Passo Depression oder »Ich nehme Sie jetzt mal raus!« - Markus Röschel - E-Book

Passo Depression oder »Ich nehme Sie jetzt mal raus!« E-Book

Markus Röschel

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Beschreibung

Warum dieser Titel? Was hat eine Depression mit einem Pass zu tun? Der Autor ist begeisterter Radfahrer und hat schon fast alle bekannten Alpenpässe überquert. Langstreckenfahrten an den Gardasee oder den Lago Maggiore sind kein Problem für ihn. So würde er gerne gesehen werden — als Kämpfer, als ausdauernder Radfahrer, dem keine Strecke zu weit und kein Berg zu hoch ist. Ein richtig toller Typ also und ideal für Social Media. Die ganze Wahrheit jedoch ist eine andere: Der Autor leidet unter ­Depressionen. Er würde lieber übers Radfahren schreiben, als über seine Depressionen, erkennt aber, dass man beides durchaus vergleichen kann: Die Überwindung einer ­Depression, die man nie ganz loswird, kostet ­genauso viel Kraft und Ausdauer, wie das Bezwingen weiter Strecken oder hoher Pässe. Im Falle einer Transalp folgen auf die Selbstzweifel zu Beginn der Tour viele ­Qualen und endlose Diskussionen mit dem inneren Schweinehund. Je näher man jedoch dem Ziel kommt, desto mehr überwiegt die Freude und der Schweinehund verstummt — oben angekommen ergießt sich ein Botenstoffcocktail über einem und man empfindet pure Freude. Bei einer Depression ist es ähnlich: Angst und Selbstzweifel dominieren, man empfindet keine Freude, sieht kein Ziel und keinen Sinn im eigenen Tun. Man möchte sich verkriechen, verstecken, nicht mehr existieren. Der Weg aus dem Tal scheint unmöglich zu sein. Genau hier beginnt diese Geschichte — am absoluten Tiefpunkt. Das vorliegende Buch gibt in 40 Tagebuch-Einträgen sehr persönliche, zutiefst menschliche Einblicke in den Kampf des Autors gegen seine Depression. Und alles beginnt mit dem Satz der Hausärztin: »Ich nehme Sie jetzt mal raus!«

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Seitenzahl: 226

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Markus Röschel

Passo Depression oder»Ich nehme Sie jetzt mal raus!«

Markus Röschel

Passo Depression oder»Ich nehme Sie jetzt mal raus!«

R. G. Fischer Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© 2023 by R. G. Fischer Verlag

Orber Str. 30, D-60386 Frankfurt/Main

Alle Rechte vorbehalten

Schriftart: Times 11,5

Herstellung: rgf/pr/2b

ISBN 978-3-8301-9448-4 EPUB

Inhalt

Tag 1

Tag 2

Tag 3

Tag 4

Tag 5

Tag 6

Tag 7

Tag 8

Tag 9

Tag 10

Tag 11

Tag 12

Tag 13

Tag 14

Tag 15

Tag 16

Tag 17

Tag 18

Tag 19

Tag 20

Tag 21

Tag 22

Tag 23

Tag 24

Tag 25

Tag 26

Tag 27

Tag 28

Tag 29

Tag 30

Tag 31

Tag 32

Tag 33

Tag 34

Tag 35

Tag 36

Tag 37

Tag 38

Tag 39

Tag 40

Tag 1

»Ich nehme Sie jetzt mal raus« – ein Satz, der mich erleichtert und mir zugleich auch Angst bereitet. Raus aus dem Job; und was kommt dann?

Meine Hausärztin redet mit ruhiger und fast schon melodiöser Stimme auf mich ein: »Ich verschreibe Ihnen noch ein weiteres Medikament, das Sie zusätzlich zu dem Medikament für Ihre Schlafstörungen nehmen sollen. Die ersten drei Tage nehmen Sie jeweils eine halbe, ab dem vierten Tag dann eine ganze Tablette täglich.« Es ist ein Antidepressivum, das den Serotoninspiegel so richtig nach oben pusht und einen wieder in glückliche Zeiten versetzen soll. Wenn man gefühlsmäßig ganz unten angekommen ist und sich die Spirale immer weiter nach unten dreht, deine Welt nur noch Schwarz und Weiß kennt, dann schlägt man die rettende Hand nicht aus, die einem entgegengestreckt wird. Man ist fast zu allem bereit und hinterfragt die Lösung seiner Probleme nicht. Der Weg zum Arzt hat mich einiges an Überwindung gekostet, und doch schien es mir der einzige Ausweg zu sein.

