Proseccolügen - Gudrun Grägel - E-Book

Proseccolügen E-Book

Gudrun Grägel

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Beschreibung

Mit der Idylle ist es vorbei, als im La Quercia nahe der Proseccostraße mysteriöse Unfälle geschehen. Doro Ritter, Tochter von Sternekoch Sascha Ritter und selbst leidenschaftliche Köchin, ist viel zu neugierig, um ihre Nase nur in Kochtöpfe zu stecken. Stattdessen wühlt sie in einer tragischen Familiengeschichte, die bald mörderische Blüten treibt. Verdächtige gibt es genug und auch für Doro wird es gefährlich. Aber das hält sie nicht auf - sie will die Wahrheit wissen.

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Gudrun Grägel

Proseccolügen

Krimi aus dem Veneto

Zum Buch

Blut ist dicker Doro Ritter, Tochter von Fernseh- und Sternekoch Sascha Ritter und selbst leidenschaftliche Köchin, reist ins Veneto, um im Hotel La Quercia einer befreundeten Hotelchefin unter die Arme zu greifen. Kaum angekommen, erleidet ein Gast einen mysteriösen Unfall. Tote Hunde, eine tragische Familiengeschichte, Mord inklusive – Doros Interesse ist geweckt. Ihre Neugier bringt sie in Lebensgefahr, was sie aber nicht davon abhält weiter zu ermitteln. Ganz im Gegenteil, jetzt will sie es wissen: War es ein Unfall oder Mord? Und wo liegt das Motiv? Verschmähte Liebe? Rache? Oder muss sie tiefer in der Vergangenheit graben? Wird es Doro mit Witz und Kombinationsgabe gelingen, die Wahrheit ans Licht zu bringen? Neben ihrem Ausflug in kriminalistische Untiefen lebt Doro als Köchin ihre Leidenschaft für alles Kulinarische aus und genießt die Zeit mit ihrem Freund Vincent. Vielleicht der Mann fürs Leben?

Gudrun Grägel, 1964 geboren, lebt mit ihrer Familie in Königsbrunn. Neben ihrem Beruf schreibt die pharmazeutisch-technische Assistentin, wobei ihr die Ausbildung auf dem Gebiet Pädagogik/Psychologie und ihr pharmazeutisches Wissen nützliche Dienste leisten. Menschliche Abgründe, gewürzt mit südlicher Sonne und einem Schuss Romantik – das ist wie Urlaub am Schreibtisch für sie. Mit ihrem Krimidebüt „Proseccolügen“ startet sie eine kulinarische Krimireihe um die junge Köchin Doro Ritter, die mit Witz und Charme dunklen Machenschaften auf die Spur kommt. Augsburg – München – Italien – nennt die Autorin ihre persönliche Inspirationsachse – und überall, wo es interessante Menschen, gutes Essen und das gewisse Flair gibt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/Kartengestaltung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Maurizio Targhetta / fotolia.com

ISBN 978-3-8392-5922-1

Widmung

Die Vergangenheit lieben, den Augenblick genießen, sich auf die Zukunft freuen.

Für Brigitte – mit Dank für Inspiration und stundenlange Autorengespräche

Für Martin und Florian – meinen beiden wichtigsten Ankern

Für meine Eltern, Geschwister, Familie – meinen Wurzeln

Für meine Freunde – danke fürs Zuhören, Korrekturlesen, konstruktive Kritik, technische Hilfe und sonstige Tipps

Karte

 

Prolog

Fanfaren, Aufbruchsstimmung, Freude und Abschiedstränen. 44 Tage an Bord stehen an.

Touristen, Einheimische, Freunde und Verwandte winken am Hafen. Beeindruckend, diese Kreuzfahrtriesen. Die MS Princess. Der Gigant läuft aus und tutet es lautstark in die Welt hinaus.

Ich kneife die Augen zusammen.

Kapitel 1

La bella Italia

Giovedi (Donnerstag) – 31. Juli

Ich, Doro Ritter, 25 Jahre, gelernte Köchin, Tochter des bekannten Fernsehkochs Sascha Ritter, fahre mit Vincent Wolkenberg, meinem aktuellen Freund, vom Gardasee ins italienische Inland.

