Paradies - A. L. Kennedy - E-Book

Paradies E-Book

A. L. Kennedy

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Beschreibung

Trinken ist das Paradies, Trinken ist die Hölle Das Paradies ist Hannah Luckraft nicht fremd: Einen Hauch davon spürt sie auf der Haut ihres Liebhabers und in jedem Drink, den sie zu sich nimmt. Hannah Luckraft ist Ende dreißig und Alkoholikerin. Ihr Leben ist alles andere als eine Erfolgsgeschichte, und es dämmert ihr, dass es so eigentlich nicht weitergehen kann: Die Anzeichen, dass es ihrer Seele nicht gut geht, mehren sich, und auch auf ihren Körper ist kein Verlass mehr. Der Zahnarzt Robert scheint ihr Liebe und Rückhalt zu bieten; vielleicht ist er aber auch nur ein weiteres Symptom jenes Problems, für dessen Beseitigung es höchste Zeit wird.

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Seitenzahl: 515

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A. L. Kennedy

Paradies

Roman

Aus dem Englischen von Ingo Herzke

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Mutter

 

Mo rùn geal òg

I

Wie es passiert, ist immer eine lange Geschichte.

Und ich beginne sie anscheinend damit, hier zu sein: ein kastenförmiger Raum, zu groß, um behaglich zu sein, die schmutzige Decke gerade niedrig genug, eine allgemeine, aber eindeutige Aura von Klaustrophobie zu erzeugen. Zu meiner Linken eine übergroße Uhr, wie sie gern in Vorschulen und Altenheimen verwendet wird, die Sorte mit großen, schwarzen Ziffern und trickfilmdicken Zeigern, die einem die Uhrzeit praktisch ins Gesicht schreien, ob man sie wissen will oder nicht. Sie zeigt 8 Uhr 42 und schreitet voran. Darüber ein unbestimmt blendendes gelbes Licht.

8 Uhr 42.

Aber ich weiß nicht, was – abends oder morgens. Nach allem, was ich bisher sehen kann, möchte ich in beiden Fällen nicht viel länger als bis 8 Uhr 43 etwas damit zu tun haben.

Mit einer Faust, bemerke ich, umklammere ich einen Schlüssel. Daran hängt ein Anhänger aus fiesem, grünem Plastik, durchscheinend und in eine Form gepresst, die illustriert, wie ein schon lange totes, zu krankhafter Größe aufgeblähtes Ohr aussehen dürfte. Nur, weil es mit so etwas wie einem Stiel, Rippen und Adern versehen ist, erkenne ich, dass es eigentlich ein Blatt sein soll. Ich nehme an, dieser Schlüssel soll mir gefallen und ich soll mich im Zweifel zu seinen Gunsten entscheiden, weil alle Menschen Bäume mögen und folgerichtig auch Blätter. Aber ich mag keine Blätter, auch keine echten.

Ich kann Ihnen aber sagen, was ich mag: was ich sogar anbete – ich sehe es gerade vor mir, und es ist herrlich, das Hübscheste, was ich seit 8 Uhr 41 erblickt habe. Es hat mit meiner anderen Hand zu tun – der blattlosen Hand.

Es ist eine Flüssigkeit.

Ich liebe Flüssigkeiten.

Sie steigt im Becher dem Krug entgegen, im ständig sich erneuernden, malzigen Strudel: Sie fällt vom Krug in den Becher, wie ein Muskel, der sich ständig spannt und wieder spannt, wie das honigfarbene Herz eines endgültig spezialisierten Tieres. Sie glitzert und ergießt sich natürlich – ein Getränk gießt sich ein, eilt ins Glas, um einen Durst zu lindern, so, wie es soll. Ich stelle den Krug ab und hebe das Glas, so, wie ich soll.

Ich nehme an, es ist mit einer Art Apfelsaft gefüllt, und bei näherem Hinsehen stelle ich fest, dass es stimmt – nicht sehr angenehm, aber nass und notwendig. Die Luft und daher auch mein Mund schmecken momentan nach billigen Reinigungsprodukten, unglücklichen Leuten, einhundert Jahren hartnäckigen Zigarettenrauchs und Urin, in dem kleine Kinder liegen gelassen werden. Das heißt, ich brauche mein Getränk. Und außerdem habe ich tatsächlich, wenn ich darüber nachdenke, einen furchtbaren Durst.

»Furchtbares Wetter?«

Ich schlucke Fruchtersatz, nicht einmal aus Konzentrat hergestellt, also kann ich kein Wort von mir gegeben haben – ich habe nichts gesagt.

Furchtbarer Durst: furchtbares Wetter – doch das Echo ist zufällig, ich müsste schon ziemlich paranoid sein, um etwas anderes zu glauben. Dennoch kommt mir die Bemerkung wie ein Eindringling vor – als hätte sie Zugang zu meinem Schädel –, und so drehe ich mich um, ohne auch nur ein Lächeln vorzubereiten, und entdecke die verantwortliche Person direkt hinter mir: ein zotteliger, rötlich blonder, herumlungernder Mann. Er hat halblange, gelbliche, lockige Haare, die in seiner Jugend vielleicht mal niedlich aussahen, sich aber inzwischen zu einer fusseligen Peinlichkeit gelichtet haben. Ich kann mir beinahe vorstellen, wie er jeden Abend darum betet, über Nacht kahl zu werden. Bisher hat Gott sich nicht gnädig gezeigt.

Fusselkopf versucht, forschend zu schauen, auch wenn er nichts weiter sagt und ich ihm weder in die Augen sehe noch ihn sonst irgendwie ermutige. Er ist so jemand, der Hobbys haben könnte: traurige Hobbys, über die er reden möchte.

Ich sehe mich rasch um und entdecke kein Fenster, was seine meteorologische Unsicherheit erklären könnte. Keiner von uns beiden kann eine Ahnung haben, was das Wetter da draußen gerade treibt. Andererseits macht Zottel den Eindruck, als sei er ständig unsicher: Möglicherweise hat er schon einen Blick auf die Welt außerhalb dieses Raumes geworfen und hat tatsächlich im Voraus Kenntnis von den herrschenden Wetterverhältnissen – Monsun, Sandstürme, Schneeregen – und hofft einfach, dass ich seine Beobachtungen bestätigen werde.

Ich habe natürlich keinerlei Kenntnisse im Voraus, keine Spur.

Hinter uns beiden ist ein nachgemachter Karren aufgebaut – offenbar aus Edelstahl, dennoch mit einem damenhaften Baldachin und üppigem Chintz-Volant versehen. Darin erkenne ich flimmernde Hitzestrahler und Tabletts voller orangefarbener, brauner und grauer Dinge, die Essen sein dürften, nehme ich an. Das Ganze riecht nach nichts als Langeweile und vielleicht noch nach altem Fett.

»Wirklich schrecklich … Oder?« Er versucht es noch einmal: Vielleicht jammert er noch übers Wetter, vielleicht ist er einfach depressiv, mich kümmert es im Grunde wenig.

»Widerlich.« Ich nicke und wende mich ab.

Aber Zottel muss noch einmal nachhaken. »Tchssss …« Er scheint das alles sehr persönlich zu nehmen, was es auch sein mag. Und ich bemerke, dass in den huschenden Blicken, die er mir hin und wieder zuwirft, eine leichte Erwartung liegt. Könnte sein, dass er mir schon bald Kopfschmerzen macht.

»Ffffmmm …« Er nickt, als hätte sein Geräuschrepertoire außerhalb seines Kopfes irgendeine Bedeutung.

Immerhin kann ich nicht leugnen, dass er außerdem Englisch spricht, jedenfalls beinahe – das ist ein Hinweis. Das bedeutet, dass ich wohl annehmen kann, mich in einem Hotel in einem englischsprachigen Land zu befinden. Oder ich bin nur von Fusselkopf abgefangen worden, der selbst Englisch spricht und geraten hat, dass ich es ebenfalls tue, und könnte ebenso gut sonst wo sein.

Inzwischen hängt er immer noch unentschlossen im Hintergrund, und ich hoffe sehr, dass sich das nicht zu einer eigenartigen Demonstration langlebiger nationaler Solidarität auswächst. Um ihm auf den Weg zu helfen, versuche ich, abweisend zu klingen, obwohl mir nicht klar ist, was ich eigentlich abweise: »Grauenvoll. Beinahe erschreckend.«

Das scheint zu funktionieren. Er weicht einen Schritt zurück, noch einen, und tritt niedergeschlagen den Rückzug an. Ich glaube, sicher annehmen zu können, dass unsere Unterhaltung beendet ist.

Um mich herum beugen sich verschiedene Gruppen und Einzelpersonen über Schalen mit Frühstücksflocken, Teller voller glänzender Dinge, zusammenfallende Brötchen. Der Teppich ist großzügig mit einer Art Brotschuppen bestreut: Sämtliche Tische sind ebenfalls vollgekrümelt, dazwischen steht in eingedrückten Vasen unglaubwürdiges Blattwerk. In unschönen Abständen hängen an den Wänden Reproduktionen alter europäischer Werbeplakate: ein britisches Hotel also. Dieses Ausmaß an Grausigkeit wird nur auf den Britischen Inseln erreicht. Und mit Sicherheit ist dies das Frühstück. Also: 8 Uhr 44, nein, 8 Uhr 45 am Morgen, Frühstück in einem billigen britischen Hotel.

Ich bin zu Hause. Vielleicht.

