Paradise Blues - Christof Mauch - E-Book

Paradise Blues E-Book

Christof Mauch

0,0
22,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer die Landschaft liest, sieht in die Seele des Landes Christof Mauch hat 15 Jahre in den USA gelebt und ist immer und immer wieder durchs Land gereist. Sein Augenmerk galt dabei atemberaubend schönen Landstrichen und den tiefen Wunden, die die Menschen in 200 Jahren in die Natur geschlagen haben. Und dennoch ist der Mythos vom großen, freien, unberührten, von Gott geschenkten Land bis heute eine tragende Säule amerikanischer Identität. In diesem klug beobachteten, meisterhaft geschriebenen Buch erzählt und analysiert Mauch seine Reisen zu acht so unterschiedlichen wie ikonografischen Orten, die alle für einen Aspekt des Raubs an der Umwelt stehen: Alaska, Malibu, Memphis, St. Thomas, Dodge City, Niagara, Disneyland und Portland.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 558

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Christof Mauch

Paradise Blues

Reisen in der Natur und die Geschichte der USA

dtv Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, München

Für Max und Alex

Prolog

Paradise Blues

Amerika ist ein Sehnsuchtsland. Millionen Menschen aus aller Welt suchen in den USA oft beides, den Superlativ der Citys und die Weiten der Wildnis: Niagarafälle und Wolkenkratzer, den Glitzer von Las Vegas und die Gletscher in Alaska, den Blues von Memphis und tropische Sümpfe in Florida; Mammutbäume, Canyons und Mark Twains Mississippi. Der Trip von Küste zu Küste mit dem Wohnmobil oder dem Auto gilt vielen als großes Abenteuer, als fabelhafte Pilgerreise durch die »amerikanische Natur«.

Jahrzehntelang habe ich mich als Wissenschaftler mit den USA beschäftigt, fünfzehn Jahre lang in Washington, D.C. gelebt und von dort aus das ganze Land bereist. Mir liegen die USA am Herzen mit all ihren Widersprüchen: Paradies der unbegrenzten Möglichkeiten einerseits, Musterbeispiel politischer Großmannssucht andererseits, Land der Freiheit und Land der Sklaverei, Vorbild und abschreckendes Beispiel zugleich. Aber erst beim Erfahren des nordamerikanischen Kontinents, erst beim Lesen seiner Natur, erst bei der Suche nach jenen Spuren, mit denen sich die Bewohner über lange Zeiträume tief in die Landschaft eingeschrieben haben, habe ich die USA jenseits der Klischees und bekannten Dichotomien ganz neu entdeckt.

Wer Amerika verstehen will, tut gut daran, den Fokus nicht allein auf Politik und Wirtschaft, auf das Präsidentenamt und die seit 1945 quasi ununterbrochene Reihe von Kriegen zu richten, sondern das Verhältnis von Amerikanerinnen und Amerikanern zu ihrer Umwelt und dem Umgang mit ihr auszumessen. Was auf den ersten Blick fremd erscheinen mag, die geistige Annäherung an eine Nation über das Bereisen von Orten, verspricht eine Fülle von überraschenden Einsichten. Darum geht es in Paradise Blues.

»Jede gute Geschichte beginnt mit Fremdheit«, hat der US-Historiker Richard White einmal bemerkt. Was uns fremd ist und nicht abschreckt, macht neugierig, lädt zum Entdecken ein. Das Erkunden von Landschaften, das im Zentrum dieses Buches steht, gibt Rätsel auf. Die Narben in der amerikanischen Natur zeigen, dass sich hinter spektakulären Fassaden oft düstere Geschichten verbergen. Auf dem Umweg über die Natur habe ich an unbekannten Orten Bekanntes entdeckt; und an vermeintlich bekannten Orten Neues, Unbekanntes. Diese Entdeckung hat mir die Augen dafür geöffnet, dass eine der populärsten Touristenattraktionen (die Niagarafälle) aufs Engste mit dem berüchtigtsten Giftmüllskandal der US-Geschichte (Love Canal) verknüpft ist und dass die Verwandlung von Florida in ein Freizeit- und Zitrusfrüchteparadies die fragilen Ökosysteme und den Wasserhaushalt des »Sunshine State« langsam, aber sicher ruiniert.

Amerika ist immer wieder als »Nature’s Nation« bezeichnet worden, ganz als gäbe es eine einheitliche nationale Natur.[1] Die gleichartige Architektur der Kapitole in den Bundeshauptstädten und die stereotype Erscheinung der Vororte täuschen über so manche regionalen Unterschiede hinweg. Die gepflegten tiefgrünen Rasenflächen in den Wohngebieten von Denver und Philadelphia zum Beispiel sehen einander täuschend ähnlich, obwohl die beiden bundesstaatlichen Hauptstädte weiter voneinander entfernt sind als Brüssel und Moskau: Philadelphia liegt in einer gemäßigten Klimazone mit häufigen Regenfällen, Denver dagegen in einer ariden Region, in der ein gepflegter Rasen nur mithilfe intensiver Bewässerung und Düngung überlebt.[2] Gerade in Sachen Klima kann von Einheitlichkeit keine Rede sein. In Florida ist es subtropisch, in Alaska arktisch. Im Süden leben Alligatoren, im Norden Rentiere. Am Mississippi und im Südosten der USA haben die Bewohner mit Fluten und Hurrikanen zu kämpfen, westlich des Mississippi wird der nordamerikanische Kontinent von Trockenperioden und Dürrekatastrophen heimgesucht, in Kalifornien gar von furchtbaren Flächenbränden.

Die gemeinsame Sprache, das nationale Highway-System, die Omnipräsenz von Fastfood-, Supermarkt- und Hotelketten und die Parole vom »American Way of Life« suggerieren dem Amerikareisenden also eine nationale Gleichförmigkeit, die es, wenn man den Blick auf die physische Geographie des Landes richtet, gar nicht gibt. Wer Amerika verstehen will – das habe ich auf meiner Suche gelernt –, muss die Diversität des Kontinents verstehen.

So haben die unterschiedlichen Landschaften seit jeher auch unabhängige Kulturen hervorgebracht: Die Ureinwohner kannten mindestens hundert Sprachen und über zwanzig verschiedene Typen von Behausungen, vom einfachen Unterschlupf aus Buschwerk bis zum fünfgeschossigen Pueblo, vom Tipi der nomadischen Stämme bis zum Grubenhaus, das neuerdings zum Vorbild für ökologisches Bauen geworden ist.[3]

Anders als zum Stichwort Natur fällt uns zum Thema Umwelt in den USA nicht viel Positives ein. Die US-Amerikaner blasen bekanntlich pro Kopf mehr Kohlendioxyd in die Luft als die Bewohner anderer Staaten; sie produzieren mehr Müll, sie verbrauchen mehr Material für Verpackungen und mehr Fläche für ihre Siedlungen. Wohl keine Nation hat ihre natürlichen Ressourcen – Wasser, Wälder und Böden – in den letzten zweihundert Jahren so konsequent ausgebeutet wie die Vereinigten Staaten. Gerade aus europäischer Sicht treten die Unterschiede und Besonderheiten des amerikanischen Umgangs mit der natürlichen Umwelt überdeutlich hervor – im Schlechten, aber auch im Guten. Schließlich können sich die Vereinigten Staaten damit rühmen, die Erfinder von großen Natur- und Nationalparks zu sein, eines Modells also, das auf der ganzen Welt, vom Kruger Nationalpark in Südafrika bis zum Bayerischen Wald, Karriere gemacht hat. Mit dem Sierra Club verfügen sie über einen politisch einflussreichen nationalen Naturschutzverband; und Aktivistinnen wie Julia »Bufferfly« Hill, Protagonistinnen von Earth First und Umweltdenker von Henry David Thoreau über Aldo Leopold bis zu Rachel Carson gehören zu den wichtigsten Pionieren einer Bewegung, die weit über die USA hinaus Beachtung findet.[4]

Das Verhältnis der Amerikanerinnen und Amerikaner zur Natur ist in der Tat etwas Besonderes; ein nationalgeschichtlicher Ansatz hätte von daher seinen Charme. Aber einer Darstellung, die die Welt aus der Vogelperspektive der nationalen Politik und der Abstraktheit des Umweltdenkens betrachtet, fehlt etwas ganz Entscheidendes: das »down to earth«, das Erleben vor Ort, das Begreifen von Landschaften und Naturphänomenen und mithin jener Dreck an den Schuhsohlen, auf die Umwelthistorikerinnen und -historiker so stolz sind.[5]

Alle in diesem Buch genannten Orte habe ich im Laufe der letzten Jahre bereist. Die Suche nach der amerikanischen Natur ist daher eine Art Führer durch Amerikas Kultur und Geschichte, ein Wegweiser zu ausgewählten Regionen und deren Verwandlung über längere Zeiträume hinweg. Die Orte, auch wenn sie subjektiv ausgewählt sind, beanspruchen Repräsentativität. Was mich an ihnen interessiert, ist das Symptomatische. Dodge City, Kansas, zum Beispiel steht für die Prärie des Mittleren Westens mit ihren weiten Ebenen, den Sandstürmen und den riesigen Rinderherden. St. Thomas, Nevada, repräsentiert die Wüste, die künstlich bewässerte und militarisierte Landschaft des amerikanischen Südwestens. Wiseman, Alaska, verkörpert die Arktis, die Ausbeutung der Naturressourcen wie Gold und Öl, aber auch den Schutz der Wildnis. Memphis, Tennessee, steht stellvertretend für andere Orte am Mississippi River, der ganz eigene Kulturen hervorgebracht hat. Und Malibu, Kalifornien, vertritt jene Orte an der südlichen Pazifikküste, die in unserer Imagination paradiesisch erscheinen, zugleich jedoch von Naturkatastrophen aller Art heimgesucht werden.

