Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen - Peter Berne - E-Book

Parsifal oder Die höhere Bestimmung des Menschen E-Book

Peter Berne

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Beschreibung

"Durch Mitleid wissend": In diesen drei Worten findet der geistige und philosophische Gehalt von Wagners "Parsifal" seine kürzeste und prägnanteste Zusammenfassung, die von bestechender Aktualität ist. Durch allumfassendes Mitgefühl kann der Mensch die Grenzen seines gewöhnlichen Bewusstseins durchbrechen und zur Erkenntnis der "Einheit alles Lebenden" gelangen, die dann zur Grundlage einer neuen, alles Leben umfassenden Ethik wird. Peter Berne zeigt die Genese dieses Gedankens aus mittelalterlicher Gralssymbolik und altindischem Denken auf und belegt dies anhand zahlreicher Zitate aus Wagners Schriften. Der Autor geht im Gegensatz zu vielen anderen Interpreten nicht nur von der Dichtung, sondern auch von der Musik aus. Neben der Deutung der archetypischen Symbole ist es vor allem die Entschlüsselung der musikalischen "Leitmotive" mit ihrer präzisen gedanklichen Aussage, die den Ausführungen eine besondere Faszination verleiht. Bernes Publikation besticht durch die Unvoreingenommenheit ihrer Betrachtungsweise und bietet eine Fülle an aufregenden Erkenntnissen, die auf der soliden Grundlage genauer Forschung beruhen. Seine klaren Darstellungen sind für Laien wie Experten mit großem Gewinn zu lesen.

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PETER BERNE

PARSIFAL

oder

DIE HÖHERE BESTIMMUNG DES MENSCHEN

Christus-Mystik und buddhistische Weltdeutungin Wagners letztem Drama

Für das mühsame Korrekturlesen des Manuskripts sowie für die Hilfe bei der Erstellung der digitalen Tonbeispiele danke ich meinen Freunden Ute Engelhardt, Sibylle Dahms, Robert Reimer, Josef Wagner, Renate, Friederike und Einhard Weber und Johannes Püschel.

Satz und Umschlaggestaltung: Nikola Stevanović

Druck und Bindung: Interpress, Budapest

Coverabbildung: Gralstempel, Parsifal, I. Akt, 2. Bild, Bayreuther Festspiele 1951.Inszenierung und Bühnenbild: Wieland Wagner.Musikalische Leitung: Hans Knappertsbusch.© RWA Nationalarchiv, Bayreuth

Peter Berne: Parsifaloder Die höhere Bestimmung des Menschen. Christus-Mystik und buddhistische Weltdeutung in Wagners letztem Drama. Wien: HOLLITZER Verlag, 2017

© HOLLITZER Verlag, Wien 2017

HOLLITZER Verlagder HOLLITZER Baustoffwerke Graz GmbHwww.hollitzer.at

Alle Rechte vorbehalten.

Die Abbildungsrechte sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft worden.

Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird um Mitteilung des Rechteinhabers ersucht.

ISBN 978-3-99012-420-8

INHALT

VorwortWarum dieses Buch

PROLOG„DER GOTT IM MENSCHEN“

ERSTER TEILWAGNERS DENKEN ZURPARSIFAL-ZEIT

1. KapitelDie Umdeutung Schopenhauers

2. KapitelDie „Regenerationsschriften“

ZWEITER TEIL CONDITIO HUMANA

1. KapitelKlingsor – Das Problem des Bösen

2. KapitelKundry – Das Labyrinth des Unbewussten

3. KapitelAmfortas – Ich-Werdung und Freiheit

4. KapitelTiturel und Gurnemanz – Die alte Gralswelt und der Dreischritt der Geschichte

DRITTER TEILDER WEG ZUR VOLLENDUNG

1. Kapitel„Der reine Tor“

2. Kapitel„Durch Mitleid wissend“

3. KapitelDie Rückkehr des Speeres

4. Kapitel„Erlösung dem Erlöser“

EPILOGDIE ERLÖSUNG DER NATUR

ANHANG

Kurze Nacherzählung der Handlung des Dramas

Daten zu Wagners Leben und der Entstehung des Parsifal

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Quellennachweis der Notenbeispiele

VORWORT

WARUM DIESES BUCH

Mein Lehrer Kurt Overhoff, dem 1941 die Aufgabe übertragen worden war, Wieland Wagner in die Werke seines Großvaters einzuführen, erzählte mir einmal, wie der Wagner-Enkel nach einer intensiven Unterrichtsstunde schwärmerisch ausgerufen hatte: „Ach, Parsifal dirigieren und dann sterben!“ – worauf Overhoff erwiderte: „Nein! Parsifal dirigieren und dann – leben!“

Diese Auffassung des Parsifal als weltbejahendes Werk, das im höchsten Maße die Fähigkeit besitzt, den Menschen mit dem Leben zu versöhnen, indem es ihm die Möglichkeit einer höheren, sinnerfüllten Existenz in der Welt zeigt, wurde prägend für mein eigenes Verständnis und verlieh diesem Drama einen einzigartigen Stellenwert, den es für mich nie wieder eingebüßt hat.

Der unbedingte Glaube an die höhere Bestimmung des Menschen, der im Parsifal zum Ausdruck kommt, und der dem menschlichen Leben eine Tiefendimension verleiht, die in unserer Zeit größtenteils verloren gegangen ist, würde allein ausreichen, um seine eminente Wichtigkeit für uns zu begründen. Doch Parsifal besitzt meines Erachtens auch eine ganz besondere Aktualität, die gerade heute eine Auseinandersetzung mit der Gedankenwelt dieses Werkes dringend notwendig macht.

Umweltzerstörung, Krieg und soziale Ungerechtigkeit sind ohne Zweifel die größten Probleme unserer Zeit, und ihre Lösung wird umso dringender, als von dieser, wie immer deutlicher wird, die Zukunft der ganzen Menschheit abhängt. Alle drei Übel sind jedoch das Ergebnis einer Wertordnung, die den eigenen Genuss und die eigene Bequemlichkeit über das Leben als solches stellt, und für die es selbstverständlich ist, dass der einzelne Mensch anderes Leben als Mittel zur Steigerung des eigenen Wohlbefindens missbrauchen darf. Damit der Mensch aber Achtung für anderes Leben empfinden kann, muss er Achtung vor sich selbst haben; es muss ihm zu Bewusstsein kommen, dass er nicht nur ein Teil jenes großen Lebenszusammenhanges ist, von dessen Gedeihen sein eigenes Wohlergehen abhängt, sondern dass er gerade derjenige Teil ist, der durch die ihm verliehene Vernunft eine große Aufgabe zugewiesen bekommen hat: die Aufgabe, für anderes Leben Verantwortung zu tragen. Nur dann kann er sich über den natürlichen Egoismus hinaus emporheben und zu einem neuen Verhalten gelangen, das durch Solidarität und Opferbereitschaft gekennzeichnet ist.

Die Zeit ruft uns also auf zu einer grundlegenden Bewusstseinswandlung und einer radikalen Veränderung unseres Verhaltens anderem Leben gegenüber. Wie sollen wir aber dies erreichen? Und welche Richtlinien können uns dabei leiten?

Gerade auf diese Fragen gibt uns Parsifal eine klare Antwort. Das Menschenbild, das dem Werk zugrunde liegt, fasst den Menschen als Träger einer höheren Kraft auf, der dazu ausersehen ist, Liebe und Harmonie in der Welt zu verbreiten. Es ist ein Menschenbild, das uns heute den Mut geben kann, der allgemeinen Verflachung der Zeit entgegenzuwirken und an der Steigerung der eigenen moralischen Kräfte zu arbeiten. Es fordert von uns aber zugleich ein radikal neues Verhältnis zu anderem Leben, das, entsprechend unserer höheren Bestimmung, durch Mitgefühl, Verantwortung und Solidarität mit allem Lebenden bestimmt werden soll. Der Titelheld von Wagners Drama ist die Verkörperung dieses neuen Menschenideals. Sein Entwicklungsgang kann uns als Vorbild für unsere eigenen realen Bemühungen um eine bessere Zukunft dienen.

Natürlich gibt es solche Entwürfe nicht nur im Parsifal. Was diesem Werk den Stempel der Einzigartigkeit aufdrückt, ist die Tatsache, dass es nicht nur durch Worte zu unserem Verstand spricht, sondern unser Wesen in seiner Ganzheit ergreift. Die von Wagner intuitiv erschauten archetypischen Bilder, wie sie in seinen szenischen Vorschriften festgehalten werden, wirken läuternd auf unsere unbewusste Gefühlsnatur; und die unvergleichliche Macht von Wagners Musik besitzt die Fähigkeit, uns in dem innersten Kern unseres Wesens zu ergreifen – dort, wo die Grundtriebe unseres Handelns entspringen. Nur eine Verwandlung, die auf diese Weise Denken, Fühlen und Handeln ergreift, kann wirklich dauerhaft sein und sich in der Welt bewähren.

Wie es möglich war, dass Wagner vor mehr als einem Jahrhundert die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit vorausahnen und mit solcher Eindringlichkeit künstlerisch darstellen konnte, wird ewig ein Rätsel bleiben. Für mich steht jedenfalls fest, dass es kaum ein anderes Kunstwerk gibt, das so brennend aktuell ist wie Parsifal. Und deshalb ist es mir ein so dringendes Anliegen, die Gedankenwelt des Werkes für heutige Menschen zu erschließen.

