Panoptikum - Andreas Zwengel - E-Book

Panoptikum E-Book

Andreas Zwengel

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Beschreibung

Zwölf Kurzgeschichten und Novellen aus dem weiten Feld der Phantastik. Von historischem Steampunk über groteske Märchen und Lovecraft'schen Tentakelhorror bis zur dystopischen Science Fiction und schwarzem Humor.

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e-book

Erste Auflage 01.11.2014

© Saphir im Stahl

Verlag Erik Schreiber

An der Laut 14

64404 Bickenbach

www.saphir-im-stahl.de

Titelbild: Domenico Remps

Lektorat: Anke Brandt

Vetrieb: bookwire GmbH

ISBN: 978-3-943948-30-1

Andreas Zwengel

Panoptikum

Phantastische Geschichten

Inhalt

Vorwort

1.Land jenseits der Wälder

2.Unplugged

3.Böse Hexen

4.Volldampf

5.Gargoyles über Paris

6.Letzte Warnung

7.Hunger

8.Das Ende der Zukunft

9.Volles Rohr

10.Volker hört die Signale

11.Die Quelle aller Leiden

12.Panopticon

Biografie

Quellenverzeichnis

Vorwort

Die meisten Geschichten in diesem Band wurden zwischen 2008 und 2013 in Anthologien veröffentlicht und liegen nun zum ersten Mal gesammelt vor. Zwei waren bisher unveröffentlicht. Herausgekommen ist ein Sammelsurium phantastischer Motive, das dem Titel Panoptikum hoffentlich gerecht wird.

Da sind Steampunkgeschichten wie Volldampf und Volles Rohr und Science-Fiction in Form von Cyberpunk (Unplugged), dystopischen Zukunftswelten (Das Ende der Zukunft) und außerirdischen Invasionen (Volker hört die Signale).

In Land jenseits der Wälder und Letzte Warnung habe ich mich mit den Anfängen und der Zukunft des Vampirismus befasst, während Hunger im Grunde eine klassische Spukhausgeschichte ist. Abgesehen natürlich vom Ort (Tijuana), dem Haus (im Besitz eines Drogenkartells) und dem Personal (eine exzentrische, mexikanische Großfamilie).

Böse Hexen ist die Fortsetzung eines bekannten Märchens der Brüder Grimm, so wie es der frühe Tarantino vielleicht verarbeitet hätte. Gargoyles über Paris stellen die Musketiere des Königs vor eine große Herausforderung und in Die Quelle aller Leiden herrscht Lovecraft’scher Tentakelhorror in der beklemmenden Enge eines Zuges.

Volles Rohr ist ein Prequel zu meinem Debütroman Die Welt am Abgrund und erzählt von einer Epidemie im Berlin des Kaiserreichs. Die abschließende Geschichte Panopticon wurde eigens für diese Anthologie geschrieben. Eine geradlinige Pulp-Geschichte voller Anspielungen und Verweise, die die Anthologie zu einem runden Abschluss bringen soll.

Und nun, Vorhang auf und viel Vergnügen in meinem Kuriositätenkabinett. Oder wie ein Kantinenbesitzer aus Florenz einmal sagte: „Ihr, die Ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren!“

Andreas Zwengel

Juni 2014

Land jenseits der Wälder

Nach einer langen, zermürbenden Reise quer durch Europa erreichten die beiden Reisenden im Oktober 1767 müde und übel gelaunt den Rand der Karpaten. Ihre Kutsche wies hüben wie drüben eine Vielzahl von Einschüssen und Beilkerben auf sowie eine vom Feuer geschwärzte Rückfront. Zeugnisse der abenteuerlichen Reise und manch aufgebrachten Mobs, dem sie hatten entfliehen müssen.

Die beiden Männer waren im Auftrag der Universität Göttingen unterwegs. Julius Leonhard Lorenz, ein Schöngeist und trotz seines enzyklopädischen Wissens von zupackendem Wesen, war mit der Erforschung mysteriöser Ereignisse betraut worden, die den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen jener Zeit widersprachen. Caspar Nolte, von hagerer Statur, schalkhafter Gesinnung und als Veteran des Siebenjährigen Krieges der Inbegriff von Zähigkeit, sorgte für seine Sicherheit.

Zu Beginn ihrer Reise waren sie Fremde gewesen, doch nach unzähligen Wochen auf engstem Raum vertrauter miteinander als manch andere nach jahrzehntelanger Freundschaft. Man kannte die Gewohnheiten des Gegenübers, die Vorlieben und Abneigungen, den Geruch und die Geräusche. Inzwischen waren alle Geschichten erzählt, die meisten mehrmals und sie hatten gelernt, gemeinsam zu schweigen.

„Siebenbürgen. Die lateinische Bezeichnung lautet Terra transsilvania, das Land jenseits der Wälder“, erklärte Lorenz, ohne von seinen Aufzeichnungen aufzusehen.

„Vortrefflicher Name“, bestätigte Nolte mit Blick auf die vorüberziehende Landschaft. Sie hatten am Nachmittag den falschen Abzweig gewählt und waren über Stunden einem sich stetig verjüngenden Weg gefolgt, der ein Wenden unmöglich machte. Die Verzögerung verdross Lorenz, denn sie befanden sich in Konkurrenz mit einer Gesandtschaft der Royal Society of London unter Leitung von Sir Thomas Ruggles, die sich wenige Wochen vor ihnen aufgemacht hatte, um ebenfalls das Phänomen der Wiedergänger zu ergründen.

Seit den zwanziger Jahren hatte es Berichte über sogenannte Vampire gegeben, und in den letzten Jahren häuften sich diesbezüglich Meldungen aus Griechenland, Böhmen, Schlesien und den Balkanländern. Nicht wenige äußerten Bedenken, dass ein solch fragwürdiges Unternehmen dem Ansehen und der Integrität der Wissenschaft schaden werde. Doch, wenn die Royal Society das Thema für erforschenswert befand, durfte man selbstverständlich nicht hintenanstehen. Sein Ruf öffnete Sir Thomas Tür und Tor bei den Behörden und öffentlichen Stellen, während Lorenz und Nolte, mit weit weniger bekannten Namen, meist auf die begrenzte Gutmütigkeit ihrer Zeitgenossen angewiesen waren. Bisher war Sir Thomas ihnen stets voraus gewesen und hatte durch sein rücksichtsloses Verhalten die Bevölkerung gegen sich aufgebracht, deren Zorn sie als Nachzügler häufig genug hatten ertragen müssen. Nur ein einziges Mal wollte Lorenz zuerst am Ort einer Sichtung eintreffen. Doch nie lag die Hoffnung ferner, als an diesem gottverlassenen und von regenträchtigen Wolken bedrohten Ort. Fernab aller Reisestrecken verwandelte der geringste Schauer die unbefestigten Wege in Morastbäder, in denen die Räder versanken. Die mitgeführten Balken waren allesamt angebrochen, die Seile mehrfach gerissen und wieder geflickt geworden. Sie hatten gewettet, welch unglückliche Fügung ihre Reise endgültig beenden würde. Lorenz setzte auf das Brechen der Federung oder der Räder, Nolte wählte das Reißen der Aufhängungsriemen und der Kutscher hielt mit einer eingestürzten Brücke oder einem verschütteten Weg dagegen.