Paradise Blues hat seinen Ausgangspunkt in der kühnen Einsicht des großen US-amerikanischen Autors William Faulkner, der einen Protagonisten in seinem Requiem für eine Nonne sagen lässt: »Die Vergangenheit ist niemals tot, sie ist nicht einmal vergangen.« Auf meinen Reisen in die Natur und Geschichte der USA geht es darum, als Detektiv der Geschichte Vergangenes und Zukünftiges hinter dem Gegenwärtigen zu entdecken und Verstecktes hinter dem Augenfälligen. Reisen, Herumfahren und Spazieren sind amateurhafte Akte. Durch sie stoße ich auf Dinge, von deren Existenz ich vorher nichts gewusst habe und die ich als einer, der das Handwerk des Historikers professionell erlernt hat, systematisch recherchierend weiterverfolge.

Der Bogen in diesem Buch, dessen Kapitel sich unabhängig voneinander lesen lassen, spannt sich bewusst von der Brooks Range in Alaska im ersten Kapitel bis nach Portland, Oregon, im Schlusskapitel des Bandes. Damit steht eine Region am Anfang, in die kaum ein Mensch eingegriffen hat, während das letzte Kapitel einer Großstadt gewidmet ist: der »nachhaltigsten Stadt der USA«, deren Umweltpolitik und -aktionen in alle Welt ausstrahlen. Auf meiner Spurensuche durch Amerika hat mich stets der Wunsch begleitet, dem omnipräsenten Narrativ vom »Ende der Natur« etwas Positives entgegenzusetzen.[6] Nicht immer, aber manches Mal geht dieser Wunsch auf den folgenden Seiten in Erfüllung. Die Geschichte von Amerikas Natur fördert grandiose Hoffnungen zutage und tiefe Enttäuschungen. Auch das Paradies hat seinen Blues.

In diesem Buch werden unterschiedliche Begriffe für die Ureinwohner der USA verwendet, keiner von ihnen ist unproblematisch. Dies gilt insbesondere für die von Kolonialisten eingeführten Bezeichnungen »Eskimo« und »Indianer«.

Immer wieder wurde und wird dafür plädiert, »Eskimo« durch »Inuit« zu ersetzen, zumal »Eskimo« »Fleischfresser« bedeute und somit abwertend sei. Heute geht man jedoch davon aus, dass sich das Wort von ayaskimju ableitet, dem »Schneeschuhflechter«. Tatsächlich bezeichnen sich die meisten in Alaska lebenden Volksgruppen selbst als Eskimos und lehnen das Wort »Inuit« ab, weil es sich lediglich auf eine von mehreren indigenen Volksgruppen bezieht.

Strittiger ist die Verwendung des Wortes »Indianer«, das auf die Fremdbezeichnung durch Christoph Kolumbus und dessen historischen Irrtum zurückgeht. In den USA wurde der Begriff »Indian« zunächst durch »Native American« ersetzt. Viele Indigene bevorzugen jedoch neuerdings die Bezeichnung »Native people« oder »American Indians«, weil mit »Native American« jede Person gemeint sein kann, die in den USA geboren wurde. Im Deutschen ist der Ausdruck »Indianer« trotz aller Problematik weithin geläufig, auch in neueren einschlägigen Geschichtsbüchern. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass es keine Entsprechung für »Natives« gibt und dass alternative Begriffe wie »Indigene« einen weltweiten Bezug haben und also die Pluralität der Volksgruppen verdecken. Im Folgenden werden eine Reihe unterschiedlicher Bezeichnungen verwendet, auch »Eskimo« und »Indianer« – freilich nie diskriminierend, sondern ganz im Gegenteil die enorme Vielfalt der indigenen Gruppen würdigend.

Wiseman, Alaska

»Die glücklichste Zivilisation«

Wiseman liegt in der Arktis, hundert Kilometer nördlich des Polarkreises. Im Sommer geht die Sonne dort nicht unter; und im Winter ist es stockfinster, tagelang. Laut Volkszählung hatte die ehemalige Goldgräbersiedlung im Jahr 2010 gerade einmal vierzehn Einwohner: sieben Männer und sieben Frauen. Dort, wo Wiseman liegt, im nordwestlichsten Teil Amerikas, übertrifft die Zahl der wilden Tiere seit jeher diejenige der Menschen um ein Vielfaches. Karibus, die nordamerikanischen Verwandten der Rentiere, wandern auf jahrhundertealten Routen durch die Landschaft des nahegelegenen Gates of the Arctic National ParkGates of the Arctic National Park. Grizzlys und Schwarzbären ziehen umher, Dall-Schafe und Wölfe. Alaska, in der Sprache der indigenen Aleuten »Alyeska«, heißt so viel wie »großes unbekanntes Land«. Der Landschaft sieht man ihren vulkanischen und glazialen Ursprung an. Ein paar hundert Kilometer von Wiseman entfernt zeichnen von der Sonne geformte Gletscher wie lebende Fossilien die Bewegungen der Eiszeit nach. Hier gibt es Wälder mit Schwarzfichten und unendliche Tundren mit Moosen, Flechten und Farnen. Wenn der Schnee schmilzt, explodiert die Natur. Pflanzen schießen aus dem Boden, die Moskitos machen sich breit und dann kommen die Vögel, mehr als einhundert Vogelarten, von denen einige – allen voran die Seeschwalbe – um den halben Globus fliegen, um in Alaska zu brüten. Nirgendwo sonst in den USA ist die Natur so präsent wie in Alaska. Nirgendwo hat sich der Mensch so wenig in die Landschaft eingeschrieben.

Ich beschließe nach Wiseman zu fahren, weil die Berge und Täler in dieser Gegend von den Wellen europäischer Einwanderer kaum berührt wurden; weil historische Hütten aus der Goldgräberzeit noch erhalten sind; und weil hier noch ein Stück Nordamerika zu finden ist, das fernab touristischer Ströme liegt. Als Umwelthistoriker interessiert mich Wiseman wegen der Spannung, die in der Landschaft zum Ausdruck kommt. Wiseman selbst verdankt seine Existenz einzig und allein der Ausbeutung einer natürlichen Ressource – Gold. Dabei befindet es sich in unmittelbarer Nähe der größten Wildnisgebiete des amerikanischen Doppelkontinents.

Dass ausgerechnet Wiseman mein Ziel ist, hat aber auch damit zu tun, dass mir Robert MarshallsMarshall, Robert Buch Arctic Village in die Hände gefallen ist. Der Forstwissenschaftler und Pflanzenpathologe MarshallMarshall, Robert, Sohn einer wohlhabenden New Yorker Anwaltsfamilie, war Ende 1929 erstmals mit einer Sportmaschine nach Wiseman geflogen. Die Ortschaft und die außergewöhnliche Schönheit der BrooksBrooks Range, AK-Bergkette und des KoyukukKoyukuk River-Flusses beeindruckten den 28-jährigen Wissenschaftler so sehr, dass er beschloss, im Sommer 1930 dorthin zurückzukehren. Fünfzehn Monate lang blieb er – offiziell um das Wachstum von Bäumen an der Baumgrenze zu untersuchen. In Wirklichkeit interessierte ihn das Leben der einhundertsiebenundzwanzig Eskimos, Indianer und europäischstämmigen Siedler von Wiseman. Die bezeichnete er als »die glücklichste Zivilisation, die mir bekannt ist«.[7] Ich nehme das Buch Arctic Village auf meine Spurensuche mit, nicht zuletzt, um zu verstehen, wie sich der arktische Nordwesten der USA im Laufe der letzten einhundert Jahre verändert hat. Dass die Veränderungen radikal sind, ist mir bewusst, denn die enormen Ölressourcen, die vor etwa einem halben Jahrhundert in Prudhoe BayPrudhoe Bay, AK, im äußersten Norden der USA, gefunden wurden, haben das Gesicht des 49. Bundesstaats, Wirtschaft und Landschaft, Natur und Kultur, tiefgreifend verändert.

Alaska – das ganz andere Amerika?

Die Reise in den äußersten Norden der USA ist nicht meine erste dorthin. 1999 hatte ich AnchorageAnchorage, AK besucht, die einwohnerreichste Stadt Alaskas. Damals wusste ich fast nichts über das Land. In den Geschichtsbüchern kommt es meist nur vor, weil US-Außenminister William H. SewardSeward, William H. es im Jahr 1867 den Russen zu einem Spottpreis abgekauft hat. Ansonsten allenfalls im Zusammenhang mit dem Goldrausch um die Wende zum 20. Jahrhundert und dem Kalten Krieg, weil sich die Amerikaner vor einem Angriff der nahegelegenen Sowjetunion fürchteten. Auf US-Land- und Wetterkarten wird Alaska fast immer als Rieseninsel im Pazifischen Ozean platziert, denn der 49. Bundesstaat grenzt nicht an die USA, sondern an Kanada. Das Bild vom isolierten und exzeptionellen Bundesstaat hat sich tief in die allgemeine Vorstellung eingeschrieben. Weitverbreitet sind auch Klischees, wonach es in Alaska überwiegend Männer und kaum Frauen gibt und sechs Monate lang völlige Dunkelheit herrscht. Nicht Fastfood-Restaurants und Hochhäuser, wie ich sie in AnchorageAnchorage, AK vorgefunden hatte, verbinden die US-Amerikaner in ihren Vorstellungen mit Alaska, sondern Eisbären und Eskimos und eine Bevölkerung, die in der Wildnis lebt. In Wirklichkeit haben fast drei Viertel der Bewohnerinnen und Bewohner ihren Wohnsitz in Städten. Im Jahr 2016 lebten dort siebenhundertvierzigtausend Menschen, dreihunderttausend davon allein in AnchorageAnchorage, AK. Allerdings ist nur ein winziger Teil der 1718 000 km2 großen Fläche bewohnt; mehr als die Hälfte der Ortschaften hat weniger als fünfhundert Einwohner.[8]

Alaska wäre für sich allein nicht überlebensfähig. Die Region hängt am Bundesstaat Washington und dessen Hauptstadt SeattleSeattle, WA. Die Geschäftswelt der Millionenstadt unterhält seit dem Goldrausch engste Beziehungen zu Alaska. Fast alles, was im Norden konsumiert wird, wird über den Seehafen oder den Flughafen von Seattle nach Alaska verfrachtet.[9] Wirtschaftlich ist Alaska zweifellos ein integraler Bestandteil der Vereinigten Staaten.