Tut mir in der Seele weh, dass ich weg muss vom Wasser. Weg vom Lago di Garda. Am Westufer die schmale Uferstraße entlang, Limone, Gargano, Toscolano … durch alte und neue Tunnels, Schattenspiele durch Tunnelfenster. Spiele das Spiel ›Wie lang ist der Tunnel‹ – darin bin ich ziemlich gut, liege selten mehr als ein paar Meter daneben. Aber ich kann’s nicht lassen, immer wieder Gejammer und Gemotze, weil ich weg muss vom See. Auf der Karte schreit es mir förmlich entgegen! Von Montebelluna, unserem Ziel, wäre es nicht mehr weit ans Mare.

»Du wolltest ins Venetogebiet.« Knapp, aber völlig entspannt erträgt Vincent meine Launen.

Klar wollte ich dahin. Ist einfach eine geniale Region für kulinarische Studien. Mit dem Zug ist es von dort nach Venedig eh nur eine halbe Stunde. Also stell dich nicht an, verordne ich mir. Denn wenn es nach meinem Vater und seines Zeichens meinem Arbeitgeber gegangen wäre, würde ich jetzt nicht hier, sondern in seiner Küche schwitzen.

Papa war von meiner Auszeit nicht begeistert. Fernsehauftritte, Urlaubszeit, Personalmangel. Da hätte er mich gern im Restaurant gesehen. Tja, passen tut’s nie. Ich nütze gnadenlos meinen Tochterbonus, sein kleines Mädchen for­ever – auch wenn ich bald 26 bin! Valdobbiadene – Prosecco und italienische Küche studieren. Ein Argument, dem er schlecht widersprechen konnte. Aber warum eine Woche Gardasee? Diesen Einwand hab ich konsequent ignoriert. Greta, eine ehemalige Schulfreundin von mir, hat sich dort einen Italiener geangelt und ist in sein Familienhotel mit eingestiegen. Mit allem, was dazugehört. Riesenhochzeit, Flitterwochen auf Hawaii – und: zwei Kinder aus erster Ehe und Schwiegereltern, die alles fest im Griff haben. Na, ich danke! Greta löchert mich schon lange, dass ich sie besuchen soll. Jetzt hat’s gepasst. War echt super. Das Prozedere im Hotel nicht viel anders als bei uns im Restaurant. Nette Gäste, blöde Gäste, manche unangenehm bis zum Erbrechen, nur mit dem Unterschied, dass sie hier nicht nach ein paar Stunden verschwinden.

»Sie ist noch wie früher. Einfach ziemlich relaxed.« Sag ich zu Vinc und wundere mich ein bisschen. Ehealltag, Hotel, Kinder … hat sich in mir irgendwie ein anderes Bild festgesetzt.

Vinc sagt nichts dazu. Hat er Angst, einen Heiratsantrag von mir zu bekommen? Ich grinse und schweige.

»Was?«, lässt Vinc sich herbei zu fragen.

»Niente.« Ich fläz mich in den Sitz. Heiß hier. Ich lass das Fenster herunter. Wie ein heißer Föhn bläst mir die Luft ins Gesicht. Tut trotzdem gut. Ich genieße den Ausblick.

Die Gegend wird immer südlicher. Es riecht nach Sommer und Sonne. Schön.

Aber wir hatten schon viel früher auf die Autobahn gewollt. Haben irgendwie die Ausfahrt verpasst.

Das Navi spinnt. Wahrscheinlich die Hitze. Eine Stunde Kühlschrank wird es wiederbeleben. Fairerweise muss man sagen, das Teil ist schon vier Jahre alt und durfte noch kein Datenupdate genießen. Und ein neuer Kreisverkehr nach dem anderen – da muss der arme Kerl ja schlappmachen!

Ich schnüffle. Langsam versagt mein Deo. Aber wer fährt heute auch noch ohne Klimaanlage? Ich. Mit der alten Karre von Vincent, mintmetallic.

»Eine Frage der Ehre«, besteht er und meint das erstaunlicherweise ernst. Muss ich nicht verstehen, muss nur schwitzen.