Wieder zu Hause angekommen, belohne ich mich erst mal mit einem guten Frühstück. Zwei Brezeln und ein Croissant habe ich zuvor noch beim Bäcker geholt und fühle mich zum ersten Mal seit Wochen wie von einer Last befreit. Ich habe mich komplett geöffnet und meinen inneren Schmerz nach außen gekehrt. Ich habe um Hilfe gebeten und sie auch bekommen. Dafür gibt es erst mal eine Belohnung.

Auf dem Tisch neben mir liegt die Überweisung zu einem Facharzt der Psychiatrie. Jetzt ist es also amtlich: Ich bin ein Psycho, einer, der sein Leben nicht im Griff hat und jetzt zu einem Psychiater gehen muss. Da es anscheinend nicht so einfach ist, einen Termin zu bekommen, hat mir meine Ärztin empfohlen, heute noch die Terminservicestelle unter der Nummer 116 117 anzurufen. Mit dem Vermittlungscode, den sie mir mitgegeben hat, ist es anscheinend möglich innerhalb von vier Wochen einen Termin zu bekommen. Na ja, »schnelle Hilfe« hört sich für mich anders an. Ich wähle die Nummer und sitze zuerst in einer Warteschleife fest. Als ich nach 20 Minuten fast schon genervt auflegen will, werde ich durchgestellt. Die Frau in der Vermittlung muss sehr lange suchen, bis sie mir endlich einen Termin bei einem Facharzt anbieten kann, der 25 km weit entfernt von meinem Wohnort in einer Sammelpraxis praktiziert. Natürlich ist der Termin nicht gleich morgen, sondern so ziemlich genau in vier Wochen. Ich bedanke mich für ihre Hilfe, lege auf und bin erst mal enttäuscht. Den Termin trage ich in den Kalender ein, damit ich ihn nicht vergesse, ist ja noch lange hin.

Dann öffne ich die Packung, die mir Superkräfte verleihen soll. Ich nehme die erste Pille heraus, halbiere sie und schlucke sie fast feierlich hinunter. Etwas erschöpft lege ich mich auf die Couch, um zu schlafen und die positive Wirkung in mich eindringen zu lassen.

Die ersten Sonnenstrahlen nach dem Winter fallen durch die Scheibe und wärmen mich von außen. Ich fühlte mich geborgen wie ein kleines Kind, das liebevoll von der Sonne namens Mutter gewärmt wird – ein schöner Moment der leider nicht von langer Dauer ist. Schon nach kurzer Zeit verspüre ich ein leichtes Kribbeln auf der Haut. Beim Aufstehen wird mir leicht schwindelig. Ich habe Ohrensausen und fühle mich komisch. Meine Gefühle fahren Achterbahn. Ich versuche noch, dagegen anzukämpfen und das Schlechte in Gutes zu wandeln, doch je mehr Zeit vergeht, umso mehr dominiert das schlechte Gefühl. Meine Stimmung wandelt sich von »Alice im Wunderland« zu »Wenn die Gondeln Trauer tragen«. Wenn man depressiv ist, beginnt man, jede seiner Handlungen zu hinterfragen und wiederholt zu analysieren. Man wäre ja schließlich nicht depressiv, wenn die Gedanken komplett strukturiert und die empfundenen Probleme lösbar wären. Kleinigkeiten werden auf einmal zu unüberwindbaren Hindernissen.

Meine Gedanken kreisen nun um meinen neuen Arbeitgeber, bei dem ich mich noch in der Probezeit befinde. Ich hatte erst vor Kurzem die Stelle gewechselt, weil ich mir Erleichterung im Arbeitsalltag erhoffte. Leider ging der Schuss nach hinten los. Mein Chef hat Ziele, die er erreichen muss, und ich soll meinen Teil dazu beitragen. Leistung wird gefordert und kein schwächelnder Mitarbeiter, der sich mit einer Krankmeldung von hinten anschleicht. Ich überlege, mit welch warmen Worten ich die E-Mail mit meiner Krankmeldung füllen soll, um so wenig Argwohn wie möglich zu wecken. Je länger ich darüber nachdenke, desto kürzer werden meine Sätze, und nach fast einer Stunde bleibt nur noch übrig: »War beim Arzt, wurde bis einschließlich 24.02. krankgeschrieben.«

