«Papa, Charly hat gesagt …» - Ursula Haucke - E-Book

«Papa, Charly hat gesagt …» E-Book

Ursula Haucke

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Beschreibung

Vater und Sohn, das so überaus erfolgreiche, ungleiche Gespann, kabbelt sich weiter: «Die Zeit vergeht, und ‹die Verhältnisse, die sind (immer noch) nicht so› – weshalb es Vater und Sohn an Gesprächsthemen nicht fehlen kann. Sie beide und die Familie Charlys sind sich treu geblieben: Papa hat es immer noch nicht gern, wenn man an den Stützpfeilern seiner Wertmaßstäbe herumsägt, Charlys Vater weiß immer noch nicht, wo er zuerst anfangen soll mit seinen zornigen Verbesserungsvorschlägen, und beider Söhne sind so wach, wißbegierig und pfiffig wie eh und je. Ganz besonders pfiffig natürlich für ihre zehn (oder doch schon elf?) Jahre!» schreibt Ursula Haucke, eine der Autorinnen der Kurzhörspielserie, von der die Dialoge in diesem Band stammen, über die Hauptakteure. Gleich, wo das streitbare Paar sich vernehmlich macht – im Rundfunk (alle Dialoge dieses Bandes sind als Kurzhörspiele gesendet worden), auf der Bühne, der Schallplatte oder zwischen Taschenbuchdeckeln –, der Erfolg ist den beiden gewiß. Wenn nun auch die Leser die gleichen geblieben sind, mündige Bürger allesamt, kritisch und selbstkritisch zugleich, dann dürfte dem erneuten nachdenklichen Lesevergnügen eigentlich nichts im Wege stehen. Viel Spaß – und vielleicht machen Sie hie und da auch Ernst daraus ...

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Seitenzahl: 161

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Ursula Haucke

«Papa, Charly hat gesagt …»: Band 4

Neues von Vater und Sohn

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Vater und Sohn, das so überaus erfolgreiche, ungleiche Gespann, kabbelt sich weiter: «Die Zeit vergeht, und ‹die Verhältnisse, die sind (immer noch) nicht so› – weshalb es Vater und Sohn an Gesprächsthemen nicht fehlen kann. Sie beide und die Familie Charlys sind sich treu geblieben: Papa hat es immer noch nicht gern, wenn man an den Stützpfeilern seiner Wertmaßstäbe herumsägt, Charlys Vater weiß immer noch nicht, wo er zuerst anfangen soll mit seinen zornigen Verbesserungsvorschlägen, und beider Söhne sind so wach, wißbegierig und pfiffig wie eh und je. Ganz besonders pfiffig natürlich für ihre zehn (oder doch schon elf?) Jahre!» schreibt Ursula Haucke, eine der Autorinnen der Kurzhörspielserie, von der die Dialoge in diesem Band stammen, über die Hauptakteure.

Gleich, wo das streitbare Paar sich vernehmlich macht – im Rundfunk (alle Dialoge dieses Bandes sind als Kurzhörspiele gesendet worden), auf der Bühne, der Schallplatte oder zwischen Taschenbuchdeckeln –, der Erfolg ist den beiden gewiß. Wenn nun auch die Leser die gleichen geblieben sind, mündige Bürger allesamt, kritisch und selbstkritisch zugleich, dann dürfte dem erneuten nachdenklichen Lesevergnügen eigentlich nichts im Wege stehen. Viel Spaß – und vielleicht machen Sie hie und da auch Ernst daraus ...

Über Ursula Haucke

Ursula Haucke (1924–2014) war freie Schriftstellerin, tätig für Rundfunk, Theater und Fernsehen.

Inhaltsübersicht

Nach einer Idee ...Üb immer Treu und RedlichkeitImmer mal was anderesVon Pietät und TaktBescheidenheit ist eine Zier …VerteilungsproblemeDie wichtigste EigenschaftImmer sauber bleibenGeduld ist keine Tugend mehrEin trauriges KapitelDer gewisse geistige AbstandWer ist der Nächste?Selbständigkeit mit kleinen AusnahmenWenn wir alle Helden wärenWas heißt hier Fremdwörter?Gefährliche GewöhnungDoppellebenLob oder Tadel – das ist hier die FrageVorsicht, Kind fühlt mit!Mamas TurnstundeWerbung auf dem HolzwegPrioritätenReisen bildetFreiheit, die ich meineKeine Zeit für FreundlichkeitDie verpaßten ChancenAlles Glaubenssache

Nach einer Idee von Klaus Emmerich und Ingrid Hessedenz

Üb immer Treu und Redlichkeit

SOHN:

Papa, Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt, die Deutschen sitzen heute alle im Glashaus …

VATER:

So. Hat er das gesagt. Ich für meinen Teil sehe noch ziemlich viele geschlossene Wände um mich herum.