Die Dunkelheit war längst hereingebrochen und der schmale Pfad am Rande des bodenlosen Abgrundes kaum noch ersichtlich. Ihr Kutscher kündigte an, die Fahrt für diesen Tag zu beenden, als er vor ihnen einen schwachen Lichtschein ausmachte. Frisch angespornt überquerte die Kutsche eine Holzbrücke und erklomm eine kurze Steigung, von deren Scheitelpunkt aus der Weg sanft in ein Dorf hinabglitt. Es waren nur wenige, düster wirkende Holzhäuser, aus denen der Rauch senkrecht in den Nachthimmel stieg. An allen Enden des kleinen Dorfes brannten Feuer, die seinen Mittelpunkt hell erleuchteten. Dort hielt die Kutsche. Lorenz und Nolte stiegen aus, streckten sich und dehnten die vom langen Sitzen schmerzenden Glieder. Niemand erschien zu ihrer Begrüßung. Kein Fensterladen und kein Türspalt wurden gelüpft. Sie riefen laut, klopften an Türen und erklärten lautstark ihr Anliegen.

„Verdammtes abergläubiges Volk, wir sollten weiterfahren.“

„Heute fahren wir nirgendwo mehr hin“, sagte der Kutscher ruhig und stopfte seine Pfeife. Er brauchte nicht auf die geschundenen und völlig verausgabten Tiere hinzuweisen, die eine längere Pause benötigten. Lorenz betrachtete nachdenklich die Häuser.

„Allacci hat solches Verhalten in Griechenland beobachtet. Die Wiedergänger gehen der Legende nach des Nachts umher, klopfen an Türen und rufen die Bewohner beim Namen. Antwortet der Bewohner, muss er am nächsten Tag sterben. Ein Wiedergänger ruft jedoch nie zweimal denselben Namen.“

Er sah Nolte an.

„Und das ist die Lösung. Wir rufen jeden Namen zweimal, bis irgendwer öffnet.“

„Kennen Sie den Namen eines Bewohners? Oder überhaupt einen rumänischen Namen?“

Lorenz schüttelte den Kopf und der Kutscher weigerte sich, an diesem Blödsinn teilzuhaben. Er hatte es schon lange aufgegeben, am Geisteszustand seiner Passagiere zu zweifeln. In jedem Land engagierten sie einen tüchtigen Mann, der ihr Gefährt zu lenken verstand und neben der jeweiligen Landessprache auch des Deutschen mächtig war, doch dieser hier war störrischer als manches Lasttier. Mit mehr Unverschämtheit als Verstand oder Gelehrsamkeit gesegnet, hatte er durch seine beispiellose Launigkeit und die völlige Abwesenheit von Unterwürfigkeit sofort ihr Herz gewonnen. Sie versuchten ihr Glück ohne seine Hilfe und riefen zweimal jeden Namen, der ihnen einfiel und der irgendwie fremd und ungewöhnlich klang.

Letztlich mussten sie in der Kutsche übernachten. Sie war vielen Wirtshäusern an den Kutschenstrecken mit ihren dreckigen Gaststuben und den feuchten, übelriechenden Räumen vorzuziehen, die man mit Ratten und Wanzen teilen musste. Doch obgleich ihre Kutsche eine Spezialanfertigung war, die alle Errungenschaften europäischer Ingenieurskunst in sich vereinigte, hatten sie sich, vertrauend auf die Gastfreundschaft einfacher Bauern, insgeheim ein sauberes und bequemes Bett versprochen. Die ständigen Stöße und Rumpeleien unterwegs waren auf Dauer äußerst belastend. Nicht nur für den Körper, auch fürs Gemüt.

In mehrere Decken gehüllt und halb vom Schlaf übermannt, verriet Nolte sein Instinkt, dass er beobachtet wurde. Er linste aus dem Fenster und suchte die dichten Baumreihen ab. Schließlich entdeckte er eine gebückte Gestalt, die oben an der Steigung mitten auf dem Weg stand, deutlich abgehoben von dem helleren Nachthimmel. Nolte machte ein Geräusch, um Lorenz zu wecken, doch die Gestalt war bereits verschwunden.

Als sie am nächsten Morgen die Vorhänge zur Seite schoben, blickten sie in ausdruckslose Gesichter. Der gesamte Ort hatte sich im Halbkreis um die Kutsche versammelt. Ein bärtiger Hüne, der offenbar die Funktion des Schultheißen in diesem Ort innehatte, trat vor und sagte etwas in ganz und gar unfreundlichem Tonfall. Die Reisenden sahen ihren Kutscher an.

„Er sagt, die Herren seien wohl krank im Kopf, dass sie die ganze Nacht herumschreien und niemanden schlafen lassen.“

Lorenz ließ den Kutscher um eine warme Mahlzeit für sie bitten und stellte eine großzügige Entlohnung in Aussicht. Der Schultheiß nickte widerwillig, wandte sich ab und schritt auf das größte Haus des Dorfes zu. Die Bewohner bildeten eine Gasse, die keinen Zweifel daran ließ, dass sie ihm folgen sollten.

„Die Leute sind sehr misstrauisch“, flüsterte Lorenz seinem Gefährten zu, „wir müssen auf jedes Wort achten, das wir von uns geben, und jede unbedachte Geste, die missverstanden werden könnte, vermeiden. Es ist eine Prüfung und sie werden uns sehr genau beobachten. Ich will Ihnen ja nicht zu nahe treten, mein lieber Nolte, aber sie neigen gelegentlich zu provozierendem Verhalten.“

Die Tür war eingerahmt von Knoblauch. Zudem waren Türpfosten und Fensterrahmen mit Knoblauchsaft bestrichen, und wenn sie sich nicht sehr täuschten, hatten die Bewohner auch ihre Kleidung damit getränkt. Lorenz presste sich ein parfümiertes Taschentuch auf die Nase und blieb vor der Schwelle des Hauses stehen. Der Schultheiß und seine Frau sahen die Reisenden an, diese schauten abwartend zurück. Lorenz war überrascht, dass ihnen die gastfreundliche Geste der Einladung ins Haus versagt blieb, doch dann fiel ihm ein kleiner Absatz in den Abhandlungen ein, wonach ein Vampir nur nach Aufforderung durch den Hausherrn dessen Schwelle überschreiten durfte. Er legte eine Hand auf Noltes Schulter und schob ihn vor sich her ins Innere.

Das Essen, das ihnen die Frau des Vorstehers austeilte, war derart mit Knoblauch durchsetzt, dass es nicht zu genießen war. Lorenz führte den Löffel zögerlich und mit angewidertem Ausdruck zum Mund, wurde immer langsamer, bis er den Löffel fallen ließ, um die Hand auf den Mund zu pressen. Die Menschen wichen zurück und der Wirt stellte eine Frage mit einem sehr lauernden Unterton.

„Essen Sie, um Gottes willen“, befahl der Kutscher, anstatt zu übersetzen.