Trotz alldem weist der nördlichste US-Bundesstaat eine Fülle von Besonderheiten auf, die ihn von allen anderen Staaten grundlegend unterscheiden. Natur und Kultur kennen hier ihre ganz eigenen Rhythmen: »Nur in Alaska«, schrieb die Publizistin Roxanne WillisWillis, Roxanne, »folgt das tägliche Leben dem Auf und Ab der Karibuwanderungen, der Mitternachtssonne, dem [legendären Hundeschlittenrennen] Iditarod oder der Walfangsaison der Iñupiat [Eskimos]. Nur in Alaska sind Bärenbisse, Abstürze von Buschflugzeugen und Unterkühlung verbreitete Gefahren für Leib und Leben.«[10] Nur in Alaska gibt es eine Zehntausende Jahre alte indigene Bevölkerung – Eskimos, Indianer und Aleuten –, die noch heute in ihren angestammten Lebensräumen zu Hause ist, nicht aber verfolgt und vertrieben wurde wie die Indigenen im Rest der USA.

Alaskas Geographie ist krass und unverwechselbar; und in ihren Dimensionen schier unermesslich. Der Bundesstaat ist vier Mal so groß wie Kalifornien. Die felsige, zerklüftete Küste ist mit ihren fünfundfünfzigtausend Kilometern deutlich länger als die Küsten der achtundvierzig kontinentalen Bundesstaaten zusammengenommen. Das Territorium liegt im arktischen und subarktischen Bereich, zwischen dem 51. und 72. Grad nördlicher Breite. Am nördlichsten Punkt, fünfhundertsechzig Kilometer nördlich des Polarkreises, geht an siebenundsechzig Tagen im Jahr die Sonne nicht auf und an vierundachtzig Tagen nicht unter. Im nördlichsten Teil Alaskas herrscht Permafrost. Seit Tausenden von Jahren ist der Boden dort gefroren.[11] All das macht Alaskas Einzigartigkeit aus; und für viele Menschen auch seine Faszination.

Faszination Wildnis

Die Reise in den Norden mache ich nicht alleine. Meine Lebenspartnerin, eine Amerikanerin, meint, Alaska sei zu gefährlich. »Alaska – das ist doch die große Wildnis. Ich will, dass du gesund wiederkommst.« Ein Freund, der Berliner Maler Johannes HeisigHeisig, Johannes, begleitet mich. Wir treffen uns in FairbanksFairbanks, AK, der zweitgrößten Stadt Alaskas. Anders als zu Marshalls Zeiten ist Wiseman heute mit dem Pkw erreichbar. Vor Antritt unserer Reise wundern wir uns noch, warum die meisten Autovermieter eine Fahrt auf dem Dalton HighwayDalton Highway, und damit auch nach Wiseman, verbieten. Aber als wir in Richtung Norden unterwegs sind, wird uns schnell klar, warum nur die Firma Rent-A-Wreck (Miete-ein-Wrack) die Tour dorthin erlaubt und warum alle Autos der Firmenflotte mit Allradantrieb ausgestattete Gebrauchtwagen sind. Der sechshundertsechsundsechzig Kilometer lange Dalton HighwayDalton Highway von FairbanksFairbanks, AK nach Prudhoe BayPrudhoe Bay, AK ist fast durchgängig eine Schotterstraße mit tiefen Schlaglöchern.[12] Lange, gerade Strecken wechseln sich mit kurvigen, oft steilen Abschnitten ab. Der Gegenverkehr schleudert Steine gegen die Karosserie. »Passt auf, dass euch kein Elch in die Windschutzscheibe fliegt«, sagt der Mann von der Autovermietung, der uns die Autoschlüssel überreicht, nur halb im Scherz. Vorsicht kann tatsächlich nicht schaden: Das für Fisch und Wild zuständige Ministerium rechnet für Alaska jährlich mit gut und gern siebenhundert Kollisionen zwischen Elchen und Automobilen.[13]

Auf unserem Nummernschild steht »Alaska: The Last Frontier«. In FairbanksFairbanks, AK lächelt man darüber. Aber außerhalb von Alaska hat eine TV-Reality-Show mit dem Titel The Last Frontier, die seit Jahren mit mehr als einhundertzwanzig Episoden im Discovery Channel läuft, hohe Einschaltquoten. Woran liegt es, dass die Amerikaner offensichtlich nicht müde werden, choreographierte Kälte und Hunger, Kojoten- und Wolfsangriffe, Krankheiten und Fluten anzuschauen, denen eine Filmfamilie auf der Kenai-Halbinsel in Alaska ausgesetzt ist? Woher kommt der Erfolg von Werner Herzogs Dokumentarfilm Grizzly Man, in dem ein junger Mann, der viele Sommer mit Grizzlybären in Alaska verbringt, am Ende ebenso wie seine Freundin von einem Bären zerfleischt wird?

Woher die Faszination, die Christopher McCandlessMcCandless, Christopher’ Lebensgeschichte auslöst – die Geschichte eines 24-jährigen Kaliforniers, der auf der Suche nach Antworten auf die großen Fragen des Lebens nach Alaska trampt, aber dort nur Moskitos, Kälte und einen einsamen Tod findet? Mit Einbruch des Winters verhungert McCandlessMcCandless, Christopher im ausgemusterten Bus Nr. 142 des Fairbanks City Transit System; erst Monate später wird er von Jägern gefunden. Hunderte von US-amerikanischen Wallfahrern machen sich jeden Sommer auf den Spuren von Christopher McCandlessMcCandless, Christopher auf in die Wildnis – »Into the Wild«, nachdem sie die gleichnamige Biographie von Jon KrakauerKrakauer, Jon gelesen oder den Film von Sean PennPenn, Sean gesehen haben. Einige von ihnen zelten neben dem Bus und hungern wie McCandlessMcCandless, Christopher, den sie wie einen Heiligen verehren. Eine Touristin ertrank im Fluss in der Nähe des Busses, andere mussten aus Notlagen gerettet werden.

In den USA hat der Film Into the Wild an den Kinokassen und im Videoverleih viele Millionen eingespielt, in Alaska selbst dagegen gilt McCandlessMcCandless, Christopher vielen als »Wilderer« und »Dieb«, als »edler, suizidaler Narziss« oder als »Gammler«. Der alaskische Journalist Craig MedredMedred, Craig sieht in ihm und in seinen Nachahmern den Typus des »selbstverliebten, urbanen Amerikaners, der weiter von der Natur entfernt ist als irgendeine Gesellschaft in der Menschheitsgeschichte«.[14]

Vielleicht, denke ich, als wir von FairbanksFairbanks, AK aus in die Wälder fahren, ist die Faszination der Wildnis Ausdruck der Sehnsucht nach einer Welt, in der der Mensch die Natur noch nicht manipuliert und gezähmt, noch nicht ausgenutzt und überbaut, noch nicht versiegelt und ausgehoben hat. Heute, im Anthropozän, in einer Zeit, in der sich das Blatt gewendet hat und die Natur der Willkür und dem Wohlwollen des Menschen gänzlich ausgesetzt erscheint, sehnen wir uns danach, dass sie ihre alte Kraft zurückgewinnen und wenigstens zuweilen heftig zurückschlagen möge. Vor der Weite Alaskas erscheint der Mensch winzig. Hier ist der äußerste Ort, an dem Männer (denn fast nie ist von Frauen die Rede) ihre Stärke und ihren Mut im Angesicht einer unerbittlichen Natur beweisen können. Die Verse des Poeten Robert W. ServiceService, Robert W. und berühmte Werke wie Jack LondonsLondon, JackRuf der Wildnis scheinen dies zu bestätigen.[15]

Heiße Quellen in Frigidia

Der Highway, der von FairbanksFairbanks, AK nach Norden führt, ist auf den ersten Kilometern asphaltiert. Keine Spur von »Wildnis«. Anstatt direkt nach Wiseman zu fahren, entscheiden wir uns für einen Abstecher ins nordöstlich von Fairbanks gelegene Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK. Der Umweg ist nicht geplant, aber im Hotel in Fairbanks rief man uns nach: »Chena Hot Springs! Das ist ein Muss für euch! Ein Muss für Historiker!« Auf den ersten Blick ist die winzige Ortschaft alles andere als spektakulär: ein Rollfeld für Flugzeuge, ein paar Blockhütten und ein See. Das Besondere an dem Ort sind die heißen Quellen. Vor über hundert Jahren hatten zwei nach Gold suchende Brüder, Robert und Thomas SwanSwan, Robert und Thomas, die mit dem Kanu auf dem Chena-Fluss unterwegs waren, sie entdeckt. Das Wasser heilte den Rheumatismus von Robert Swan, und damit begann die Geschichte des heutigen Kurorts.[16]

Zwischen dem Ort mit den heißen Quellen und Fairbanks wuchsen um die Wende zum 20. Jahrhundert die wohl höchsten Bäume, das beste Holz im Innern von Alaska. Und das brauchte die Frontierstadt FairbanksFairbanks, AK reichlich. Aus Holz wurden Häuser gebaut, Holz befeuerte die offenen Kamine, und Holz trieb die Dampfkessel der Lokomotiven und der Flussdampfer an, mit denen Gebrauchsgegenstände und Lebensmittel nach FairbanksFairbanks, AK verfrachtet wurden.