SOHN:

Er sagt, es gibt kaum noch einen, der ’n Stein schmeißen dürfte …

VATER:

Steine schmeißen ist ohnehin kein geeignetes Mittel zur Auseinandersetzung. Also was soll das?

SOHN:

Weil man das doch so sagt: «Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen schmeißen!»

VATER:

Das habe ich inzwischen schon begriffen, daß es um dieses Sprichwort geht! Im übrigen heißt es «werfen» und nicht «schmeißen».

SOHN:

Na schön. Jedenfalls sagt Charlys Vater, daß heute keiner mehr Mein und Dein auseinanderhalten kann.

VATER:

Was heißt «keiner»? Da schließt Charlys Vater wohl wieder mal aus seinen Kreisen auf alle anderen! Die Leute, die ich kenne, können Mein und Dein noch sehr gut auseinanderhalten. Das möchte ich doch mal ganz deutlich gesagt haben!

SOHN:

Das wär aber ’n mächtiger Zufall …

VATER:

Das ist überhaupt kein Zufall, das ergibt sich selbstverständlich aus dem Umgang, den man hat.

SOHN:

Dann mußt du immer gerade den ersten kennen …

VATER:

Welchen ersten?

SOHN:

Charlys Vater hat ’ne Statistik gelesen. Und da stand drin, daß jeder zweite Deutsche klaut. Kennst du also immer gerade den ersten!

VATER:

Nicht zu glauben, womit sich die Herren Statistiker an die Öffentlichkeit wagen! Was sitzen denn da für Leute? Sind die nicht mal mehr imstande, ihre eigenen Kommafehler zu erkennen?! Jeder zweite! Jeder zweihundertste, das könnte vielleicht hinkommen … und auch das wäre schon schlimm genug!

SOHN:

Nee, jeder zweite.

VATER:

Also jetzt verschone mich bitte, ja? Denk doch mal selbst nach: wenn es so wäre, müßten wir ja fast so viele Gefängnisse wie Wohnhäuser haben!

SOHN:

Wieso denn? Die kriegt doch gar keiner.

VATER:

Also wieder mal eine von diesen «Statistiken», die auf reinen Mutmaßungen beruhen. Das haben wir gern!

SOHN:

Aber Papa, du mußt bei «klauen» doch nicht bloß an die denken, die sich im Kaufhaus was einstecken, oder die jemand das Portemonnaie wegnehmen!

VATER:

An wen soll ich denn sonst denken, bitte schön? Vielleicht an jemanden, der seinen Kollegen das Bier austrinkt? Oder seiner Oma, ohne zu fragen, ein Stück Konfekt wegißt?

SOHN:

Nee, aber zum Beispiel an einen, der von seiner Baustelle ’n Stein mit nach Haus nimmt.

VATER:

Einen Stein?

SOHN:

Na ja, erst mal einen und dann noch einen und immer so weiter …

VATER:

Jaja, und kaum sind zehn Jahre vergangen, schon kann er sich in seinem Schrebergarten ein Klohäuschen bauen! Der reinste Mafiaboss, so ein Mann!

SOHN:

Na hör mal, Papa! Du sagst doch sonst immer, es gibt keine Kleinigkeiten und alles ist eine Sache des Prinzips. Und geklaut ist geklaut! – Außerdem kann man mit Steinen ein tolles Regal bauen. Hab ich mir doch auch gemacht …

VATER:

Und wo hattest du die Steine her?

SOHN:

Keine Angst, hab ich mir vom Müllplatz geholt.

VATER:

Dann ist es ja gut.

SOHN:

Hast du eigentlich nie was geklaut, Papa?

VATER:

Allerdings nicht, nein.

SOHN:

Auch nicht als Kind? Ich denke, früher haben die Kinder immer Äpfel geklaut?

VATER:

Ich mache mir nichts aus Äpfeln, wie du weißt.

SOHN:

Und was ist mit Mama? Hat die mal geklaut?

VATER:

Mit Sicherheit nicht.