Später will ich dann doch noch wissen, was ich da eigentlich eingenommen habe. Der Beipackzettel ist lang. Kein Wunder, brauchte man doch den Platz, um die häufigsten Beschwerden und Nebenwirkungen aufzulisten. Die prägnantesten habe ich sofort abgespeichert. Erektionsstörungen und Haarausfall sind meine Favoriten. Reflexartig fahre ich mir durchs Haar, um den noch sicheren Halt zu testen und um für die Zukunft einen Vorher-nachher-Vergleich zu haben. Ich lese weiter. Auch innere Blutungen seien möglich, was mich erst mal wieder in Schockstarre versetzt. Tue ich hier wirklich das Richtige, oder habe ich mich in eine Sackgasse manövriert? Soll ich das alles wirklich in Kauf nehmen, um mich vielleicht am Schluss etwas besser zu fühlen? Unweigerlich muss ich an all die Impfgegner denken, die jedes Medikament genau analysieren und alle Nachteile und Impfschäden kennen. Was würde ein Querdenker wohl sagen, müsste er zu so einem Medikament greifen? Würde er die Hilfe annehmen oder auch hier im Protest verharren?

Gegen Abend kommt meine Frau Konstanze von der Arbeit nach Hause. Sie hatte mir geraten, zum Arzt zu gehen, und sie will nun genau wissen, wie es mir heute ergangen sei. Um es gleich auf den Punkt zu bringen, sage ich ihr: »Ich bin für zwei Wochen krankgeschrieben und muss jetzt ein weiteres Antidepressivum nehmen, das zu Erektionsproblemen und Haarausfall führen kann.«

Natürlich habe ich dann noch ausführlicher erzählt, aber in meiner Wahrnehmung sind das nun mal die Eckpunkte.

Tag 2

Donnerstagmorgen. Die Nacht habe ich durchgeschlafen. Ich öffne die Augen und bin sofort hellwach und in meinem Gedankenkarussell gefangen. Tausende Dinge schießen mir durch den Kopf, die sich in einer Endlosschleife wiederholen. Ich fasse mal kurz zusammen: »Oh Gott! Was habe ich getan!«, »Ich werde gekündigt«, »Kein Geld!«, »Das Ersparte frisst die Inflation auf«, »Was werden die Verwandten und Bekannten sagen?«, und am Schluss noch »Flüchtlingskrise«, »Ukrainekrieg«, »Atomkrieg«, »Alles aus«. Und dann beginnt das Ganze wieder von vorne.

Konstanze, meine Frau, ist heute zu Hause, und ich bin froh, dass sie da ist. Ich weiß, dass sie die Situation genauso belastet wie mich; und dennoch versucht sie immer wieder, mich zu beruhigen. Sie merkt, dass ich mich in meiner Gedankenwelt vergrabe, und versucht, mich abzulenken, zu beschäftigen und Aufgaben zu delegieren, was ich nicht wirklich gewohnt bin. Ich komme nur schwer in Gang – wie ein Auto, das sich im Leerlauf befindet, wo man Gas gibt und nichts passiert.

Beim Frühstück klingelt das Telefon. Ich zucke zusammen. Zum Glück ist meine Ärztin dran.

»Ich wollte Sie nur kurz über das Ergebnis des Bluttests informieren. So weit ist alles okay – bis auf den Cholesterinwert, der ist etwas zu hoch. Ist bestimmt erblich bedingt, da Sie ja nicht dick und ein sportlicher Typ sind.«

Ich muss zugeben, der Cholesterinwert interessiert mich recht wenig, sehe ich doch ein Herzinfarktrisiko in diesem Moment als das kleinere Übel an. Was mich mehr beschäftigt, sind das neue Medikament und die auf dem Beipackzettel beschriebenen Nebenwirkungen.

Sie will mich beruhigen und meint: »Das Medikament ist eigentlich ganz gut verträglich, und wenn Sie den Beipackzettel von einem Schmerzmittel lesen, werden Sie feststellen, dass dort genauso viele Nebenwirkungen aufgelistet sind – doch wer liest dort schon den Beipackzettel?«

Das scheint mir erst mal einleuchtend zu sein, und ich bin erleichtert, mit ihr darüber gesprochen zu haben. Der nächste Arzttermin ist erst wieder in eineinhalb Wochen. Das macht mich nervös, bin ich doch bis dahin komplett auf mich allein gestellt. Wie soll ich da klarkommen?