Dass bei einer solchen inneren Einstellung meine Darstellung teilweise enthusiastischen Charakter trägt, wird man mir hoffentlich nicht als Fehler ankreiden. Doch bei allem inneren Engagement war ich bemüht, so sachlich wie möglich vorzugehen. Deshalb habe ich versucht, durch Analyse von Dichtung, symbolischen Bildern und Musik die im Werk selbst enthaltene geistige Aussage herauszuarbeiten, anstatt meine eigenen Gedanken und Wünsche von außen hinein zu interpretieren. Als Kontrollinstanz habe ich Wagners eigene Schriften aus der Parsifal-Zeit herangezogen, in denen er die meisten Gedanken, die im Werk künstlerisch zum Ausdruck kommen, in begrifflicher Form dargestellt hat. Zwar enthalten diese Aufsätze auch viel Persönliches und Tagespolitisches, das mit dem Kunstwerk nichts zu tun hat. Doch wo sich Wagners philosophisch-religiöse Gedanken mit dem decken, was eine unvoreingenommene Werkanalyse ergibt, kann man sie als Gewähr dafür nehmen, dass die durch die Analyse gewonnene Werkinterpretation authentisch ist. Nur wo es um Tiefenpsychologisches ging, das per definitionem dem Autor selbst unbewusst sein musste, habe ich zusätzlich C. G. Jung zur Erklärung herangezogen, weil dessen Theorien in außerordentlichem Maße die psychologischen Hintergründe der dramatischen Geschehnisse erhellen können. Und schließlich habe ich auch die Quellen, aus denen Wagner schöpfte, in meine Analyse miteinbezogen, da ein Vergleich zwischen diesen und dem Werk einiges Licht auf Wagners Absichten wirft. Zu diesen Quellen muss man neben den mittelalterlichen Gralsepen auch die Philosophie Schopenhauers rechnen, die auf Wagners Denken zur Parsifal-Zeit einen solchen Einfluss ausübte, dass man ohne weiteres in ihr einen der wichtigsten Schlüssel zum Verständnis des Werkes erblicken muss. Deshalb habe ich ihr im I. Teil des Buches eine ausführliche Darstellung gewidmet.

Da ich bei meiner Werkerklärung möglichst unvoreingenommen das Werk selbst befragen und allenfalls Wagners eigene Äußerungen als Ergänzung heranziehen wollte, habe ich größtenteils auf die Verwendung von Sekundärliteratur verzichtet. Doch es gibt noch einen Grund, weshalb ich die mittlerweile ins Riesenhafte gewachsene Masse der Wagner-Exegese außer Acht gelassen habe. Gerade in den letzten Jahrzehnten ist eine solche Menge an nicht nur unseriösen, sondern auch verleumderischen Äußerungen über Parsifal verbreitet worden, dass es ein eigenes Buch brauchen würde, um die Haltlosigkeit der vorgebrachten Behauptungen darzulegen. Das kann aber nicht die Aufgabe der gegenwärtigen Studie sein. (Wer sich genauer über das Thema „Wagner und die Juden“, sowie um die haltlosen Behauptungen über den angeblich antisemitischen Gehalt von Wagners Drama informieren möchte, kann die seriösen Untersuchungen von Borchmeyer, Eger, Kaiser und Scholz zu Rate ziehen, die im Literaturverzeichnis am Ende dieses Buches aufgelistet sind.) Vielmehr hoffe ich, dass durch die hier vorgelegte Werkerklärung sich jene Irrtümer und Verfälschungen von selbst auflösen werden, um so den Blick freizugeben auf ein einzigartiges Kunstwerk, dessen ethische Aussage gerade auf die orientierungslose und krisengeschüttelte heutige Menschheit eine heilende Wirkung ausüben kann.

Peter Berne,Berlin, Juni 2017

PROLOG

„DER GOTT IM MENSCHEN“

He! Ho! Waldhüter ihr,Schlafhüter mitsammen,so wacht doch mindest am Morgen!Hört ihr den Ruf? Nun danket Gott,dass ihr berufen, ihn zu hören!

Mit diesen Worten beginnt die Handlung des Parsifal. Der alte Ritter Gurnemanz ist es, der diese Mahnung an die Knappen ergehen lässt, nachdem er sie aus ihrem Morgenschlaf wachgerüttelt hat. Der Ruf, auf den die jungen Männer hören sollen, ist der Weckruf, der eben aus der Gralsburg ertönt ist; die Fanfare, die man im feierlichen Klang der Trompeten und Posaunen vernimmt, ist identisch mit dem sogenannten „Abendmahlsmotiv“, das an das Leben und Leiden Christi erinnern soll. Nun erinnert Gurnemanz die Knappen daran, dass sie angehende Gralsritter sind, und fordert sie dazu auf, wachsam zu sein und ihre höhere Aufgabe ständig im Bewusstsein zu behalten.

Doch worin besteht diese Aufgabe? Wozu ist ein Gralsritter ausersehen, und worin bestehen die Gefahren, vor denen er wachsam sein soll? Inwiefern steht sein Wirken im Zusammenhang mit dem Leben und Wirken Christi?

Auf diese Fragen gibt das nun anhebende Drama Antwort. Es ist die Geschichte von Parsifals Weg zum „Wissen“; und mit dem angehenden Gralskönig beschreiten auch die Zuschauer und Zuhörer den Weg zur Erkenntnis der tieferen Zusammenhänge des Seins, wie sie in Wagners Werk durch Wort, Bild und Klang zur Darstellung gelangen. Das Wesen der Realität, die Beschaffenheit der menschlichen Natur, das Verhältnis des Menschen zum „Göttlichen“, Leid und Leidbefreiung, der Konflikt zwischen Vernunft und Triebnatur – das sind die Problemkreise, um die es hier geht und auf die das Werk ein klärendes Licht wirft.

Es sind Themen, die jenseits aller kulturellen Unterschiede den Menschen und das menschliche Leben an sich berühren: das „Reinmenschliche“, wie Wagner es mit einem Ausdruck, die in seinen Schriften immer wiederkehrt, zu nennen pflegte. Weil er dieses Menschliche-an-sich zum zentralen Anliegen seines Schaffens machte, konnte er nicht nur aus den verschiedensten Strömungen der Geistesgeschichte, wie der griechischen Antike, dem Christentum oder dem alt-indischen Denken, schöpfen, sondern er konnte die Gedanken, die er diesen Quellen entnahm, auch in die verschiedensten Gewänder kleiden. In der zweiten Hälfte seines Lebens beschäftigte ihn der Entwurf zu einem Werk mit dem Titel „Die Sieger“, in dem er das Wichtigste, was ihn damals gedanklich bewegte, künstlerisch gestalten wollte. Hätte er diesen Plan ausgeführt, dann hätten wir, statt des Parsifal mit Christus als unsichtbarem aber allgegenwärtigem Mittelpunkt und einem Gralsritter als Hauptfigur, ein Drama, in dem der Buddha (Siddhārtha Gautama, um 500 v. Chr.) als Verkörperung des vollkommenen Menschen und Ananda, der Lieblingsjünger des Erhabenen, als läuterungsbedürftiger Held aufträten. Doch es kam nie zu dieser Ausführung; denn die Gedanken, die im Buddha-Drama zur Darstellung gelangen sollten, gingen ganz im Parsifal auf.

So ist dieses letzte Werk Wagners ein Drama geworden, in dem buddhistisches Gedankengut im Gewand christlicher Symbolik erscheint. Buddha konnte jedoch nur deshalb ein christliches Kleid anlegen, weil es Wagners künstlerischer Intuition gelang, das Reinmenschliche in beiden Religionen zu erkennen, das sie jenseits aller kulturell und geschichtlich bedingten Verschiedenheit verbindet. Parsifal ist also nicht bloß eine Darstellung der buddhistischen Weltsicht im christlichen Gewand, sondern bringt eine neue Weltsicht, die christliche Mystik und buddhistische Philosophie zu einer Synthese vereinigt, in der Wagners Idee des Reinmenschlichen ihre höchste Erfüllung erreicht.

Im Unterschied zum Ring ist Parsifal ein Drama des Innenlebens. Die gesellschaftliche Utopie fehlt hier völlig. Hier hat sich Wagners Überzeugung durchgesetzt, dass die von ihm erhoffte neue Welt nicht durch Änderung der äußeren Zustände, sondern allein durch eine tiefgehende Verwandlung im Inneren des menschlichen Wesens entstehen kann. Im Parsifal wird die innere Entwicklung eines Einzelnen dargestellt, dessen Erlebnisse, Erkenntnisse und schließlich „Erlösung“ paradigmatisch für die seelisch-geistige Entwicklung der künftigen Menschheit sein soll. Erst, nachdem im Seeleninneren die Verwandlung vollzogen worden ist, kann sie nach außen wirken und ein verwandeltes Leben hervorbringen, in dem auch die äußeren Zustände eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Dass dieses neue Leben immer noch das letzte Ziel darstellt, beweist die Karfreitagsszene, in der uns Wagner die Vision einer völlig verwandelten Welt vor Augen führt, die nicht nur die menschliche Gesellschaft, sondern alles Lebendige überhaupt umfasst: letzter und höchster Gipfel seines visionären Idealismus.

Wir wollen jetzt unsere Reise durch die Gedankenwelt des Parsifal damit beginnen, dass wir zwei der wichtigsten Symbole untersuchen, die Wagner verwendet, um das Innere des Menschen zur Darstellung zu bringen: den Gral und den heiligen Speer. Sie werden uns zunächst in die christliche Dimension des Dramas führen, die, wie gesagt, nicht nur die äußere Gewandung abgibt, sondern auch Wesentliches zum ideellen Gehalt beiträgt.

1. DER MENSCH ALS GEFÄSS DES GÖTTLICHEN

Wagner sprach in seinen letzten Lebensjahren oft vom „Gott im Menschen“. In dieser kurzen Formel, die er von dem französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823–1892), mit dessen Büchern er sich damals beschäftigte, übernahm,1 erscheint die Auffassung des menschlichen Wesens, die dem Parsifal zugrunde liegt, aufs Knappste zusammengefasst. Es ist die Überzeugung vom göttlichen Wesenskern des Menschen, der diesem als Möglichkeit, aber auch als höchste Bestimmung und Verpflichtung innewohnt. Wagners Frau Cosima (1837–1930) berichtet in ihren Tagebüchern über ein Gespräch aus dem Jahre 1878:

„Dann liest er mir die schönen Seiten […] in Renan über die Unifikation von Jesus mit Gott. Bei R. arbeitet dieses Thema weiter, diesen Gott, der in uns wohnt, nennt er „das angeborene Gegengift gegen den Willen.“2

„Gott“ wird also aus dem Jenseits in die Welt geholt, wird zu einer weltimmanenten Kraft, die sich vor allem im Menschen offenbart. Dabei handelt es sich keineswegs um den persönlichen Gott des kirchlichen Christentums. Diese Vorstellung war Wagner zeitlebens fremd und wurde von ihm nach seiner Hinwendung zur Schopenhauer’schen Philosophie aufs Entschiedenste abgelehnt.3 Was meinte er aber, als er von dem „Göttlichen in uns“4 sprach?