SOHN:

Hm … eigentlich müßte ich dann mal was klauen …

VATER:

Du bist wohl nicht ganz bei Trost?!

SOHN:

Aber wir sind doch schon drei! Und wenn jeder zweite Deutsche klaut und von uns keiner – dann bringen wir ja die ganze Statistik durcheinander!

VATER:

Nun mach keine dummen Witze, ja? Das ist kein Thema zum Herumalbern. Außerdem habe ich dir ja schon gesagt, was ich von dieser Statistik halte

SOHN:

Der Freund von Charlys Schwester sagt, von den Leuten, die er so kennt, die in irgendeinem Betrieb arbeiten, da kann er alles kriegen. Die bringen ihm das einfach mit, Elektrokabel oder Farbe oder was vom Auto, da denken die sich gar nichts dabei.

VATER:

Wenn sie erwischt werden, werden sie sich schon etwas dabei denken!

SOHN:

Ja, wenn …

VATER:

Im übrigen zeigt das nur mal wieder, welchen Umgang Charly und seine Schwester haben. Traurig ist das.

SOHN:

Charly sagt, sein Vater sagt, in besseren Kreisen wird genauso geklaut – bloß anders.

VATER:

Natürlich! «Was ich denk und tu, trau ich andern zu!»

SOHN:

Er sagt, die gehen mit ihrer Freundin schick essen und spendieren ihr Sekt und so was alles – und dann lassen sie sich ’ne Rechnung geben und schicken die der Steuer.

VATER:

Er meint, sie setzen die Rechnung dann als Spesen ab. Ich würde sagen, Charlys Vater versteht etwas zu wenig von unserem sehr komplizierten Steuersystem, um mitreden zu können.

SOHN:

Aber du sagst das doch auch! Neulich hast du selber zu Mama gesagt, daß alle Leute die Steuer beschummeln …

VATER:

So habe ich das bestimmt nicht gesagt.

SOHN:

Nee, du hast «bescheißen» gesagt.

VATER:

Also ich verbitte mir ein für allemal deine … deine Einmischung in meine Gespräche! Hast du verstanden?!

SOHN:

Ja doch. Ich wollte ja nur sagen, daß du das auch gesagt hast, mit der Steuer das. Du hast gesagt, daß die dich eigentlich doppelt bezahlen müßten, weil du auch noch Detektiv sein mußt. Weil in jeder Steuererklärung irgendein faules Ei ist.

VATER:

Nun mach du dir mal keine Sorgen um meine Arbeit, ja? Die wirklich faulen Eier, die finde ich schon …

SOHN nach einer Pause:

Charly sagt, bei ihnen im Nebenhaus, da hat ein ganz feiner alter Herr gewohnt, so’n richtiger Gelehrter. Der hatte auch irre viele Bücher. Und als er gestorben ist, da haben sie gemerkt, daß in fast allen Büchern irgendein Stempel war, von Bibliotheken und Schulen und so … Hat der einfach alle behalten!

VATER:

Sag mal, wie viele Geschichten willst du mir eigentlich noch erzählen, wie? Und vor allen Dingen: Wozu bitte?

SOHN:

Charlys Vater findet, daß jeder mal überlegen soll, was er selber so alles macht, bevor er sich über irgend ’n kleinen Einbrecher aufregt.

VATER:

Also, ich rege mich über Einbrecher, Diebe und Betrüger auf, so lange und so oft ich will! Wär ja noch schöner, wenn Charlys Vater darüber zu befinden hätte!

SOHN:

Kannste ja ruhig.

VATER:

Verbindlichsten Dank. Zu gütig!

SOHN angriffslustig:

Aber dann soll der blöde Herr Weber seinen angebrannten Teppich gefälligst selber bezahlen!

SOHN:

Was faselst du da?!

VATER:

Hab ich doch gehört, daß der dich gefragt hat, ob man nicht so tun kann, als ob ich das war. Weil ihr doch so ’ne Versicherung für mich habt!

SOHN:

Da hast du irgend etwas total falsch verstanden! Dr. Weber hat lediglich mal darüber gesprochen … wie manche Leute derartige Dinge regeln. Weil es ja auch leider ein sehr wertvoller Teppich ist … und jetzt kümmere dich zur Abwechslung mal wieder um deine Angelegenheiten, bitte! Und ein bißchen frische Luft könnte dir auch nicht schaden!

SOHN:

Ich muß sowieso noch mal weg. Was für die Schule kaufen. Kannst du mir bitte zwanzig Mark geben?