Zu unserem Erstaunen finden wir in Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK aber nicht nur heiße Quellen, sondern auch Gemüsegärten mit riesigen Salatköpfen und Tomaten, Bohnen und Paprika, Zucchini und Kartoffeln, Gurken und allerhand Kräutern. Die Plantagenäpfel von Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK haben einen Durchmesser von fast zehn Zentimetern. Wer hätte das gedacht! Ein Obst- und Gemüseparadies in der Nähe des Polarkreises. Die ewige Sonne und das relativ milde Klima lassen in Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK Früchte aller Art gedeihen, und in einem hochmodernen, mit Geothermie beheizten Gewächshaus werden jedes Jahr mehr als einhunderttausend Schnittblumen geerntet. Tatsächlich haben landwirtschaftliche Produkte in Alaska Weltrekordgrößen erreicht: Die Rede ist etwa von neun Kilogramm schweren Karotten, von fünfunddreißig Kilogramm schweren Steckrüben und von Kohlköpfen, die fette achtundfünfzig Kilogramm auf die Waage bringen.[17]

In unmittelbarer Umgebung von Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK stoßen wir auf zahlreiche verrostete landwirtschaftliche Maschinen, darunter ein McCormick Steering-Mähdrescher aus den 1930er Jahren. Sie zeugen von Träumen aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die so manchen Einwanderer hoffen ließen, dass man in Alaska in großem Stil Landwirtschaft betreiben könne. Insbesondere in Folge der Großen Depression, als in vielen Gebieten Nordamerikas Arbeitslosigkeit, Armut und Hunger herrschten, galt Alaska als Geheimtipp – ein Ort, an dem die Glücklosen Glück finden konnten. Alaska, das ursprünglich als »Walrussia«, »Icebergia« und »Frigidia« verspottet worden war, erhielt allmählich einen positiven Beiklang. So investierte die US-Bundesregierung im Jahr 1935 fünf Millionen Dollar, um zweihundert Familien aus dem Mittleren Westen als Farmer nach Alaska – ins MatanuskaMatanuska Valley, AK-Tal – zu bringen.

Dem Experiment war allerdings kein großer Erfolg beschieden. Entgegen der Erwartung von Trockenheit, Sonne, blauem Himmel und gigantischen Erträgen fiel gleich im ersten Frühjahr und Sommer heftiger Regen. Sechs Familien gaben innerhalb des ersten Monats auf, zwanzig Familien am Ende des ersten Sommers, und über die Hälfte noch vor Ablauf von fünf Jahren. In Alaska mochte es möglich sein, Riesenkürbisse und -maiskolben anzubauen, aber Schneestürme, die oft unerwartet früh hereinbrachen, konnten von einem Tag auf den anderen die Ernte zerstören; die Böden gaben weniger her, als sie versprachen, und die kurze Anbauzeit sowie die harten klimatischen Bedingungen taten ein Übriges. Auch gab es für den Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten kaum einen Markt, und auch die Infrastruktur konnte die Anforderungen nicht erfüllen. Sogar der Auf- und Ausbau des Eisenbahnnetzes in Alaska erwies sich als ein zweifelhafter Segen: Schienen eröffneten Alaskas Farmern zwar Zugang zu neuen Märkten, vor allem aber weckten sie die Konkurrenz aus Seattle, die ihre landwirtschaftlichen Produkte geschickt und effektiv an den Mann zu bringen wusste.[18] Am Ende blieben Gemüse- und Obstgärten, wie wir sie in Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK antreffen, die Ausnahme und wurden nicht zur Regel.

Goldbagger

Kaum sind wir zurück auf dem Highway in Richtung Norden, da erregt ein monumentaler Goldbagger unsere Aufmerksamkeit. Wie ein Dinosaurier aus Metall kauert die Goldstream Dredge No. 8 inmitten eines Geländes aus Kieseln, Gras und Sand. Solange das mehrgeschossige Ungetüm mit seiner langen Schaufelkette aus Stahl aktiv war, kroch es mehr als sieben Kilometer durch das Gelände, baggerte zwischen 1928 und 1959 Tag für Tag goldhaltigen Boden aus und hob insgesamt mehr als zweihundertzwölf Tonnen Gold aus.[19] Harry A. FranckFranck, Harry A., ein Reiseschriftsteller, der den Goldbagger im Jahr 1939 in Augenschein nahm, beschrieb ihn fasziniert als einen »großen flachen Lastkahn mit schwerer Maschinerie und Behausungen an Bord. Der Bagger schwimmt in einem kleinen Teich, den er durch Ausbaggern öffnet und hinter sich wieder schließt, während er sich langsam durch ein Flüsschen schiebt – wie ein prähistorisches Monster, das seinen langen Nacken aus Ketten und Eimern ausstreckt, mit seinem metallenen Rüssel in der Erde herumwühlt und ungeheuerliche tägliche Essensportionen von goldenem Kies aufsaugt.«[20]

Das Prinzip des Goldbaggers ist denkbar simpel. Diese Maschinen wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall dort eingesetzt, wo Bäche und Flüsse Spuren von Gold führten. Ursprünglich in dünnen Schichten in Gestein eingelagert, war das Gold durch Verwitterungsprozesse freigesetzt worden und hatte sich als »Waschgold« oder als »Seifengold« (so der geologische Terminus technicus) in Kies, Sand oder Dreck abgesetzt. Die gigantischen Goldbagger bewegten sich durch die Flussläufe, hoben das mit Wasser angereicherte Erdreich aus und trennten das schwerere Gold mithilfe von Sieben und geriffelten Wasserrinnen vom restlichen Aushub. Goldbagger wie die No. 8 arbeiteten effektiv: Sie erlaubten ein profitables Schürfen bei geringen Betriebskosten. Die Fairbanks Exploration Company hatte im Jahr 1935, als die übrigen USA noch unter den wirtschaftlichen Folgen der Großen Wirtschaftskrise litten, über neunhundert Beschäftigte, denen sie alljährlich 1,9 Millionen Dollar auszahlte. Auch FairbanksFairbanks, AK verdankte seinen Wohlstand einzig dem Abbau von Gold. Mitte der 1930er Jahre – damals hatte der Ort etwa zweitausendsiebenhundert Einwohner – ließ die Stadtverwaltung von FairbanksFairbanks, AK die hölzernen Gehwege entfernen, Häuser aus Beton errichten und die ersten befestigten Straßen in Nordalaska anlegen.[21]

Die Sucht nach Gold hat seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Gesicht Alaskas verändert, und die Bewegungen der Goldstream Dredge No. 8 haben sich tief ins Land eingeschrieben. Historische Bilder zeigen eine desolate Landschaft, ruiniert und voll künstlicher Hügel und Verwerfungen. Die meisten Zeitgenossen sahen in den Gold-Maschinen die Ankunft eines neuen, guten Zeitalters, nur wenige erahnten das destruktive Potenzial des Goldabbaus. Einer von ihnen, der aus einer deutsch-amerikanischen Familie stammende Journalist und Erfolgsschriftsteller John GuntherGunther, John, suchte die Goldstream Dredge No. 8 im Jahr 1947 auf. Für ihn war die gigantische Maschine nichts anderes als ein »großer, hässlicher, grauer Bagger, der in einer selbstgeschaffenen, dreckigen Wasserlache sitzt. […] Er frisst den Erdboden […] auf und schwimmt oben auf dem eigenen Auswurf.« Übrig bleiben Relikte »wie von einem riesengroßen, obszönen Wurm, der nicht stubenrein ist – eine überkrustete Narbe aus zerbrochener Erde, mit Schlamm und Gestein, eine gewundene Spur aus Exkrement«.[22]

Während John GuntherGunther, John sich um die Unansehnlichkeit der Landschaft sorgte, wissen wir heute, dass die großen historischen Goldbagger nicht nur die Ästhetik, sondern vor allem die Ökologie in vielen Teilen Alaskas durcheinanderwirbelten. Um ausreichend Wasser zum Goldabbau zur Verfügung zu haben, wurden sowohl Berge versetzt als auch große Wassermengen umgeleitet. Dabei profitierte die Goldstream Dredge No. 8 von der Einrichtung eines über einhundertvierzig Kilometer langen Wassergrabens, des Davidson Ditch, der in den 1920er Jahren eigens für den Goldabbau angelegt worden war. Wo die Prospektoren Gold vermuteten, stand das Wasser ganz im Dienst der hydraulischen Goldgewinnung. Wenn die Grabungen erst begonnen hatten, ließ sich nichts anderes mehr mit dem Wasser anfangen. Um Gold von Sand und Gestein zu trennen, war den Goldschürfern jedes Mittel recht. Quecksilber wurde ohne Bedenken eingesetzt, da es sich als »flüssiges Silber« fix mit Gold verbindet und leicht extrahieren, erhitzen und verdampfen lässt, so dass am Ende nur noch geschmolzenes Gold zurückbleibt.[23]

Als wir in Richtung Norden weiterfahren, kreisen unsere Gespräche um Fragen von Raum und Zeit. HeisigHeisig, Johannes (als Maler der Experte für das Sichtbare) wirft ein, dass die Eingriffe in die Natur ein halbes Jahrhundert nach Stilllegung des Goldbaggers optisch kaum mehr wahrnehmbar seien, aber enorme unsichtbare Schäden nach sich gezogen hätten – weit über den touristischen Ort Chena Hot SpringsChena Hot Springs, AK hinaus. Tatsächlich finden sich Überreste des Quecksilbers, das vor achtzig Jahren zur Gewinnung von Gold eingesetzt wurde, heute noch im Erdreich, in Bächen, in Flüssen, in Ozeanen, in Fischen und in unseren Körpern. Selten in der Geschichte hat es vergleichbare Phänomene wie die Goldgewinnung gegeben, bei denen um eines schnellen Profits willen langanhaltende Folgen für Mensch und Umwelt stillschweigend in Kauf genommen wurden.

On the Road

Einhundertvierunddreißig Kilometer nördlich von Fairbanks erreichen wir den Dalton HighwayDalton Highway, der bis zum nördlichsten Zipfel Alaskas, zum PrudhoePrudhoe Bay, AK-Bay-Ölfeld an der Küste des Arktischen Ozeans, führt. In unserem Reiseführer heißt es, der DaltonDalton Highway sei die einzige Straße in Alaska, die den Polarkreis überquert, die einzige mit einer Brücke über den YukonYukon River-Fluss und die einzige, auf der man die arktische Beaufortsee erreichen könne.[24]

Straßen sind im Norden Alaskas eine Seltenheit. Der indigenen Bevölkerung waren sie nicht bekannt, und die Entdeckungsreisenden und Forscher, die ab dem ausgehenden 19. Jahrhundert das Innere dieser Gegend erkundeten, hatten keine angelegt. Sie waren per Schiff gekommen und hatten große Distanzen in aller Regel auf Flüssen bewältigt.[25] Dass mit dem Dalton HighwayDalton Highway heute dennoch eine Straße existiert, die das nördliche Alaska durchzieht, hat einen einzigen Grund: die Entdeckung von Öl in der Bucht von PrudhoePrudhoe Bay, AK.