Mit dem Rücken zur Wand stochern eine schreiende Ehefrau und ihr unhörbarer Ehemann in Pilzen und Würstchen herum. »Wir müssen uns auch einen Gasgrill besorgen. Das Essen bei ihnen war das herrlichste, das ich je gegessen habe, das herrlichste. Das war das herrlichste Essen.« Ihr Partner kaut und kaut, während ich mir den feiner und feiner werdenden Brei, den er dabei produziert, nicht vorzustellen versuche. »Und dieses kontinentale … kontinentale … kontinentale …«

Kontinentale, was? Bettlaken? Frühstück? Liebesnest? Sprachprogramm zum Selbstlernen?

Sie wird nie zum Ende kommen, ich werde es nie erfahren, er wird nie aufhören zu kauen – ich weiß es. Ich möchte gar nicht daran denken, wie sie frei und ungehindert den Globus umkreisen und überall Menschen in den Wahnsinn treiben – bis die verzweifelt in den Gasgrill flüchten. Ich fülle mein Glas aufs Neue und konzentriere mich.

Dann erinnere ich mich mit schmerzhafter Klarheit an einen Steward, der die unruhige Perspektive eines Flugzeuggangs verdeckte und seine Arme durch die üblichen Sicherheitsbelehrungen tanzen ließ: die Sauerstoffmasken, zunächst für einen selbst, bevor man sie seinen nach Luft schnappenden Kindern reicht, die Leitlichter am Boden, die einen durch Qualm und Dunkel locken sollen. Er hatte Spaß an der Sache und schwitzte nur ein klein wenig von all den ausholenden Bewegungen, mit denen er den beruhigenden Text begleitete. Dann versuchte er, seine Rettungsweste – Nur zu Demonstrationszwecken – anzulegen, und scheiterte grandios.

Ich sah ihm zu, konnte nicht anders, wie seine eben noch flüssigen Handbewegungen ins Stottern gerieten, wie das mit Gummi beschichtete Gelb zerknautschte und immer weniger hilfreich aussah, eher wie ein schmuddeliges Lätzchen. Als er eigentlich einen festen Doppelknoten an der Hüfte schlagen sollte (um dann zur Demonstration der aufblasbaren Kammern, der praktischen Notpfeife und der netten Signallampe zu schreiten), verknäuelten sich die Leinen auf perverse Weise, und je heftiger er daran riss und beruhigend lächelte, desto mehr hakte und klemmte alles. Da ließ er den Kopf sinken und begann, ernsthaft mit seiner Weste zu kämpfen, das Blut stieg ihm vom Nacken ins Haar empor. Inzwischen hatten sich richtige Knoten gebildet, seine Finger krabbelten feucht und machtlos um sie herum. Einen Atemzug lang schaute er hoch, und ich grinste ihn an – welcher Gesichtsausdruck war sonst möglich als ein entschlossenes, ermutigendes Grinsen? –, und dieser Augenblick stellte klar, wir wussten beide, dass er jetzt einen echten Notfall vorführte. Genau so würden wir in Panik geraten, uns verheddern und zu lange brauchen, wenn die Maschine abstürzte. Genau so wären wir im Dunkeln gefangen und würden uns ungeschickt abmühen. Genau so würden wir umherstarren, während das Grauen gegen unseren Willen zuschlug. Genau so würden wir ins Wasser stürzen und spüren, wie jede Spur von Schutz und Sicherheit ganz einfach abriss und davontrieb. Er zeigte uns, wie wir sterben würden.

Die Demonstration ging zu Ende, doch er blieb, wo er war, von sich selbst verwirrt, fast in Tränen, die Weste immer noch um sich geschlungen, schief und falsch zusammengeschnürt.

Das ist eine frische Erinnerung, sie schmeckt nach Nähe.

Und wieder grinse ich entschlossen und denke, dass ich irgendwo gewesen sein muss und nun zurückkehre, und diese Information ist neu und wichtig und ein Grund zur Freude.

Eine der vielen Freuden des Vergessens ist, wie wir alle wissen, das Erinnern. Man rennt von einem Zimmer ins andere und kann sich nicht vorstellen, wo man am Abend zuvor die Schlüssel hingelegt hat: Ohne sie ist man ans Haus gefesselt. Unterm Bett, in der Besteckschublade, hinterm Scotch, hinter den Schuhen, in den Taschen eines jeden Kleidungsstückes, das Taschen hat, im Mülleimer, in der Biotonne, im Brotkasten: Man hat jeden Winkel panisch abgesucht. Man sitzt verzweifelt auf seinem Bett, weiß nicht, wer den Zweitschlüssel hat und ob der Betreffende noch gut auf einen zu sprechen ist, und dann – streift die Hand sacht über den wunderhübschen Metallhaufen, die schwere kleine Schlüsselspinne, die Zugang zu allem verspricht. Den ganzen Vormittag haben die Schlüssel auf der Bettdecke gelegen und einem jedes Mal zugezwinkert, wenn man vorbeigelaufen ist. Aber jetzt hat man sie endlich und ist glücklich, viel glücklicher, als wenn man sie ganz ohne Verwirrung dort aufgegriffen hätte, wo sie immer liegen.

Heute Morgen ist ganz klar, dass mir mindestens ein kompletter Tag abhandengekommen ist, man kann sich also vorstellen, wie entzückt ich bin.

Aber immer noch durstig.

Immerhin habe ich schon ein gefülltes Glas an mich gebracht – wahrscheinlich 300 Milliliter, vielleicht sogar ein Tropfen mehr. Ich habe zwischen Flüssigkeitsoberfläche und Glasrand einen manierlichen Abstand gelassen – alles andere ist asozial und erregt Aufmerksamkeit –, doch selbst wenn der Saft bis zum Rand schwappen würde, wäre es noch nicht genug. Ein Liter wäre vielleicht gerade genug, würde vielleicht den Anfang einer Erfrischung bedeuten, ein Liter und kein bisschen weniger. Ich muss dieses Glas also im Stehen austrinken, nachschenken, austrinken, wieder nachschenken, mich dann in eine geschützte Ecke setzen und den Flüssigkeitshaushalt ausgleichen. Dazu muss man ungestört sein. Ich nehme an, dass es sich hier um eine Art rollendes Büfett von der üblichen Sorte handelt – Nimm, so viel du kriegen kannst – und dass niemand etwas gegen nackten Appetit einwenden wird.

Wie sich herausstellt, liege ich nicht falsch.

Ich umklammere Glas Nummer vier, durchwandere die Ruinen und murmele vor mich hin, halte Ausschau nach einem erträglichen Sitzplatz. Plötzlich scheint der Raum vollgestopft mit Menschen, nirgends ein freies Plätzchen.

Vielleicht esse ich später ein wenig Toast, wenn es Toast gibt. Vermutlich verfüge ich über Geld, um ihn zu bezahlen, es ist unwahrscheinlich, dass ich andernfalls hierhergekommen wäre.

»Äh …?« Schon wieder. Fusselkopf wedelt mit einer Hand auf enervierende Weise über einem leeren Stuhl. Dem einzigen leeren Stuhl in Sicht. »Ä-äh …?« Er versucht, mich mit diesem einen traurigen Vokal anzulocken.

Ich könnte einfach stehen bleiben.

Rechts und links von ihm lauern ganz offensichtlich seine Kinder: ein mürrisch blickendes Mädchen von vielleicht acht Jahren und ein kleinerer, dunkelhaariger Junge. Zum Glück hat keiner der beiden seine Haare geerbt. Sie scheinen beide ganz versessen darauf zu sein, den Inhalt verschiedener winziger Marmeladenpackungen auszudrücken und mit der Soße dann wahllos Gegenstände zu beschmieren.

Ich könnte auch zurück zum Fruchtsaft flüchten.

Ich könnte einfach wegrennen.

»Sie stören uns nicht. Wirklich nicht. Ist schon in Ordnung.«

»Ich werde Sie stören.«

»Werden Sie nicht.«

»Ich glaube schon.«

»Ne-ein.«

Die Kinder verlieren das Interesse daran, den Milchkrug zu besudeln, das Mädchen lutscht an ihrer Handfläche und sieht mich abschätzig an.

»Vielleicht einen Augenblick.« Ich weiche den schlimmsten Schlieren aus. »Sind wie Pickel, stimmt’s?«

Vater Zottel schluckt eher unglücklich.

»Die Marmeladenpackungen – wenn man sie ausdrückt, dann ist das wie … na ja, ein bisschen wie …« Ich gebe auf, nippe schweigend an meinem Apfelsaft. Fünf oder sechs Schluck, und mein Frühstück ist vorbei. Außer dass ich mich immer noch unterversorgt fühle, irgendwie fehlen noch ein bis drei Gläser.

»Hiii-HA. Hiii-HA.« Natürlich hat er ein abnormes Lachen, warum sollte er normal klingen? Wie oft kann er bei einem Leben wie dem seinen wohl lachen? »Pickel. Hiii-HA.«

Jedenfalls ist es ein hässliches Lachen und sollte gestoppt werden. »Sie … brechen also auf?«

Er wird wieder ernst, ist leicht errötet und sagt leise, »Wir kommen zurück.«

»Aha.«

Der kleine Junge tippt mich unterm Tisch an, und seine Hand klebt eindeutig, als er sie wieder wegnimmt. Ich trage eine Jeans – die neu aussieht –, eine neue Jeans und ein T-Shirt. Meine Unterarme sind leicht gebräunt. Der Junge versucht es wieder. Ich schenke ihm meinen besten geduldigenoffenenundlebenslustigen Gesichtsausdruck. Früher oder später wirkt der immer. Ich bin ein Mensch, mit dem andere schnell warm werden – alle ohne Ausnahme werden warm. In einem Film würde meine fehlende Erinnerung bedeuten, dass ich eine Killermaschine bin, von schrecklichen Regierungsbehörden geduldig ausgebildet, und dass sich meine Amnesie bald schon in einem Blutbad, in gewissenlosen Kampfhandlungen und brennenden Autos auflösen wird. Aber ich weiß, dass ich keine wie immer geartete Maschine bin. Ich bin ein menschliches Wesen, ein richtiger Mensch. Und ich bin sympathisch – fast unnatürlich leicht zu mögen. Der Junge wird angesichts meiner Aufmerksamkeit schüchtern, fühlt sich aber nicht unwohl. Das Mädchen starrt mich mit heftigem Grimm an. Bei ihr würde es länger dauern.