Sie versucht, mich zu beruhigen: »Natürlich können Sie auch früher vorbeikommen, wenn es Ihnen schlechter geht. Strukturieren Sie Ihren Tagesablauf, gehen Sie raus, treiben Sie Sport, und machen Sie Dinge, die Ihnen Spaß machen.«

Ich merke, dass sie jetzt keine Zeit mehr hat und das Telefonat beenden will. Allerdings habe ich noch Fragen, will wissen, warum sie mir die Dosierung 20 mg und nicht, wie im Beipackzettel empfohlen, 10 mg verordnet habe.

»Gestern war ich der Meinung, dass es in Ihrem Fall wohl besser wäre. Ich stell Ihnen aber frei, auch nur 10 mg einzunehmen«, erwidert sie und verabschiedet sich jetzt schnell.

Ich bin nun komplett verunsichert. Wie kann man einem depressiven Unentschlossenen die Entscheidung überlassen, 10 mg oder 20 mg zu nehmen? Wie kann das sein?

Ich schaue immer wieder auf mein Geschäftshandy. Husche durch die E-Mails und warte auf eine Reaktion meines Chefs. Ich stocke: Leni, die Assistentin meines Chefs, hat mich angeschrieben. In herzlichen Worten wünscht sie mir gute Besserung und bittet mich darum, die Original-Krankmeldung an das Personalbüro zu senden. »Blöd«, denke ich, »weiß sie denn nicht, dass die Krankmeldung elektronisch übermittelt wird? In einem Hightech-Unternehmen wie diesem sollte das doch möglich sein.« Egal, ich suche einen Umschlag und mache die Bescheinigung versandfertig.

Konstanze, die mit Putzen beschäftigt ist, meint nur: »Bring du bitte die Krankmeldung zum Briefkasten, das Laufen tut dir bestimmt ganz gut.«

Es kostet mich Überwindung rauszugehen. Und wie das halt so ist, wenn man niemandem begegnen will, kommt ausgerechnet in diesem Moment meine Nachbarin aus dem Haus, die mit ihrem neuen Hund auf Gassitour gehen will. Freundlich grüße ich sie und überlege, was ich sagen soll. Sie erwidert weder meinen Gruß, noch ist sie gesprächsbereit, sondern schaut Richtung Hund nach unten. Kann sein, dass sie doch grüßte und ich es nicht hörte oder sie gerade telefonierte und ich es nicht bemerkte. Der Hund zog, und sie nervte. Aber egal, welch wohlwollende Lösung ich auch für sie fand, am Schluss verfestigt sich mein Denken: »Sie weiß, dass ich zu Hause bin, Depressionen habe und wohl ein Versager bin, mit dem man lieber nichts zu tun haben will.« Auf dem kompletten Hin- und Rückweg zum Briefkasten, der 15 Minuten in Anspruch nimmt, spiele ich das Szenario im Kopf rauf und runter durch. Vielleicht habe ich ja etwas übersehen?

Wieder daheim, erzähle ich Konstanze davon, die nur meint: »Mit drei Kindern, Mann im Homeoffice und einem Hund ist sie wahrscheinlich nur gestresst, genervt und in Eile gewesen.«

So unterschiedlich kann man Situationen beurteilen. Im Normalfall hätte ich meiner Frau recht gegeben, was ich natürlich auch tat, aber in meiner Gedankenwelt blieb meine Version die einzig richtige.

Mein Geschäftshandy, das in Reichweite liegt, zeigt mir die Message, dass es sich ausgerechnet heute updaten will. Mist! Ich bestätige. Nach kurzem SW-Download unternimmt das Handy einen automatischen Neustart. Kurz nach dem ersten Ladebalken, der den Installationsfortschritt anzeigt, bleibt der Bildschirm plötzlich schwarz. Mich überkommt die Sorge, dass ich wohl was falsch gemacht haben könnte und nun alles gelöscht sein werde. Wie soll ich das dann wieder erklären? Ich verfalle jetzt in Panik und drücke hektisch alle Buttons, doch nichts hilft. Mir kommt die Idee, das Ladekabel anzuschließen. Ich habe Glück, das Handy lässt sich wieder starten. Uff, gerade noch mal gut gegangen! Dann checke ich meine privaten Nachrichten und merke, wie sich an meinem Smartphone das Display vom Gehäuse löst. Mist! Jetzt muss ich mir auch noch ein neues kaufen.