Obwohl dasjenige, was mit dem Wort „Gott“ oder „das Göttliche“ bezeichnet wird, seinem Wesen nach irrational und unergründlich ist und deshalb in seiner letzten Tiefe nicht mit logischen Begriffen erfasst werden kann, besitzt es bei Wagner, vor allem in seinen letzten Lebensjahren, neben dem Unaussprechlichen auch einen ganz bestimmten, rational erfassbaren Inhalt. Über diesen äußerte er sich mit großer Deutlichkeit in seiner Spätschrift „Religion und Kunst“. Dort erscheint das „Göttliche“ als jene grenzenlose Liebe, jenes allumfassende Mitleid, jene Bereitschaft zur letzten Selbsthingabe zugunsten anderer, die von Buddha verkündet und von Jesus auf beispielhafte Art und Weise vorgelebt wurde. Wenn Wagner also behauptet, dass es ein „Göttliches“ gebe, das den Urgrund der menschlichen Seele bilde, so will er darauf hinweisen, dass der Mensch in sich die Fähigkeit zu solcher Liebe und zu solchem Mitleid besitzt – und dass die Entwicklung und Steigerung dieser Fähigkeit die höchste Bestimmung des menschlichen Daseins ist.

Dieses Postulat der potentiellen Göttlichkeit des Menschen ist es, das auch dem Menschenbild des Parsifal zugrunde liegt. Schon die Sprache, die Wagner in der Dichtung verwendet, zeigt, dass dort eine Auffassung vorherrscht, die das Göttliche mit der dem Menschen innewohnenden Kraft der Liebe und des Mitleids gleichsetzt. Denn wenn man den Text des Parsifal aufmerksam durchliest, wird man mit Erstaunen feststellen, dass in diesem hochreligiösen Drama das Wort „Gott“ – außer in konventionellen Ausdrücken wie z. B. „Nun danket Gott“ – kaum vorkommt. Dagegen begegnet man umso häufiger dem Wort „göttlich“: „göttliches Blut“, „göttlicher Gehalt“, „der Göttliche weint“, „göttlichste Güter“ usw. Wenn trotzdem von „Gott“ gesprochen wird, wie z.B. in den Ausdrücken „Gottesklage“ oder „Gottes Liebesopfer“, so bezieht sich das Wort eindeutig auf Christus, der auch „der Göttliche“ genannt wird. Christus ist aber der Mensch gewordene Gott, d.h. die reinste Verkörperung des Göttlichen im Menschen. Und dessen Wesen ist – wie sein Leben und Sterben deutlich zeigen – jene grenzenlose Liebe und jenes allumfassende Mitleid, in denen Wagner den Inbegriff des Göttlichen erkannte.

Nun hat sich dieses Göttliche zwar in der Person des historischen Jesus exemplarisch verkörpert. Doch seine Offenbarung ist in der Sicht des Parsifal nicht auf diesen einen Menschen begrenzt; vielmehr wohnt der „Gott im Menschen“ dem Menschen an sich als Möglichkeit inne und drängt in jedem Menschen nach Verwirklichung. Diese mystische Kernaussage bringt Wagner durch ein Symbol zum Ausdruck. Das dem Menschen innewohnende Göttliche erscheint dort im Bild des Grals.

Woher hat Wagner dieses Symbol, und welche Bedeutung besaß es für ihn? Die Frage, die Parsifal auf seinem Weg in die Gralsburg stellt, ist auch für uns von größtem Interesse: „Wer ist der Gral?“

2. DIE BEDEUTUNG DES GRALS

Kein anderes Symbol spielt in Wagners Schaffen eine so vorherrschende Rolle wie jenes geheimnisvolle Gefäß, um das sich eine Schar auserlesener Ritter versammelt, die in der Welt für das Gute kämpft. Tatsächlich begleitete der Gral Wagners Denken und Schaffen von dem Augenblick an, als er den inneren Durchbruch zur geistig-künstlerischen Reife vollzog, beinahe ununterbrochen bis zum Ende seines Lebens. Schon 1842, als er 29 Jahre alt war und in Paris um geistige Selbstfindung rang, las er das Buch von Christian Theodor Ludwig Lucas Über den Krieg von Wartburg, in welchem die Geschichte des Gralsritters Lohengrin erzählt wird; drei Jahre später, während eines Kuraufenthalts in Marienbad, studierte dann der 32-Jährige eingehend den Parzival des Wolfram von Eschenbach (ca. 1160/80–1220) und las auch Albrecht von Scharfenbergs (Ende 13. Jh.) Jüngeren Titurel, in dem die alten Gralsepen mit großer Detailfülle zusammengefasst und weitergesponnen werden. Frucht dieser ersten Auseinandersetzung mit dem Stoff war der 1848 vollendete Lohengrin.

Die mythischen Bilder, die dieser ersten Gralsoper als Grundlage dienten, blieben in Wagners Geist auch noch in den Jahren danach sehr lebendig. Denn als er sieben Jahre später, im Jahre 1855, den Tristan konzipierte, flocht er, wie er in seiner Selbstbiographie Mein Leben berichtet, eine Episode ein, die „einen Besuch des nach dem Gral herumirrenden Parzival an Tristans Siechbette“ beinhaltete. „Dieser an der empfangenen Wunde siechende und nicht sterben könnende Tristan“ – so fährt er fort – „identifizierte sich in mir nämlich mit dem Amfortas im Gral-Roman.“5 1857 erfolgte dann jenes berühmte „Karfreitags-Erlebnis“, das zur ersten Konzeption des Parsifal-Dramas führte. An einem wunderbaren Frühlingsmorgen, bei vollem Sonnenschein, grünendem Garten und Vogelgezwitscher, wird Wagner angesichts der Herrlichkeit der wiederaufblühenden Natur bewusst, dass es Karfreitag ist. Und da entsinnt er sich, „wie bedeutungsvoll diese Mahnung mir schon einmal in Wolframs Parzival aufgefallen war“:

„Seit jenem Aufenthalte in Marienbad, wo ich die ‚Meistersinger‘ und ‚Lohengrin‘ konzipierte, hatte ich mich nie wieder mit jenem Gedichte beschäftigt; jetzt trat sein idealer Gehalt in überwältigender Form an mich heran, und von dem Karfreitags-Gedanken aus konzipierte ich schnell ein ganzes Drama, welches ich, in drei Akte geteilt, sofort mit wenigen Zügen flüchtig skizzierte.“6

Nach der Niederschrift dieses leider verschollenen ersten Entwurfs zu Parsifal ließ ihn der Stoff nicht mehr los. 1865 verfasste er auf Verlangen König Ludwigs den ersten erhaltenen Prosaentwurf, dessen Ausführung er jedoch wegen der Vollendung der Meistersinger und des Ring auf Jahre hinausschieben musste. Erst Anfang 1877, nach der Uraufführung der Nibelungen-Tetralogie, hatte er die innere und äußere Freiheit erlangt, die er für die Vollendung seines zweiten Gralsdramas benötigte. Von da ab bis zur Uraufführung des Werkes im Sommer 1882 bildete Parsifal den Hauptinhalt seines Lebens. Ein halbes Jahr später ereilte ihn in Venedig der Tod.

So sehen wir Wagner während eines Zeitraums von 40 Jahren beinahe ununterbrochen mit dem Gralsstoff beschäftigt: ein einzigartiger Fall in seinem Leben, der auf eindeutige Weise bezeugt, welch überragende Rolle der Gral in seiner geistigen Welt spielte. Wer auch nur ein wenig mit Wagners Art vertraut ist, wird wissen, dass diese Zuwendung weder einer romantischen Schwärmerei noch einem bloß ästhetischen Interesse an einem ergiebigen ‚Sujet‘ entsprungen sein kann. Vielmehr muss im Gralsmythos eine tiefere geistige Bedeutung enthalten sein, die aufgrund ihrer existentiellen Wichtigkeit für den Menschen und die Menschheit Wagner im Innersten seines Wesens zu fesseln vermochte.

Tatsächlich hat das Symbol des Grals seit seiner ersten Erscheinung in der französischen Literatur des 12. Jahrhunderts nie aufgehört, die Menschen in seinen Bann zu ziehen. Die Ursprünge des Gralsmythos lassen sich nicht mit Sicherheit feststellen.7 Manche Forscher erblicken sie in fernster indoeuropäischer Vergangenheit, andere wollen sie dagegen im Keltentum oder in den vorderasiatischen Kulturen erkennen. Tatsächlich lässt sich das Symbol des Grals keiner bestimmten Region oder Kultur zuordnen, nicht einmal der übergeordneten kulturellen Einheit des christlichen Abendlands. Gerade darin liegt aber eine tiefere Bedeutung; denn die Universalität des Grals ist eines seiner hervorragendsten Merkmale. Dem Gralsmythos wohnt offensichtlich das Bestreben inne, kulturbedingte Grenzen zu überwinden, weshalb Volker Mertens in seinem Buch Der Gral – Mythosund Literatur von dem „Weltenumfassenden“ und der „kulturübergreifenden Dimension der Gralsgeschichte“ spricht.8

Die erste Dichtung, in der Parzival oder Perceval als Held auftritt, und in der der Gral mit Namen genannt wird, ist das von Chrétien de Troyes (ca. 1140–1190) am Ende des 12. Jahrhunderts verfasste, unvollendet gebliebene Epos Le Roman de Perceval ou le Conte du Graal. Wolframs Parzival, der zwischen 1205 und 1210 entstand, lehnt sich eng an Chrétiens Darstellung an; in ihm wird die Parzival-Geschichte, die bei Chrétien abbricht, bevor der Held zum zweiten Mal zum Gralstempel kommt, zu Ende erzählt, so dass nun auch Parzivals Einsetzung als Gralskönig zur Darstellung gelangt. Zwischen diese beiden Fassungen des Parzival-Stoffes fällt die Entstehung des 1201 erschienenen Epos des Robert de Boron (Ende 12./Beginn 13. Jh.), die Estoire du Graal. Robert behandelt im Gegensatz zu den beiden anderen Autoren nicht die Geschichte Parzivals, sondern greift weiter zurück in der Zeit und erzählt von der Herkunft des Grals und dem Schicksal der ersten Gralshüter. Diese drei Bücher bilden die Trias der Hauptquellen, auf die alle späteren Darstellungen der Gralsgeschichte zurückgreifen.