»Amelia. So wollen wir uns doch nicht benehmen.«

»Schon in Ordnung. Nicht schimpfen. Vielleicht ist sie müde. Nicht an Fremde gewöhnt.« Ich schütte den letzten Schluck Saft hinunter und bereite mich darauf vor, zu verschwinden – vielleicht habe ich ja irgendwo ein Zimmer mit anderen Vorräten und ohne Marmelade. Vater Zottels Ohren sind beinahe scharlachrot – offenbar hätte er gerne höfliche Kinder, ein bewundernswerter Zug, aber man kann solche Hoffnungen auch übertreiben. Er ist jetzt beinahe wütend, will sich unbedingt aufregen, also beruhige ich. »Amelia. Was für ein schöner Name.«

Daraufhin wirft mir das Mädchen einen leicht verletzten Blick zu und starrt die Tischdecke an. Sie hat also erwartet, dass ich ihren Namen kenne. Sie hat erwartet, dass ich ihn behalten habe. Wir sind uns also schon begegnet.

Auf dem Flug? Auf dem Flughafen? Im Hotelfoyer? Um 8 Uhr 35?

Ich entsinne mich eines Flughafens, wo ich in üblicher Manier herumtrottete und darauf wartete, anderswohin abzureisen – in einem Plattenladen Zeit vertrödelte und die DVDs durchgehe.

»Sagen Sie mal, Lesbische Schlampen beim Sex – worum geht es da?«

Der Mann am Tresen, schläfrig, voll mit Drogen oder tödlich gelangweilt: »Hm?«

»Lesbische Schlampen beim Sex – klingt ein bisschen vage. Ich will ja schließlich nichts kaufen, wo ich mir nicht sicher sein kann. Kommen da Cembalos drin vor? Oder Schlittschuhlaufen? Klappstühle? Gibt es Figuren, die Gedächtnisverlust vortäuschen?« Ich war in Plapperlaune, vergnügt und auf der Suche nach einem Kumpel, mit dem ich herumalbern konnte.

Der Mann am Tresen war nicht mein Kumpel. »Sie wollen sie nicht kaufen.«

Kaum hatte ich den Mund aufgemacht, wurde mir klar, dass er mein Geplapper womöglich als eine Art Anmache missverstand, was es nicht war, ganz und gar nicht.

»Natürlich will ich sie nicht kaufen – wo ist denn da das Geheimnis, der Raum für Fantasie?«

Er reagierte jedoch nicht, als würde er verführt – eher so, als sei er kaum noch am Leben. »Sie wollen sie nicht kaufen.« Er war monoton in jeder Hinsicht.

»Nein. Ich habe nicht die Absicht, etwas zu erwerben.« Und ich begab mich fort, ehe ich noch etwas anderes sagen konnte.

Oder.

Ich sagte tatsächlich, »Diese DVD würde ich nicht kaufen, wenn es die letzte auf dem Planeten wäre.«

Und dann sagte er, »Wissen Sie, was Sie können.«

Und dann sagte ich, »Mich selbst ficken und ein Video davon drehen, das Ich ficke mich selbst heißt.«

Ich kann mich an beide Enden erinnern, was die Sache schwierig macht. Aber ich glaube, das erste überzeugt mich mehr. Ich glaube, ich sagte ihm, dass ich keine Absicht hätte, etwas zu erwerben, und ging. Wie auch immer es sich abspielte, zu dem Zeitpunkt waren jedenfalls keine Kinder in meiner Nähe – ich hätte niemals so anstößige Dinge gesagt und über sexuelle Handlungen gesprochen, wären Minderjährige dabei gewesen. Ich habe Prinzipien.

»Amelia?« Ich versuche, wie jemand auszusehen, der nicht an schlimme Wörter denkt, und mich mit der Tochter zu versöhnen, und das ist nett von mir, denn ich habe ihr eigentlich nichts getan. Sie hat mich womöglich für eine Freundin gehalten, und ich war anscheinend etwas unfreundlich, vergesslich, mehr nicht. Mein Bruder hasste solches Benehmen, als er in ihrem Alter war. Ich auch. Es ist nichts Ernstes, aber trotzdem: »Amelia, ich hoffe, du hast eine angenehme Heimreise. Freust du dich darauf?«

»Mummy gefällt es zu Hause besser.«

»Ah.« Gott sei Dank, sie haben eine Mutter: Sie sind nicht völlig von Vater Fusselkopf abhängig. »Na, das ist doch gut.«

An dieser Stelle kann er nicht an sich halten und muss die Unterhaltung unterbrechen. »Ihre Mutter ist noch auf dem Zimmer. Müde.«

Das ist doch verständlich, ich wäre ständig völlig fertig, wenn ich mit dir verheiratet wäre. »Reisen strengt an.«

Am Essenskarren schaufelt eine Frau sich etwas auf, was nach Rührei aussieht. Selbst von hier kann ich die Klumpen zittern und glitschen sehen. Sie machen mich nervös, wie sie es eigentlich nicht sollten – Eier sollten eigentlich keine besondere Macht über mich besitzen –, und ich erkenne, dass mich ein Gefühl überkommen wird, etwas Unangenehmes, ein Zwischenfall. Etwas droht, über mir zuzufallen, was ich mir nur als einen riesigen grauen Deckel vorstellen kann. Das bedeutet, dass ich nur allzu bald weinen könnte oder instabil werde oder mich plötzlich übergeben muss. Zweifellos lässt mein Kopf mich wieder einmal im Stich. Es wird Schmerzen geben: So ist es immer; und zwar böse, unvorhersehbare Schmerzen: So sind sie immer. Nach so vielen Jahren erkenne ich die Vorzeichen.

Ich stehe vorsichtig auf, und der Junge schaut mich an, eindeutig trübselig, weil ich gehe. »Auf Wiedersehen, Du.« Keine Ahnung, wie er heißt. »Auf Wiedersehen, Amelia.« Amelia tritt in die Luft und ignoriert mich. »Auf Wiedersehen …« Ich mache einen Schritt und stoße gegen eine mich aufhaltende Hand – wer sonst als ihr Vater, der aufgestanden ist und von einem Fuß auf den anderen zappelt. Er müsste doch wissen, dass er so etwas nicht tun darf; nicht jetzt. Ich dränge, und mein Kopf drängt ebenso. Zottel wandelt seine Geste in ein halbes, leicht flehendes Händeschütteln um, und ich, höflich bis zum Schluss, ergreife seine glitschigen Finger und seine noch glitschigere Handfläche. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen, Hannah.«

»Ja.« Wir haben uns also alle namentlich vorgestellt, wie ungeheuer gesellig und zivilisiert. »Ich bin dann weg.«

»Schön, Sie kennengelernt zu haben. Tut mir leid wegen der äh … Kinder.« Er leckt sich mit einem eigenartigen kleinen Kratzen über die Lippen, als sei er aus seltsamem Material gemacht.

»Ja.«

»So sind sie eben, was?« Er scheint den grundlegenden Sinn des Verabschiedens nicht zu begreifen. »Na ja. Hmm. Meine Güte … Wir könnten doch …«

In tausend Jahren nicht. »Ja.«

»Guten Heimweg.«

»Ja«, nicke ich – und löse damit ein Gefühl von gleitenden Schichten aus, den Eindruck, schlecht aufgestapelt zu sein –, der Kopf wird empfindlich, ich bewege ihn nicht weiter, sondern halte still – ringe mir ein Lächeln ab –, und endlich lockert er zunächst seinen Griff, lässt dann ganz los.

»Auf – äh … Wiedersehen.«

Obwohl ich befürchte, dass er gleich wieder zuschnappt.

Ich ziehe mich so geschmeidig wie möglich zurück. »Auf Wiedersehen … zusammen. Wirklich.« Ich versuche, den Kopf gerade zu halten, stelle mir nicht vor, wie meine Persönlichkeit an den Seiten überschwappt und mir am Kinn herunterläuft.

Und das trägt mich an einer letzten Ansicht von Zottels irgendwie gestraftem Nachwuchs vorbei und schickt mich auf den schwankenden Weg in Richtung Tür, hinaus, einen Gang entlang (Gänge führen zu Treppen und Aufzügen, sind meine Freunde), durch eine Feuertür in ein Foyer, das durch verschiedene Menschenschlangen kompliziert wird – nicht sehr hilfreich –, aber ja, tatsächlich, da ist ein Fahrstuhl.

Als ich stehen bleibe, trägt die Bewegungsenergie meine Gedanken weiter voran, und sie drücken mir von hinten gegen die Augen, lassen sie feucht werden. Ich hebe meinen Schlüssel, um ihn genauer betrachten zu können – er ist mit einer Kette an Blatt Nummer 536 befestigt: fünfter Stock also.