Für den Norden Alaskas, der jahrtausendelang von großen Krisen und Kriegen verschont geblieben war, bedeutete die Entdeckung von Öl im Februar 1968 den Beginn einer radikal neuen Zeit. Dass es in Alaska Ölfelder gab, war per se keine Neuigkeit (Eskimos hatten kleinere Ölvorkommen schon vor über hundert Jahren als Energiequelle genutzt), aber die Schätzung von Wissenschaftlern im Jahr 1968, dass zehn Milliarden Fass »schwarzes Gold« in der Bucht von PrudhoePrudhoe Bay, AK nur darauf warteten, erbohrt und gefördert zu werden, löste ein Ölfieber aus, das Investoren, Abenteuerlustige und Politiker in allen Staaten der USA erfasste. Über Nacht wurde der Bundesstaat mit seinen damals dreihunderttausend Einwohnern mit Geld überschüttet. Alaskas neu gewählter Gouverneur, der republikanische Geschäftsmann Walter HickelHickel, Walter, veranlasste umgehend die Einrichtung einer Straße zu den Ölfeldern. Doch der »Hickel Highway« (Vorgänger des DaltonDalton Highway) funktionierte nur im Winter. Da wurde sein Verlauf im Schnee mit langen vertikalen Holzstangen markiert. Im Frühjahr aber, mit der Ankunft der Schneeschmelze, verwandelte sich die »ice road« in einen Fluss aus Schlamm. Eine Kampfschrift von Amerikas größter Umweltorganisation, Sierra Club, mit dem Titel Oil on Ice bezeichnete den Hickel Highway »im Hinblick auf die Umwelt« als »größten Schwachsinn der Menschheitsgeschichte in der Arktis«.[26] Die leistungsstarken Sattelschlepper mit ihren langen, schweren Traktoranhängern, die Geräte und Versorgungsgüter von Fairbanks in den Norden transportieren sollten, richteten, wenn sie nicht ohnehin im Schlamm steckenblieben, mitunter irreparablen Schaden an den vulnerablen Permafrostböden an. Für die Natur Alaskas war dieses Desaster ironischerweise ein Glücksfall. Denn die Zerstörung einer bislang kaum berührten Landschaft rief urplötzlich Umweltverbände und Politiker in großem Stil auf den Plan, die verhinderten, dass der Highway sofort zu einer befestigten Straße ausgebaut wurde, ohne dass neben den technologischen, wirtschaftlichen und politischen Faktoren auch die ökologischen Folgen bedacht wurden. Nach fünf Jahren und einem harten Schlagabtausch zwischen verschiedenen Interessengruppen entschied sich die Politik gegen Transportwege, die durch Kanada führten, und gegen unterirdische Ölpipelines (wie sie in Texas und Oklahoma üblich waren). Gebaut wurde schließlich eine »haul road«, eine Transportstraße mit einem ein bis zwei Meter hohen Kiesbelag, die sich am Verlauf der oberirdischen Ölrohre orientierte. Der Dalton HighwayDalton Highway (benannt nach dem alaskischen Ingenieur und Ölforscher James W. DaltonDalton, James W.) entstand in nur fünf Monaten, die Pipeline im Lauf von drei Jahren (1974–77).[27]

Auch wenn der Dalton HighwayDalton Highway seit 1994 öffentlich genutzt werden kann, gibt es kaum einen touristischen Grund, die Kiesstraße zu befahren. Der DaltonDalton Highway bietet keine reizenden Restaurants, keine markierten Wanderwege oder spektakulären Aussichtspunkte, keine idyllischen Städtchen, keine schicken Geschenkläden, keine Banken, keine Lebensmittelgeschäfte und auch keine medizinische Versorgung. DeadhorseDeadhorse, AK, mit fünfundzwanzig ständigen Einwohnern die größte der drei den Dalton HighwayDalton Highway säumenden Ortschaften, ist nicht mehr als eine große Ölindustrieanlage, in der Tausende von Saisonarbeitern tätig sind.

Unseren ersten Stopp machen wir in der Nähe der Pumpstation 6, wo der Highway den mächtigen YukonYukon River-Fluss überquert. Hier finden sich ein paar verlotterte Holzbuden, in denen Burger verkauft werden: Big Burger und Teriyaki Burger, Mushroom Burger, vegetarische Burger, BBQ Burger und Boo Boo Burger. Wir sind schließlich in Amerika! »Ringsum Wildnis, aber Burger dürfen nicht fehlen«, erklärt uns George, der sich als ehemaliger Trucker zu erkennen gibt. George ist mit einem kleinen Chevrolet-Laster mit Vierradantrieb unterwegs, um seiner Partnerin die Strecke zu zeigen, die er »fast zwanzig Jahre lang« mit dem Sattelschlepper zurückgelegt hat. Achtzehn Freunde, fellow truckers, habe er in dieser Zeit verloren. »Wenn wir aus verschiedenen Richtungen auf den abschüssigen Strecken aufeinander zukamen«, erklärt George, »haben wir uns mit dem Walkie-Talkie darüber verständigt, wie wir die Kurve nehmen.« Selten, sagt er, sei es zu Frontalzusammenstößen gekommen, aber im Winter stürzten einige von ihnen die großen Böschungen hinunter und überschlugen sich. Das war fatal. »Das sind Bilder, die ich nie vergessen kann.« Wenn George erzählt, spürt man, dass seine Kumpels und er jeder Kurve und jeder Böschung einen Namen gegeben haben: »Oil Spill Hill« und »Beaver Hill«, »Roller Coaster« und »Oh Shit Slide«. George ist ein spröder Typ, aber wenn er vom Highway erzählt, verwandelt er sich in einen eloquenten Reiseberichterstatter. Dabei fällt es schwer, die selbst erlebten und die nacherzählten Storys voneinander zu unterscheiden. Einen Damm habe man hier in der Nähe bauen wollen, erklärt er uns. »Die wollten einen großen See anlegen und Energie erzeugen. Aber die Eskimos und die Umweltschützer haben es verhindert.«[28]

Tatsächlich sollte hier einst ein Damm gebaut werden, aber George dürfte noch ein Kind gewesen sein, als die Planungen für das sogenannte Rampart-Projekt, wenige Kilometer von der Yukon-Überquerung entfernt, begannen. Im Rampart-Tal sollte in den 1960er Jahren eine monumentale Mauer errichtet werden, um das Wasser des YukonYukon River und der umliegenden Bäche und Seen aufzustauen und für die Energieversorgung Alaskas zu nutzen. Das Ingenieurkorps der US-Armee wurde mit der Erstellung einer Machbarkeitsstudie für das Riesenprojekt betraut. Der Stausee hätte, wenn er realisiert worden wäre, fünfundzwanzigtausend Quadratkilometer, und damit etwa zwei Prozent der Fläche Alaskas, unter Wasser gesetzt. Laichgründe von Lachsen, Rückzugsgebiete für Wasservögel, Biotope für Säugetiere und die Schotterfluren des YukonYukon River wären vom womöglich größten künstlichen See der Welt überflutet worden. George SundborgSundborg, George, externer Berater des Rampart-Projekts, hatte die Yukon-Flussebene als ein jämmerliches Gebiet bezeichnet, in dem sich »nicht mehr als zehn Spültoiletten« befänden. Man könne »die ganze Welt absuchen« und werde doch »kein vergleichbares Gebiet finden, das bei einer Überflutung weniger zu verlieren hätte«. Nur dem Einspruch von Naturschutzbehörden (allen voran dem U.S. Fish and Wildlife Service) und dem sich formierenden Protest der indigenen Bevölkerung – sieben Siedlungen der athabaskischen Urbevölkerung wären dem geplanten Stauseeprojekt zum Opfer gefallen – ist es zu verdanken, dass das einzigartige Yukon Flats-Habitat erhalten blieb.[29] Gigantische Projekte wie der Rampart-Stausee und die Ölpipeline nach Prudhoe Bay ließen die indigene Bevölkerung jedoch erkennen, dass die Interessen der »weißen Bevölkerung« nicht nur einzelne Gebiete, sondern traditionelles Land und Lebensformen wie das Jagen und Fischen in hohem Maße gefährdeten. Doch anders als die Native Americans in den übrigen USA wurde die indigene Bevölkerung Alaskas nicht in Reservate verdrängt. Im Dezember 1971 erhielten Eskimos und Indianer im Rahmen der umfangreichsten Regulierung von Gebietsansprüchen der US-Geschichte 962 Millionen Dollar als Abfindung und mehr als sechzehn Millionen Hektar Land (etwa ein Neuntel der Gesamtfläche Alaskas). Indigene Gebiets- und Dorfkörperschaften konnten sich, so der Wortlaut des Vertrags, Gebiete für die eigene Nutzung selbst aussuchen.[30] Ihre Stimme hatte also ungewöhnlich großes Gewicht, wenn es um die Realisierung von Großprojekten oder um den Schutz von Natur und Wildnis ging.