VATER:

Zwanzig Mark?! Das ist ja wohl ein bißchen reichlich, oder? Was brauchst du denn überhaupt?

SOHN:

Na – erst mal ’ne ganze Menge Papier, weil wir gerade lernen, was man alles falten kann. Und dann ’ne große Tube Klebstoff und ’ne Papierschere. Die ist teuer, hat Herr Schröder gesagt; aber Mama will mir ihre nicht geben für die Schule.

VATER:

Und für wann brauchst du das alles?

SOHN:

Warte mal … für … nein, morgen haben wir kein Werken – für übermorgen. Aber morgen hab ich keine Zeit zum Kaufen.

VATER:

Brauchst du auch nicht. Ich bring dir alles morgen mit.

SOHN:

Ich kann doch jetzt noch losgehen.

VATER:

Nicht nötig, ich mach das schon. Du kannst mich ja morgen früh noch mal dran erinnern …

SOHN:

Die Schere darf aber höchstens zwanzig Zentimeter lang sein, hat Herr Schröder gesagt. Damit wir uns nicht gegenseitig die Augen ausstechen!

VATER:

Auf den Zentimeter wird es wohl nicht ankommen. Ich werde sehen, was ich im Bü … was ich auftreiben kann. – Ist noch irgendwas?

SOHN:

Nee. Ich wundere mich bloß …

VATER:

Und worüber?

SOHN:

Daß du nicht glauben willst, daß jeder zweite Deutsche klaut!

Immer mal was anderes

SOHN:

Papa? Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt, die spinnen, die Wissenschaftler!

VATER gleichgültig:

Soso …

SOHN:

Weil die nämlich alle paar Jahre das Gegenteil behaupten!

VATER:

Das Gegenteil wovon?

SOHN:

Von dem, was sie vorher gesagt haben.

VATER:

Aha. Und Charlys Vater, der natürlich alle Fachzeitschriften liest und alle wissenschaftlichen Kongresse besucht, der ist ihnen gleich auf die Schliche gekommen!

SOHN:

Charly sagt, sein Vater hat bloß ’ne Menge ausgeschnitten, was so in den Zeitungen steht.

VATER:

Zum Beispiel?

SOHN:

Zum Beispiel das mit der Margarine und der Butter. Erst haben sie gesagt, man soll nicht so viel Butter essen, weil das nicht gut ist wegen dem tierischen Fett, und dann haben wir so ’nen Butterberg gekriegt, und dann stand plötzlich überall, daß man immer feste Butter essen soll, weil man sonst Mangelerscheinungen kriegt.

VATER:

Das hat doch nichts mit irgendeinem «Butterberg» zu tun, wenn Ratschläge für die Gesundheit etwas unterschiedlich ausfallen! Für den einen Menschen ist eben Butter besser und für den anderen Margarine.

SOHN:

Charly sagt aber, sein Vater sagt, es kommt immer drauf an, wer den Wissenschaftlern den Auftrag gibt. Wenn die Margarinefirma alles bezahlt, dann wird ausgeforscht, was für Margarine günstig ist, und wenn die Landwirtschaft den Auftrag gibt, dann kommt raus, daß man sich schön dick Butter aufs Brot schmieren soll.

VATER:

Das ist wieder mal eine ganz böswillige Verkürzung der Gesamtproblematik! Als ob man nicht wüßte, daß jedes Ding auf der Welt zwei Seiten hat! Ein Politiker muß sich notgedrungen zumeist für eine Seite der Sache entscheiden; die Wissenschaftler werden aber immer so objektiv wie möglich sein. Schließlich hat gerade die deutsche Wissenschaft eine lange und ehrenvolle Tradition.

SOHN:

Wieso ehrenvoll?

VATER:

Weil sie grundsätzlich bemüht ist, zum Wohle der Menschheit zu wirken. Der echte Wissenschaftler ist immer unbestechlich.

SOHN:

Aber irren tut er sich auch.

VATER:

Jeder Mensch kann irren.

SOHN:

Aber jeder macht nicht gleich so’n Riesenfaß auf! Daß die Eltern dann gar nicht mehr wissen, was sie machen sollen!

VATER:

Wieso denn nun plötzlich die Eltern?

SOHN:

Weil Charly sagt, sein Vater sagt, mit der Erziehung, da ging das auch immer: rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln.