Und glücklicherweise ist außer mir niemand in der Kabine, als die Türen zusammenrauschen und mich in der unangenehm emporsteigenden Kiste einschließen. Die mich umgebenden Wände sind von Hüfthöhe aufwärts verspiegelt, um mehr Raum vorzutäuschen, was Klaustrophobikern sicher entgegenkommt, aber – den Gesetzen der Physik entsprechend – eine grauenhafte Folge hat: Ich kann mich selbst sehen. Natürlich nicht nur ein Selbst: Aus einigen besonders katastrophalen Winkeln spiegeln mein rechtes und mein linkes Selbst sich gegenseitig gnadenlos. Ich kann auf beiden Seiten sehen, wie mein Kopf in einem wogenden Korridor schrumpfender Wiederholungen immer kleiner wird, bis ich zum Schluss zu einem letzten, rosafarbenen Lichttropfen zusammenlaufe. Das tut weh.

Es ist nicht fair. Ich wollte doch nur Zimmer 536 finden und mich um meinen Kopf kümmern, und jetzt bin ich in diesem dreidimensionalen Memento Mori gefangen – ich starre die Ewigkeit an, die heulend vor mir flüchtet, das Vorher und Nachher (als wäre ich Statistin in einem richtig sadistischen kurzen Lehrfilm) und das, was ich gern als mich selbst betrachte, sind in diesem einen glotzenden Augenblick gefangen – und damit nicht genug. Schaut mich an – dies ist der einzige Moment, in dem ich zu erkennen bin, wo ich einen Sinn ergebe –, darüber hinaus bin ich nur noch verzerrt, und dann verschwinde ich ganz. Was ist das hier – ein Jesuiten-Aufzug? Ich bin momentan nicht zu Metaphysik fähig. Herrgott, ich wollte nur die Treppe vermeiden. Ich wollte nicht mit Gewalt daran erinnert werden, dass ich nicht sterben möchte, niemals, nein, vielen Dank. Mir ist nicht wohl, und ich habe Angst, und hier drin ist weder für das eine noch für das andere genug Platz.

Ich bin also nicht gerade in perfekter Verfassung, als die Fahrstuhltüren sich mit einem schadenfrohen Ping aufschieben. Mein Schweiß kann sich im Gang wieder abkühlen, wo kleine Metallschildchen mit Pfeilen auf mich warten und hypothetische Richtungen vorschlagen.

543–589, hier entlang; 502–527, dort entlang; 518 da drüben.

Ich eile in verschiedene Sackgassen, finde Flure, die sich in den eigenen Schwanz beißen, stoße auf Wandschränke und Notausgänge, während der Boden unter meinen Füßen sich allmählich zu neigen beginnt, als sei ich in einem grausigen U-Boot.

Die Welt kann nicht so sein wie das hier. Ich weigere mich, das zu akzeptieren.

543–589, hier entlang. Aber vorhin waren sie in die Richtung.

Ich verneine die Existenz dieses Hotels in seiner gegenwärtigen Form. Ich verneine die Existenz dieses Hotels in seiner gegenwärtigen Form.

528, 529, 530 … das ist ziemlich ermutigend, jetzt habe ich es wohl, kann nicht mehr weit –

500.

Arschlöcher.

Ich verneine die Existenz –

Ich werde mich nicht übergeben.

Ich verneine die Existenz dieses Hotels –

533, 534 –

in seiner gegenwärtigen Form.

Ich verneine

535 … 536.

536.

Also gut.

Langsam. Langsam darauf zugehen, sie könnte sich bewegen. Lass die Schlüsselkette nicht klimpern, stoß keine plötzlichen Schreie aus, aber, sobald ich so weit bin … den verdammten Knauf festhalten, fest zupacken, Schlüssel ins Schloss, richtig rein, rein, okay. Und. Drehen. Alles drehen.

Das Zimmer willigt ein und lässt sich öffnen und ist tatsächlich mein Zimmer – da liegt meine Reisetasche auf dem Fußboden, der Reißverschluss offen, und das ist mein eigener, mein persönlicher Reisewecker, der streng neben dem rötlichen Bett tickt: dem weichen, dem horizontalen, dem ersehnten Bett. Nichts ist besser, als verwirrt, unglücklich und sehr müde zu sein und dann zu entdecken, dass man ein Bett hat.

 

»Könnte ich, ahm, … ich habe Zimmer fünf drei sechs, und ich dachte, Sie könnten mir sagen, ob ich heute abreise … fünf … sechsunddreißig … ja, genau, drei sechs. Fünf drei sechs.«

Ich gebe zu, ich hatte erwartet, dass jemand, der in einem Hotel arbeitet, vielleicht ab und zu in der Lage ist, eine Zimmernummer aufzunehmen, aber ich werde jetzt nicht schnippisch, das wäre nicht sehr konstruktiv und würde meiner Stimmung nicht entsprechen. Ich habe zwei gänzlich leere Stunden verschlafen – beinahe zweieinhalb –, ich nehme an, ich habe auch mein kopfbedingtes Unwohlsein überschlafen und die bedrohlichen Gedanken an Tod und Verderben. Inzwischen geht es mir ganz gut, und wäre ich ruhiger gewesen, hätte ich auch vorhin gewusst, dass der einzige Grund für meine Beschwerden Müdigkeit war.

Während ich mich also nun besänftigen lasse, tönt ein dumpfes Klacken aus dem Hörer – vielleicht spielt die Empfangsdame mit ihrem losen Gebiss. Sie murmelt einen Namen.

»Entschuldigung, wer? … Oh. Und ich muss um zwölf mein Zimmer räumen? … Um elf?«

Warum tun sie das? – Zwölf ist ja schon schlimm genug, aber heutzutage will einen jeder schon um elf wieder in den Schnee hinausjagen. Versuchen Sie mal, vor siebzehn Uhr einzuchecken: Da bekommen Sie erst mal eine Standpauke, dann wird Ihr Gepäck bis zum Einbruch der Dunkelheit in einem Schrank verstaut. So ist das nämlich. »Könnten Sie dann wohl so außerordentlich freundlich sein und mir das Zimmer für einen weiteren Tag geben? … Na ja … nein, nicht geben. Bloß … das übliche. Sie haben doch meine Kreditkarte? Wirklich?«

Gut. Ein gutes Zeichen. Barzahlung ist ein schlechtes Zeichen – Kreditkarte ein gutes. »Dann ist also alles ganz in Ordnung, ja? Alles in schönster Ordnung.«

Über den Fenstern erklingt angestrengter Donner, wie ein breiter Stein, der über meinem Kopf entlanggerollt wird. Ich stehe vorsichtig auf und untersuche die Aussicht.

Taubenblaue Wolken mit goldenen Rändern, dahinter Lichtstelzen. Weiter vorn ein dicker Betonturm, gekrönt vom Eislöffel einer sich drehenden Radarantenne, ein Rollfeld und der diagonale Aufstieg eines holzkohlegrauen Flugzeugs. Ein weiterer Stein grummelt über meinem Kopf.

Und das ist beunruhigend. Ich könnte schwören, dass ich auf dem Heimweg bin, warum bin ich dann noch am Flughafen? Auf dem filzigen, graubraunen Teppich wartet vorwurfsvoll meine Reisetasche – sie kann meistens alles erklären.

Zerknautschter Inhalt, die Kleider sind getragen. Immerhin scheinen es nur meine eigenen zu sein, und

Ich muss mich sofort übergeben.

Gott sei Dank ist das Zimmer winzig – was bedeutet, dass die Zimmertoilette nicht weit ist.

 

Das kommt vom Schock, der bringt das System aus dem Gleichgewicht, und es wirft einen immer aus der Bahn, wenn man nicht genau weiß, wo man ist. Oder, in diesem Fall, wo ich bin. Oder, genauer gesagt, warum.

Aber mit einem Spritzer kalten Wassers im Gesicht nähere ich mich wieder einer gewissen Klarheit und fühle mich gut.

Nein. Nicht gut. Ich habe mich geirrt. Das war ein Irrtum.

Denn meine Stirn fängt an, sich zu drehen – das ist die Reaktion auf die Kälte oder das Wasser, auf den heftigen Spritzer. Ich sehe im Spiegel, dass meine Knochen sich nicht wirklich bewegen, nicht sichtbar, nicht an sich, aber – nichtsdestotrotz – spüre ich, wie sie gegen mein Hirn drängen, sich nach innen und unten stülpen und auf meine Zunge drücken. Im Inneren, wo ich nicht hinkomme, dreht und pulsiert es, und wenn es erst einmal angefangen hat, wird es nur noch schlimmer. Ich bin meinem Kopf also noch nicht entronnen: Er hat nur gewartet, bis ich wach bin, um sich bemerkbar zu machen.

Also gut – mach da oben, was du willst, lauf Amok. Ist ja nicht so, als würden wir einander nicht kennen. Aber glaub ja nicht, dass wir Freunde sind oder dass du willkommen bist. Ich weiß immer noch genau, wie ich dich austricksen kann.

Also zurück zur Reisetasche und nach den zerbrechlichen Gegenständen tasten, die man in Pullover wickelt, den besonderen Dingen, die man mitnehmen muss, damit sie einem Gesellschaft leisten. Es ist nicht so toll, sich beim Suchen vorzubeugen, es fördert meinen Gleichmut nicht gerade, aber das ist ein notwendiges Übel, und am Ende wartet eine Belohnung.

Ja. Als Erstes taucht etwas mit dem Namen Affentaler auf, das gerade in eine kleine Flasche passt, die wie eine flache, schwere Träne aussieht – eine Karte auf der Rückseite zeigt, wo sie herkommt: ein mäandernder Fluss, die Stadt Straßburg markiert, eine Ahnung von fruchtbaren, friedvollen Ebenen. Die Flasche ist voll, was nie ganz schlecht ist, aber es sind nur 250 Milliliter und nur 11,5 Prozent. Was habe ich mir bloß dabei gedacht? Das ist ja praktisch Fruchtsaft, verdammt: Wem hat so was je geholfen?

Aber dann, aber dann, Gott segne mich – wie gern ich es mag, wenn ich gut vorbereitet bin.