Wenn mit dem Beginn der Renaissance die Geschichte des Grals und des Gralssuchers Parzival auch in Vergessenheit geriet, so bedeutet dies keineswegs, dass sie ihre Aktualität eingebüßt hatte. Denn bereits im Jahre 1753 trat sie mit einer von Johann Jakob Bodmer herausgegebenen Auswahl aus Wolframs Parzival wieder ins Bewusstsein der gebildeten deutschen Öffentlichkeit. Dass dann die Romantiker starkes Interesse am Gralsstoff zeigten, überrascht nicht. Doch auch Goethe war von ihm offensichtlich stark beeindruckt, wie sein großartiges, leider unvollendet gebliebenes religiöses Versepos „Die Geheimnisse“ beweist, in dem die Pilgerfahrt eines zu besonderen Aufgaben ausersehenen jungen Mannes, sowie eine geheimnisvolle Gemeinschaft von Rittermönchen dargestellt werden: zwei Motive, die ganz offensichtlich den mittelalterlichen Gralserzählungen entlehnt sind.9

Durch Wagners Lohengrin wurde die Gralsgeschichte schließlich auch dem breiten Publikum bekannt, weshalb man Wagner ohne weiteres zu den allerwichtigsten ‚Gralskündern‘ rechnen kann. Doch er stand mit seinem Interesse an dem alten Stoff keineswegs allein da, wie die zahlreichen vom Gral inspirierten Dichtungen, die im 19. Jahrhundert in England erschienen, zur Genüge beweisen.10 Der Gral wurde dann im 20. Jahrhundert für zwei geistige Bewegungen zum zentralen Symbol. Rudolf Steiner (1861–1925), der Begründer der „Anthroposophie“, nannte seine eigenartige Geschichtsauffassung, in der Christus als der Mittelpunkt der gesamten kosmischen Entwicklung erscheint, die „Wissenschaft vom Gral“11 – und der Psychologe C. G. Jung (Carl Gustav Jung, 1875–1961) sah im Gral ein zentrales europäisches Symbol, das diejenigen Eigenschaften zum Ausdruck bringe, die den Gegensatz zwischen dem abendländischen und dem östlichen Menschentum ausmachten.12

Was ist nun aber das Besondere an diesem Symbol? Worauf beruht seine große Faszination?

Die Hauptbedeutung des Grals besteht zweifellos darin, dass er eine Religionsauffassung zum Ausdruck bringt, die von derjenigen der Kirche und der traditionellen christlichen Theologie stark abweicht. Tatsächlich wirkt die Gralsgeschichte innerhalb des abendländischen Geisteslebens wie eine unterirdische Strömung, die, von den offiziellen Vertretern des Christentums unbeachtet, immer wieder hervorbricht, um das religiöse Denken und Erleben zu befruchten. Im Gegensatz zur traditionellen Theologie, die versucht, die Heilsgeschichte in fest umrissene Begriffe zu zwängen, die nicht nur begrenzt, sondern zum Teil auch schwer verständlich sind, drückt sich der Gralsmythos in symbolischen Bildern aus, die von jedem Menschen unmittelbar erfasst werden können.13 Ein zweites besonderes Merkmal der Gralsgeschichte ist, dass sie die Grenzen des bloß Christlichen sprengt, und den eigentlichen Kern des Christentums – die Person Jesu und die Leidensgeschichte – als etwas Reinmenschliches darstellt, das Morgenland und Abendland verbindet und deshalb alle Menschen, gleich welchem Kulturkreis sie angehören, betrifft.

Charakteristisch für die Gralsgeschichte ist auch, dass der in ihr gezeigte Weg auf einer welt- und lebensbejahenden Grundhaltung beruht. Schon die Gegenwart des heiligen Gefäßes im Gralstempel, die ein Zeugnis für die Gegenwart des Göttlichen im Irdischen ist, bedeutet eine Aufwertung des irdischen Lebens; und die Gralssucher sind nicht nur Heilige, die nach seelischer Reinheit streben, sondern zugleich auch vollendete Ritter, deren Aufgabe es ist, als Träger einer transzendenten Kraft in der Welt für das Gute zu kämpfen.

Vor allem aber ist das Gralschristentum ein mystisches Christentum. Denn es verkündet die Möglichkeit unmittelbarer, innerer religiöser Erfahrung. Der Mensch, der den Gral „schaut“, braucht weder Schrift noch vermittelnde Priester, um mit Gott in Verbindung zu treten; vielmehr erlebt er seine religio, seine Wiederanbindung an das Göttliche, als Begegnung in der eigenen Seele.

Zusammenfassend kann man sagen, dass die Religion des Grals universal, weltbejahend und mystisch ist; sie betont den Wert des eigenverantwortlichen Individuums und drückt sich in der jedem Menschen zugänglichen Sprache symbolischer Bilder aus. Dieser Entwurf einer völlig andersgearteten Religiosität ist es, was Menschen, denen das offizielle, kirchliche Christentum nicht genügte, zu allen Zeiten mächtig angezogen hat. Dass eine solche Religionsauffassung auch gerade Wagner besonders beeindrucken musste, liegt auf der Hand. Denn die Kernideen, die im Gralschristentum zum Ausdruck kommen: die Steigerung des irdischen Lebens durch die Verbindung des Menschen mit einer tieferen Dimension des Seins, das Fehlen dogmatischer Theologie, sowie die unmittelbare mystische Begegnung des Einzelnen mit dem Göttlichen – all das entspricht den Grundtendenzen seines eigenen Denkens und Schaffens.14

In welcher Gestalt aber trat ihm dieses Symbol, das für ihn und sein Werk eine so große Bedeutung erlangen sollte, zum ersten Mal entgegen? Wie wird der Gral in den alten Epen beschrieben?

3. DER GRAL IN DEN MITTELALTERLICHEN DICHTUNGEN

Der Gral wurde im Mittelalter seiner Form und seinem Wesen nach sehr verschieden aufgefasst. Bei Chrétien wird seine äußere Gestalt überhaupt nicht beschrieben. Wir erfahren nur, dass er „aus purem, lauterem Gold“ gebildet und mit „vielerlei Edelsteinen“ übersät ist, die „zu den kostbarsten und wertvollsten, die Meer und Erde freigeben“ zählen15 – was darauf hinweist, dass der Gral einen kostbaren Schatz darstellt, das Wertvollste, was der Mensch auf Erden erlangen kann. Es wird auch erzählt, dass der Gral „eine so strahlende Helligkeit“ von sich gebe, „dass die Kerzen ihren Glanz verloren, ebenso wie die Sterne oder der Mond tun, wenn sich die Sonne erhebt“.16 Der Gral steht auch im Zusammenhang mit einer geheimnisvollen Speisung, bei der erlesenste Gerichte in scheinbar unerschöpflicher Fülle aufgetragen werden; er scheint also eine Art Füllhorn zu sein, das denen, die mit ihm in Berührung kommen, unendliches Leben spendet. Zugleich ist er aber auch der Spender rein geistiger Nahrung; denn im Gral wird dem alten König eine Hostie gereicht, die ihn ohne irdische Speise am Leben erhält und stärkt.

Auch bei Wolfram, aus dessen Parzival Wagner in jenem Marienbader Sommer zum ersten Mal den ganzen Sagenstoff kennenlernte, ist der Gral der Spender geheimnisvoller Kraft und besitzt als solcher allerhöchsten Wert. Er ist der „Inbegriff paradiesischer Vollkommenheit, Anfang und Ende allen menschlichen Strebens“ und übertrifft „alle Vorstellungen irdischer Glückseligkeit“.17 Auch dort geht vom Gral eine wunderbare Speisung aus; er ist „ein Füllhorn irdischer Köstlichkeiten“.18 Und auch dort spendet er ewiges Leben: Wer ihn anblickt, altert nicht, und auch einem todkranken Menschen kann der Tod nichts anhaben, wenn er jede Woche den Gral schaut. Dass die Quelle dieser wunderbaren Kraft Christus ist, wird bei Wolfram besonders betont. Denn jedes Jahr am Karfreitag fliegt „eine blendend weiße Taube“ – das Symbol des Heiligen Geistes – vom Himmel herab und legt auf den Gral „eine kleine, weiße Oblate“.19 Der größte Unterschied zwischen Wolframs und Chrétiens Auffassung des Grals liegt in der Beschreibung des Stoffes, aus dem dieser gebildet ist. Denn während beim französischen Dichter der Gral aus Gold gebildet ist, ist er bei Wolfram ein besonders wertvoller Edelstein: Er heißt „Lapsit exillis“20 – was wohl ein Wortspiel mit dem lateinischen „ex caelis“ (‚vom Himmel‘) ist21 – und ist „makellos rein“.22 Welche Form dieser Stein habe, wird jedoch auch hier nicht gesagt.