VATER:

Spielst du auf die anti-autoritäre Welle an? Die allerdings haben wir ja wohl hinter uns …

SOHN:

Du meinst, die war falsch?

VATER:

Das meine ich. Und der Ansicht wird Charlys Vater wohl auch sein!

SOHN:

Weiß ich nicht. Aber er hat noch was anderes ausgeschnitten. Er sagt, erst hieß es, kleine Kinder müssen immer nur spielen und weiter gar nichts. Und dann haben sie gesagt, daß Kinder schon mit vier oder fünf Jahren lesen lernen können.

VATER:

Das war sicher nur für geistig besonders frühentwickelte Kinder gedacht.

SOHN:

Nee, für alle. Und da haben sie auch gleich jede Menge Lesespiele rausgebracht, und die Eltern haben sich gleich hingesetzt und haben mit ihren Kindern geübt.

VATER:

Dafür haben die meisten Eltern doch gar keine Zeit!

SOHN:

Aber Charly sagt, sein Vater hat gesagt, viele haben’s trotzdem gemacht, weil sie Angst hatten, ihre Kinder werden sonst dümmer als die andern.

VATER:

Also ich hab noch keine vierjährigen Lesewunder erlebt.

SOHN:

Ist ja auch inzwischen alles wieder anders. Charlys Vater sagt, jetzt heißt es, daß man die Kinder vor der Schule in Ruhe lassen soll, weil sie erst mal ihre Gefühle und so was entwickeln müssen; und weil das Lesenlernen gleich in Stress ausgeartet ist.

VATER:

Natürlich, der unvermeidliche Stress ist auch wieder im Spiel. Als ob man Vierjährige überhaupt zu irgendeiner Lernleistung zwingen könnte!

SOHN:

Man kann aber auf sie einreden.

VATER:

Dagegen läßt sich ja auch nichts sagen. Vom guten Zureden ist noch keiner gestorben.

SOHN:

Aber vom Liebesentzug!

VATER:

Wie bitte?

SOHN:

Ja klar, wenn man einem kleinen Kind sagt, es soll irgendwas machen, sonst hat man es nicht mehr lieb, dann ist das eben so’n Liebesentzug.

VATER:

Aha. «Liebesentzug»! Und wenn man zu seinem Kind sagt: jetzt räum dein Zimmer auf und beeil dich gefälligst ein bißchen – dann ist das Stress, wie? Lieber Himmel, wenn unsereiner sich bei jeder Anstrengung erst überlegt hätte, ob das nicht vielleicht gesundheitsgefährdender Stress sein könnte, wo wären wir denn da??

SOHN:

Charly sagt, sein Vater hat gesagt: Manchmal ist Stress ja auch gesund!

VATER:

Ach, auf einmal! Charlys Vater dreht sich die Dinge auch so, wie er sie braucht!

SOHN:

Er doch nicht! Das machen doch die Wissenschaftler. Die sagen jetzt nämlich gerade, daß man ohne Stress auch nicht leben kann. Und sie haben rausgekriegt, daß Leute, die immerzu was vorhaben und dauernd herumwirbeln, daß die besonders alt werden.

VATER:

Na bitte, da kann man dir ja ein langes Leben prophezeien. Aber was mich angeht …

SOHN:

Du kannst mir mal wieder ein Märchen vorlesen. Das ist nicht anstrengend. Jetzt darf man Kindern nämlich wieder Märchen vorlesen.

VATER:

War das vielleicht mal verboten?

SOHN:

Nicht direkt. Aber Charly sagt, sein Vater sagt, vor ’n paar Jahren, da haben die Wissenschaftler gesagt, daß Märchen ganz schädlich sind für Kinder.

VATER:

Und was haben sie für Gründe angegeben?

SOHN:

Erstens, weil Märchen so grausam sind …

VATER nachdenklich

Hm. Das kann man allerdings nicht abstreiten. Das ist wahr.

SOHN:

Und dann auch deswegen, weil in den Märchen nichts so ist wie im wirklichen Leben heute.

VATER:

Dafür sind es ja auch Märchen und keine Nachrichten!

SOHN:

Jaja, aber die haben eben gemeint, daß kleine Kinder sich schon auf das richtige Leben vorbereiten sollen. Und daß man ihnen vorlesen muß von ’nem Vater, der arbeitslos wird, oder von Eltern, die sich scheiden lassen oder … von Kindern, die protestieren, weil sie keinen Spielplatz haben.

VATER:

Mit anderen Worten: So richtige Gute-Nacht-Geschichten!

