürsteten kurz die Haare durch. Ein letzter Blick in den Spiegel und die Damen schienen fertig.

»Nanu?«, fragte ich in die Runde.

»Du musst reingehen und dich vorstellen. Du gehst einfach hin, gibst ihm die Hand, sagst deinen Namen und dann gehst du wieder raus«, erklärte mir Andrea.

Ich runzelte die Stirn. Na, das nannte ich ja mal »Hühner auf der Stange« in Perfektion. Die Frauenschlange setzte sich in Bewegung und im Gänsemarsch liefen wir durch den Flur.

Emma klopfte an die Tür des großen Raums. »Der Rote«, so wurde der Raum genannt. Es war der schönste und größte Raum im Studio und gleich würde ich ihn nach all den Jahren wiedersehen. Vorhin, als Andrea mich durchs Studio geführt und mir alles gezeigt hatte, war er belegt gewesen.

Emma war, so schnell wie sie drinnen war, auch schon wieder draußen.

»Das ging ja fix«, murmelte ich.

Die Nächste marschierte hinein, während wir vor der Tür warteten. Keine fünf Sekunden dauerte es und die Nächste marschierte durch die Tür. Ich kam mir vor wie in einer Fabrik. Ein schreckliches Gefühl.

Schließlich war ich an der Reihe.

Ich atmete tief ein, klopfte an die Tür, öffnete sie und betrat den Raum. Es hatte sich nichts verändert. Rote Wände, ein roter Boden. Ein Andreaskreuz und wuchtige Spiegel an den Wänden. In der Mitte des Raums eine Spreizstange, die von der Decke hing. In einer Ecke stand ein Bett. Riesige Regale und Vitrinen säumten die Wände, sie waren gefüllt mit verschiedenen Instrumenten, mit denen man foltern und quälen konnte.

An einer Leiste mit vielen Haken hingen unterschiedliche Peitschen, Rohrstöcke standen in einer schweren Vase. Einige Käfige waren im Raum verteilt.

»Wow!«, sagte ich leise.

Mein Teufelchen rieb sich aufgeregt die Hände. Endlich durfte es wieder die Folterkammerfantasien herausholen.

»Zu Hause! Ich bin zu Hause!«, rief es laut auf. Mein Engelchen seufzte.

Ich sah mich in dem Raum um und für einen kleinen Moment hatte ich vergessen, warum ich eigentlich hierhergekommen war.

»Das ist aber sehr unhöflich«, riss mich eine fremde Stimme aus den Gedanken.

Ich drehte mich entgeistert um, aber innerhalb von wenigen Sekunden hatte ich mich wieder gefangen.

»Ja stimmt. Sehr unhöflich sogar. Ich bin Sharon.«

Ich trat auf ihn zu und reichte ihm meine Hand. Er nahm sie und drückte sie fest.

»Es ist nur … ich war schon so lange nicht mehr hier«, erklärte ich lächelnd und schwelgte in meiner Erinnerung. Am liebsten hätte ich ihm erzählt, was ich hier schon alles erlebt hatte, in Zeiten, als wir Frauen noch nicht im Gänsemarsch durch die Gänge laufen mussten und uns wie auf dem Silbertablett zu präsentieren hatten. Ich wollte ihm erzählen, wie intensiv und umtriebig ich hier gewesen war. Ich wollte, dass er nachfragte, sich neugierig zeigte, und mich mitteilen. Ihm, der keine Ahnung hatte von dem, was hier ablief. Der eigentlich nur die andere Seite sah, niemals jedoch die meine.

»Ich bin Oliver. Schon okay. Schick mir die Nächste rein«, sagte er.

Ich runzelte die Stirn.

»Alles klar«, sagte ich und ging wieder aus dem Raum.

Kaum war ich im Aufenthaltsraum angekommen, schnürte ich mich aus meinem Korsett. Die anderen Frauen warteten noch, bis Andrea wiederkam, um zu sagen, für wen von uns er sich entschieden hatte. Ich war mir sicher, dass er mich nicht auswählen würde.

Es verging einige Zeit, bis Andrea wiederkam.

»Sharon?«

Ich drehte mich zu ihr.

»Er will dich.«

»Warte mal, der Kerl ist doch alles andere als passiv. Das sehe ich dem doch schon an der Nasenspitze an. Der will doch nur ficken im Ambiente«, erklärte Nicole, eine von den mir fremden Bizarrladys.