Genauere Auskunft über Herkunft und Wesen des Grals bekommen wir erst von Robert de Boron. Allerdings ist das, was wir aus Roberts Gralsepos erfahren, von dem, was die beiden anderen Dichter erzählen, sehr verschieden. Robert folgt in seinem Gralsepos offensichtlich einem anderen Überlieferungsstrang, bei dem nicht die Abenteuer der Ritter, sondern das Schicksal des Grals selbst im Mittelpunkt steht. Bei ihm ist der Gral das Gefäß, das Jesus beim letzten Abendmahl verwendete, als er seinen Jüngern Wein anbot mit den Worten: „Das ist mein Blut, das Blut des Bundes, das für viele vergossen wird.“23 In diesem Gefäß – so erfahren wir weiter – wurde von Joseph von Arimathia (oder Arimathäa) nach der Kreuzigung das aus der Seitenwunde Jesu fließende Blut aufgefangen. Der Gral steht also bei Robert in Verbindung mit dem Blut Christi – und das auf zweifache Art und Weise. Zum einen diente er als Gefäß für das mystische Blut, in das beim letzten Abendmahl Jesus den Wein verwandelte – zum anderen aber als Behälter für das wirkliche Blut Jesu, das aus seinem Körper floss, als er aus grenzenloser Liebe sein Leben für die Menschheit hingab.

Durch seine Deutung des Grals setzt Robert die Gralssage überhaupt in Verbindung mit den Evangelien. Diese berichten nicht nur von der Stiftung des Abendmahls, bei dem Wein in das Blut Christi verwandelt wurde, sondern erzählen auch, wie Joseph, der ein „heimlicher“ Jünger Jesu war, den Leichnam des Gekreuzigten von Pilatus erbat. Wichtig für die Deutung der Gralssymbolik ist vor allem die Fortsetzung der Erzählung. Denn alle vier Evangelien berichten, dass Joseph, nachdem er geholfen hatte, den Leichnam Jesu vom Kreuz abzunehmen, diesen in ein aus dem Felsen gehauenes Grab legte, in dem Jesus nun seiner Auferstehung entgegenging. Bei Markus lesen wir:

„Da es Rüsttag war, der Tag vor dem Sabbat, und es schon Abend wurde, ging Joseph von Arimathäa, ein vornehmer Ratsherr, der auch auf das Reich Gottes wartete, zu Pilatus und wagte es, um den Leichnam Jesu zu bitten. Pilatus war überrascht, als er hörte, dass Jesus schon tot sei. Er ließ den Hauptmann kommen und fragte ihn, ob Jesus bereits gestorben sei. Als der Hauptmann ihm das bestätigte, überließ er Joseph den Leichnam. Joseph kaufte ein Leinentuch, nahm Jesus vom Kreuz, wickelte ihn in das Tuch und legte ihn in ein Grab, das in einen Felsen gehauen war. Dann wälzte er einen Stein vor den Eingang des Grabs.“24

Matthäus fügt noch hinzu, dass es Josephs eigenes Grab war, „das er für sich selbst in einen Felsen hatte hauen lassen“.25

Nun ist der Berg oder der Fels in vielen Mythen und Märchen ein Symbol für den menschlichen Körper, und die Höhle im Inneren des Berges – man denke nur an den „Heinrich von Ofterdingen“ des Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1771–1801) – ein Sinnbild für den verborgenen Innenraum der Seele. Umgekehrt wurde im von Platon beeinflussten frühen Christentum der Körper oft als „Grab der Seele“ betrachtet. Es liegt deshalb nahe, falls man bereit ist, die Evangelien symbolisch zu deuten, die Erzählung der Grablegung als ein Bild dafür aufzufassen, dass Christus, oder die Kraft, die er verkörperte, nach der letzten Vollendung durch den freiwilligen Opfertod gleichsam in das Innere des Menschen hineinversenkt wurde, wo er nunmehr seiner Auferstehung harrt.

Auf jeden Fall scheint dies die Auffassung zu sein, die der von Robert wiedergegebenen Sage zugrunde liegt. Denn dort wird Joseph nach der Grablegung in einen Turm geworfen, „der hoch aufragte und sich tief in die Erde fortsetzte“, wo er auf unbestimmte Zeit in einem Verlies gefangen gehalten werden soll, „das überaus grauenhaft und dunkel und ganz aus hartem Stein gebaut war“.26 Der Turm aber, als feste, abschließende, trennende Mauer, ist auch ein Sinnbild des menschlichen Körpers, so dass man Josephs Gefangennahme als Symbol dafür auffassen kann, dass dieser heimliche Jünger Jesu – nachdem ihm mit dem Tode seines Meisters das Licht, das ihm in der Welt geleuchtet und sein Dasein auf eine höhere, geistigere Stufe gehoben hatte, erloschen war – nunmehr in die Finsternis der bloß körperlich-naturhaften Existenz zurückgeworfen wurde, aus der die göttliche Gegenwart verschwunden war.

Eines Tags erstrahlt aber in der Dunkelheit seines Gefängnisses ein blendendes Licht – und in diesem Licht erblickt er den auferstandenen Christus (Robert nennt ihn einfach „Gott“), der ihm den Gral entgegenhält:

„Gott vergalt ihm reichlich, was er für ihn erduldet. Er kam zu ihm in das Verlies und trug sein Gefäß in der Hand, das eine so große Helligkeit über ihn ergoss, dass der Kerker im Lichte strahlte. Und als Joseph die Helligkeit erblickte, da freute er sich in seinem Herzen. Gott brachte ihm sein Gefäß, worin er sein Blut aufgefangen hatte. Joseph war im Innersten von der Gnade des Heiligen Geistes ganz erfüllt, als sein Blick auf das Gefäß fiel […] Alsbald kniete er nieder und dankte Unserem Herrn dafür: ‚O Herr und Gott, bin ich denn so würdig, dass ich ein so kostbares Gefäß hüten kann und darf, worin Ihr Euer heiliges Blut strömen ließet?‘ Gott sprach: ‚Du sollst es mir hüten und auch die, denen Du es anvertrauen wirst.‘“27

Der „Gott“, der ihm in der Außenwelt weggestorben war, erscheint also nun in seinem Inneren und hinterlässt ihm mit seinem Blut seine unsterbliche Substanz. Christus, die Verkörperung des Göttlichen, feiert in der menschlichen Seele seine Auferstehung.

4. DER GRAL IM PARSIFAL

Wie man diese Symbole auch deuten mag, es ist sicherlich kein Zufall, dass Wagner gerade diese Auffassung des Grals für seinen Parsifal übernahm. In einem Brief an Mathilde Wesendonk aus dem Jahre 1859 – der Stoff arbeitete damals mächtig in seinem Inneren – verkündete er entschieden seine Abkehr von der Wolfram’schen Darstellung, der er noch im Lohengrin gefolgt war, und seine Hinwendung zu Robert:

„Der Gral ist nun, nach meiner Auffassung, die Trinkschale des Abendmahls, in welcher Joseph von Arimathia das Blut des Heilands am Kreuz auffing. Welche furchtbare Bedeutung gewinnt nun hier das Verhältnis des Anfortas zu diesem Wunderkelch …“28

In der Parsifal-Dichtung wird dann die Legende erzählt, nach der Christus seine Engel auf die Erde niedersandte, um Titurel, dem ersten Gralskönig, ein „höchstes Wundergut“ zu übergeben:

Ihm neigten sich in heilig ernster Nacht

dereinst des Heilands selige Boten:

daraus der trank beim letzten Liebesmahle,

das Weihgefäß, die heilig edle Schale,

darein am Kreuz sein göttlich Blut auch floss,

dazu den Lanzenspeer, der dies vergoss –

der Zeugengüter höchstes Wundergut –

das gaben sie in unseres Königs Hut.

Der Gral ist im Parsifal also ein „Weihgefäß“, ein „Heilsgefäß“, dessen „göttlicher Gehalt“ das „heiligste Blut“ ist. Das will sagen: Er ist Träger der Essenz des innersten Wesens Christi, die durch das „göttlich Blut“ symbolisiert wird. Und dass sich dieser „göttliche Gehalt“ im Inneren des Menschen befindet, geht aus den Worten und den mythischen Bildern von Wagners Drama eindeutig hervor. Ausdrücklich wird gesagt, dass sich das heilige Blut Christi „im Herzen“ befindet – dass also der Gral und das Blut, die man im mystischen Raum des Gralstempels erblickt, Symbole sind für eine innere Wirklichkeit.

Des Weihgefäßes göttlicher Gehalt

erglüht mit leuchtender Gewalt;

durchzückt von seligsten Genusses Schmerz,

des heiligsten Blutes Quell

fühl ich sich gießen in mein Herz…

– so singt Amfortas während seiner inneren Vision des Gralsleuchtens in der Gralsszene des I. Akts. Und Parsifal, da er im II. Akt die Qualen des zwischen Begierde und Heiligkeit hin- und hergerissenen Gralskönigs mitfühlend durchleidet, bezeichnet das Herz sogar als ein vom Heiland bewohntes „Heiligtum“:

Nur hier, im Herzen will die Qual nicht weichen.

Des Heilands Klage da vernehm ich,

die Klage, ach! die Klage

um das entweihte Heiligtum:

„Erlöse, rette mich

aus schuldbefleckten Händen!“

So rief die Gottesklage

furchtbar laut mir in die Seele.

Der Gral kann sich nur im Inneren befinden; denn „kein Weg führt zu ihm durch das Land“. Er befindet sich in einem Bereich, wo „die Zeit zum Raum wird“: einem übersinnlichen Bereich also, wo die Grenzen zwischen Zeit und Raum aufgehoben sind. Und dieser Bereich liegt nicht, wie noch im Lohengrin, droben im Himmel, sondern im Inneren des Berges. „In Felsenwänden öffnet sich ein Torweg, welcher die beiden jetzt einschließt“ – so lautet die szenische Vorschrift Wagners an der Stelle, wo der mystische Gang zur Gralsburg beginnt. Und im III. Akt, da dieser Weg noch einmal zurückgelegt wird, heißt es:

„Die Gegend verwandelt sich sehr allmählich […] Nachdem die drei eine Zeitlang sichtbar geblieben, verschwinden sie gänzlich, als der Wald sich immer mehr verliert und dagegen Felsengewölbe näher rücken […] In gewölbten Gängen stets anwachsend vernehmbares Geläute […] Hier öffnen sich die Felswände und die große Grals-Halle, wie im ersten Aufzuge, nur ohne Speisetafeln, stellt sich wieder dar.“

Das, was hier symbolisch ausgedrückt wird, ist der Schlüssel zum Verständnis des ganzen Parsifal. Denn das Bild des im Inneren des Berges befindlichen Tempels, in dem das Gefäß mit dem Blut Christi aufbewahrt wird, will sagen, dass im tiefsten Inneren der menschlichen Seele Christus gegenwärtig ist – als „Gott im Menschen“. Und das ganze Drama kreist um die Frage, wie sich der Mensch zu diesem göttlichen Wesenskern – zu dem Christus im Herzen – verhalten soll.