 

ORIGINAL

GRANT TO DISTIL

1608

 

Und Gott segne das metrische System, denn 700 Milliliter sind so viel geräumiger und erfreulicher als ein Pint.

Bushmill’s, County Antrim, 700 Milliliter, 40 Prozent. Ich meine, was muss man sonst noch wissen? Nicht, dass man die Flasche nicht trotzdem aus Höflichkeit in der Hand dreht, die abgerundeten Ecken liebt, das geschmackvolle Gewicht, den eleganten Schnitt des Etiketts: das Schwarz mit dem Weiß und dem Gold, die zusammen einen Torbogen bilden: eine hohe, schmale Tür nach anderswo.

Und Gott segne die viereckige Flasche, denn sie rollt nicht herum und kommt so zu Schaden.

Ich öffne den Verschluss des Affentalers und erlöse ihn von seinem Leiden. Dann wende ich mich wieder dem Bushmill’s Black Label zu, öffne ihn und lasse ihn zu mir sprechen. Er sagt mir, dass ich bis vor Kurzem mehr als einen Pint delicate grain whiskey besessen habe und dass mir jetzt noch etwas weniger als die Hälfte davon bleibt, die klug, scharf und männlich riecht und mit einem Geräusch, das wie das Husten eines kleinen Hundes klingt, aus der Flasche ins Glas schießt: der wundervolle Flaschenhusten.

matured in oloroso sherry casks – das ist nichts als Melodie: von innen wie von außen.

Und man beachte, dass ich mir die Mühe mache, den Whisky einzuschenken, obwohl ich es nicht müsste, denn niemand kann mich sehen. Es ist wichtig, dass ich zivilisiert bleibe, egal, was geschieht. Der verlässlichste Maßstab eines Menschen ist sein Verhalten, wenn er allein ist, wenn er sich nicht verstellen muss – bleibt er standhaft, wenn er für sich ist, oder lässt er sich gehen? Ich nehme mir die Zeit, mich umzusehen, schaue im Badezimmer nach und entdecke ein einziges, in Cellophan verpacktes Plastikglas (eigentlich eher eine Tasse), reiße die Hülle auf und benutze es, wie es jeder Mensch mit Würde sicher tun würde. Ich lasse mich nicht gehen.

Nach 100 Millilitern bricht der gute Schweiß aus, die feinen Perlen, die körperlicher Ertüchtigung folgen, und mein Kopfschmerz hebt sich hinweg wie ein Samthut, lässt mich allein. Mein Magen fühlt sich ein wenig nackt an, ungepolstert, und zuckt ein, zwei Mal leicht, bevor er sich von dem sauberen, medizinischen Biss besänftigen lässt. Dennoch weiß ich, dass es mir gut gehen wird. In Abwesenheit weiterer Schmerzen gehören die nächsten 200 Milliliter ganz allein mir.

Ich lasse mich zum Bett zurücktreiben und lasse mein Zahnfleisch von warmen kleinen Whiskyportionen umspülen: Winzige Schlucke lassen meine Gesichtsknochen zur Ruhe kommen und glätten mein Haar. Gestärkt und sicher liege ich nun also auf der zerknüllten Bettdecke in Rötlichgrau und Blaugrau, der Tag dehnt sich entspannt und sauber vor mir und lockt mich. Ich brauche nicht mehr oder weniger als dies, ich habe das Gleichgewicht in meiner Haut gefunden, was vorher war, ist unwichtig, und was jetzt noch kommen mag, wird mich zum Lächeln bringen.

Denn wenn einem erst einmal der Film gerissen ist, hört es nicht mehr auf, also existieren Vorher und Nachher nicht mehr – man hat die Kunst erlernt, der linearen Zeit zu entkommen. Es dauert ein wenig, sich an die Sprünge und Brüche zu gewöhnen – besonders schwierig ist das Autofahren, zu raten, in welchem Gang man fährt, ob man gerade überholt –, aber das hält einen wach und auf der Hut. Und das ist auch gar nicht so unnatürlich oder schrecklich: Die meisten Menschen überleben nur, indem sie gewisse Dinge ausblenden. Wenn man sie nach ihrem Weg zur Arbeit fragen würde, nach der Farbe der Bussitze oder dem Muster des Büroteppichs, nach dem Namen der Praktikantin, die ihnen den Tee, die Post, die Gehaltsschecks bringt, nach der Zahl der Fremden, die am Abend vor ihnen in der Kassenschlange standen: Sie könnten einem nicht das Geringste sagen. Sie könnten ihr Hirn nicht dazu bringen, sich zu erinnern, und nur, wer ein Ungeheuer wäre, würde sie dazu zwingen wollen. Ein Mensch, der sich wirklich die Zeit nähme, jede elende Einzelheit seines Lebens zu betrachten, würde sofort Erlösung im nächsten ungesicherten Brunnenschacht suchen. Man muss die öden Stellen verschwinden und die harten Kanten verschwimmen lassen: Täte man es nicht, würde man sich verletzen. Ständige kleinere Filmrisse sind also ganz in Ordnung.

Aber nicht genug. Nicht, wenn man erst einmal begriffen hat, dass jede Minute, die gnadenlos der vorherigen folgt, und auch die sechzig Sekunden, die sie braucht, um in der üblichen Weise zu verstreichen, eine völlig unannehmbare Zeitverschwendung sind. Warum nicht nur die Highlights, die Höhepunkte mitnehmen und den Rest überspringen? Warum nicht einen schönen Nachmittag mit wertvollen Menschen in vollen Zügen genießen, während man sich gleichzeitig eines herrlichen Abends entsinnt, den man sich noch zurückgelegt hat, der sich jetzt in rauschendem Strudel enthüllt und seinerseits den Geschmack der aktuellen Genüsse noch verstärkt? Warum nicht zwischen der einen und der anderen Zeit hin und her surfen, zufrieden mit sich selbst als Selbst, als dem einzigen Fixpunkt?

Es braucht natürlich eine Menge Arbeit, um es so weit zu bringen, um seine Persönlichkeit so von den Ereignissen zu befreien. Die meisten Menschen existieren durch das, was sie tun, sie haben die Klarheit verloren, die ihnen einst gestattete zu sein. Ich? – Ich bin total vereinfacht, ich bin destilliert. Bis zum Nichts reingewaschen, bleibe ich immer ganz, wer ich bin, egal, wo oder wann. Ich begreife meine fundamentalen Ursprünge, meine Herkunft.

Ich habe zum Beispiel vom Zeitpunkt meiner Geburt, bis ich siebzehn war, immer im selben Haus gelebt – so eine Stabilität kann man nicht kaufen. So etwas festigt die gesamte Identität. Meine Eltern wohnen beide heute noch in ebenjenem Haus. Wenn heute ein Wochentag ist, wird meine Mutter allerdings nicht da sein, sondern bei der Arbeit in der Kanzlei Busby, MacDonald & Hume – eine Anwaltskanzlei, der, solange man zurückdenken kann, nie ein Busby, ein MacDonald oder ein Hume angehört hat. Und ihre Kanzleiräume sind ganz und gar unspektakulär – ich habe meine Mutter dort oft besucht, habe gehört, wie sie mit ihrer besten und glaubwürdigsten Stimme Anrufe entgegengenommen hat –, eine Stimme, die nicht mit Meinungsverschiedenheiten rechnet, sondern eindeutig von Mitgefühl gemildert ist, von unerwarteter Freundlichkeit. Ich kam direkt aus der Schule und wartete darauf, dass es sechs Uhr würde, Zeit, nach Haus zu gehen, las alte Ausgaben von Scottish Field und National Geographic, bis sie sich wieder entspannt dem Tippen widmete und ich die wunderbare Ökonomie ihrer Handbewegungen beobachten konnte, die Sicherheit, mit der sie den Stuhl drehte und aufstand, ein Dokument in die Hand nahm, das sie angefertigt hatte, und es an der vorgesehenen Stelle ablegte. Es können nicht mehr viele Jahre sein, bis sie in den Ruhestand geht, und ich werde nicht mehr an die Kanzlei glauben, wenn sie sie verlässt. Ich werde mir vorstellen, dass die Wände löcherig werden, die Möbel verblassen und alles so fiktional wird wie Busby, MacDonald & Hume. Der Arbeitsplatz meiner Mutter existiert nur durch sie.

Normalerweise jedoch stelle ich sie mir im Garten vor, wo sie an den Wochenenden oder in den wenigen Stunden am Ende eines Sommertages arbeitet. Wo wir herkommen, regnet es ziemlich viel, aber der August ist meistens schön und prahlt mit plötzlicher Blütenpracht oder anderen ausladenden Vorstufen pflanzlicher Vermehrung. Im August trägt meine Mutter Sandalen, einen weiten Rock und eine Bluse, etwas Zurückhaltendes und Leichtes, immer im selben Stil: ein leichter Anklang an die Fünfziger, ihre Mädchenzeit: gewelltes Haar, dicke Brillengestelle, weiße Söckchen. Manchmal neigt sie sich leicht zu einem Strauch, als würde er ihr etwas zuflüstern, ihr seinen Zustand anvertrauen, und danach atmet sie die Luft darüber ein und schließt die Augen, überlegt. Sie schlendert nicht einfach durch den Garten, sie hat immer etwas vor. Sie beschneidet, gräbt, stutzt, pflanzt, begradigt die Kanten der Beete: Jeder Akt der Gartenpflege wird geheimnisvoll, denn sie vollführt ihn anscheinend ohne jede Anstrengung oder Unordnung, alles erledigt sie mit – nun ja, das einzig richtige Wort ist Anmut. Sie besitzt Anmut. Als ich jünger war, versuchte ich, ihr zu helfen: für sie das Unkraut zu vertreiben; doch mir gelang nie viel mehr, als es ungeschickt abzuschlagen und zu zertrampeln, überall Schmutz und Kratzer. Mit der Zeit wurde ich natürlich sicherer. Ich bin eine Frau und nicht ganz unweiblich, schätze ich; aber schon vor Jahren, als ich noch keine sieben Jahre alt war, erkannte ich, dass ich nie so eine Frau wie meine Mutter werden würde, das bekäme ich nie hin. Sie kann einem wirklich das Herz brechen.