„Ich bitte Sie. Manche mögen keine Zwiebeln, andere kein Sauerkraut. Ich ertrage nun mal Knoblauch nicht, und auch auf die Gefahr hin, die hiesige Küche zu beleidigen …“

Eine Axt spaltete den Teller und sauste in die Tischplatte. Gleichzeitig legte sich von hinten eine Schlinge um Lorenz’ Kehle. Das andere Ende des Seils wurde über einen Dachbalken geworfen und straff gezogen, bis Lorenz auf den Zehenspitzen stand, den Hals weit gestreckt. Der Schultheiß holte erneut mit der Axt weit aus und hielt plötzlich inne, als er das Kreuz unter Lorenz’ aufgerissenem Hemd sah. Rasch befreite man ihn von dem Strick. Nolte schob unbemerkt die gezogenen Dolche in die Ärmel zurück, setzte sich wieder und hielt seinen ausgekratzten Teller für einen Nachschlag hin.

Ein Schrei, den man nach Süden hin bis in die Walachei hören mochte, trieb alle aus dem Haus. Ein Junge kam aufgeregt den Weg heruntergerannt. Gemeinsam folgten sie ihm, bis sie vor der zerstörten Brücke standen. Steine waren von einem benachbarten Hang gerollt und hatten viele der Holzplanken durchschlagen. Ein einzelner Reiter mochte die Reste noch überqueren können, doch niemals eine Kutsche. Wortlos hielt der Kutscher die Hand auf und kassierte seinen Wettgewinn ein.

„Sie glauben, es sei unsere Schuld“, sagte Lorenz leise und wie zur Bestätigung spuckte ihm der Junge, den Flegeljahren kaum entwachsen, auf seinen Schuh und traf den Strumpf weit oberhalb des Knöchels. Die Stimmung wurde bedrohlich und der Kreis der Dorfbewohner schloss sich langsam um sie.

„Darf ich nun provozierendes Verhalten zeigen?“, fragte Nolte und zog in einer fließenden Bewegung beide Dolche. Der Kutscher hielt plötzlich ein Hackbeil in der Hand, das er aus Gründen mit sich führte, die die Reisenden gar nicht wissen wollten. Die Dorfbewohner wichen unter aufgeregtem Gemurmel zurück, bis sie alle in ihren Häusern verschwunden waren, die sie lautstark verriegelten. Die Reisenden blieben allein zurück.

„Diese Prüfung haben wir wohl nicht bestanden“, resümierte Nolte.

„Während die Herren zu Tisch waren, habe ich eine interessante Entdeckung gemacht“, sagte der Kutscher und imitierte dabei wie üblich Lorenz’ affektierten Tonfall. Er führte sie zum Friedhof am Waldrand und wies auf eine Reihe frischer Gräber. Vier an der Zahl. Hier mochten sie die Antwort für das Verhalten der Dorfbewohner erhalten. Es beflügelte Lorenz, durch Zufall an diesen Ort gelangt zu sein. Er hatte sein Handeln ganz dem Dienste der Wissenschaft unterstellt und war nicht vom Ehrgeiz zerfressen wie sein englischer Kollege, dennoch liebäugelte auch er mit dem Ruhm.

Nach vielen Monaten auf Reisen war ihnen das Öffnen von Gräbern längst zur Routine geworden. Es gab kaum noch Überraschungen. Sie hatten verstümmelte Leichname in allen Variationen gesehen, jeden Alters und beiderlei Geschlechts. Tote, die mit dem Gesicht nach unten begraben waren oder die man zuvor verbrannt hatte. Andere waren gepfählt, geköpft, gefesselt oder hatten ein Kreuz auf der Brust liegen. Häufig waren Gliedmaßen zerschmettert oder die Sehnen zerschnitten worden, alles, um die Wiedergänger am Verlassen ihres Grabes zu hindern. Es gab aber auch andere Formen des Aberglaubens, bei denen die Leichen ihr Grab nicht verlassen, sondern von dort aus ihren unheilvollen Einfluss auf die Menschen nehmen. Die Legenden waren vielfältig und häufig widersprachen sie sich auch. Lorenz und Nolte folgten einer Spur von Gerüchten, unbelegten Behauptungen und zweifelhaften Sichtungen. Aber nie hatten sie bisher eine Bestätigung für die Existenz eines Wiedergängers, eines Nachzehrers oder eines Vampires entdeckt und die stetig wachsenden Zweifel am Sinn ihrer Mission verstärkten ihre ohnehin skeptische Haltung.

Der Kutscher händigte ihnen die Schaufeln aus, sah aber keine Veranlassung, selbst tätig zu werden. Indes ohne Beschäftigung verweilte er unter den Bäumen, wo alsbald etwas seine Aufmerksamkeit weckte. Eine Weile huschte er mit gesenktem Kopf zwischen den Bäumen umher, scharrte dann und wann etwas Laub zur Seite und verschwand tiefer im Wald.

„Diese Mythen dienen den Leuten, um sich alles Unerklärliche zu erklären. Die Pest, eine Seuche unter den Tieren, eine Missernte oder der unerwartete Tod eines Verwandten“, dozierte Lorenz, während Nolte die Erde vom Grab schaufelte. „Lasst sehen, was wir hier haben.“

Nolte lehnte sich gegen den Rand der Grube, wischte sich den Schweiß vom Gesicht und wies nach unten.

„Dort liegt eine geköpfte Leiche. Der Kopf zwischen den Füßen, damit er nicht wieder anwachsen kann.“

Lorenz wurde bleich wie frische Segel.

„Ist euch nicht wohl?“, fragte Nolte besorgt. An dem Leichnam mochte es nicht liegen, hatten sie derer bisher wohl an die zwei Dutzend erblickt. Und jener war noch relativ gut erhalten.

„Der Mann ist mir bekannt“, keuchte Lorenz.

„Ihr kennt transsilvanische Bauern?“

„Dieser Mann ist weder Transsilvanier noch Bauer. Sein Name ist Benjamin North, der Assistent und Schwiegersohn von Sir Thomas.“

Lorenz untersuchte den Schädel und fand eine Bisswunde. Ein einzelner Zahnabdruck befand sich oberhalb des Schnittes, den zweiten fand er am Halsansatz am anderen Ende des Grabes.

„Denkt Ihr, was ich denke, mein lieber Nolte?“

„Dass wir sofort hier verschwinden sollten?“

Ein Knirschen, das Brechen von Ästen und die Geräusche eines großen, kräftigen Wesens, das sich durch das Unterholz schob, ließ sie zurückweichen und den Atem anhalten, bis der Kutscher sichtbar aus dem Tannendunkel trat.

„Dies fand ich am Rand des Abgrundes.“

Lorenz drehte den Gegenstand ratlos in den Händen.

„Dies ist Teil einer Kutsche“, erklärte Nolte.

„Konnten Sie erkennen, ob sich die Engländer in der Kutsche befanden?“

„Ich habe die toten Pferde gesehen, denn die Kutsche hing noch an ihnen, als sie über den Abgrund getrieben wurden.“

„Wir müssen sicher sein.“

„Der Abstieg ist unmöglich“, erklärte der Kutscher vorsorglich.

„Dann bleibt leider nur die Möglichkeit, alle Gräber zu öffnen und nachzusehen.“

„Wir könnten die Antwort aus den Bewohnern herausprügeln“, schlug Nolte vor.

„Solcher Methoden hat sich Sir Thomas befleißigt. Wir sollten uns des Verstandes bedienen und Vernunft walten lassen. Wie dem auch sei, wir werden um das Graben nicht herumkommen. Sir Thomas war hier. Wir haben den Leichnam seines Schwiegersohnes und einen Teil seiner Kutsche. Aber was ist geschehen?“

„Die Dorfbewohner haben uns lange genug im Trüben fischen lassen. Wir sollten ihnen die Pistole auf die Brust setzen. Und das meine ich durchaus wörtlich“, beharrte Nolte, aber Lorenz wollte nichts davon wissen.