Auf der Weiterfahrt in den Norden streifen wir die Region, die in den 1960er Jahren überflutet werden sollte: die YukonYukon River-Flussebene. Birken, Fichten und Espen wachsen hier. Es gibt jede Menge Enten, Meisen, Spechte und Kauze. Wir sehen einen Elch. Aber die große Ausdehnung und die ganze Vielfalt der Natur mit mehr als sechsunddreißigtausend Seen, Teichen, Sumpflöchern und toten Wassern können wir nur erahnen. Unzählige Zugvögel machen die Ebene zu ihrer Sommerheimat. Luchse und Bisamratten leben hier, Nerze und Marder, Grizzlybären und Wölfe. Wir wandern ein Stück durch die scheinbar stille Landschaft. HeisigHeisig, Johannes macht auf der ganzen Tour Tonbandaufnahmen. Noch Jahre später evozieren die Töne und Geräusche Bilder und Erinnerungen einer entlegenen und unvergleichlich schönen Landschaft. Was für ein Glück, sagen wir uns, dass das Rampart-Projekt gestoppt wurde und die Yukon Flats im Jahr 1978, während der Präsidentschaft Jimmy CartersCarter, Jimmy, in ein nationales Schutzgebiet verwandelt wurden.[31]

In Wiseman

Mehr als sechshundert Kilometer haben wir zurückgelegt, als wir WisemanWiseman, AK erreichen. Die Ortschaft ist keine zwei Kilometer vom Dalton HighwayDalton Highway entfernt. Am Ortseingang hängt an einem Baum das hölzerne Ortsschild. »Wiseman«, steht da zu lesen, »wurde 1908 gegründet und war seither immer allein überlebensfähig. Hütten und Eigentum sind privat. Also respektieren Sie bitte das Hab und Gut der Leute hier.« Dass das ehemalige Goldgräberdorf – etwa zwei Dutzend der alten Blockhütten sind noch erhalten – als »überlebensfähig« bezeichnet wird, ist nicht ohne tiefere Bedeutung. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts existierten in Alaska Hunderte »Wisemans«, Hunderte Goldgräbersiedlungen. Die meisten sind heute verwittert, verschwunden. Auf keiner Straßenkarte waren sie jemals eingezeichnet. Lediglich archäologische Spuren und Relikte erinnern an die einst »goldenen Zeiten«. Warum ist Wiseman eine Ausnahme? Warum hat die Ortschaft überlebt? Wir verbringen einige Tage hier und versuchen auf unseren Erkundungen und in Gesprächen eine Antwort darauf zu finden.

In der »Boreal Lodge« von Heidi SchoppenhorstSchoppenhorst, Heidi kommen wir unter. Heidi ist in Wiseman aufgewachsen, wurde zu Hause unterrichtet und arbeitet gelegentlich als Parkwächterin in der Umweltbildung des National Park Service.[32] Heidis Mutter, June ReakoffReakoff, June, und einer ihrer Brüder, Jack ReakoffReakoff, Jack, leben ebenfalls in Wiseman. Die »Boreal Lodge« stammt aus dem Jahr 1910. Sie steht inmitten von alten Blockhütten, die fast alle wenigstens ein halbes Jahrhundert auf dem Buckel haben. Gut zwei Drittel der Hütten aus der Goldgräberzeit sind längst verschwunden; sie fanden ihr Ende als Brennholz. Von denjenigen, die noch stehen, stehen die meisten schief. Der weiche Boden verschlingt sie. »In den letzten zwanzig Jahren ist mein Blockhaus um neun Zoll in die Tundra abgesunken. Das unterste Rundholz ist im Boden verschwunden«, erklärt uns Jack ReakoffReakoff, Jack, der als Jäger, Sammler, Fallensteller und Reiseführer lebt und früher auch als Pilot gearbeitet hat. Der aus Bayern stammende Bernie HickerHicker, Bernie (wir können es kaum glauben, hier einen Mann aus Freising bei München zu treffen, der zusammen mit seiner Frau UtaHicker, Uta ein »Bed and Breakfast« betreibt) hat vorgesorgt und Betonblocks in der Erde versenkt. Das Haus, in dem er, Uta und die drei in der Arktis geborenen Kinder leben, war ursprünglich eine Goldgräberkneipe, der »Silverly and Bowker Saloon«. Über einen längeren Zeitraum diente es dann den Pioneers of Alaska (einer Organisation, die sich um die Bewahrung der Goldgräbergeschichte Alaskas bemüht) als deren nördlichstes Klubhaus (»Igloo No. 8«). Hier wurde früher gewählt, erzählt Uta HickerHicker, Uta. Es gab eine Bibliothek, eine Kapelle, einen Tanzsaal, und noch heute steht ein altes Klavier in der Unterkunft. Ein paar hundert Meter vom »Arctic Getaway« der Hickers entfernt befindet sich eine Hütte, die einst als Postamt fungierte. Post wird längst nicht mehr nach Wiseman geliefert, aber im Innern der Hütte gibt es noch immer die originale Theke, Postsäcke, Briefkästen und Waagen.[33]

Viele Hütten tragen Elchgeweihe als Zierde. Die Abgeschiedenheit Wisemans treibt Blüten und macht erfinderisch. Hier behilft man sich mit hohen, selbstgebauten Antennen und Satellitenschüsseln, Kleinlaster sind mit originellen Aufbauten versehen, Wände und Dächer mit Wellblech und Aluminium von längst verlassenen Bau-Camps ausgebessert. Weggeworfen wird in Wiseman so gut wie nichts. Am Rande der Ortschaft versteckt sich ein mit gelbem Moos bewachsener uralter Wohnwagen. Ob ihn ein Tourist zurückgelassen hat? Ob ein Pipelinearbeiter darin gehaust hat, ein Abenteurer oder ein Goldsucher? Einmal stoßen wir auf einen Haufen aus Zehntausenden Aluminiumdosen. Miller Beer und Budweiser, Pepsi und Sprite. Die Bewohner haben ihr lokales Kunstwerk ironisch »Totempfahl des weißen Mannes« genannt. Etwas oberhalb, mit Blick auf die Ortschaft, befindet sich der völlig überwucherte Friedhof. Mehr als vierzig Menschen und einige Hunde sind hier begraben. Die meisten Grabmarkierungen sind aus Holz, verwittert und nicht mehr zu entziffern. Eines der wenigen Gräber mit Grabstein – es gehört Harry RossRoss, Harry (1939–1975) – ist mit einer US-Flagge und einer roten Kunststoffblume geschmückt. Keine sechsunddreißig Jahre alt wurde der Mann. »Du erkennst den Wert eines Mannes daran, wie scharf sein Messer ist«, heißt es in dem für den Friedhof einer Frontiersiedlung nicht ganz untypischen Grabspruch.

Auf Wiseman trifft alles zu, was Edwin ArdenerArdener, Edwin als spezifisches Kennzeichen von »entlegenen Orten« ausgemacht hat: Es wimmle dort von »Ruinen der Vergangenheit«, erklärt der britische Ethnologe. Es gebe immer Innovation und Veränderung, keine Stagnation, man treffe das Konzept des »Fremden« an, der plötzlich auftaucht und den (anders als in der suburbanen Welt) keiner kennt, und schließlich seien die Menschen »in ständigem Kontakt mit der Welt, besessen von Kommunikation«.[34]

In der Tat gibt es in Wiseman zwar Radio, Fernsehen und Internet, trotzdem sieht man dem Ort seine Geschichtsträchtigkeit und die Goldgräbervergangenheit an. Zwischen den Häusern finden sich Goldpfannen und -schüsseln, rostige Schubkarren und Goldwaschrinnen, Seilwinden und Eimer, Boiler und anderes dampfbetriebenes Gerät, mit dem einst Gold gefördert wurde. Der ehemalige Kolonialwarenladen am südlichen Ortsrand von Wiseman – das einzige Blockhaus mit zwei Geschossen – lässt eine längst vergangene Zeit lebendig werden. Als wir das gut erhaltene Gebäude aus dem Jahr 1927 betreten, fühlen wir uns in eine Vergangenheit zurückversetzt, in der Wiseman noch boomte. Auf den Regalen stehen allerhand Flaschen, Blechteller und -tassen, Backformen, kleine Säcke mit Salz, metallene Dosen mit Vanilleextrakt und Gelatine. An den Wänden hängen Flaggen und Werbung für Winchestergewehre und Munition. Das Schmuckstück aber ist eine Goldwaage aus Gusseisen und ein silbern glänzender holzbefeuerter Ofen der Firma Lang in Seattle, Patent von 1911, der treffenderweise den Namen »Arctic« trägt.[35] Ich erinnere mich an eine Passage in Robert MarshallMarshall, Roberts Buch über Wiseman, in der er die Trading Company beschreibt: Einhundertzwanzig verschiedene Lebensmittel hat es demnach 1929 gegeben, von Mehl über Spaltbohnen, Tee und Olivenöl bis zu getrockneten Pflaumen und Feigen, Makkaroni und Corned Beef aus der Dose. MarshallMarshall, Robert liebte offenbar Tabellen und Aufzählungen, denn neben die Preise setzte er die Beträge, die man für die gleichen Güter in Baltimore hinzulegen hatte: Doppelt bis acht Mal so viel kosteten die Produkte in der Arktis. Im Frühling, schreibt MarshallMarshall, Robert, gab es sogar frische Äpfel und Orangen, die über die Flüsse aus dem Süden angeliefert wurden – zu horrenden Preisen, versteht sich. Und »diejenigen, die eine besondere Vorliebe oder viel Geld besaßen«, mussten nicht auf Krabben, Hummer, Garnelen und Spargel verzichten, wenngleich nur aus der Dose.[36] Heute gibt es keinen Laden mehr in Wiseman. Lediglich in einer Ecke von HeidisSchoppenhorst, Heidi »Boreal Lodge« können Touristen ein paar Lebensmittel und Andenken erwerben.