Dass der Mensch aber als freies Individuum die Möglichkeit besitzt, sich auch gegen das Göttliche zu stellen, kommt in dem zweiten großen Symbol zum Ausdruck: dem Speer.

5. DIE SYMBOLIK DES SPEERES

Schon in den alten Epen nimmt das Symbol des Speeres eine wichtige Stellung ein. Chrétien beschreibt, wie während Percevals erstem Besuch auf der Gralsburg eine blutende Lanze vorübergetragen wird:

„Während sie noch über dies und das sprachen, kam aus einer Kammer ein Knappe mit einer weißen Lanze, deren Schaft er in der Mitte gepackt hielt. Zwischen dem Feuer und den im Bett Sitzenden schritt er hindurch. Alle im Saal sahen die weiße Lanze und ihre weiße Spitze, und oben aus dieser quoll ein Blutstropfen und rann dunkelrot auf die Hand des Knappen.“29

Danach wird von einer Jungfrau der Gral hereingetragen.

Ganz ähnlich spielt sich die Szene bei Wolfram ab. Dort wird von Parzival erwartet, dass er nicht nur fragt, wen man mit dem Gral bediene, sondern auch, was es mit der Lanze und dem aus ihr hervorquellenden Blut für eine Bewandtnis habe.

In diesen beiden ältesten Fassungen des Parzival-Stoffes ist die Herkunft des Speeres noch unklar. Erst in den späteren französischen Fortsetzungen wird dieser eindeutig mit jener Lanze gleichgesetzt, mit der der römische Soldat Longinus die Seitenwunde Jesu stach. Das ist auch die Fassung, die von Wagner im Parsifal übernommen wurde, und in dieser Form wurde der Speer zu einem der bedeutungsvollsten Symbole des Dramas.

Die überragende Wichtigkeit, die der Speer in der Wagner’schen Fassung des Gralsstoffes besitzt, geht aus einer Bemerkung hervor, die Cosima in ihren Tagebüchern festgehalten hat. Unter dem Datum des 30.1.1877 berichtet sie:

„Bei Tische sagte mir R., er sei über das Schwerste im Parzival hinüber; keine Frage, sondern die Wiedergewinnung der Lanze sei es, worauf es ankomme.“30

Tatsächlich hat Wagner die Überlieferung dahingehend verändert, dass der heilige Speer – der bei Chrétien und Wolfram immer beim Gral ist – aus dem Gralstempel entfernt wird und in die Hand Klingsors gerät, so dass die Hauptaufgabe des Helden nunmehr darin besteht, ihn wiederzugewinnen und zum Gral zurückzuführen. Dass dieses Motiv von Wagner ganz bewusst als Mittel der geistigen Aussage eingesetzt wurde, wird durch eine schon zwölf Jahre früher verfasste Eintragung im Braunen Buch, das Wagner eine Zeit lang als geistiges Tagebuch benutzte, bezeugt, in dem wir unter dem Datum des 2.9.1865 folgendes Selbstgespräch lesen können:

„Was soll ich mit der blutigen Lanze machen? - Das Gedicht sagt: mit dem Gral sei zugleich auch die Lanze aufgeführt worden; an ihrer Spitze hing ein Blutstropfen. – Die Wunde des Amfortas ist jedenfalls von dieser Spitze gestochen: wie hängt dies aber zusammen? Hier ist große Confusion. Die Lanze gehört, als Reliquie, zu der Schale; in dieser wird das Blut aufbewahrt, welches durch die Lanzenspitze dem Schenkel [sic!] des Heilands entfloss. Beide ergänzen sich.“31

Darauf folgt eine Überlegung darüber, warum sich die Lanze überhaupt in der Hand Klingsors befinde: War sie ursprünglich zusammen mit dem Gral in der Obhut der Ritter und ist sie erst durch die Katastrophe des Amfortas in Klingsors Hand geraten, so dass sie nun wiedergewonnen werden muss? Oder war sie von Anfang an in Klingsors Gewalt und muss sie deshalb für den Gral überhaupt erst erobert werden? Wie wir wissen, entschied sich Wagner für die erste Fassung.

Der Grundmythos des Speeres, wie er dann von Wagner im Parsifal gestaltet wurde, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Der römische Soldat Longinus stieß nach der Kreuzigung Jesu diesem seine Lanze in die Seite. Daraus floss Blut, das teilweise von Joseph von Arimathia in der Gralsschale aufgefangen wurde, teilweise an der Spitze des Speeres haften blieb. Dieser Speer wurde später zusammen mit dem Gral als „Heiltum“ Titurel übergeben. Amfortas zog mit dem Speer zum verhängnisvollen Kampf gegen Klingsor aus, in dem er, durch Kundry verführt, diesem unterlag. Klingsor bemächtigte sich des Speeres und schlug damit Amfortas – an derselben Stelle, an der einst Longinus Jesus verletzt hatte – eine Wunde, die furchtbare Qualen verursacht und die nur durch die Berührung desselben Speeres wieder geheilt werden kann. Parsifal gelingt es, den Speer wiederzugewinnen und zum Gral zurückzuführen, wodurch die Amfortaswunde endlich geschlossen wird.

Was hat dies alles zu bedeuten? Warum hat Wagner dem Speer und dessen Schicksal eine so überragende Bedeutung beigemessen, so dass er sagen konnte, „die Wiedergewinnung der Lanze sei es, worauf es ankomme“? Diese Frage kann man nur beantworten, wenn man sich zuvor klar gemacht hat, welche Symbolik der Speer ganz allgemein und insbesondere für Wagner beinhaltet.

Zunächst hat man mit dem Speer ein archetypisches Symbol vor sich, das eindeutig auf Männlichkeit hinweist. Speer und Schale gehören zusammen wie männlich und weiblich und sind Ausdruck jener Ganzheitlichkeit, die überhaupt ein Kennzeichnen des Gralsmythos ist. Männlichkeit bedeutet aber auch Wille, Tatkraft und Entschiedenheit, und insofern ist der Speer – der ja als Waffe ein Werkzeug der Selbstbehauptung gegen Andere ist – auch Symbol des Eigenwillens. So wurde er jedenfalls von Wagner aufgefasst; denn schon im Ring ist der Speer ein Sinnbild der Ichhaftigkeit: Um ihn zu gewinnen, bricht Wotan einen Ast von der Weltesche ab, womit er sich symbolisch von der organischen Einheit der Natur trennt und ein mit Eigenwillen begabtes Individuum wird. Die Vermutung, dass der Speer im Parsifal eine ähnliche Bedeutung besitzt, liegt nahe. Und tatsächlich zeigt uns die Musik, dass es sich in beiden Fällen um dasselbe Grundphänomen handelt. Denn das Speermotiv besteht in beiden Werken aus einer sich kräftig und zielsicher fortbewegenden diatonischen Tonleiter. Während diese jedoch im Ring nach unten geht, strebt sie im Parsifal in die Höhe:

Der Wotanspeer

Der Gralsspeer

Verglichen mit dem Speer Wotans hat also der Gralsspeer eine totale Richtungsumkehr vollzogen. Diese musikalische Umkehrung ist aber der symbolische Ausdruck einer radikalen Willensumkehr – ja, man könnte sogar sagen: einer ontologischen Veränderung, die sich im Kern des menschlichen Wesens an sich abgespielt hat. Denn im Parsifal trägt der Speer an seiner Spitze das Blut Christi; und das bedeutet, dass der Mensch im wahrsten Sinne des Wortes zum Christophoros, zum ‚Christusträger‘ geworden ist. Das ist der Unterschied zwischen der Auffassung des menschlichen Wesens, wie sie im Ring und im Parsifal erscheint. Während im Ring der Wille Wotans noch von Selbstsucht und Eigenmächtigkeit beherrscht wird, und die Fähigkeit zur Liebe erst errungen werden muss, ist dem Willen des Menschen, wie er im Parsifal gezeigt wird, durch das beispielhafte Leben und Sterben Jesu bereits das Vermögen verliehen worden, an jener allumfassenden Liebe teilzuhaben, die als „das Göttliche“ bezeichnet wird. In beiden Werken ist es aber die ureigenste Bestimmung des Menschen, diese Liebe in sich zu verwirklichen. Im Parsifal ist diese Verwirklichung gleichbedeutend mit der Vereinigung des menschlichen Ich-Willens mit dem Göttlichen. Und das Symbol dafür ist die Wiedervereinigung von Speer und Gral.

Dieser höchste Zustand ist jedoch dem Menschen auch im Parsifal nicht einfach gegeben, sondern muss von ihm erst erlangt werden. Denn Speer und Gral können – wie uns die Handlung lehrt – getrennt werden; d.h., der menschliche Einzelwille kann von dem Göttlichen abfallen und zum Diener der Begierde und des Egoismus werden. Ob der Mensch seinen Willen in Einklang mit dem Göttlichen bringt, oder ob er sich gegen dieses stellt, liegt in seiner freien Entscheidung. Hier berührt die Symbolik des Speeres das Mysterium der Freiheit. Denn es gibt offensichtlich neben dem Gral, als dem innersten „Selbst“ des Menschen, ein Zweites in seinem Inneren, das ebenfalls „er selbst“ ist, jedoch sich jenem ersten „Selbst“ entgegenstellen kann. Der Mensch ist in seinem innersten Wesen eins mit Christus; doch er ist zugleich ein selbstständiges Individuum, das sein Schicksal in Freiheit und Eigenverantwortlichkeit gestalten kann und muss. Man könnte auch sagen: Der Mensch ist zwar christusgleich; doch er muss erst aus eigener Kraft werden, was er ist.