„Welchen Grund sollten sie haben, uns zu vertrauen? Für sie sind wir vom gleichen Schlag wie die Engländer.“

Sir Thomas war überall in Europa in Dörfer wie dieses gekommen und hatte im Namen der Wissenschaft gewütet wie andere im Dienste ihres Königs oder ihres Glaubens. Seine Assistenten hatten die Bewohner mit Waffengewalt zurückgehalten, während er und North die Häuser durchsuchten. Und er war dabei immer ungeduldiger und rücksichtsloser vorgegangen, weil er von der deutschen Expedition wusste. Auch wenn er sie anfangs nicht als ernstzunehmende Konkurrenz betrachtet hatte, sorgte er bald dafür, dass nichts zurückblieb, das ihnen in irgendeiner Form nützlich sein könnte. Er vernichtete Hinweise, verbrannte Fundstellen und verjagte Zeugen. Für eine solche Vorgehensweise hatte Lorenz nichts als Verachtung übrig.

„Versuchen wir uns zu erinnern. Was hat uns dazu gebracht, den falschen Abzweig zu nehmen? Wahrscheinlich war es das Gleiche, das Sir Thomas zu demselben Irrtum verleitet hat“, überlegte Nolte.

„Sie leiden unter Verfolgungswahn. Welchen Zweck sollten diese einfachen Leute verfolgen?“

„Sie ermorden die Reisenden, rauben alle Wertgegenstände und rollen die Kutschen in den Abgrund. Für mich klingt das nicht besonders abwegig.“

Lorenz betrachtete ihn mit Langmut.

„Warum haben sie uns dann nicht gleich in der ersten Nacht ermordet, bevor wir die Gelegenheit hatten, misstrauisch und wachsam zu werden?“

Nolte zuckte mit den Schultern.

„Wer weiß schon, wie diese Leute denken? Vielleicht mögen sie es, vorher mit ihren Opfern zu spielen.“

„Und die Brücke? Ihren einzigen Weg in die Außenwelt haben sie mit Absicht zerstört, um uns an der Flucht zu hindern?“

„Warum zweifeln Sie so sehr daran?“

„Die Dorfbewohner haben Angst. Sie steht ihnen deutlich ins Gesicht geschrieben. Sie sind keine kaltblütigen Mörder, sondern versuchen nur zu überleben. Den Leuten muss geholfen werden.“

Sie arbeiteten den Nachmittag hindurch, und als sie am Ende der Gräberreihe angelangt waren, dämmerte es bereits. Erschöpft standen sie vor den offenen Gräbern und betrachteten ihren Fund.

„Wir haben alle Mitglieder der englischen Gesandtschaft gefunden. Mit Ausnahme von Sir Thomas.“

„Wenn ich den unterschiedlichen Zustand der Leichen bedenke, dürften sie im Verlauf einer Woche gestorben sein. Drei von ihnen wurden mit einer scharfen Klinge geköpft, einer – dem Anschein nach der zuletzt Gestorbene – mit einem wesentlich gröberen Werkzeug.“

„Aber was ist mit Sir Thomas?“

„Entweder haben wir seinen Leichnam noch nicht gefunden …“

„… oder er ist der Mörder“, ergänzte Nolte.

Sie gingen zurück zur Kutsche. Nolte kontrollierte die Geheimfächer hinter der Samtbespannung des Innenraumes, wo sie Lorenz’ Aufzeichnungen, zahlreiche Medikamente und ihre Waffen bewahrten.

„Ihr wart bisher recht skeptisch gegenüber den Berichten. Ist es damit vorbei?“

Lorenz schüttelte nachdenklich den Kopf.

„Ein Mörder ist in diesem Ort. Ob lebendig oder untot spielt dabei eine untergeordnete Rolle.“

„Wir sollten unser Werkzeug nutzen, die Kutsche auseinanderbauen und auf der anderen Seite der Brücke wieder zusammensetzen, damit wir verschwinden können“, erklärte Nolte.

„Wenn wir an dieser Stelle weichen, dann können wir genauso gut nach Göttingen zurückkehren. Nein, hier und heute müssen wir uns dem Übel stellen, um das Schicksal von Sir Thomas zu klären.“

Nolte rollte mit den Augen und begann nach seinen Pistolen zu kramen.

Die Dunkelheit kam so schnell herab, als habe man die Sonne vom Himmel geschossen. Die Dorfbewohner hatten die Vorbereitungen der Reisenden misstrauisch beobachtet, doch keiner von ihnen wagte sich ins Freie. Der Kutscher hatte sich mit einem Gewehr in die Dachluke eines Hauses gezwängt, von wo aus er den Dorfplatz überblicken konnte. Ein Geräusch ließ ihn aufschrecken, doch es war nur ein Unzucht treibendes Pärchen, bei dem die Lust die Gefahr überwog und das alsbald durch grobe Anrede aus einem der Fenster in verschiedene Häuser gescheucht wurde. Unterdessen weilten Lorenz und Nolte in der Kutsche und hielten, ein jeder auf seiner Seite, Ausschau. Eine angespannte Stille lag über dem Ort. Nicht einmal die Geräusche von Tieren waren zu hören und das empfanden sie wirklich als beunruhigend.

Es war Nolte, der die Gestalt zuerst ausmachte. An derselben Stelle wie in der Nacht zuvor. Zunächst unbeweglich stand sie oben auf der Kuppe. Dann machte sie einen Schritt. Und noch einen. Immer schneller. Sie rannte den Weg herab in den Ort hinein, in den Schein der Fackeln, direkt auf die Kutsche zu. Das spärliche graue Haar war zerzaust und stand in alle Richtungen vom Kopf ab. Die Augen leuchteten irr, der Mund war glitschig vom eigenen Sabber, die einst edle Kleidung verschmutzt und zerrissen. Lorenz erkannte ihn sofort und trotz seines Entsetzens waren seine Gedanken klar: Sir Thomas war bereits gebissen worden, als er das Dorf erreichte. Irgendwo auf seiner Reise musste er einem echten Vampir begegnet sein. Zweifellos hatte er die Veränderungen an sich wahrgenommen, aber seinen Zustand vor seinen Begleitern verbergen können. Bei ihrer Ankunft war die Verwandlung abgeschlossen, Sir Thomas zerstörte die Kutsche, um seine Begleiter an der Flucht zu hindern, und tötete einen nach dem anderen. Die Mitglieder der Gesandtschaft hatten untereinander dafür gesorgt, dass die infizierten Kollegen nicht zurückkehren konnten. Nur für den letzten war niemand mehr da gewesen, der ihm diesen Dienst erweisen konnte. Hier war ohne Zweifel der Schultheiß mit seiner Axt tätig geworden.