Mein Vater würde mir da wohl zustimmen. Er ist auch Gärtner, aber eher der Gewächshaustyp. Sie hat ihre mehrjährigen Pflanzen, ihre Beete und Sträucher, und er züchtet seine Sukkulenten, Kakteen und Bromelien, hört dabei Radio Four und sitzt in seinen gläsernen vier Wänden, qualmt seine Topfpflanzen ein und starrt vor sich hin. Obwohl er nur sehr selten am Steuer sitzt, betrachtet er die Glaswände wie ein Autofahrer – obwohl man ihn vollständig sehen kann, benimmt er sich, als sei er unsichtbar: Er seufzt, gähnt, kratzt sich, fummelt an seiner Thermosflasche herum, viel ungehemmter, als er das je im Haus tun würde. Mein Bruder und ich haben uns angewöhnt, ihn anzuschauen, ohne ihn zu sehen, und nicht wegen der offensichtlichen Implikation beleidigt zu sein – dass er zu Hause, bei uns, nicht entspannen kann.

Vater wird jetzt zweifellos in seinem Gewächshaus sein. Es ist bloß einen Meter breit und drei Meter lang und vollgestellt mit stacheligen Pflanzen in steinigen Kästen, aber er huscht hinüber, als sei er durch einen glücklichen Zufall einer grausamen Haft entflohen. Wenn seine Kopfschmerzen besonders schlimm wurden, hat er sogar dort geschlafen, wie ich weiß.

»Bist du dir wirklich sicher?«

»Mm-hmm.«

Mein Vater hebt und senkt den Fuß auf der kleinen Pumpe, die Luft in eine faltige Luftmatratze bläst. Eine Art Schwimmhilfe, die ich noch nie gesehen habe und die nach Badespaß aussieht: für Erwachsene ungeeignet.

»Absolut sicher.«

Meine Mutter fragt offensichtlich nicht nur nach der Matratze, und ebenso offensichtlich hat er seine Entscheidung bereits getroffen, diese Diskussion interessiert ihn nicht mehr. Ich habe keine Ahnung, worüber sie eigentlich reden. Vater hat seine sanfte Miene aufgesetzt, wie immer, wenn er gleich nach draußen flüchtet: Er wirkt ganz friedlich, während er – uffha, uffha, uffha, uffha – die Matratze aufpumpt, und Mutter versucht, ihm ins Gesicht zu sehen, aber er scheut vor der persönlichen Auseinandersetzung zurück, hat den Kopf gesenkt und konzentriert sich voll auf seinen Fuß, als sei das Pumpen ein seltsames und daher faszinierendes Phänomen. Eine Haarsträhne ist nach vorn über seine Augen gefallen und lässt ihn jünger aussehen, eher wie meinen Bruder, der schon oben im Bett liegt, weil er jünger ist als ich – aber ich werde ihm später davon erzählen, ich werde ihn wecken.

uffha, uffha

»Also, Peter.«

»Ja, ich weiß.«

uffha, uffha, uffha, uffha

Manchmal hat es den Anschein, als seien meine Eltern schon so lange zusammen, dass ihnen die Worte ausgegangen sind oder dass sie einen Ersatz dafür gefunden haben, den sie untereinander benutzen und den ich nicht hören kann.

uffha, uffha, uffha, uffha

Sie sagen nichts weiter, aber sie runzelt weiter die Stirn und er pumpt, und sie führen mit Sicherheit eine richtige, stumme Unterhaltung.

Mein Vater kniet nieder und löst den Schlauch vom Ventil – es schnauft – und gestattet sich einen Blick nach oben in die Augen meiner Mutter. Und das löst eine Welle der Zärtlichkeit zwischen den beiden aus, die rasch und umfassend ist und sie gleichzeitig mit einer Art Schmerz überspült, den sogar ich spüren kann und den sie zu begrüßen, sogar zu mögen scheinen. Ich habe das Gefühl, dass die Küche um mich herum zu eng wird. Dann berührt sie seinen Kopf, ganz leicht, und er wendet sich zu mir – ich habe keinen Laut von mir gegeben, aber er hat sich wohl erinnert, dass ich da bin –, und er macht diese Bewegung mit den Schultern, sieht einen Augenblick sehr zerbrechlich aus und glücklich verblüfft.

Er braucht eine Weile, die Matratze durch die Küchentür zu zwängen – er hätte sie im Gewächshaus aufpumpen sollen, ich weiß gar nicht, warum er das nicht gemacht hat. Als ich aufhöre, ihm zuzusehen, wie er sich mit der Matratze nach draußen kämpft und sie dann über den Rasen in die Dunkelheit trägt, wo sich sein Versteck versteckt, ist meine Mutter schon irgendwo im Haus verschwunden, und ich bin allein. Ich beschließe, dass ich meinem Bruder doch nichts von der Sache erzähle. Die wichtigsten Teile der Geschichte wären nicht in Worte zu fassen.

Und mein Bruder? Er macht das, was Brüder tun – er macht mich zum Teil einer Familie, nicht zu einem Einzelkind, und das ist wichtig. Frühe Einsamkeit richtet großen Schaden an. So jedoch ist er einer meiner Pluspunkte, und da er vier Jahre nach mir geboren wurde, war er mein erstes Übungsobjekt für das Tragen von Verantwortung. Den größten Teil meiner Kindheit glaubte ich, wir würden sehr lange zusammenbleiben, irgendwann gemeinsam ein Haus kaufen, uns allein umeinander kümmern und viel Spaß haben. So ist es nicht gekommen – was kaum überrascht –, aber es ist schon eigenartig, dass wir uns heute so selten sehen.

Doch ich denke oft an ihn: heute Morgen zum Beispiel, als ich diese Kinder sah, den stillen Sohn. Das Mal davor war, da bin ich fast sicher, in einem Tunnel: Ich saß auf dem dunklen Leder des Beifahrersitzes im Wagen eines Fremden und dachte plötzlich an Simon. Irgendjemand musste mir meine Lage erklärt haben, denn mir war ganz klar, dass meine Reise demnächst losgehen würde, jedoch nicht mit einer Autofahrt, noch nicht gleich. Denn im Moment stand das Auto auf einem schmalen Zugwaggon (bloß eine Plattform mit ein paar flachen Eisenträgern, die ein Dach hielten), und in wenigen Augenblicken würde der ganze Zug zwanzig, dreißig Minuten lang durch einen Tunnel fahren, direkt unter einem Gebirgszug entlangrasen, während ich mich darauf konzentrierte, zu entspannen und Luft zu holen. Danach dürfte ich gehen, meinen Weg allein fortsetzen.

Und das war alles kein Spaß. Ich war plötzlich neben einem fröhlichen Fahrer zu Bewusstsein gekommen, der in irgendwie deutschem Englisch erzählte, dass er seine Frau übers Internet kennengelernt habe – obwohl er gar nicht besonders hässlich oder übergeschnappt war, sodass es wenig glaubhaft klang. Die Frau saß hinter mir, glaube ich, mit noch jemand anderem, einer kleineren Frau mit braunem Haar. Der Zug ruckelte los, und ich dachte über die Unannehmlichkeit meiner Lage und des mir zur Verfügung stehenden Raumes nach, als der Deutsche – oder vielleicht Schweizer oder Österreicher – über den Lärm und das Getöse von draußen rief, dass er auch das Fenster aufmachen könnte, wenn wir wollten. Bevor es sich jemand von uns überlegen konnte, streckte er im Halbdunkel den Arm nach oben und klappte das Sonnendach auf.

Sofort krachte der blanke Horror herein: wirbelnder Druck heftig bewegter Luft, der Gestank gefährlicher Maschinerie, brutaler Schmutz, längst tote Bauarbeiter, verängstigtes Blut: und dahinter dröhnte ein Lärm so laut, dass es schon kein Geräusch mehr war – nur noch Schweiß und eine sich windende Art Furcht. Ich saß in einem stehenden Auto (obwohl das Fahrzeug sich bewegte) und ertrank gleichzeitig in einem Ansturm von Wahrnehmungen, die jeder vernünftige Mensch mit einem ungeheuren Unfall assoziieren würde. Ich konnte nicht umhin, das für ein Zeichen zu halten, für einen Vorboten schrecklicher und unmittelbar bevorstehender Ereignisse.

Der Österreicher/Deutsche/Schweizer lachte die ganze Zeit, und sein Gesicht lag halb im Schatten, halb im fahlen grünen Licht des Armaturenbretts. Ich sah, dass er hin und wieder etwas sagte, doch ich konnte ihn nicht hören, und ich wünschte mir, dass mein Bruder bei mir wäre. Nicht Simon, so, wie er jetzt ist – ich wollte Simon den Kleineren, in seinem knielangen Mantel, in dem er wie ein winziger Geschäftsmann aussah, den Simon, dem meine Mutter jahrelang sehr ordentlich die Haare schnitt, den Simon, dem der Tunnel sehr gefallen und der es mir auch leichter gemacht hätte, ihn zu mögen, oder den Simon, der sich vor ihm gefürchtet und mir deshalb ermöglicht hätte, tapfer zu sein, mich selbst zu vergessen. Den Simon mit den blauen Augen wie meine eigenen.