Ist das alles wirklich Zufall, oder will mich da jemand in den Wahnsinn treiben? Während ich noch hadere, wird auf meinem Handy eine neue Nachricht angezeigt. Mein ehemaliger Chef hat mich angeschrieben. Er möchte gerne mein Bild vorbeibringen, das in der Kantine ausgestellt war, und fragt nun, wann es bei mir zeitlich passen würde. Oh Gott! Wenn er mich in diesem Zustand sieht, was soll ich ihm dann sagen? Wie soll ich ihm erklären, dass ich nun zu Hause bin? Hatte ich mich doch durch den Weggang noch tiefer in die Scheiße geritten.

Konstanze wollte heute eigentlich joggen gehen. Da sie mich aber wie ein Häufchen Elend sitzen sieht, schlägt sie vor: »Lass uns doch gemeinsam rausgehen und einen Spaziergang machen. Draußen scheint so schön die Sonne!«

Wieder schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Was sollen die Leute denken, wenn sie mich schon wieder draußen sehen? Ich bin doch krankgeschrieben und gehe den ganzen Tag spazieren. Das geht doch gar nicht. Ich will Konstanze natürlich nicht enttäuschen und überlege, wie ich es dennoch möglich machen kann, und sage: »Lass uns auf die Alb fahren, um dort etwas zu wandern«, und denke: »… möglichst weit weg von hier, wo mich keiner kennt«. Der Vorschlag kommt gut an, und wir machen uns auf den Weg. Oben angekommen, wandern wir vom Parkplatz aus nur ein kurzes Stück zu einer Burgruine, die am Albtrauf auf einem steil abfallenden Felsen thront.

Auf dem Weg dorthin schüttet mir Konstanze ihr Herz aus: »Es hat mich schon immer belastet, all die Jahre schon und ich bin jetzt froh, dass du zum Arzt gegangen bist und dir Hilfe gesucht hast.« Dann erzählt sie mir: »Auch ich habe mir schon Hilfe gesucht – als ich noch Kirchenpflegerin war, habe ich mich unserem Pfarrer anvertraut, da ich sonst mit keinem darüber reden konnte.«

Ich bin erstaunt und erschrocken zugleich. Wie konnte sie mein Geheimnis einem für mich fremden Menschen anvertrauen? Mir wird jetzt erst klar, wie stark sie wohl gelitten haben muss, da sie eigentlich kein Mensch ist, der von außen Hilfe annimmt. Ich schäme mich dafür.

Die Burgruine, die bei Traumwetter wie im Bilderbuch erscheint, weckt in mir nur den Gedanken, mich von einem Felsen hinab in die Tiefe zu stürzen, um mein Gedankenchaos endlich zu beenden.

An einer Stelle scheint es mir sogar möglich zu sein, mit einem Auto in den Abgrund zu stürzen. Wie geil wäre das denn! Ein perfekter Abgang wie im Film, und mein Außenbild bliebe erhalten. Ich glaube, meine Frau konnte meine Gedanken lesen und hält mich darum auf Abstand zum Abgrund.

Als wir wieder zurück beim Auto sind, schlägt Konstanze vor, in ein nahe gelegenes Café zu fahren. Sie hat Lust auf Kaffee und Kuchen. »Wir machen das ja so selten, und heute haben wir ja Zeit.«

Ich stimme zu. Ist ja weit weg von unserem Wohnort. Im Café ist es voll, und ich fühle mich unwohl. Ich habe jetzt doch Angst, dass mich jemand erkennen und ansprechen könnte nach dem Motto »Du hier – du bist doch krank! Hast heute wohl einen Tag blau gemacht. Schämst du dich denn nicht?«. Doch, das tue ich wirklich. Ich bin froh, als wir fertig sind und wieder gehen.