Mit dieser Betonung der Willensfreiheit erweist sich Parsifal als ein eminent humanistisches Werk. Wagner vertritt hier eine Auffassung, die dem Menschen und dem Mensch-Sein höchste Bedeutung und höchsten Wert zuspricht. Verleiht der Gral – als das Göttliche in der menschlichen Seele – dem Menschen eine nicht zu überbietende Würde, so wird ihm durch die Freiheit größte Verantwortung auferlegt. Denn das Göttliche kann zwar durch den Menschen in Erscheinung treten; doch ob dies geschieht, liegt ganz in der freier Wahl des Einzelnen. Während also das Symbol des Grals im Parsifal die Mystik begründet, macht die Symbolik des Speeres das Werk zum Verkünder eines Humanismus, in dem die humanistische Tradition des Abendlandes ihren höchsten Gipfel erreicht. Beide zusammen ergeben ein Menschenbild, das man als mystischen Humanismus bezeichnen kann.

Zum Schluss sei noch auf die für die humanistische Aussage des Werkes hochbedeutsame Tatsache hingewiesen, dass nur der Speer selbst imstande ist, die von ihm geschlagene Amfortas-Wunde zu heilen. Parsifal selbst spricht dies am Ende des Werkes deutlich aus:

Nur eine Waffe taugt: –

die Wunde schließt

der Speer nur, der sie schlug.

Damit wird unmissverständlich auf die höchste Steigerung der Individualität als das Ziel der menschlichen Höherentwicklung gewiesen. War es das Ich, das als von Begierde erfüllter Eigenwille den Menschen von seiner Bestimmung entfernte und ihn dadurch ‚verwundete‘, so kann auch die Heilung nur durch dasselbe Ich erfolgen, das sich auf einem langen Prüfungsweg läutert und in freier Entscheidung die Begierde überwindet und den Durchbruch zur allumfassenden Liebe schafft. Nicht Abtötung des Ichs ist der Weg zur Erlösung, sondern seine Selbstreinigung von Egoismus und Begierde; der Speer ist zugleich Instrument und höchstes Ziel menschlicher Vollendung. Hier wird man an die Definition der Liebe erinnert, die Wagner einst während der Entstehung der Ring-Dichtung in seinem theoretischen Hauptwerk Oper und Drama formuliert hatte. „Die Liebe“ – so lesen wir dort – „ist eben nicht Selbstbeschränkung, sondern unendlich mehr, nämlich – höchste Kraftentfaltung unseres individuellen Vermögens …“32 Nur durch diese Kraftentfaltung gelangt der Mensch zur Einheit mit dem Göttlichen.

6. MUSIKALISCHER EXKURS DAS VORSPIEL ZUM I. AKT

Das, was Wagner als „Gott im Menschen“ bezeichnete, ist auch das Thema des symphonischen Vorspiels, das dem Drama vorangestellt ist. Wie immer, so versteht es Wagner auch hier, Tiefes und Unaussprechliches durch Töne auszudrücken; und auch hier handelt es sich dabei nicht nur um unbestimmte Gefühlserlebnisse, sondern auch um deutliche gedankliche Aussagen, die für denjenigen, der es versteht, die Wagner’sche Motivsprache zu entziffern, wichtige Aufschlüsse über den geistigen Gehalt des Werkes liefern.

Schon die ersten Töne umgeben uns mit einem Gefühl des Geheimnisvollen. Einfach wie ein gregorianischer Choral erklingt im unisono der Streicher und Holzbläser eine fünftaktige Melodie, die wie ein Motto dem Werk vorangestellt wird:

Die Bedeutung dieses weit ausgesponnenen Themas ist aus seiner Verwendung in der Gralsszene des I. Aktes leicht zu erkennen. Dort wird es zu den Worten gesungen, mit denen, den synoptischen Evangelien zufolge, Jesus am Abend vor seiner Kreuzigung das heilige Abendmahl einsetzte:

Nehmet hin meinen Leib,

nehmet hin mein Blut

um unserer Liebe willen!

Das Thema wird deshalb traditionell als „Abendmahlmotiv“ bezeichnet. Musik bringt aber immer den inneren Gehalt einer Sache zum Ausdruck; und der innere Gehalt der Abendmahlsstiftung, die Quelle, aus der sie entspringt, ist der Wille Jesu, aus Liebe zu den Menschen seinen Leib und sein Blut hinzugeben. Der eigentliche Inhalt des Motivs ist also jene innere Haltung der unbegrenzten Hingabebereitschaft, welche Jesus zu seiner höchsten Opfertat bewog. Es ist also seinem inneren Gehalt nach ein Christus-Motiv.

Der unbefangene Zuhörer erlebt dieses „Abendmahlmotiv“ als eine Einheit und wird von ihrem Gefühlsinhalt und ihrer mystischen Atmosphäre unmittelbar ergriffen. Kurt Overhoff (1902–1986) hat jedoch in seinem bahnbrechenden Parsifal-Buch – Frucht seiner jahrelangen Unterrichtstätigkeit als Lehrer Wieland Wagners – als Erster darauf hingewiesen, dass die musikalische Linie dieses Themas in Wirklichkeit aus vier Einzelmotiven besteht:

- dem Motiv der göttlichen Liebe

- dem Motiv der Wunde

- dem Speermotiv

- einer kurzen, abschließenden Figur, in der die melodische Linie die Terz umspielt, um nachher auf dieser zur Ruhe zu kommen.33

Wagner hat diese vier Klangsymbole nicht ohne Grund miteinander verbunden, um daraus das wichtigste Klangsymbol des Parsifal zu schaffen. Wenn wir uns die einzelnen Motive genauer anschauen, werden wir sehen, dass sie tatsächlich mitten in die tiefsten Gedanken des Werkes führen.

Das Motiv der göttlichen Liebe

Mit dem Erklingen dieses Motivs in den ersten Takten der Partitur wird uns verkündet, dass das Schicksal der göttliche Liebe bzw. des inneren Christus das eigentliche Thema des Vorspiels ist. Doch dieses Schicksal erscheint gleich zu Anfang als ein Problem. Denn das Klangsymbol besteht in seiner eigentlichen Gestalt aus einer frei emporströmenden melodischen Linie. Am Ende des Werkes werden wir in jener gewaltigen Fanfare, mit der die Partitur ausklingt, diese eigentliche, reine Form des Motivs vernehmen. Hier jedoch, zu Beginn des Vorspiels, wird diese Linie jäh unterbrochen und schmerzlich nach unten gebogen:

Beginn des Werkes

Schluss des Werkes

Wodurch aber dieses Problem hervorgerufen wird, das zeigt uns das nächste Teilmotiv. Denn das gewaltsame Umbiegen der Linie des Motivs der göttlichen Liebe geschieht durch das Motiv der Wunde.

Das Motiv der Wunde

Die Amfortas-Wunde, die durch dieses Motiv bezeichnet wird, ist das Symbol der Verletzung des Menschen durch die egoistische Begierde. Diese ist es, die ihm nicht nur als unerfüllbare Sehnsucht Qualen verursacht, sondern ihn auch von seiner wahren Bestimmung, christusgleich sein Leben liebevoll in den Dienst anderer zu stellen, abbringt und ihn immer wieder in seine egoistische Vereinzelung zurückwirft. So ist die Wunde nicht nur ein Sinnbild für die Hemmung der Liebe im Inneren des Menschen, sondern auch für seine schmerzliche Selbstentfremdung. Doch damit nicht genug: Der Mensch, der der egoistischen Begierde verfällt und seinen Willen auf die Befriedigung eigener Lust richtet, fügt nicht nur sich selbst eine Wunde zu, sondern verletzt auch das Göttliche in sich, das als allumfassende Liebe strömen will, nun aber an ihrer Entfaltung gehindert wird. Deshalb wird hier die aufsteigende Melodie der göttlichen Liebe durch das Motiv der Wunde gewaltsam nach unten gebogen.

Die Spannung, die durch diesen schmerzlichen Eingriff entsteht, löst sich dann aber in einem neuen Klangsymbol, in dem die aufwärts strebende Richtung wiedergewonnen wird. Es ist das Motiv des Speeres.

Das Speermotiv

Mit dem Klangsymbol des Speeres weist hier die Musik auf die Möglichkeit der Erlösung hin. Das mythische Bild für diese Erlösung ist die Rückkehr des Speeres zum Gral. Diese ist aber der symbolische Ausdruck dafür, dass der menschliche Eigenwille, der durch die egoistische Begierde von seinem wahren Ziel abgekommen ist, wieder zu einem Instrument der Liebe geworden ist. Dadurch erreicht der Mensch den Einklang mit dem durch Christus verkörperten Göttlichen, das zugleich seine eigene höhere Bestimmung ist; und in dieser Einheit mit dem Göttlichen und seinem eigenen höheren Selbst erlebt er den Frieden des erlösten Zustandes.

Dieses Zur-Ruhe-Kommen wird durch die Dissonanzauflösung ausgedrückt, die den Abschluss des „Abendmahlsmotiv“ bildet.

Die kadenzierende Dissonanzauflösung

Bei dieser kleinen Figur handelt es sich um den melodischen Teil jener einfachen Dominante-Tonika-Kadenz, mit der die musikalische Schilderung des Gralsleuchtens schließt:

Die Kadenz ist in der Musik die elementarste Form der Dissonanz-Auflösung und deshalb immer Ausdruck der wieder erlangten Harmonie. Und in diesem Sinne wird hier auch diese melodische Figur, die stellvertretend für die vollständige Kadenz steht, als Abschluss des „Abendmahl-Motivs“ verwendet.

Liebe – ihre Hemmung durch die egoistische Natur des Menschen – Befreiung – und schließlich Erlösung: Das ist es, was uns die vier Einzelmotive des geheimnisvollen Themas, das Wagner seinem Werk vorangestellt hat, mitteilen wollen. Ihm ist es hier gelungen in einer Kürze und mit einer Deutlichkeit, die selbst bei ihm in Erstaunen setzen, den geistigen Grundgehalt des ganzen Dramas in Tönen präzise mitzuteilen.