Weil er nicht da war, löste ich das Problem auf die einzige logisch mögliche Weise. Ich führte hastig mithilfe von Aprikosenschnaps, glaube ich, einen Filmriss herbei: sehr erfolgreich, wie sich herausstellte, denn ich kann mich nicht an das Ende des Tunnels erinnern und auch an keinen weiteren Augenblick mit dem lachenden Schweizer/Österreicher/Deutschen und seinen zwei Mitfahrerinnen. Ich weiß nicht, warum ich bei ihnen saß, wo wir hinfuhren, warum sie mich irgendwann zurückließen oder ich sie – kein Kratzer, kein Fleck beweist, dass sie nicht meine Erfindung, nicht eine besonders grelle Lüge sind.

Mein Whisky ist inzwischen bis auf ein Glas geleert, was dem Augenblick immer ein besonderes Gewicht verleiht, eine Ernsthaftigkeit im Handgelenk, wenn ich den letzten Schluck einschenke. Und das ist die Lektion des Lebens: Was voll ist, wird geleert werden.

Aber es gibt immer noch die Chance der Auferstehung, eine Bar in der Nähe, wo sich alles regeln lässt. In diesem Fall ist sie im Erdgeschoss, hinter dem Empfang auf der rechten Seite – das habe ich mir gemerkt. Ich werde wieder unglaublich müde, was ich noch hier habe, sollte mir also ein Nickerchen bescheren. Anschließend werde ich zum Aufzug spazieren, nach unten fahren und die Lage erkunden, und sofern mir am gestrigen Abend keine Peinlichkeiten unterlaufen sind, müsste ich meinen Tag fröhlich beginnen können. Niemand beginnt seinen Tag weit vor der Teestunde. Man ist bis dahin vielleicht aufgestanden und unterwegs gewesen, aber nur einem Arbeitgeber oder gebrechlichen Bezugspersonen zuliebe. Wenn man seinen eigenen Bedürfnissen nachgibt, merkt man bald, dass Vormittage entbehrlich sind: Im Sommer steht auch nach vier oder fünf Uhr noch jede Menge Sonnenlicht zur Verfügung, und den Rest des Jahres begrüßt einen ohnehin nur feuchte Kälte.

Ich nuckele also an den letzten Schlucken, lasse sie auf meinen Lippen brennen, zwinkere meiner verlässlichen Flasche zum Abschied zu, dem schwarzen Etikett mit der weißen Schrift, dem geschmackvollen Abendkleid, das sich ans nackte Glas schmiegt. Und war das nun ein Geschenk, das ich bekommen habe oder das ich geben wollte? Oder habe ich es einfach für mich gekauft? Manchmal bin ich großzügig zu mir.

Aber manchmal bin ich auch was anderes, und das sollte ich jetzt wohl mal herausfinden – wie ich und mein Selbst in letzter Zeit so miteinander klargekommen sind. Über den einzigen Stuhl habe ich ein Kapuzen-Sweatshirt gehängt – das mir bekannt vorkommt und gefällt. Es hat so eine beuteltierartige große Tasche vorn, in der sich – ja, tatsächlich – mein Portemonnaie befindet, das – ja, tatsächlich – fünfzig Englische Pfund in neuen, aneinander haftenden Banknoten enthält (ich bin also an einem Geldautomaten gewesen), dazu eine metallisch graue Kreditkarte, ausgestellt auf den Namen M.H. Virginas.

Wenn da irgendein Glöckchen klingeln sollte, dann nur sehr leise und ganz weit weg – M.H. Virginas.

Dennoch ist alles gut, denn vielleicht hat Virginas Geld und ich nicht. Alles ist doch nicht so gut, denn – ich schaue auf die Rückseite der Karte – Virginas hat eine sehr fremde und komplizierte Unterschrift, und ich habe keine Ahnung, was ich unterschrieben haben könnte, als ich angekommen bin, und es ist gut möglich, dass ich eine solche Unterschrift nach Aufforderung nicht wieder abliefern kann. Das Fälschen liegt mir nicht im Blut. Noch weniger gut wäre, wenn Virginas die Karte gesperrt hätte.

Vielleicht sollte ich es nachher mal an einem Geldautomaten probieren.

Nein. Kann mich nicht an die Nummer erinnern, oder wie ich sie bekommen habe oder ob.

Aber ich habe doch neues Geld, wie sollte ich wohl sonst daran gekommen sein?

Ausländische Währung eingetauscht – neue Banknoten von einem Wechselbüro. Ich war im Ausland, das würde immerhin passen …

Ein weiteres Flugzeug dräut den Horizont entlang, und der Lärm, den es macht, zwingt mich in eine sehr frische Erinnerung: Ich sitze in einer kakifarbenen Nische, dicht neben dem Kopf einen kakifarbenen Lampenschirm, dahinter kakifarbene Wände – tatsächlich ist der ganze verdammte Raum irgendwie beige/hellbraun/kaki, wenn meine Erinnerung sich mal die Mühe macht, nachzusehen. Ich bin mit zu vielen Leuten in diese Sitzecke gequetscht, und einer der Leute ist – erstaunlich, dass ich das weiß – Kussbachek oder ein Freund von Kussbachek oder ein Mann, der angibt, eines der beiden oder beides zu sein – er darf sein eigener Freund sein, wenn er will. Ich bin meine eigene Freundin.

Ich bin hergekommen, um einen Freund von Kussbachek zu treffen, der ein Freund von Doheny ist, der wiederum der Freund eines anderen Freundes ist oder irgendeine ähnliche Kette – im Moment interessiert mich das nicht sonderlich.

Stattdessen bin ich aus unterschiedlichen Gründen nervös – vor allem, weil ich in Ungarn bin und Ungarns Währung absurd ist. In der Tasche habe ich eine riesige Rolle Banknoten, bedruckt mit Männern, deren Hüte und Schnurrbärte nach Vlad dem Pfähler aussehen, und diese Geldrolle sendet telepathische Botschaften an jeden aus, der mich überfallen oder mich sonst wie bestehlen möchte – Räuber und Diebe aus kilometerweitem Umkreis nähern sich gerade jetzt dieser Bar. Ich kann sie hören.

Verstehen Sie mich nicht falsch, Budapest ist wunderschön, und ich versuche, mich darauf zu konzentrieren. Schönheit ist Wahrheit, und Wahrheit ist manchmal Schönheit, und Schönheit ist meist gute Gesellschaft – auch wenn sie oft zu Todesfällen führt –, aber nicht so oft zu kleineren Diebstählen, und davon fühle ich mich am ehesten bedroht.

Und außerdem stimmt mit mir in anderer Hinsicht einiges nicht. Als ich zu Fuß hergekommen bin, hat es zu stark geregnet, ein Hund mit einem metallenen Maulkorb hat mir böse Blicke zugeworfen, und auf der anderen Straßenseite (Székely Utca: Das musste ich auswendig lernen), auf der anderen Straßenseite war so ein Mann – ich konnte ihn deutlich durchs Kellerfenster sehen, er hackte mit lässigen Bewegungen blasses Fleisch in Stücke. Es war keine Metzgerei, kein Restaurant, keine äußere Erklärung für sein Tun in Sicht: nur dieser Mann mit seiner schmutzigen weißen Schürze, der mit dem Hackmesser das Fleisch durchhieb, eine Menge Fleisch, seine Augen waren auf Höhe meiner Knie, und das Fenster stand in der feuchten Hitze weit offen.

Niemand sonst ist in der Bar, nur Kussbachek und ich, vier Bekannte von Kussbachek und eine mausgraue Frau mit welkender Kleidung, die mich laut nach ethnischen Angelegenheiten fragt, von denen ich nichts verstehe. Sie selbst hat beispielsweise an der ethnischen Herkunft des Kellners etwas auszusetzen. Ich persönlich habe keine Probleme mit ihm, denn er ist flink und klug und lächelt jedes Mal, wenn ich ihm einen der zwei nützlichen Sätze vortrage, die ich in phonetischem Ungarisch zu sagen gelernt habe.

»Keräm, odjon ehrzehktälänitöht kössönöm.«

Meine Aussprache ist sehr schlecht, ich quetsche alles zusammen, aber der Satz bringt jeden Kellner in Ungarn zum Lachen und dazu, mir ein Glas klaren Schnaps oder Terpentin mit Fruchtgeschmack oder eine andere lokale Spezialität zu bringen. Ungarn hält zahlreiche lokale Spezialitäten bereit.

»Bitte bringen Sie mir ein Betäubungsmittel, danke sehr.«

Ich kann außerdem »Entschuldigung« sagen, das wichtigste Wort in jedem Land, in das man reist. Verzeihung, Tut mir leid, Ach Gott – in jeder Sprache scheint es einen kurzen, angenehmen Ausdruck zu geben, der alle drei Bedeutungen enthält, der einen in unangenehmen Umständen rettet und anderen die Vergebung erleichtert. Vergebung hat therapeutische Wirkung.

Aber ich glaube, ich verlasse diese Bar, ohne zu einer Therapie anzuregen.

Später, als der Regen aufgehört hat, ist da eine laute Tanzveranstaltung an einem schrecklichen Ort – eine unruhige Schlange, und dann Tanzen oder beim Tanzen zuschauen und dabei durstig werden, das ist nicht mehr ganz klar.