»Okay, alles klar. Hat er gesagt, was er will?«

Andrea schüttelte den Kopf.

»Nein. Er möchte sich mit dir unterhalten.«

Ich zog die Augenbrauen hoch. »Ach? Unterhalten nennt man das neuerdings?«

Die Frauen lachten und ich schnürte meinen Körper wieder ins Korsett.

Na dem Schnösel da drüben würde ich es schon zeigen. Mich so aus der Erinnerung zu reißen. Der würde jetzt aber die Superdomina Sharon bekommen, so viel war sicher.

»Ja mach ihn rund«, rief mein Teufelchen begeistert und holte einen Baseballschläger hervor.

Ich zog meine Lippen nochmals mit meinem Lippenstift nach und prüfte das restliche Make-up. Dann drehte ich mich auf dem Absatz um und marschierte mit strammen Schritten zu ihm in den großen roten Raum.

Diesmal verbrachte ich keine Sekunde damit, in Erinnerungen zu schwelgen. Ich donnerte durch die Tür.

»Du sitzt auf meinem Platz!«, polterte ich los. Er saß immerhin auf dem gemütlichen Ledersessel, der für die Aktiven reserviert war. Die Passiven mussten mit den kleineren, ungepolsterten Stühlen vorliebnehmen.

»Sie«, sagte er nur.

»Was?«, fragte ich und stutzte.

»Wie bitte!«

Ich schüttelte irritiert den Kopf und runzelte die Stirn.

»Es heißt: Sie sitzen auf meinem Platz!, und Wie bitte!«, erklärte er noch mal. Er erhob sich und reichte mir die Hand. »Freut mich sehr, Sharon«, sagte er leise und lächelte mich an. »Was ist? Hast du dein Pulver so schnell verschossen?«, fragte er grinsend.

»Nein! Aber du weißt schon, dass ich Domina bin, oder?«

Er hob die Augenbrauen und legte damit seine Stirn in Falten.

»Wie kommst du darauf, dass ich daran gezweifelt hätte?«, fragte er und setzte einen erwartungsvollen Gesichtsausdruck auf.

Ich sah ihn an. Sein Gesicht war kantig. Er hatte Falten im Gesicht, viele Falten, die von seinem Glück und seinen Sorgen erzählten. Das stand ihm und ich liebte Falten. Männer ab 40 hatten eine anziehende Wirkung auf mich. Waren sie schlank und hatten ein markantes Gesicht und benahmen sich souverän, erhaschten sie sofort meine Aufmerksamkeit. Sein Haar war kurz und lag frisiert und gestylt auf dem Kopf. Ein leichter Scheitel, ein kleiner Haarbogen und fertig war die seriöse und doch lockere Frisur. Er trug ein Jackett mit einem Kragen aus Wolle, sehr extravagant, wie ich fand, dazu ein weißes Hemd und eine Jeans. Seine Augen waren strahlend blau, seine Haut war gebräunt. Er sah aus, als wäre er gerade aus dem Urlaub gekommen. Oder war er vielleicht ein Opfer der Sonnenbank? Er wirkte entspannt und ruhig. Ich schätzte ihn auf Mitte 40.

Unter seinen Augen zeichneten sich leichte Ringe ab, und wenn er lachte, hatte er Krähenfüße an den Augenwinkeln. Ich sah, dass er sich offenbar beim Rasieren geschnitten hatte. An seiner Stirn hatte er die typische »Ich bin als Kind gegen eine Kante geknallt«-Narbe. Um seinen Hals lag eine kleine schmale Goldkette mit einem Kreuz daran. Das wiederum fand ich albern.

»Ich habe nicht gedacht, dass du daran gezweifelt hast«, erwiderte ich betont gelassen.

»Sie.«

Was war mit dem denn los? Wollte er unbedingt, dass ich ihn siezte? Normalerweise war es üblich, sich im Studio zu duzen. Oder wenn man sich siezte, siezte man sich gegenseitig. Bei sehr alten Gästen war das durchaus üblich, dass sie mich siezten, genauso wie bei sehr devoten Gästen, die ein bestimmtes Rollenschema aufrechterhalten wollten. Diese duzte ich, um die Hierarchie gleich vorab zu klären. Aber Oliver hier vor mir war zu jung und außerdem siezte er mich nicht. Im Gegenteil, er blieb beim »Du«.