Wie geht es aber im Vorspiel weiter?

Wagner selbst hat für König Ludwig eine kurze Einführung verfasst, die seine eigene Interpretation der Musik zum Ausdruck bringt. Dort überschreibt er die drei Teile des Tonstückes mit „Liebe – Glaube: – Hoffen?“.34 Obwohl diese Worte einen deutlichen Hinweis auf die Absichten des Komponisten geben, sind sie in ihrer Knappheit eben nicht mehr als ein Hinweis und fordern zu einer genaueren Darstellung des musikalischen Geschehens heraus. Wenn man dieses im Detail analysiert, so kann man präzisieren, dass es im ersten Teil des Vorspiels um eine musikalische Darstellung des inneren Christus, im zweiten um eine Durchführung des Glaubensmotivs und im dritten um eine musikalische Schilderung der Leidensgeschichte des Menschen Jesus geht. Der erste und dritte Teil, so verschieden sie auch sind, behandeln also denselben Gegenstand, nämlich Christus; nur wird dieser im ersten Abschnitt in seinem inneren, zeitlosen Aspekt, im dritten dagegen in seinem äußeren, historischen dargestellt.

Auf die Einleitungstakte mit dem „Abendmahlmotiv“ folgt der eigentliche erste Teil des Vorspiels. Dort wird das Wesen des inneren Christus, das in jenen ersten Takten mit der Knappheit einer abstrakten Aussage beschrieben wird, in seiner vollen Wirklichkeit musikalisch dargestellt. Es ist dieselbe Musik, die in der Tempelszene des I. Aktes das Leuchten des Grals begleitet. In einem Tongemälde von ungewöhnlicher Farbigkeit wird zunächst das Bildhafte dieses Leuchtens geschildert. Auf- und abwallende Streicherfiguren bringen die geheimnisvolle Bewegung des Christusblutes in der Schale höchst anschaulich zum Ausdruck. Allmählich geht dieses Wallen gleichsam in ein sanftes Leuchten über, das zuletzt im Klang der hohen Streicher zu einem Glühen von fast unerträglicher Helligkeit wird.

Diese eindrucksvolle Tonmalerei ist jedoch nur die äußere Umrahmung für die eigentliche Substanz dieser Musik, die aus dem „Abendmahlmotiv“ besteht. Hier wird nun das Christus-Wesen in seiner vollen Tiefe zum Erlebnis. Glühend vor sehnsüchtiger Liebe steigt die Melodie im herben Klang der Oboen und der hohen Streichern empor; durch die geradezu schneidende Farbe der hohen Trompete, bekommt sie dann den Ausdruck eines fast unerträglichen Schmerzes. Es ist also eine leidende Liebe, die wir hier erleben: eine Liebe, die nicht frei strömen kann, und deshalb selbst gleichsam nach Erlösung schreit.

Dieser leidende Aspekt des inneren Christus tritt bei der darauffolgenden Wiederholung dieser Stelle noch stärker in Erscheinung. Denn bei ihrem zweiten Erklingen wird die Musik von dem innigen As-Dur nach c-Moll transponiert, einer Tonart, die traditionell als die „tragische“ gilt. Hinzukommt, dass das ruhige Fließen des As-Dur-Themas hier zweimal durch ein schneidendes sforzato unterbrochen wird, wodurch die Musik einen noch schmerzlicheren Ausdruck als zuvor bekommt:

Der ganze Abschnitt endet dann nicht mehr mit der tiefen Ruhe der Dur-Auflösung, sondern mit einer Kadenz in c-moll, die trotz aller Spannungsauflösung den Charakter des Traurigen behält.

Da erklingt, in der feierlichen, fanfarenartigen Farbe der Trompeten und Posaunen, das sogenannte „Gralsmotiv“:

Wie so viele traditionelle Motivbenennungen, so umschreibt auch dieser Name den allgemeinen Gehalt des Klangsymbols, ohne jedoch seine eigentliche Bedeutung genau zu treffen. Denn hier, an der Stelle seines ersten Erklingens, spürt man sofort, dass es den Charakter einer Verheißung besitzt. Wo dieses Motiv auch auftaucht, ob im zarten piano oder im mächtigen fortissimo, will es den Menschen offensichtlich daran erinnern, dass er in sich den Gral trägt, und dass er deshalb in jedem Augenblick – ganz gleich, wie tief er gesunken ist – die Möglichkeit besitzt, seine unheilvolle Selbstentfremdung zu beenden und sich mit dem ihm innewohnenden Höheren zu vereinigen.

Als Antwort auf diese Verheißung erklingt dann das Glaubensmotiv, aus dessen Durchführung der ganze Mittelteil des Vorspiels besteht:

Der breite Raum, den dieser zweite Teil des Vorspiels einnimmt, zeigt deutlich, dass dem Glauben im Parsifal eine besondere Aufgabe zukommt. Worin besteht diese Aufgabe? Ja, was bedeutet hier überhaupt „Glaube“? Es wird sich lohnen, dieser Frage kurz nachzugehen, bevor wir unsere Analyse der Musik fortsetzen.

Das Wort „Glaube“ umfasst zwei verschiedene Inhalte, die zwar miteinander verwandt, jedoch unterschiedlich genug sind, dass man sie klar auseinanderhalten sollte. Da ist zunächst der Glaube an eine bestimmte Behauptung, deren Gültigkeit weder durch Vernunfterkenntnis noch sinnliche Erfahrung erwiesen ist, sondern die man entweder aufgrund eines inneren Gefühls, oder aus Gehorsam einer äußeren Autorität gegenüber für richtig hält. Die Berechtigung dieser Art des Glaubens – solange er nicht aufgezwungen ist, sondern aus innerer Überzeugung entsteht – liegt darin, dass es eben Dinge gibt, die man durch Vernunft oder sinnliche Erfahrung allein gar nicht erkennen kann – entweder, weil sie überhaupt jenseits des rational Erkennbaren liegen, oder weil sie noch nicht in Erscheinung bzw. in den eigenen Erfahrungsbereich getreten sind. Zu den Dingen, die rational nicht zu fassen sind, gehören z.B. die religiösen Grundüberzeugungen, die Inhalte aussprechen, die, wie Kant zeigte, außerhalb der Grundformen und Kategorien unseres Verstandes liegen, die aber durch unmittelbares Erleben zur inneren Gewissheit werden können. Zu den Dingen aber, an die man zuerst glauben muss, bevor sie Wirklichkeit werden, gehören alle großen Entdeckungen, denen – vorausgesetzt, dass sie nicht zufällig geschehen – immer eine Vision vorausgeht.35 Verwirklicht sich diese Vision, so führt auch hier der Glaube zum Wissen und löst damit den Widerspruch, der scheinbar zwischen beiden Begriffen steht, auf.

Neben dem Glauben dieser Art, der ein Glauben an etwas ist, gibt es jedoch den Glauben als innere Haltung: d.h. als Vertrauen und Offenheit einem Unbekannten, Unfassbaren gegenüber, von dem man die tiefe Überzeugung hegt, dass es an sich gut ist. In seiner höchsten Form äußert sich diese Art des Glaubens als völlige Selbsthingabe an das, was man mit dem Wort „Gott“ oder „das Göttliche“ bezeichnet. Und es ist seit jeher die tiefste Überzeugung aller Mystiker des Westens und des Ostens gewesen, dass die Vereinigung der Seele mit jenem höchsten Seienden ohne eine solche totale Offenheit und Hingabe nicht möglich ist.

Beide Arten des Glaubens spielen nun eine Rolle bei dem, was im Mittelteil des Parsifal-Vorspiels als Antwort auf die Gralsverheißung musikalisch dargestellt wird. Denn damit diese Verheißung wirksam werden kann, ist zunächst der Glaube an das Vorhandensein des inneren Christus, sowie an die Möglichkeit seiner Verwirklichung nötig. Weder das eine noch das andere lässt sich rational beweisen; sie sind nur als tiefe Ahnung vom Gefühl zu erfassen. Damit aber diese innere Kraft in der Seele wirksam werden kann, muss sich der Mensch ihr in einer Haltung absoluten Vertrauens öffnen. Gerade dieses Sich-Öffnen ist die ureigenste Leistung seines freien Willens. Denn er kann das Wirken des Höheren nicht erzwingen; aber er kann die Hindernisse beseitigen, die diesem Wirken im Wege stehen. Und je stärker sein Glaube ist, desto unbeirrter wird er sich um die Läuterung seiner Seele bemühen.

Glaube ist also im zweifachen Sinne nötig, damit der Mensch seine höhere Bestimmung verwirklichen kann. Und jetzt wird es verständlich, warum er eine so zentrale Stelle im Parsifal-Vorspiel einnimmt. Dort erfährt er eine musikalische Darstellung, welche die ganze Größe und Spannweite seiner Macht fühlen lässt. Das Glaubensmotiv wird durch alle Höhen und Tiefen geführt, von der ätherischen, gleichsam körperlosen Leichtigkeit der hohen Holzbläser bis hinunter zur massigen Wucht der schweren Blechbläser. Es ist, als ob der Glaube den ganzen Raum zwischen Himmel und Erde ausfüllte und zugleich den ganzen Menschen in allen Teilen seines Wesens ergriffe – ihm die Kraft einflößend, die er braucht, um in seinem Denken, Fühlen und Handeln seiner höheren Bestimmung zu folgen.

Auf diese Verherrlichung des Glaubens folgt nun der dritte Teil des Vorspiels, der nach Wagners eigener Aussage eine Darstellung des Mysteriums der Passion ist. In seiner Einführung für König Ludwig beschreibt Wagner den Inhalt der Musik wie folgt:

„Da noch einmal aus Schauern der Einsamkeit erbebt die Klage des liebenden Mitleides: das Bangen, der heilige Angstschweiß des Ölberges, das göttliche Schmerzensleiden des Golgatha – der Leib erbleicht, das Blut entfließt und glüht nun mit himmlischer Segensglut im Kelche auf, über alles, was lebt und leidet, die Gnadenwonne der Erlösung durch die Liebe ausgießend.“36