»Kannst du mal halten? Ich muss mal«, fällt mir ein.

Vincent sagt nichts dazu.

Kapitel 2

Prosecco internationale

Am gleichen Tag

Ankunft in Montebelluna. Ortsteil Biadene. Hotel La Quercia. Maria, die Hotelchefin, empfängt uns.

Vincent ist müde. Schnappt sich eine Liege am Pool und will ’ne Runde schlafen. Ich bin mittlerweile versöhnt mit nix Mare. Setze mich auf die Terrasse und bestelle einen Espresso. Weiße Tischdecken, bestickt, passende Sitzkissen. Geschmackvoll.

Am übernächsten Tisch lebhaftes Gelächter. Zwei ältere Damen, vielleicht 60, elegant, eine junge Frau in meinem Alter, kurze, dunkle Locken, kein Modepüppchen. Ein älterer Mann, nicht sehr groß, genießt sichtlich seine Rolle als Hahn im Korb. Vom rechten Ohr führt ein Kabel zur Innentasche seines Sommerjacketts. Hat der alte Herr einen MP3-Player?

Ich kann nicht genau hören, welche Sprache er spricht. Die Frauen sprechen jedenfalls Englisch. Aus dem Gesprächsverhalten kann ich erkennen, dass eine der Damen zu dem Mann gehört, die andere Dame mit dem Paar befreundet ist, die junge Frau kann ich nicht zuordnen.

Sie trinken Prosecco und sind gut aufgelegt. Die junge Frau geht rücksichtsvoll ein Stück beiseite, als sie eine Zigarette rauchen will.

Blickkontakt. Ich nicke rüber. Lächle.

»Do you speak English?«

»A little bit, but much better German.« Ich lache. »I am german.«

Die ältere Dame freut sich. Endlich jemand, mit dem sie ihre Deutschkenntnisse vertiefen kann.

»Ich war Sprachlehrerin für Deutsch«, erzählt sie.

»Deutsch und Schottisch sind sehr schwer. Kirk auf Schottisch ist Kirche in Deutsch, versteht ihr?«

Die anderen nicken. Ich auch, beeindruckt.

»Sie kommen aus Schottland?«, frage ich höflich.

Sie zwinkert den anderen zu, bevor sie mir erklärt: »Ja, aber das ist lange her. Wir leben jetzt alle in Australien, in Adelaide.«

Ich hebe die Augenbrauen. Das interessiert mich jetzt wirklich.

Maria bringt mir ein Glas Prosecco.

»Zum Kennenlernen.« Sie ist ein Schatz.

Ich proste dem Nebentisch zu.

»My name is Hannah Rodari«, stellt sich die Dame vor. »Und das ist meine Tochter Margaret.« Englisch und Deutsch werden vermischt. Kein Problem.

»Und das sind Eve und Emilio Zarbo.«

Meine Stirnfalte wird spürbar tiefer. Rodari? Zarbo? Das sind keine schottischen Namen und auch nicht typisch australisch, soweit man da von typisch sprechen kann. Ich weiß das. Habe schließlich ein halbes Jahr mit Daddy im Aussiland gelebt. Als ich 16 war. Sydney. Horizonterweiterung, nannte es Dad. Was für mich Sprache lernen und Schule bedeutete, für ihn hieß es, Mariella zu folgen, seiner damaligen Flamme, die dort modelte – und, ich muss fair bleiben, er schnüffelte in jede nur mögliche Küche, die sich ihm auftat. Landestypische Imbissbude genauso wie Luxushotelküche …

Hannah lächelt. »Ich sehe die Frage in Ihren Augen. Eve und ich sind in Schottland geboren. Wir waren jung und wollten Abenteuer erleben. In Australien waren Frauen, die einwandern wollten, gefragt. Da haben wir uns entschieden. Und bald haben wir Luigi und Emilio kennengelernt. Zwei Freunde aus Italien. Die wollten sich hier ein neues Leben aufbauen. Aus vier mal eins wurde zwei mal zwei. Mein Luigi hat es leider nicht mehr geschafft, in seine alte Heimat mitzukommen.«

Ein Schatten huscht über die heiteren Züge von Hannah.