Ungebremst prallte der englische Wissenschaftler gegen die Kutsche. Er stank wie ein Waldwesen. Mit einem Fuß auf der Trittstufe glitt Sir Thomas’ Hand zum Türgriff. Nolte trat kraftvoll gegen die Tür, damit sie aufflog. Es gab ein krachendes Geräusch, dann schwang sie leer zurück. Einen Moment war es still, dann hörten sie Schritte auf dem Kutschendach und gleich darauf einen Schuss aus dem Gewehr des Kutschers. Hinter ihnen wurde die Tür aufgerissen. Nolte schwang seine beiden Pistolen herum und feuerte sie ab.

Am nächsten Morgen lockte strahlender Sonnenschein die Dorfbewohner aus ihren Häusern. Der Lärm hatte viele von ihnen erst in den frühen Morgenstunden einschlafen lassen und einige überhaupt nicht. Ein Pferd hing ohne sichtbare Wunden tot im Geschirr, das andere war verschwunden. Die steifen Ledervorhänge der Kutsche waren zugezogen. Der Schultheiß klopfte vorsichtig an die Tür, doch niemand regte sich. Er versuchte es erneut, diesmal heftiger und fasste den Griff, um die Tür zu öffnen. Sie war verschlossen. Er rüttelte daran, spürte am Gewicht der Kutsche, dass sie nicht leer sein konnte, und schlug mit der flachen Hand gegen das Holz, doch er erhielt keine Antwort. Der Schultheiß stellte seine Bemühungen ein. Als er sich zu den anderen Bewohnern umdrehte, sah er Angst und Schrecken auf den Gesichtern. In stummer Übereinkunft sammelten sie Stroh, alte Lumpen und Holz, das sie unter der Kutsche aufhäuften. Frauen und Kinder bestrichen die Kutsche mit Öl und Fett, dann zogen sie sich zurück. Die Männer, bewaffnet mit Sensen, Äxten und Säbeln, bildeten einen Kreis um die Kutsche, um alles darin an einer Flucht zu hindern. Dem Schultheißen tat es leid um die Fremden, aber er trug die Verantwortung für das Leben aller. Inständig hoffte er, dass nicht einer der Reisenden mit dem fehlenden Pferd verschwunden war, sondern das Böse selbst die Gelegenheit ergriffen hatte, ihr Dorf zu verlassen. Ein plötzliches Rumpeln im Inneren der Kutsche ließ sie alle erschrocken zurückweichen. Der Schultheiß schlug ein Kreuz vor seiner Brust und ließ sich die Fackel reichen.

Unplugged

Die ehemalige Fabrikhalle war in einem erbärmlichen Zustand. Die Natur hatte das Gelände im Laufe der Jahre zurückerobert und zahlreiche Tiere betrachteten es als ihr Zuhause. Die Teerfläche des Parkplatzes war an vielen Stellen aufgerissen und Unkraut wucherte in den Ritzen der Betonwege. Der Drahtzaun, der alles umgab, war verrostet und an vielen Stellen niedergetreten. Francis gab dem Gebäude in seiner jetzigen Form nicht mehr lange. Bei der Fassade könnten ein paar Hektoliter Farbe ein Wunder bewirken, der Inneneinrichtung dagegen hätte ein Brand gutgetan. Der ehemalige Büroraum, in dem Francis erwachte, roch penetrant nach Schimmel. Die Tapete hatte sich gelöst und hing in langen Bahnen bis zum Linoleumboden herunter, der von der Feuchtigkeit gewellt war. Das diesige Tageslicht stieß gegen blinde Fensterscheiben und warf einen milchigen Schimmer ins Innere. Die feuchten Matratzen, die klammen Decken und die muffige Kleidung taten ein Übriges.

Francis schob das schwere Eingangstor der Halle zur Seite, um frische Luft hereinzulassen. Aus den Kokons am Boden drang noch lautes Schnarchen, doch bald kam Bewegung in die länglichen Bündel. Einer nach dem anderen surrten Reißverschlüsse nach unten. Müde Gesichter begrüßten unwillig den neuen Tag. Rasselnder Raucherhusten erhob sich und schleimiger Auswurf klatschte auf den Boden. Der Streit um das Kaffeekochen konnte beginnen und jeder würde mit dem Finger auf seinen Nachbarn zeigen, bevor er sich auf die Jagd nach den letzten sauberen Bechern machte.

Eine Woche lag es zurück, dass sie in der riesigen Halle aus ihrer Betäubung erwacht waren. Zusammen mit einer Palette Konserven, einer billigen Campingausrüstung und einem Großbildschirm. Es war niemand da, der ihnen ihre Lage erklärte. Es gab auch keine Wachen, doch sie trugen alle elektronische Fußfesseln, die zu summen begannen, sobald man die Halle verließ. Hakan wollte sich davon nicht einschüchtern lassen und wagte einen Fluchtversuch. Kaum hatte er den Zaun überwunden, hielt vor ihm am Straßenrand der Lieferwagen einer Reinigungsfirma und er wurde von maskierten Männern zur Seitentür hereingezogen. Sie sahen ihn nie wieder.

Nachdem sie begriffen hatten, dass sie das Gelände nicht verlassen konnten, versuchten sie, Hilfe von außen zu bekommen. Die Fabrik lag nicht abseits oder versteckt. Im Gegenteil, sie hatten direkte Nachbarn, was man in dieser Gegend allerdings nicht auf der Haben-Seite verbuchen konnte. Sie schrien um Hilfe und wollten, dass die Behörden verständigt wurden, um ihnen zur Hilfe zu kommen. Nach einigen Stunden Geschrei begannen die Nachbarn zu schießen, sobald sich einer von ihnen zeigte.

Francis ließ sich vor dem Großbildschirm nieder. Er war fett, glatzköpfig und schwitzte schon bei der Durchquerung eines mittelgroßen Raumes. Eine Flucht zu Fuß kam für ihn nicht infrage, deshalb begegnete er der Situation relativ gelassen. Auf dem Bildschirm konnte man vier Programme gleichzeitig betrachten und er schaltete abwechselnd den Ton dazu. „Das Wetter heute ist … bewölkt und regnerisch.“ Was sollte man auch sonst sagen? Schließlich hatte sich das Wetter an den letzten 937 Tagen nicht geändert. Man konnte die komplette Rubrik streichen. Die einzige relevante Information betraf die Niederschlagsmenge. Links davon lief eine jener unsäglichen Pannenshows und Francis verzog mehrmals das Gesicht, wenn Menschen Dinge erleiden mussten, die unmöglich ohne Folgeschäden geblieben sein konnten. Doch die eingespielten Lacher suggerierten, dass man sich ohne Reue amüsieren durfte. Francis kratzte die juckende Stelle unter der elektronischen Fußfessel. Kampfhubschrauber der Stadt schossen Raketen in die Hügel vor der Stadt, wo sie Terroristenlager vermuteten. Wahrscheinlich grillten sie nur ein paar arme Obdachlose und ließen sich anschließend als Helden feiern. Er hatte selbst genug Zeit im Untergrund verbracht, um zu wissen, wie rücksichtslos mit diesen Menschen verfahren wurde. Die Regenfälle der letzten Jahre hatten weite Teile der Kanalisation geflutet und sie in unbekannte Gegenden zurückgedrängt. Soziale Einrichtungen wie Asyle waren schon vor vielen Jahren geschlossen worden, nachdem eine Reihe von „Enthüllungsberichten“ die Bevölkerung wachgerüttelt hatte. Die Phantasie der Berichterstatter endete meist bei Satanismus, Orgien, Menschenopfern und Kannibalismus. Im vierten Bildausschnitt wühlte ein Baby, nur mit einer Windel bekleidet, in einer randvollen Mülltonne. Auf der Suche nach Nahrung oder Spielzeug. Anschließend das betroffene, gut einstudierte Kopfschütteln des Moderators.