Heidis Bruder JackReakoff, Jack und dessen Familie leben fast ausschließlich vom Fischen, Jagen und Fallenstellen und vom Verkauf von Pelzen und arktischem Kunsthandwerk. JackReakoff, Jack ist in der Wildnis aufgewachsen. »Ich war mal in Anchorage […] Aber ich fand heraus, dass die Stadt nichts für mich ist«, erklärt er. Den Jahresablauf der Reakoff-Familie bestimmen das Wetter und die Wanderungen von Tieren. Jeden Sommer zieht JackReakoff, Jack als kommerzieller Lachsfischer für ein paar Monate in die Bristol Bay. Dafür bekommt er bares Geld. Siebzig bis neunzig Kilogramm gefrorenen Fisch – so viel er im Flugzeug transportieren kann – bringt er nach Wiseman zurück; danach ist Unkrautjäten und Gartenarbeit angesagt. Im Herbst jagt er Dall-Schafe und Elche, im nassen Oktober sägt er Holz und zerlegt Fleisch, im November beginnt die Fallensteller-Saison. Alles wird verwertet: Die Pelze werden selbst genutzt oder verkauft, und das Fleisch von Luchsen, Bibern und Bärenmardern teilt sich die Familie mit den Hunden. Im April werden Bären gejagt. »Wir mögen frisches Bärenfleisch!«, sagt JackReakoff, Jack. Danach geht der Jahresrhythmus wieder von vorn los. Seine Einkünfte seien gering, aber hier in Wiseman brauche man weniger als die Hälfte des offiziellen Existenzminimums, um gut zu leben.[37]

An einem Nachmittag zeigt uns Jacks Mutter JuneReakoff, June zwei große Eimer Blaubeeren, die sie in wenigen Stunden gesammelt hat. »So groß wie dieses Jahr waren sie noch nie«, erklärt sie. Und dann erzählt sie noch die Geschichte vom Wolf, die an diesem Tag die Runde in der kleinen Ortschaft macht: Frühmorgens sei er nach Wiseman gekommen und auf der Suche nach etwas Essbarem der Katze ihrer Schwiegertochter (JackReakoff, Jack Reakoffs Partnerin) über den Weg gelaufen. Die Katze habe ihn jedoch in die Flucht geschlagen. Zum Glück! Dem Wolf begegnen wir nicht, aber seine Spuren sind im feuchten, weichen, sandigen Boden deutlich zu sehen.[38]

Etwas erstaunt sind wir, als wir in Wiseman auf eine kleine Kirche (ohne Turm und ohne Glocken) stoßen. Die Kalhabuk Memorial Chapel war ursprünglich eine Goldgräberhütte aus den 1910er Jahren, gehörte einem Eskimo namens Big Jim und galt als soziales und spirituelles Zentrum der indigenen Bevölkerung von Wiseman. Die Umwandlung der Eskimohütte in eine Kapelle geht auf June ReakoffReakoff, June zurück, die Mutter von JackReakoff, Jack und HeidiSchoppenhorst, Heidi. JuneReakoff, June – eine zierliche Frau mit scharfen Gesichtszügen, silbrig-weißem Haar und einem friedlichen Lächeln um den Mund – hält hier seit zwanzig Jahren Predigten: über Johannes den Täufer als Rufer in der Wildnis, über die Verheißungen und die Wehklagen der Propheten, über christliche Erlösung und über das herannahende Ende der Welt. Manchmal ist Junes TochterSchoppenhorst, Heidi die einzige Zuhörerin. In großen Stapeln liegen die handschriftlichen Predigten in der Blockhütte. Ein Archiv in der Wildnis. Den Namen Kalhabuk Memorial Chapel gab JuneReakoff, June der Kapelle zu Ehren von Florence Jonas, die mit ihrem Eskimonamen »KalhabukKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk« hieß. Robert MarshallMarshall, Robert schrieb über sie, sie sei die »kräftigste Frau, die er jemals kennengelernt« habe. Mehrmals habe er sie »mit einem 100-Pfund-Sack Mehl auf dem Buckel und einem 50-Pfund-Sack unterm Arm auftreten« sehen. Für June ReakoffReakoff, June wiederum war sie »sicher die weiseste Frau«, die sie in ihrem ganzen Leben getroffen hat: »KalhabukKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk kannte die Geheimnisse der Berge. Und sie kannte die Seele der Natur.«[39]

Zufällig ist KalhabuksKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk Enkelin, Ruth WilliamsWilliams, Ruth, vor wenigen Tagen in Wiseman angekommen und hat ein kleines Haus bezogen, um im hohen Norden, wo sie aufgewachsen ist, auch ihren Lebensabend zu verbringen. Ihr Partner FrancisWilliams, Francis sägt im Freien ein paar Bretter zurecht. RuthWilliams, Ruth lädt uns zu sich ein. Das Haus besteht aus einem einzigen Raum, mit selbst gezimmertem Bett und einfachen Metallregalen, auf denen Konserven stehen. Sowohl RuthWilliams, Ruth als auch FrancisWilliams, Francis gehören der indigenen Bevölkerung an. RuthsWilliams, Ruth Vorfahren sind Eskimos, FrancisWilliams, Francis ist Indianer. Sein Vater, sagt er, habe »schwedische und deutsche Vorfahren« gehabt; und wie zum Beweis zitiert er ein Sprichwort auf Schwedisch, in dem es um Silber und um Gold geht. Da er eine Indianerin heiratete, verbrachte FrancisWilliams, Francis seine ganze Kindheit und Jugend in einem indianischen Dorf. Später zog er weg, kämpfte als US-Soldat in Korea und erwarb danach noch den Pilotenschein. RuthWilliams, Ruth möchte für immer in Wiseman bleiben. FrancisWilliams, Francis ist Wiseman zu entlegen; der Winter zu dunkel; die Entfernung zur zivilisierten Welt zu groß. Vielleicht bleibt das kleine Haus am Ende nur ein Sommertraum für die beiden.

An Ruths Vita wird deutlich, wie rapide und wie radikal sich die arktische Welt innerhalb einer einzigen Generation verändert hat: In einem Zelt in der Nähe von Big LakeBig Lake, AK geboren, gehörte RuthWilliams, Ruth, wie ihre Großmutter KalhabukKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk, als kleines Mädchen noch zur Gruppe der nomadischen Eskimos, die ihren Lebensunterhalt mit Jagen bestritten. Seit Jahrtausenden waren die Ureinwohner Alaskas den scheuen Dall-Schafen, Schneeziegen und Braunbären hinterhergejagt oder den Zügen der Karibus gefolgt. Im Frühling ziehen die Rentiere des Nordens von den bewaldeten Gebieten im Süden zu den nährstoffreichen Weiden am Fuße der BrooksBrooks Range, AK-Bergkette, um dort zu kalben. In Wiseman wohnte KalhabukKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk in einem Lehmhaus, dessen Dach wie ein Zelt bis zum Boden reichte. Bis dahin hatte sie nur Tipis gekannt, die sich auf der Jagd leicht auf- und abschlagen ließen, Tische und Stühle kannte sie nicht einmal vom Hörensagen.[40] Im Alter von siebeneinhalb Jahren, mit dem Eintritt der USA in den Zweiten Weltkrieg, wurde RuthWilliams, Ruth, wie sie uns erzählt, zu den Missionarinnen der Brüdergemeinde in ein Internat in FairbanksFairbanks, AK gesteckt. Damit war sie mit einem Schlag »in der Zivilisation angekommen«. Nach dem Krieg besuchte sie regelmäßig, oft mehrmals im Jahr, die Großmutter in Wiseman, wo 1945 nur noch neun Menschen lebten. Ständig vergleicht RuthWilliams, Ruth die heutige Zeit mit der ihrer Kindheit. Der Frühling komme heute zwei, drei Wochen früher, der Sommer halte länger an. »Die Bäume wachsen schneller, die Weiden höher.« Mehr Regeln und mehr Vorschriften gebe es, »vom Bureau of Land Management vor allem«, die selbst das Anpflanzen von Bäumen regulierten. »Mehr Moskitos gibt es«, sagt RuthWilliams, Ruth, »und weniger Karibus.« Ein bisschen wehmütig klingt das alles, auch wenn sie von ihrer Großmutter KalhabukKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk spricht, die »immer in Richtung der Berge geschaut« habe, als erwarte sie »die Rückkehr der Karibuherden«, die Rückkehr einer besseren Zeit.

Robert MarshallMarshall, Robert war davon ausgegangen, dass die Gegend um Wiseman nicht besiedelt war, bevor die Blockhütten der Trapper und Goldschürfer errichtet wurden. Archäologische Untersuchungen aus der Mitte der 1980er Jahre belegen freilich, dass Berg-Eskimos und deren prähistorische Vorfahren bereits seit mindestens sechstausend, wahrscheinlich jedoch zwölftausend Jahren in der Region gejagt, geschlachtet und gezeltet haben.[41] Eine ständige Siedlung gibt es in Wiseman allerdings tatsächlich erst seit Anfang des 20. Jahrhunderts. Wenn das Goldfieber den Nordwesten Amerikas nicht ergriffen hätte, wäre KalhabukKalhabukJonas, FlorenceKalhabuk1924 mit ihren drei Kindern nicht über die Berge nach Wiseman gekommen, um im Winter Tiere für die Goldsucher zu erlegen (und zu zerlegen); Ruth wäre heute nicht hier; und die Eskimos würden noch immer ein Leben im Rhythmus der Natur leben. Ohne Gold gäbe es Wiseman nicht.[42]

Glück und Gold

Die Glanzzeit von Wiseman (falls man bei einer aus Blockhütten bestehenden Frontiersiedlung von »Glanz« sprechen kann) dauerte gerade einmal sieben Jahre, von 1908 bis 1915. In dieser Zeit floss reichlich Whiskey. Sechzig Tonnen Alkohol für dreihundert Europäer und fünfundsiebzig Indigene wurden allein im Jahr 1915 in den Norden verschifft. »Whiskey«, schrieb MarshallMarshall, Robert, »hatte Vorrang gegenüber allem anderen: Der Weg war niemals in einem so schlechten Zustand, dass man keinen Whiskey mehr herschleppen konnte, selbst wenn die Nahrung knapp wurde.« Die Zahl der Prostituierten erreichte 1915 in Wiseman mit vierzehn Frauen ihren historischen Höhepunkt. Ab 1920 sank sie auf null ab. Zwischen 1907 und 1911 hatten Goldsucher in der Nähe von Wiseman (im Nolan-Bach und dessen Zuflüssen) mehr Gold geschürft als im gesamten restlichen Norden von Alaska. Und just als der Abbau in NolanNolan, AK zurückging, hob eine kleine Schar von Goldsuchern innerhalb von nur fünf Jahren – von 1911 bis 1915 – im nahegelegenen HammondHammond River, AK-Flusstal Gold im Wert von einer Million Dollar aus großer Tiefe aus.[43]