SOHN:

Die meinten eben, in den Märchen sind immer so falsche – Herrschafts … warte mal … Herrschaftsstruk-struk- also ich krieg das nicht mehr zusammen.

VATER:

Herrschaftsstrukturen, meinst du wohl?

SOHN:

Ja, so hieß das Wort.

VATER:

Also das ist in diesem Zusammenhang wirklich total blödsinnig!

SOHN:

Ist ja auch schon wieder alles anders, Papa. Jetzt heißt es sogar: Kinder brauchen Märchen.

VATER:

Sicher. Und die allzu grausamen Stellen kann man schließlich ein bißchen abändern beim Lesen.

SOHN:

Nee, nicht doch! Die brauchen sie ja auch!

VATER:

Du meinst, es macht ihnen nichts aus, so was zu hören.

SOHN:

Nee, die Wissenschaftler sagen, kleine Kinder brauchen so grausame Sachen, weil sie sich dann vorstellen können, daß die böse Hexe ihre Mutter ist, oder der grausame Zauberer ihr Vater, und daß die dann bestraft werden.

VATER:

Das ist ja eine reizende Vorstellung! Da soll man von seinen eigenen Kindern in Gedanken umgebracht werden, wie?

SOHN:

Ist doch bloß, weil kleine Kinder sonst nichts machen können.

VATER:

Also weißt du, tu mir die Liebe und laß uns das Gespräch beenden, ja? Ich habe das deutliche Gefühl, daß ich von dir gestresst werde!!

SOHN:

Das ist doch gut, Papa, vergiß das nicht!

VATER:

Warten wir ab, was man in drei Jahren darüber denkt …

SOHN:

Siehst du, jetzt hast du auch schon, was Charlys Vater sagt, was man braucht bei den Wissenschaftlern!

VATER:

Ich fühle mich geehrt. Und was soll das sein?

SOHN:

’n gesundes Mißtrauen!

Von Pietät und Takt

SOHN:

Papa? Charly hat gesagt, sein Vater hat gesagt, man kann das auch übertreiben mit der Pietät …

VATER:

So, sagt er das. Und wieso interessiert dich das? Du weißt doch noch nicht mal, was Pietät bedeutet!

SOHN:

Klar weiß ich das!

VATER:

Na, dann erklär’s mir mal …

SOHN:

Soll das heißen, du weißt nicht, was Pietät ist?

VATER:

Das soll heißen, daß ich nicht glaube, daß du es weißt! Also bitte mal ein Beispiel, ja? Was ist Pietät?

SOHN:

Ganz einfach: Pietät ist, wenn jemand Dreck am Stecken hat, und dann sind alle ganz rücksichtsvoll zu ihm, weil er’s mit dem Magen hat oder ’n bißchen humpelt oder so …

VATER:

Da weiß man doch schon wieder gar nicht, was man sagen soll …! Stammt diese hirnverbrannte Definition etwa auch von Charlys Vater?

SOHN:

Nicht direkt. Ich hab ja nur versucht, dir Pietät zu erklären …

VATER:

Danke bestens für diese Erklärung!

SOHN:

Dann mach’s doch besser! Du bist jetzt sowieso dran! Erklär du mir jetzt, was du denkst, was Pietät ist.

VATER:

Wenn ich das erkläre, ist es nicht das, was ich denke, sondern das, was Pietät wirklich ist.

SOHN:

Nun fang doch erst mal an!

VATER:

Pietät ist … also … dir das verständlich zu machen, ist wirklich nicht einfach … Und wozu mußt du das überhaupt wissen?!

SOHN:

Damit wir weiterreden können, natürlich!

VATER:

Daran bin ich ja gar nicht interessiert!

SOHN:

Aber ich.

VATER seufzend

Also – Pietät ist zum Beispiel, daß man über einen Toten nichts Schlechtes redet.

SOHN:

Du meinst, wie bei Tante Gerdas Beerdigung? Daß da keiner gesagt hat, wie ihr euch alle immer über sie aufgeregt habt?

VATER bockig

Ja, zum Beispiel. Es ist eine stillschweigende Übereinkunft, daß man Verstorbene in Frieden ruhen läßt. Schließlich können sie sich nicht mehr verteidigen …

SOHN:

Als Tante Gerda noch gelebt hat, konnte sie sich auch nicht verteidigen.

VATER:

Wieso denn nicht?

SOHN:

Weil ihr nie zu ihr