Zeno ließ sich neben Francis nieder und frühstückte aus einer Konservendose. Keiner von ihnen konnte die chinesischen Etiketten lesen und sagen, ob es sich um Delikatessen oder um Hundefutter oder um Delikatessen mit Hund handelte.

Too old to die young stand auf Zenos T-Shirt und das umschrieb ihre Situation wirklich treffend. In der heutigen Gesellschaft waren sie keine Desperados mehr, sondern Aussätzige. Todgeweihte in mehr als einer Hinsicht. Die Datenkuriere von damals waren inzwischen jenseits der Fünfzig und durch den technischen Fortschritt völlig überflüssig. So wie der Ponyexpress von den Telegrafen verdrängt wurde, so hatte heute niemand mehr Verwendung für ihre Dienste. Stattdessen bekamen sie die Quittung für den exzessiven Raubbau an ihrem Körper. Klaffende Erinnerungslücken, degenerative Krankheiten und Schlaganfälle waren die Regel bei den ehemaligen Kurieren. Sie hatten Fett angesetzt, Haare verloren und die meisten trugen inzwischen Sonnenbrillen mit Sehstärke.

Als damals die Hackerattacken überhandnahmen, hatte man massive Schutzvorrichtungen gegen ihre Generation eingebaut, die immer noch aktiv waren. Bei jedem Einstieg ins Netz riskierten sie ihre körperliche und geistige Gesundheit. Aber sie waren süchtig danach. Eine Sucht, die sie mithilfe von Medikamenten mühsam unter Kontrolle halten konnten. Die Helden ihrer Zunft hatte man mit virenverseuchter Software aus Fernost arbeitsunfähig gemacht. Zwei aus Francis’ ehemaliger Clique, die die Abgeschnittenheit vom Netz nicht mehr ausgehalten hatten, besorgten sich einen illegalen Zugang. Wohlwissend, welche Konsequenzen sie zu erwarten hatten. Heute saßen sie vierundzwanzig Stunden am Stück vor dem Fernseher, schaukelten im Stupor und kratzten sich abwechselnd im Schritt und an den Narben am Kopf. Ein Schicksal, das Francis auf keinen Fall teilen wollte. Fest stand, in der modernen Gesellschaft war kein Platz mehr für Anachronismen wie sie. Vor fünf Jahren war ihre Überwachung komplett eingestellt worden und die Regierung hatte sie endgültig als harmlos eingestuft.

Francis wechselte durch die Kanäle auf der Suche nach Hinweisen über ihr Verschwinden.

„In der Glotze wirst du nichts finden“, sagte Zeno kauend, „hier sind Mächte am Werk, die sich nicht in die Karten schauen lassen.“

„Du meinst deine Multiverschwörungstheorie? Nicht ein Geheimbund beherrscht die Erde, sondern mindestens zwei oder drei und die bekämpfen sich?“

„So in etwa.“

Francis simulierte ein Mikrofon in seiner Hand.

„Meine Damen und Herren, in der linken Ecke die englische Königsfamilie mit den Sozialdemokraten, den Freimaurern, dem internationalen Bankentum, dem KGB und der Sozialistischen Internationalen. Ja, das sieht gut aus für die Windsors. In der rechten Ecke der Vatikan zusammen mit Jesuiten, der CIA, den Internationalen Faschisten, der FIFA und den Malteserrittern. Oh ja, das wird spannend.“

„Du glaubst nicht daran?“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Francis unschuldig.

„Dann wirst du wohl als Nächstes behaupten, das die Luftflotte von AirNikeStrike nichts mit der Nashville-Verschwörung zu tun hat?“

Francis rollte die Augen.

„Findest du es nicht merkwürdig, dass sich jemand bei all den Katastrophen da draußen und den Hunderttausenden von Menschen, die täglich sterben, gerade mit uns solche Mühe gibt, uns zu isolieren? Warum hat man uns nicht eine Kugel ins Genick gejagt und neben der Autobahn verscharrt?“

„Du meinst, jemand glaubt, er könnte uns irgendwann nochmal brauchen?“, fragte Zeno zweifelnd.

„Ja, und ich hoffe, dass dieser jemand genau das noch sehr lange glaubt.“

Francis betrachtete seine Mitgefangenen, die sich inzwischen alle um die Kaffeemaschine versammelt hatten. Sie waren zwei Frauen und vier Männer. Drei, nach Hakans Fluchtversuch. Manche kannte er von früher, von anderen hatte er zuvor nur gehört, aber es war nicht schwer, eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen herzustellen. Dies war keine zufällige Ansammlung von Menschen. Sie besaßen alle eine ähnliche Vergangenheit im Netz und hatten alle nach der Anti-Hacker-Kampagne vom März 27 ein neues Leben beginnen müssen. Francis hatte sich von Software- auf Hardwareschmuggel verlegt und in den letzten Jahren auf so ziemlich jedem Transportweg illegal Waren befördert. Zeno machte sich vor zehn Jahren einen Namen als Spieleentwickler und galt als heißer Anwärter auf den Nobelpreis im Bereich digitale Medien, doch seine subversiven Anspielungen und Parolen innerhalb der Spiele wurden immer weniger subtil und verprellten viele Kunden. Schadenersatzforderungen seines Arbeitgebers hatten bis heute mehrere Identitätswechsel erforderlich gemacht. Anne ließ 27 die gesamte Hackerwelt hinter sich und gründete eine Familie. Zwanzig Jahre lang lebte sie wie in einer Parallelwelt auf dem Land, verwöhnte ihren Mann, zog die beiden Mädchen groß und hielt das Haus in Ordnung. Natürlich gab es in ihrer Wohnsiedlung nicht besonders viele derart großflächig tätowierte Frauen mit herausragenden Computerkenntnissen. Nach zwei Jahrzehnten der Selbstverleugnung in langärmeliger Kleidung stolperte ihr Mann über die Vergangenheit seiner Ehefrau und zeigte sie an. Walker hatte sich von einem unauffälligen Bürojob zum nächsten gehangelt, den Kopf unten gehalten und versucht, nicht aufzufallen. Den Kick früherer Zeiten holte er sich beim Glücksspiel und häufte Schulden an, bis er einem Yakuzaboss einen Gefallen tat, um seine Verzugszinsen zu tilgen. Dadurch gelangte sein Name dummerweise in die Überwachungsbänder von McInterpol und des NASA-Geheimdienstes. Gabrielle, eine kleinwüchsige und äußerst blasse Belgierin, war nie von ihrer Amphetaminsucht losgekommen und hatte sich immer mit einem Bein im Gefängnis am Rande der Gesellschaft bewegt. Sie war nur noch ein Schatten ihres früheren Selbst, außer dass sie immer noch besonderen Wert auf die französische Betonung ihres Namens legte. Alle waren sie mehrfach vorbestraft wegen Computervergehen, unerlaubten Eindringens in Privatgebäude und Verstößen gegen das Urheberrecht. Manche von ihnen hatten noch ganz andere Sachen auf dem Kerbholz, aber darüber schwiegen sie.