Emilio radebrecht etwas dazwischen. Englisch? Na ja, Aussi-Englisch ist recht eigen, aber gemischt mit Italienisch? Ich verstehe nur Bruchstücke. Emilio springt auf und schmettert ein kräftiges »O sole mio« – respektabler Tenor. Ich applaudiere. Er verbeugt sich, lächelt verschmitzt. Eine nette Gruppe. Die Leichtigkeit des Wohlstands umweht sie.

Maria kommt zurück.

»Kann ich dich kurz sprechen, Doro?«

Maria spricht Italienisch, Deutsch, Englisch, Französisch, ihr nächstes Ziel ist Chinesisch, sagt sie. Immer mehr Gäste von dort. Japanisch, Chinesisch hat mich ehrlich gesagt noch nie interessiert – obwohl ich Sprachen durchaus liebe. Italienisch zum Beispiel. Kann ich so leidlich.

»Du willst eine Weile hierbleiben? Ein bisschen mit mir kochen? Sascha hat bei mir angerufen.«

Jaja, mein Paps. Hat seine berühmten Finger immer gerne im Spiel. Passt in der Regel und ist oft ganz bequem. Wie jetzt. Er kennt Maria aus ihrer Zeit in München. Die beiden haben einige Kochkurse bei diversen Küchengrößen absolviert und eine freundschaftliche, leicht erotisch angehauchte Konkurrenzzeit erlebt – Originalton Paps. Erotisch angehaucht? – Geht dich nichts an, Spatz! Ebenfalls O-Ton Paps.

Die beiden zusammen? Maria entspricht nicht seinem Beuteschema, das sich – bös gesagt – im Bereich »Weibchen« bewegt. Andererseits flirtet er einfach gerne, zugegebenermaßen gut, wie ich oft beobachten darf, und Maria ist eine schöne Frau – nur eben kein Weibchen mit Modelmaßen …

Schluss jetzt, Doro! Geht dich wirklich nichts an, setze ich einen Punkt hinter meine voyeuristischen Gedanken und bin wieder ganz bei Maria.

»Ja, die regionale Küche, da bist du Meisterin, hat Papa geschwärmt.«

Maria lacht geschmeichelt. »Schön, dass du die Leidenschaft für unseren Beruf hast. Nur so kannst du gut werden. Besser als gut.«

Wir sind uns einig.

Vincent will ein paar Tage bleiben, kein Problem, das Zimmer ist groß genug.

Liegt im Tiefparterre. Ein bisschen düster. Aber ich bin ja nicht nur Gast, sondern auch Angestellte. Kost und Logis frei. Helfen, wenn Hilfe nötig ist.

»Da habe ich schon ein Problem …« Maria sieht mich treuherzig aus ihren dunkelbraunen Madonnenaugen an.

Das Problem ist ein Galadiner am nächsten Tag. Hier im Hotel. Maria bräuchte dringend Unterstützung in der Küche. Und ihr Aushilfskellner hat abgesagt.

Ich zucke mit den Schultern. »Das schaukeln wir schon. Solche Situationen kenne ich von Paps.«

Maria umarmt mich erleichtert.

Geht ja flugs in medias res. Vincent wird sich freuen. Ich grinse, eine Prise Schadenfreude schwingt durchaus mit. Er wird sich damit abfinden müssen, zu kellnern, statt sich selber mit Prosecco, Pasta und anderen Köstlichkeiten verwöhnen zu lassen. Sollte es mit uns was Ernsteres werden, muss er sich an solche Spontanitäten sowieso gewöhnen! Außerdem kann er mal wieder die Luft der Gastronomie schnuppern, immerhin hat er nach dem Abi eine Lehre im Servicebereich angefangen. Hat nach einem halben Jahr beschlossen, doch lieber zu studieren, BWL, geht das Ganze locker an. Gefällt mir. Sich den Luxus leisten zu können, den »Ernst des Lebens« noch ein wenig hinauszuschieben, schätze ich sehr. Und ein Mann, der mich für andere Lebenspläne begeistert hätte, ist mir noch nicht untergekommen. Wenn ich ehrlich bin, hat mich bis jetzt noch kein Mann zu gemeinsamen Lebensplänen inspiriert. Ich mag Männer, ich mag Beziehungen, aber ich liebe meine Unabhängigkeit.