Zurück zu Hause, lege ich mich mit meinen Gedanken im Gepäck auf die Couch, um mich auszuruhen. Mein Körper versucht, zu entspannen. Doch mein Geist kennt keine Pause, und meine Gedanken fangen wieder an zu kreisen. Alles Positive wird durch Negatives ersetzt. Angst ist das dominante Gefühl. Meine Zukunft ist keine mehr. Je länger ich liege, umso schlimmer wird es. Wie soll das in den nächsten Tagen werden? Was bringt mir die neu gewonnene Zeit, wenn ich hier nur rumliege und mich schlecht fühle? Ich muss an das Gespräch von heute Morgen mit meiner Ärztin denken. Laut ihr soll ich meinen Tag strukturieren, rausgehen und Sport treiben und Dinge machen, die mir Spaß machen, um mich abzulenken. Das Naheliegende, wie Radtouren und Filme darüber zu machen und auf YouTube hochzuladen, kommt nicht infrage. Was hätte das für eine Außenwirkung? Doch das hat mir in der Vergangenheit immer am meisten Spaß gemacht: mein Leben filmisch festzuhalten und zu kommentieren. »Okay«, denke ich, »wenn ich schon keine Filme machen kann, könnte ich es zumindest aufschreiben, damit ich nichts vergesse. Ich kann ja so was wie ein Tagebuch führen, beginnend mit dem ersten Tag der Krankschreibung und bis zur finalen Wunderheilung – die hoffentlich bald eintrifft.« Zugegeben: Bislang bin ich nicht der tolle Schreiberling, und es fällt mir auch echt schwer, Sätze grammatikalisch richtig zu formulieren, aber das ist jetzt genau das Richtige und lenkt mich auch noch ab.

Am Abend schaut meine Frau »Germany’s Next Topmodel«, auch eine Art von Ablenkung, und ich schreibe nebenher.

Tag 3

Freitagmorgen. Ich wache auf, bin sofort hellwach, und es geht mir nicht gut. Ich höre meine Frau im Bad. Sie geht heute zur Arbeit, und ich werde den halben Tag alleine sein. Sie verabschiedet sich. Ich bleibe liegen, versuche, noch etwas zu schlafen, doch mein Kopf gibt keine Ruhe. Ich spreche zu mir selbst: »Du kannst nicht einfach liegen bleiben. Was bist du doch für eine faule Sau!« Nach zwei Stunden innerer Überredung stehe ich auf, komplett nass geschwitzt wie nach einem Dauerlauf. Automatisiert gehe ich ins Bad, ziehe mir die nassen Klamotten aus und wasche mich. Danach mache ich Frühstück. Ich habe nicht wirklich Hunger, zwinge mich aber zum Essen, bevor ich die nächste halbe Pille schlucke. Ich fühle in meinen Körper hinein, spüre aber keine Verbesserung meiner Stimmung und fange an zu grübeln. Eventuell zeigen die Superkräfte bei mir keine Wirkung, eher schwächen sie mich wie Superman das Kryptonit.

Dann checke ich wieder meine Geschäfts-E-Mails. Ein Kunde hat mich angeschrieben. Ich könnte antworten, tue es aber nicht. Bin ja schließlich krank. Der Gedanke verfolgt mich die ganze Zeit. Es ist doch meine Aufgabe. Ich komme nicht zur Ruhe, muss mich ablenken. Ich verfolge nun meinen Vorsatz von gestern, hole meinen privaten Laptop und schreibe meine Gedanken auf.

Nebenbei höre ich eine Sendung, die im Radio läuft – blöd nur: eine Psychiaterin zu Gast in einer Talksendung. Wie kann es anders sein? Es geht um das Thema »Psychische Erkrankungen«. Von den leichten, mittelschweren bis schweren Arten, die von der Schizophrenie bis zu Gewalttaten reichen. Die Sendung macht mir Angst. Ich frage mich, wo sie mich wohl einstufen würde – bei »mittelschwer« oder »schwer« oder sogar »verrückt«? Ist das jetzt wirklich noch alles Zufall? Was will mir das Universum sagen? Das Ticken unserer Wohnzimmeruhr hämmert mit einem stupiden wiederkehrenden Beat auf mich ein und macht Zeit auf reale Weise spürbar.

Jeder Schlag ein Schritt in eine ungewisse Zukunft. Ich würde gerne zurückspulen zu glücklichen Tagen, doch die Uhr kennt nur die eine Richtung, nach vorn. Ich bin angespannt, fühle mich einsam und verlassen.

Meine Frau kommt nach Hause, ist ausgepowert und müde vom Job.

Ich will reden, doch sie ist genervt, weiß sie doch, dass sich alles wieder um dasselbe Thema dreht.

Sie weicht mir aus, geht ins Bad, ich fühle mich schlecht. Sie kommt zurück, isst eine Kleinigkeit, und es geht ihr besser. Wir reden kurz. Dann will sie wieder los: »Ich gehe noch zu meinen Eltern rüber, war schon lange nicht mehr dort.« Aus vielen Gesprächen weiß ich, dass sie das mit ihren Eltern sehr belastet. Ihre Mutter hatte vor Kurzem einen Radunfall und musste operiert werden. Ihre Schwester wohnt weit weg. Konstanze fühlt sich jetzt allein verantwortlich für ihre Eltern.