Auf drei der vier Bildausschnitte konnte man die brutale Zerschlagung von Demonstrationen in verschiedenen Teilen Europas beobachten, unterscheidbar nur durch die verschiedensprachigen Transparente. Also konzentrierte Francis sich auf den vierten Ausschnitt, auf dem eine Werbung für pränatale genetische Schönheitskorrekturen zu erschwinglichen Preisen lief. Regierungen, die solche Auswüchse unterbinden sollten, waren zwar noch vorhanden, aber machtlos. Die Weltherrschaft lag in den Händen der Megakonzerne. Die Werbung war ihre Waffe, ihr Geheimcode und ihre Philosophie. Plötzlich erlosch das Fernsehbild und für einen Moment herrschte völlige Stille.

Sie kamen mit der Präzision einer Spezialeinheit. Dutzende von Männern und Frauen in grünen Overalls oder schwarzen Kampfanzügen. Kühl, ruhig und effizient betraten sie die Halle. Zwei Trucks fuhren rückwärts an die Tore heran und wurden ausgeladen. Die Leute in den Kampfanzügen mit dem Logo einer weltbekannten Security-Firma drängten die Gefangenen in eine Ecke, während die Aufbauarbeiten vollzogen wurden. In der Mitte der Halle wurde ein provisorisches, gläsernes Labor errichtet und anhand der Ausrüstung erkannte Francis sehr schnell, dass es für sie bestimmt war.

Der Anführer schien kaum volljährig zu sein und wirkte in dem steifen dunklen Anzug wie verkleidet. Er stellte sich als Smith vor. Völlig ernst, ohne ironisches Lächeln wegen des einfallslosen Pseudonyms, sodass Francis annehmen musste, es sei tatsächlich sein Name. Im Übrigen war es der einzige Name, den sie erfuhren. Die Techniker blieben ebenso namenlos wie die Security-Leute, die auch äußerlich völlig austauschbar waren. Ihnen allen gemeinsam war der unbewegte Gesichtsausdruck, der nicht nur Entschlossenheit, sondern auch das völlige Desinteresse am Schicksal ihrer Gefangenen demonstrierte. Von diesen Leuten hatten sie keine Hilfe zu erwarten. Francis hatte Mannschaftswagen hinter den Trucks gesehen und wusste, dass sich eine unbekannte Zahl an Security-Leuten auf dem gesamten Gelände aufhielt, um es zu sichern. Er hatte mehrere Männer mit Präzisionsgewehren Richtung Dach verschwinden sehen. Die Fabrik wurde in eine Festung verwandelt. Niemand kam hier ohne die Einwilligung von Smith rein oder raus.

„Um es gleich deutlich zu sagen, Ihre Zeit ist vorbei. Sie sind alle entwurzelte Existenzen, ohne Familien oder feste soziale Kontakte. Mit anderen Worten, niemand wird Sie vermissen. Aber hier haben Sie die Chance, noch einmal in Ihrem Leben etwas Wichtiges und vor allem etwas Richtiges tun zu können. Unsere Gesellschaft ist bedroht und wir brauchen Ihre speziellen Fähigkeiten, weil wir es mit einer völlig veralteten Technologie zu tun haben, mit der sich heute kaum noch jemand auskennt. Ich appelliere in erster Linie an Ihr Gewissen, aber es wird sich auch in finanzieller Hinsicht für Sie lohnen.“

„Zuckerbrot und Peitsche“, knurrte Francis. Er fragte sich, ob sie zu ihrer Zeit auch solche Arschlöcher gewesen waren. Wahrscheinlich waren sie damals noch schlimmer und noch arroganter. War dies nicht der Grund für ihre Tollkühnheit gewesen? Keiner von ihnen hatte damit gerechnet, dass die Welt so lange durchhielt.

„Der einzige Weg nach draußen führt über das Netz. Helfen Sie uns, die Bedrohung abzuwehren, und Sie haben die Chance, hier lebendig und reich rauszuspazieren.“

Francis fragte ihn provozierend, ob er möglicherweise zu jung sei, um sich an die Schutzmaßnahmen zu erinnern, die Leuten wie ihnen den Zugang zum Netz verwehrten. Auf Smiths Befehl erläuterte ein Techniker, dass sie eine Art Transporter entwickelt hatten, der sie unbeschadet und vor allem unentdeckt über die ersten Hürden hinwegbringen würde. Die Techniker würden sie im Netz dirigieren und ihnen die entsprechenden Anweisungen geben, deren Umsetzung dann in ihren eigenen Händen lag. Ansonsten erhielten sie keinerlei Informationen, noch war Smith bereit, auch nur eine einzige Frage zu beantworten.

Sie wurden stundenlangen Belastungstests unterzogen und Francis nahm an, dass die Reihenfolge ihres Einsatzes von deren Ergebnis bestimmt wurde. So gesehen konnte er sich zurücklehnen, denn es gab wohl keinen innerhalb ihrer Gruppe, der in einer schlechteren körperlichen Verfassung war. Als erste Kandidatin wurde Gabrielle ausgewählt. Sie hatte große Angst, das war ihr deutlich anzusehen. Sie zögerte beim Betreten des Raumes und wurde von dem Security-Mann, der sie begleitete, vorwärtsgestoßen. Mit verzweifeltem Blick sah sie zu ihren Gefährten, die hinter der Panzerglasscheibe zusehen konnten. Zeno zeigte zwei hochgereckte Daumen. Leider schaffte er es nicht, diesen Optimismus auch mit seinem Gesicht auszudrücken. Inmitten des Labors stand ein riesiger Sessel mit Gurten zum Festschnallen. Dahinter waren gewaltige Armaturen mit zahlreichen Kabeln.

„Werkzeuge wie in einer Metzgerei“, zischte Smith, während er einem älteren Techniker bei den Vorbereitungen zusah.

„Es waren eben andere Zeiten“, sagte der Mann gleichgültig.

Jede freie Stelle ihres Gesichtes wurde mit Saugnäpfen bedeckt und verwandelte die Belgierin in eine Hightech-Medusa. Smith gab das Startsignal und ein Ruck ging durch Gabrielles Körper. Sie war wieder drin. Für einen Moment beneidete Francis sie um diese Erfahrung. Gebannt verfolgten sie, wie sich Gabrielle zusehends entspannte und langsam ein Lächeln auf ihre Lippen trat. Es war nicht zu übersehen, dass sie ihren Einsatz genoss und auch die Zuschauer legten einen Teil ihrer Anspannung ab. Doch dann sah ein Techniker erschrocken von seinen Anzeigen auf und rief etwas zu Smith, das Francis und die anderen hinter dem Glas nicht hören konnten. Die Hektik der Techniker verriet selbst dem wohlwollendsten Beobachter, dass etwas gewaltig schlief lief. Die Werte von Gabrielles Vitalfunktionen schlugen den Obergrenzen entgegen. Schaum trat über Gabrielles Lippen. Auf einen Wink von Smith hin wurden Francis und die anderen von dem Beobachtungsfenster entfernt und in ihre Unterkünfte gebracht. Zenos lautstarker Protest wurde von einem Leberhaken erstickt und Annes trotziger Blick mit einer Ohrfeige beantwortet.