Als wir erfahren, dass es etwa sechzehn Kilometer von Wiseman entfernt im Nolan-Tal ein noch arbeitendes Goldbergwerk gibt, machen wir uns dorthin auf den Weg. Ein Stück mit dem Auto und dann zu Fuß durch eine unbeschreiblich schöne Taiga-Landschaft mit Seen und Bächen und toten Gewässern, mit niedrigen Fichten, Birken und Espen, Flechten und Moosen, Tussock-Gräsern und arktischer Baumwolle. Dann plötzlich: eine geschlossene Schranke, ein Stopp-Schild und Warntafeln mit der Aufschrift »Betreten für nicht autorisierte Personen verboten«. Zugelassene Besucher sollen sich im Bergbaubüro registrieren. Wir sind nicht zugelassen, setzen unseren Weg aber fort, bis uns eine Stimme fragt: »Was macht ihr hier? Hier kommt ihr nicht weiter!« Mitten im Nolan-Fluss steht eine Frau mit rotem Anorak, hohen Gummistiefeln, Stirnband, Sonnenbrille, einer Bärenpfeife um den Hals, einem alten Ledergürtel und einer Pistole im Halfter. Je länger wir mit ihr reden, desto freundlicher ist sie gestimmt. »Ich wohne hier«, sagt Sheriar EricksonErickson, Sheriar. Im Bergwerk sei momentan niemand. SheriarErickson, Sheriar bringt uns nacheinander mit ihrem Quad-Bike über den Fluss, in dessen Wasser Kiesel golden in der Sonne glitzern. Sie lädt uns in eine alte Goldgräberhütte ein und stellt uns ihren Partner JeffLund, Jeff vor, den sie vor sieben Jahren auf einer Reise um den Globus getroffen hat. In NolanNolan, AK ist sie hängengeblieben. Dass wir kilometerweit zu Fuß gekommen sind, sei »fahrlässig«. »Wieso habt ihr kein Fahrzeug benutzt? Bis zur Mine kann man fahren. Habt ihr den Grizzly gesehen? Eine Grizzlymutter mit ihren Jungen?« JeffLund, Jeff winkt ab. Grizzlys seien scheu, anders als Braunbären. Aber wenn die Mine in Betrieb sei, kämen sie hierher, weil die Minenarbeiter immer grillen. Wie beim Barbecue rieche es dann. Jetzt im Sommer seien die Bären besonders hungrig. Trotzdem würden sie im Norden nicht so groß und fett wie im Süden, wo sie Fische in Fülle zum Fressen haben.[44]

Wir hatten erwartet, dass die Goldmine in NolanNolan, AK, die ironischerweise »Silverado« heißt, voll in Betrieb ist. In Wirklichkeit hat hier seit anderthalb Jahren niemand mehr Gold geschürft. Aus Beschreibungen des US-Autors Philip CaputoCaputo, Philip wussten wir, dass noch vor wenigen Jahren dreißig Bergarbeiter und Raupenfahrer in der Silverado-Mine unterwegs waren und »einen halben Berghang abgetragen hatten«. JeffLund, Jeff zeigt uns seinen »persönlichen Bulldozer«, der in den 1920er Jahren nach Wiseman und NolanNolan, AK kam. Das Fahrzeug der Marke »International« ist rundum völlig verrostet und trägt auf dem Kühler den verwitterten Schädel einer gehörnten Bergziege.[45] »Als ich 1975 aus Vietnam hierherkam«, sagt Jeff LundLund, Jeff, sei er in Wiseman in die »Kapelle« gezogen. »Damals waren noch drei Oldtimer hier.« Mit den »Oldtimern« meint er Charlie BreckBreck, Charlie, Ross BrockmanBrockman, Ross und Harry LeonardLeonard, Harry – Goldsucher, die schon vor dem Zweiten Weltkrieg geschürft hatten. Ganz zu Anfang hatte man in NolanNolan, AK noch Schaufeln verwendet, aber mit der neuen Technologie und mit Schaufelladern könne man Berge versetzen, erklärt JeffLund, Jeff, »tagtäglich Tausende Yards«. So konnten die alten Minen aufs Neue durchkämmt und in tieferen Lagen abgesucht werden. Nach einer Goldpreiskonjunktur werden Investitionen in alte Minen dann plötzlich wieder attraktiv, »um den Rest des Goldes abzubauen«. In NolanNolan, AK begann der Betrieb deshalb in den 1990er Jahren wieder aufzuleben. JeffLund, Jeff war nicht als Goldsucher, sondern als Bauarbeiter für die Ölpipeline in die Arktis gekommen. »Was Gold mir bedeutet?« Er zeigt uns einen Goldklumpen, den er eher zufällig gefunden hat. »Er fühlt sich warm an«, meint JeffLund, Jeff, »während Metall sonst kalt ist. Glücklicherweise habe ich nie das Goldfieber bekommen. Vielleicht lande ich auch so mal den großen Treffer. Es gibt Leute hier, die leben davon.«[46] Die Goldmine von NolanNolan, AK war für Nuggets bekannt, große Goldklumpen, für die man mehr Geld bekommt, als sie dem reinen Gewichtswert nach wert sind. »Reiche Leute legen so was gern auf den Schreibtisch, und in einem Casino in Las Vegas ist ein Nugget aus Nolan ausgestellt.«

Die meisten Goldminen, berichtet JeffLund, Jeff, sind verlassen. »Schlechte Kerle« seien in den alten Minen anzutreffen, »vor allem, wenn die Minen in der Wildnis liegen.« Drogendealer, Schwarzmarkt-Typen, Importeure. Marihuana werde in einigen ehemaligen Bergarbeiterlagern angebaut. Früher habe die Regierung die Minen gar nicht kontrolliert, weil sie nicht genug Geld dafür gehabt habe. Heute komme ab und zu ein Regierungsmann in NolanNolan, AK vorbei.

Ich versuche mir vorzustellen, wie die alten »sourdoughs« (die erfahrenen Goldsucher) in NolanNolan, AK und Wiseman einst gelebt haben. Schwarz-Weiß-Fotografien und -Schmalspurfilme aus der Elmer-E.-Rasmuson-Bibliothek der Universität Fairbanks erzählen anschaulich deren Geschichten – zum Beispiel die von Harry LeonardLeonard, Harry. Dieser war von Maine nach Alaska gekommen und 1928 mit seiner Verlobten nach FairbanksFairbanks, AK gezogen. Er arbeitete zunächst in der Maschinenhalle eines Goldunternehmens und dann im Anzug (womöglich als Verkäufer) für einen Chevrolet-Dealer. Aber von einem Tag auf den anderen ließ er Bügelfalten und Krawatte, seine Partnerin und die gesamte urbane Zivilisation hinter sich und verschrieb sich für den Rest seines Lebens der Suche nach arktischem Gold. 1934 verschlug es ihn in die Region von Wiseman. Hier lebte er mehr als ein halbes Jahrhundert mit seinen Hunden,[47] schürfte unablässig nach Gold, fällte Bäume, jagte Wölfe, baute Goldwaschrinnen, leistete sich im Jahr 1950 einen Jeep, der mit einer DC-3 eingeflogen wurde, drehte Schmalspurfilme, nahm verlassene Blockhütten in Beschlag und verkaufte sie wieder (wofür er den Spottnamen »Kapitalist« erhielt). Auf den vielen Fotos sieht man LeonardLeonard, Harry, von seinem Freund George LounsburyLounsbury, George als »verschroben« und »unzugänglich« charakterisiert, fast immer grinsend, zahnlos und mit Mütze – zwischen Eskimos und Bergarbeitern, mit einer Sand- und Kiespumpe in der Hand und mehr als einmal mit einer Pfanne voller Nuggets. Reich wurde Harry LeonardLeonard, Harry nicht, doch das gilt für die meisten Goldschürfer im Norden Alaskas. Seinen Lebensabend verbrachte er im Altersheim der Pioneers of Alaska in Fairbanks.[48]

Als Umwelthistoriker stelle ich mir die Veränderung von Landschaften meist über einen langen Zeitraum hinweg, aus der Vogelperspektive, vor. Das Goldfieber, das Mitte des 19. Jahrhunderts in Kalifornien begann und über den Klondike-Goldrausch nach Kanada und von dort nach Alaska überschwappte, war maßgeblich für die heutige Landkarte Alaskas verantwortlich. Überall, wo Gold gefunden wurde, entstanden Camps, Siedlungen oder kleine Städte. Für die Mitte des 19. Jahrhunderts galt dies noch nicht. Im Jahr 1850, als Alaska noch Russland gehörte, hatte der russische Bergingenieur Peter Petrowitsch DoroschinDoroschin, Peter Petrowitsch auf der KenaiKenai Peninsula, AK-Halbinsel zwar Gold entdeckt. Aber der russische Zar interessierte sich mehr für »weiches« als für hartes Gold, also für Pelze von Polarfüchsen und Bibern, von Fluss- und Seeottern. Das Letzte, was er sich wünschte, war ein kaum kontrollierbarer Goldrausch, der Unmengen von Glücksrittern nach Alaska bringen würde. Deshalb hielt er seine Entdeckung der Metallvorkommen geheim.[49]

Ganz anders die USA: Nach dem Erwerb des Landes im Jahr 1867 sah man die Förderung von Gold im neuen Territorium mit Wohlwollen, und so erlebte Alaska in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts einen wahren Ansturm. Erste Siedlungen entstanden ganz im Süden, in der Nähe von JuneauJuneau, AK, und breiteten sich Richtung Norden aus. JuneauJuneau, AK wurde zur ersten amerikanischen Ortsgründung in Alaska. Fast hätte JuneauJuneau, AK übrigens Pilztown geheißen – benannt nach dem sächsischen Bergbauingenieur George PilzPilz, George, dem der Tlingit-Häuptling KoweeKowee, Tlingit-Häuptling der Auke vom Stamm der Auke Gold und andere Mineralien lieferte. Wegen dieser Funde wurde die auch heute noch schwer erreichbare Fjordstadt JuneauJuneau, AK zur Hauptstadt Alaskas. Auch FairbanksFairbanks, AK und NomeNome, AK verdanken ihre Gründung und ihre bis heute andauernde Bedeutung wohl einzig der Goldförderung: Sie gehören noch immer zu den einwohnerreichsten Städten Alaskas. Nur die Verwaltungs- und Industriestadt AnchorageAnchorage, AK ist deutlich größer.