Draußen weht ein stürmischer Wind. Ab und zu scheint die Sonne herein und bringt etwas Licht in die dunkle Stube. Ich muss ans Radfahren denken, wo man Wind und Wetter ausgesetzt ist, und an all die vielen Alpentouren, die ich mit meinen Freunden schon unternommen habe. Was haben wir dort schon alles erlebt! Zumeist viele schöne, sonnige Tage, aber auch Schlechtwettertage mit Regen und Schnee waren dabei. Der Col du Galibier ist einer der höchsten Gebirgspässe in den Französischen Alpen, den wir bei einsetzendem Schneefall auf einer Höhe von über 2600 m überquert haben. Was haben wir alle gefroren! Und doch ist die Erinnerung an diesen harten Tag für immer eingebrannt in unser kollektives Gedächtnis und zählt heute zu den wertvollsten und schönsten, die wir an all unsere Touren haben. Wie wird es wohl später sein, wenn ich mich an die heutigen Tage meiner Depression zurückerinnere? Werde ich mich dafür schämen oder stolz darauf sein, es durchgestanden zu haben nach dem Motto »Was mich nicht umbringt, macht mich härter«? Kann man das überhaupt miteinander vergleichen? Meine Laune verändert sich jetzt mit dem Licht der Sonne, die immer wieder hinter dunklen Wolken verschwindet. Ich muss an die Worte meiner Ärztin denken, die mir empfohlen hatte, ich solle doch etwas Sport treiben. Ich muss innerlich lachen. Sie weiß ja nicht, was ich sportlich schon alles geleistet habe. Ich merke, wie überheblich das klingt, auch wenn ich es nur denke. Aber genau das hat mich in den letzten Jahren ausgezeichnet: der Glaube daran, alles zu schaffen. Das macht mich auch irgendwie stolz. Doch jetzt kostet es mich Überwindung, aufs Rad zu steigen. Ich habe einen Rollentrainer und kann somit jederzeit auch im Winter bei angenehmen Temperaturen im Keller Rad fahren und virtuell einen Pass erklimmen. Aber heute finde ich keine Motivation. Ich muss an Udo Bölts denken, der den legendären Spruch prägte: »Quäl dich, du Sau!« Immer wieder geht mir der Satz durch den Kopf. »Quäl dich, du Sau!« oder »Du faule Sau!« sind heute wohl meine Lieblingssätze. Endlich nach vier Stunden Anlauf steige ich aufs Rad und fahre.

Eineinhalb Stunden später bin ich total ausgepowert und voll von Glückshormonen. Ich weiß nicht, was real ist oder die Wunderpille bewirkt hat. Wenn es doch so einfach ist, sich gut zu fühlen, warum gelingt es mir nicht auf normalem Weg? Muss ich denn jetzt täglich Pillen schlucken oder Rad fahren? Wenn doch eine Pille die gleichen Gefühle schaffen kann wie z. B. Sport: Ist unser Leben, was Glück und Angst anbelangt, nur gesteuert von einem chemischen Mix aus Botenstoffen, die im Gehirn produziert werden? Ist alles nur Veranlagung? Sind wir womöglich fremdgesteuert? Entscheiden Gene über Glück und Unglück eines Menschen? Was kann ich selbst beeinflussen, und was wird mir in die Wiege gelegt? Ist alles vorprogrammiert, und hatte ich je eine Chance, anders zu werden? Ich bewundere Menschen, die ein großes Selbstwertgefühl haben, mit einem großen Ego durchs Leben gehen und sich immer im Recht fühlen. Das ist bei mir anders. Ich suche den Fehler stets bei mir und nie bei anderen. Auch will ich es allen Menschen recht machen und nicht anecken. Bin sozusagen ein harmoniesüchtiger Mensch.