Lange Zeit warteten sie rastlos in ihrem Quartier. Dann schleppten zwei Security-Leute Gabrielle aus dem Labor. Sie hing mit leerem Blick zwischen den beiden Steroidmutanten. Ein langer Speichelfaden floss aus ihrem Mundwinkel bis zum Boden und aus den Ohren tropfte Blut. Achtlos ließen sie sie neben einer Liege auf den Betonboden fallen. Ein Techniker untersuchte sie kurz, sah dann zu Smith und schüttelte den Kopf. Der machte eine Seitwärtsbewegung mit dem Daumen und die Männer nahmen sie wieder auf. Anne wollte eingreifen, doch zwei andere Security-Leute versperrten ihr den Weg. Gabrielle gab ein gurgelndes Geräusch von sich und sah mit blutigen Augen zu Anne. Zum letzten Mal.

Walker hatte alles schweigend beobachtet. Er saß auf seiner Liege und wurde kaum beachtet. Jenseits seiner strategischen Brillanz war er ein erschreckend simpel gestricktes Gemüt. Langsam stand er auf und Anne bemerkte sofort, dass er im Begriff war, eine Dummheit zu begehen. Bevor sie Francis und Zeno darauf aufmerksam machen konnte, rannte er auf das Tor zu. Er stieß einen überraschten Security-Mann zur Seite, schlug eine Technikerin brutal nieder und lief weiter, bis er wenige Schritte vor dem Ausgang von zwei Männern in Footballmanier zu Boden gerissen wurde. Sie schlugen lange auf ihn ein und ließen ihn reglos liegen.

Die Ereignisse veranlassten Smith, seine Strategie zu ändern. Er bezeichnete sie plötzlich als Mitarbeiter, und nachdem Zeno als nächster Kandidat ermittelt war, zog er sich mit ihm für einige Stunden zu einem privaten Gespräch zurück. Danach schien dieser seinen bevorstehenden Einsatz kaum noch abwarten zu können.

„Wenn Smith über so überzeugende Argumente verfügt, warum hat er uns dann nicht alle eingeweiht?“, fragte Anne wütend und stemmte ihre tätowierten Arme in die Hüften.

„Wir operieren hier auf höchster Geheimhaltungsstufe“, antwortete Zeno.

„Wir?“, fragte Francis ungläubig.

„Falls ich die Operation erfolgreich abschließe, ist es gar nicht nötig, dass ihr in alle Einzelheiten eingeweiht seid. Sie müssen sich keine Sorgen machen, ob ihr Stillschweigen bewahrt, wenn ihr gar nichts wisst. Das geschieht also zu eurer eigenen Sicherheit.“

„Sag mal, Zeno, glaubst du allen Ernstes, dass die uns einfach gehen lassen, sobald der Auftrag erledigt ist? So naiv kannst du doch gar nicht sein. Nicht nach all den Jahren.“

„Du klingst schon genauso zynisch wie Francis.“

„Er hat auch allen Grund dazu.“

„Ich bin bereit, Smith zu helfen. Vielleicht werde ich dadurch Tausende von Menschenleben retten und eure noch dazu.“

„Red dir das ruhig ein“, sagte Anne und verschränkte die Arme vor der Brust, wodurch sich die einzelnen Tattoos zu einem Gesamtbild zusammenfügten, wie Francis beeindruckt bemerkte. Anne war von Zenos neugefundenem Patriotismus irritiert und abgestoßen. Der ehemalige Systemkritiker war so überzeugt, für die gerechte Sache zu kämpfen, dass er alle Lehren über Manipulation vergessen zu haben schien, und verteidigte die Mission heftig. Nach Jahrzehnten des Ausgestoßenseins schien er sich nun nach der Anerkennung durch eine höhere Autorität zu sehnen.

Zeno gelang ein erfolgreicher Einsatz und am Abend konnten sie alle die Folgen in vier verschiedenen Versionen auf dem Großbildschirm verfolgen. Die gesamte Luftwaffe des kleinen Landes Roswick war in derselben Minute ausgefallen. Zwei Maschinen waren über der Hauptstadt in dichtbesiedelte Wohngebiete gestürzt, drei andere durch einen Kurzschluss in den Waffensystemen auf verschiedenen Militärflughäfen explodiert und hatten diese komplett verwüstet. Der letzte funktionstüchtige Kampfflieger war wie ferngelenkt in die Zentrale der militärischen Abwehr gerauscht. Nahezu identische Bilder gab es aus Südamerika, Südostasien und dem Nahen Osten. Zenos anfängliche Zufriedenheit wich mit den Bildern von brennenden Wohnhäusern und fliehenden Menschen. Schweigend zog er sich zu seinem Schlafplatz zurück.

Viel später saß Francis allein vor dem Bildschirm und betrachtete zum unzähligsten Male in dieser Nacht die Bilder des Tages. Wieder wurden die verheerenden Folgen von Zenos Einsatz gezeigt, direkt gefolgt vom eingeblendeten Logo einer Firma namens Manowar Inc., die die Kampfjets hergestellt hatte. Francis beugte sich interessiert vor.

„… eine Tochterfirma von 21th Century Games und damit Bestandteil des weltumspannenden NewTec-Konzerns. Bisher war aus Kreisen der Firmenleitung kein Statement zu den Vorfällen zu bekommen. Aus wohlinformierten Kreisen haben wir allerdings erfahren, dass eine Sonderkommission zur Prüfung …“

Der Bildschirm wurde schwarz. Smith stand hinter Francis und ließ die Fernbedienung fallen.

„Sie sollten schlafen gehen, morgen wird ein harter Tag.“

„Wir legen ganze Länder lahm. Heißt das, wir sind jetzt Terroristen?“

„Immer eine Frage des Standpunktes. Gute Nacht.“

Francis nahm die Liege neben Zeno. Er wusste, dass Smith ein Auge auf ihn haben würde, deshalb teilte er Zeno flüsternd seinen Verdacht mit. Zunächst wehrte sich Zeno gegen Francis’ Theorie, aber je länger dieser redete, desto mehr erlahmte sein Widerstand und zuletzt war er regelrecht entsetzt über seine Naivität und seine Taten. Francis erkannte, dass etwas in Zeno zerbrach. Wieder war er ausgenutzt worden. Zeno hatte fest daran geglaubt, diesmal für eine gerechte Sache zu kämpfen. Etwas zu bewegen.

„Zeno schmiert ab“, brüllte einer der Techniker. Zuerst waren es nur ein leichter Ausschlag auf der Anzeige und ein kaum wahrnehmbares Zittern seiner Fingerspitzen. Dann ging es blitzschnell. Zenos Finger krallten sich in die Armlehnen, sein Körper verkrampfte sich, der Atem ging stoßweise. Die Ausschläge kamen rasend schnell, sprengten die Skala und lösten den Alarm aus. Er warf den Kopf nach hinten, die Adern an seinem Hals zeichneten sich deutlich ab und blutiger Schaum trat über seine Lippen. Die Kontakte auf seiner Haut begannen zu schmoren, Funken schlugen aus den Apparaten.

„Der schickt unsere gesamte Ausrüstung zum Teufel“, schrie eine Technikerin panisch. Smith packte einen der Security-Männer, zerrte seine Pistole aus dem Schulterhalfter und schoss Zeno aus nächster Nähe mehrere Kugeln in die Brust. Sofort war der Spuk vorüber.