Ich bin allerdings ganz sicher, dass die Stille in meinen Ohren dröhnt und dass unsere Gruppe angewachsen ist – auf zehn oder zwölf Personen –, als wir die Brücke überqueren. Die Brücken hier sind alle berühmt für Selbstmordspringer, aber diese ist die neueste und beliebteste. Von dieser stürzen sich täglich Leute, vielleicht sogar noch öfter. Wenn sie beim ersten Mal nicht sterben, krabbeln sie an Land und versuchen es noch einmal – irgendjemand erzählt mir das, oder eine ähnliche Geschichte. Es gab kaiserliche Springer, dann kommunistische Springer, und jetzt sind es kapitalistische Springer: Die Leute bleiben unbefriedigt, egal, was ihre Regierung behauptet.

Ein Mann mit Fuchsaugen versucht, mir dies zu erklären, doch ich bin abgelenkt, denn die Brücke wird unwahrscheinlich. Die dünnen Tragkabel schlenkern und klappern oben im Dunkel, und der bleiche Bogen der Oberfläche wird auf einmal von einer Strömung überspült, die unser aller Füße an den Rand zieht, bis wir im Gänsemarsch dicht am Geländer entlanglaufen, uns spielerisch dagegen werfen, als hofften wir, dass es bricht. Unter uns kann man in unregelmäßigen Lichtflecken das Wasser sehen, uneben wie rohes Glas und schnell strömend. Ich schaue hinunter und begreife, dass die Donau ein langer, sehr entschlossener Fluss ist und dass die Kraft, mit der sie unter der Brücke entlangströmt, die Flüssigkeiten eines jeden menschlichen Körpers (wir bestehen alle vor allem aus Flüssigkeiten) in ihre Richtung zerren könnte, zur Seite: Sie könnte sogar so heftig an uns reißen, dass wir heute Nacht über die Brüstung taumeln, in ihre kalten Strudel gewickelt und davongetrieben werden. Politik und Verzweiflung bringen die Menschen vielleicht gar nicht um – womöglich sind ihre lebensnotwendigen Flüssigkeiten schuld.

Ich möchte diese Theorie der Gruppe vorstellen, damit sie zustimmen kann, doch ich werde von zwei Mitgliedern unterbrochen, die mich an den Schultern packen und mich von der Brüstung wegzerren, mir sagen, ich solle mich nicht so weit hinauslehnen und lachen. Ich müsste eigentlich protestieren, denn ich habe über nichts gelacht – ich bin stumm geblieben –, aber ich lasse es, denn als die ganze Gruppe gleichzeitig zurückschaut in die Richtung, aus der wir gekommen sind, sehen wir alle die Lichter der hoch aufragenden, feinen Hotels, in denen eine von uns wohnt und unbegrenzt lange Getränke bestellen kann oder wo eine von uns einen Getränkevorrat in Flaschen bereithält, aus dem wir uns sehr bald bedienen können, oder wo wir warm und gemütlich mit den Flaschen, die wir schon in Taschen und Händen haben, zusammensitzen können, und mit dem lokalen und speziellen Inhalt der betreffenden Flaschen.

Danach kommt nichts mehr bis 8 Uhr 42 heute Morgen – nur ein weicher, neutraler Zeitraum, in dem meiner Ansicht nach ein Treffen zwischen mir und Kussbachek stattgefunden haben dürfte, bei dem ich Danksagungen ausrichtete oder Grüße oder Botschaften von Verwandten und Freunden oder andere wichtige Nachrichten. Außerdem muss M.H. Virginas irgendwann auf meine angenehme Gesellschaft reagiert haben, indem er oder sie mir seine oder ihre Kreditkarte in die Brieftasche gesteckt oder sie mir geborgt hat, ohne jedoch die zur Rückerstattung notwendige Adresse beizufügen. Ich weiß es nicht. So enden viele meiner Geschichten, sie versanden einfach in immer längeren Aufzählungen, und ich merke, dass ich viel zu oft oder sage und denke, dass ein Leben voller Möglichkeiten in mancher Hinsicht nicht immer nur erfreulich ist.

Kussbachek – hätte meine Mutter einen Kussbachek getroffen oder auch einen M.H. Virginas, hätte sie ein kleines Präsent dabeigehabt. Sie hätte ihren Besuch richtig abzustatten gewusst. In Ungarn verhielt ich mich nicht, wie sie es mich gelehrt hatte. So ist das bei mir – ich bin gut erzogen, doch im Einzelnen ist das oft nicht zu bemerken.

Wohingegen meine Mutter immer alles richtig macht. Wenn sie einen Bekannten beschenkt, dann gibt sie genau das, was er als Nächstes gerne gehabt hätte; handelt es sich um einen Fremden, schenkt sie etwas anscheinend weniger Spezifisches, was dennoch sehr nützlich und angenehm ist. Glatt polierte Holzkästchen, ungewöhnliche Manschettenknöpfe, ein seidenes Taschentuch: Es kommt nicht so sehr darauf an, was sie jeweils zu bieten hat, sondern dass sie genau einschätzen kann, was dem jeweiligen Empfänger noch fehlt. Welches kleine Bedürfnis man auch haben mag – zu klein, um sich selbst Gedanken darum zu machen, eine Annehmlichkeit, die man sich selbst nicht zugestehen mag, eine Art winziger Scham –, sie weiß darum, lässt es den anderen wissen, erfüllt den Wunsch und lässt ihn so verschwinden.

Auch die Verpackung ist wichtig: besonderes Papier, Origami-Faltung, Schleifen, mindestens zwei Mal echtes Geschenkband, das man wiederverwenden kann. Doch wie, wenn ein unbedachter Mensch sich darum nicht schert, einfach alles zerreißt und zerschneidet, bis es nichts mehr als Abfall ist? Als Kind machte ich mir oft Sorgen darum – die Gedankenlosigkeit anderer, ihr Mangel an Achtung. Meine Mutter schenkte also Menschen, die es vielleicht gar nicht verdienten, schöne Dinge, sie gab dafür Geld aus, das sie womöglich besser für sich behalten hätte, das war beunruhigend. Auch die Schönheit der Dinge war ein Problem. Wenn sie mich zu Kindergeburtstagen schickte oder zu Weihnachtsfeiern, bekam ich ein Geschenk mit, das ich weitergeben sollte, und ich wusste, es war zu viel, zu schön, peinlich für alle Beteiligten, sodass man sie für seltsam hielt, obwohl sich das doch niemand unterstehen sollte. Auch meine eigenen Weihnachtsabende und die meines Bruders waren überschattet von perfekten Verpackungen, von Geschenken, an die wir nur herankamen, wenn wir etwas zerstörten. Wir versuchten, unsere Aufregung so sehr zu steigern, dass uns die Missachtung ihrer Mühen nicht mehr störte, versuchten, uns nur darauf zu konzentrieren, wie glücklich sie wirkte, wenn wir uns durch ihre Einwickelkünste wühlten, um auf hölzerne Enten oder Kaleidoskope oder was auch immer zu stoßen. Aber wir schafften es nicht immer, so froh zu sein wie sie – ich jedenfalls nicht.

Ich wickele mit Vorliebe schlecht ein, und wenn ich kann, vermeide ich Geschenke ganz. Sie sind traurig.

Wie ich im Moment – und das ist lächerlich. Ich bin bloß eine Weile in Ungarn gewesen und wieder zurückgekommen, ist doch nicht schlimm. Ich werde mich von wem auch immer in aller Freundschaft verabschiedet haben. Ich werde nicht mehr von Virginas’ Geld nehmen, als ich brauche, und dann werde ich die Kreditkarte zerschneiden, damit niemand nach mir sie verwenden kann. Ich erfreue mich guter Gesundheit, grundsätzlich, meistens. Augenblicklich gibt es keinen Grund, Trübsal zu blasen, in sentimentalen Erinnerungen an meine Familie zu versinken, an meine Mutter, die so geschickt mit Geschenkpapier und Klebeband umgehen kann. Sie hat Menschen gerne Sachen geschenkt, tut es immer noch gerne, und das ist in Ordnung – ich muss den Menschen ihre Vorlieben lassen, wirklich, das ist einer meiner Charakterfehler, dieser Drang, alle Freuden zu verurteilen, die ich nicht teilen kann.

Das Klügste, was ich tun kann, ist, zu duschen: Nichts beruhigt und besänftigt so sehr wie äußerlich angewandte Flüssigkeiten. Vielleicht habe ich sogar noch frische Kleider in meiner Tasche, obwohl sie in der Hinsicht nicht besonders vielversprechend aussieht.

Nein, ich habe Glück – ein frisches T-Shirt, flach zusammengelegt wie unbenutzt, und drei, vier Slips in meinem Saubere-Unterwäsche-Beutel. Das ist seltsam – eigentlich nehme ich nur so viel mit, wie ich brauche. Vielleicht habe ich Budapest vier Slips zu früh verlassen. Ich hatte bestimmt meine Gründe.

Das Badezimmer lädt nicht gerade zur Nacktheit ein. Der blau strukturierte Fußbodenbelag sieht aus, als sei er unmöglich gründlich zu reinigen, und Armaturen und Einrichtung sind sämtlich aus sandfarbenem Plastik – man hat Vergilben und Flecken zu verhindern versucht, indem man eine Farbe gewählt hat, die von vornherein vergilbt und fleckig aussieht. Der Rand des Waschbeckens ist mit runden, schwärzlichen Brandflecken verziert, von den Spuren des Absturzes mindestens einer Zigarettenkippe ins Becken hinein. Die Dusche – eine Badewanne gibt es nicht – möchte mit einem gefährlich hohen Rand die Möglichkeit eines Bades suggerieren. Kleine oder verzweifelte Menschen könnten sich in diese quadratische Kiste kauern, der Unannehmlichkeit des zentralen Abflusses aus dem Weg gehen und so tun, als hätten sie sich in einem winzigen Whirlpool zusammengerollt – kleine oder verzweifelte Irre jedenfalls.