Nachdem ich ausgeschwitzt habe, kommt meine Frau nach Hause. Sie wirkt erleichtert, und mir wird klar, warum: Sie hatte mit ihren Eltern über meine Krankheit gesprochen. Für mich ist das okay, weiß ich doch, dass ihre Eltern das nicht nach außen tragen werden. Sie sind noch die Generation »Darüber spricht man nicht«, und ich bin froh, dass zumindest sie sich jemandem anvertrauen konnte. Wir machen gemeinsam Essen und setzen uns zu Tisch. Meine jüngere Tochter Sophie kommt nach Hause und setzt sich zu uns. Auch sie macht sich Sorgen um mich und will darüber reden. Da ich noch vollgepumpt mit Endorphinen bin, bin auch ich gesprächsbereit. Es ist wahrscheinlich eines der besten und offensten Gespräche, das ich mit meiner jüngeren Tochter je geführt habe, und ich merke, wie erwachsen sie schon ist. Ich möchte nichts auslassen und erzähle ihr meine ganze Leidensgeschichte. Angefangen mit meinen Schlafproblemen, die sich vor acht Jahren zu einer Depression steigerten, über die Einnahme meiner Medikamente und anhaltende Ängste. Vieles hatte mit meiner Arbeit zu tun, aber auch mit Ängsten vor sozialem Abstieg.

Sie reagiert richtig gut und meint: »Kannst du nicht einfach kündigen und das tun, was dir Spaß macht?

Tun, was mir Spaß macht. Eigentlich hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Tun, was einem Spaß macht. So einfach scheint die Lösung zu sein, wenn man jung ist, doch im Alter ist alles irgendwie komplizierter und scheinbar unmöglich. Wir scherzen und verständigen uns darauf, beide mit einer Social-Media-Karriere neu durchzustarten, sie auf TikTok und ich auf YouTube, und natürlich werden wir uns dabei gegenseitig unterstützen. Ich fand es schon immer toll, wie sie sich vor der Kamera präsentierte, konnte sie doch ganz einfach drauflosreden. Wir beschließen eine Kooperation, sie vor der Kamera und ich als Producer im Hintergrund. Ich merke, dass noch nicht alles besprochen ist und sie noch etwas beschäftigt, und frage nach: »Macht dir das Sorgen, dass ich zu Hause bin?«

»Nein, das ist es nicht, und ich finde es gut, dass wir offen darüber sprechen.«

Dennoch irgendwas bedrückt sie, und ich frage nach, was ihr Sorge bereite.

»Ja, schon, ich mache mir Sorgen …«, es ist für sie nicht leicht, es auszusprechen. »Ich habe Angst, dass du dir was antust.«

Innerlich berührt, sage ich schnell: »Das musst du nicht. Ich hänge zu sehr an meinem Leben, was ja auch meine Radtouren und Filme beweisen.«

Sie ist beruhigt und erleichtert, dass ich das sage. Ob ich das in diesem Augenblick wirklich so meine, sei dahingestellt. Konstanze ist sichtlich froh, dass ich mit meiner Tochter darüber gesprochen habe. Es ist sicher gut, mit mehreren Menschen darüber zu sprechen und das Ganze auf mehrere Schultern zu verteilen; umso leichter wird die Last für den Einzelnen. Das gilt sowohl für den Kranken als auch für dessen Angehörige.

Befreit von einer kleinen Last, verabschiedet sich meine Tochter. Sie will heute noch mit Freunden zur Faschingsparty in einen Club und feiern gehen. So, wie man das halt macht, wenn man jung und sorgenfrei ist.

Tag 4

Samstag. Wochenende und meine Frau zu Hause. Ich bin froh, dass ich nicht alleine bin.

Sie will in die Stadt und steht früh auf. Ich brauche ein Weilchen, da mein Kopfkino schon wieder Psycho im Programm hat. Also hülle ich mich in die Decke ein und will nicht aufstehen. Als der Frühstücksruf von unten ins obere Schlafzimmer dringt, zwinge ich mich dazu.

Heute steht nun die Entscheidung an, ob ich von einer halben Pille mit 10 mg auf eine ganze mit 20 mg erhöhen soll. Die Ärztin hatte es mir ja freigestellt, was mich jetzt schon wieder vor eine unlösbare Aufgabe stellt. Nach langer Diskussion mit meiner Frau beschließe ich, weiterhin nur eine halbe zu nehmen. Ich hoffe nur, dass ich mich nicht falsch entschieden habe, da ich mir eine schnelle Verbesserung meines Zustandes wünsche.

Beim Frühstück erzählt Konstanze ausführlich vom gestrigen Gespräch mit ihren Eltern und davon, wie verständnisvoll sie reagiert haben. Aber wie das bei einer Depression eben so ist, bleiben wieder mal nur die blöden Sätze hängen. Ihr Vater meinte irgendwann am Ende des gestrigen Gesprächs: »Er kann ja auch einfach wieder arbeiten gehen.«

»Okay«, denke ich, »wie wenn das so einfach wäre!«

Meine Frau muss nun los in die Stadt und verabschiedet sich