Kapitel 3

Uomini e donne (Männer und Frauen)

Am gleichen Tag

»Hicks … I’ve got lost.« Mit bedenklichem »Seegang« kommt mir Emilio Zarbo entgegen. Erst check ich nicht, was er meint. Aber klar. Er sucht sein Zimmer. Ein Grinsen rutscht mir unwillkürlich raus.

Ich hake ihn unter.

»What’s your roomnumber?«, frage ich. Immerhin bin ich ja ein bisschen hier angestellt. Zimmer 21. Ich liefere ihn bei seiner Frau ab.

Erster Stock. Ich nehme die Treppe in den Keller.

Der dunkle Teppich auf den ausgetretenen Holzstufen müffelt, schluckt Schritte und Licht und schlägt Falten wie die Haut eines Greises. Das Licht funktioniert nicht, aber zum Glück gibt es auf halber Höhe einen Absatz mit einer Glastür, die irgendwohin nach draußen führt. Trotzdem ist es düster hier. Noch nicht ganz unten, sinkt die Temperatur urplötzlich ab. Es ist richtig kalt. Erinnert mich an die Eislöcher in Südtirol bei St. Eppan. Von einem Schritt zum anderen zehn Grad weniger. Kommt dort von den besonderen Gesteinsformationen, hier ist es schlicht und einfach der Keller.

Da ist noch eine Tür. Aus schwerem Eisen. Sie steht halb offen. So was hasse ich. Schnell will ich daran vorbeihuschen, dann hör ich was. Mir bleibt fast das Herz stehen vor Schreck. Da drinnen ist jemand. Shit, ich hasse das! Ein tiefes Knurren. Verdammt, was ist das? Ich setze zum ultimativen Blitzstart an. Bloß weg hier!

»Basta, Cesare!«

Okay, das Ungeheuer ist anscheinend in menschlicher Gesellschaft. Die Neugier siegt. Ich schleiche mich zu der Tür und wage einen Blick ins Dunkel. Der Strahl einer Taschenlampe zuckt hin und her. Plötzlich geht das Licht an. Den Alten, der da am Sicherungskasten hantiert, habe ich schon durchs Haus schlurfen sehen. Mein Puls fährt wieder runter in Normalbereiche. Nur Carlos, das Hausfaktotum. Sein Hund, der scheinbar wie ein Schatten an ihm klebt, starrt mich mit undefinierbarem Blick an. Mit einem hastigen »Buon giorno« schlag ich die Tür von außen zu und flüchte zu meinem Zimmer.

Vincent grinst nur, als ich ihm von dem Schreck erzähle, er grinst allerdings nicht mehr ganz so, als ich ihm von seinem Einsatz als Kellner am morgigen Abend berichte.

»Spinnst du? Du kannst doch nicht einfach so über mich verfügen.«

Vincent ist anscheinend echt sauer. Ganz untypisch für ihn. Dass ihm das so viel ausmacht, hätte ich nicht vermutet.

Ich bin enttäuscht.

»Du wirst dir schon keinen Zacken aus der Krone brechen«, kritisiere ich wütend seine Ablehnung.

»Mann, Doro! Darum geht es doch gar nicht!« Seine Stimme klingt schon wesentlich weicher. Puhh! Ich bin erleichtert.

»Ich will einfach nur vorher gefragt werden, klar?«

»Klar.« Ich nicke reumütig und hebe die Finger zum Schwur. Alles wieder gut. Vincent und ich knutschen inniglich … fühlt sich gut an …

Ich habe mich gerade wieder angezogen – Vincent lümmelt noch faul auf dem Bett –, da klopft es.

»Hey, zieh wenigstens das Laken hoch«, verlange ich von meinem trägen Liebhaber, bevor ich die Türe öffne.

Maria.

»Scusi, Doro, aber ich fahre jetzt zum Einkaufen, für morgen. Magst du mit?«

Ich mag. Und es lohnt sich. Nix Supermarkt und Massenware. Heute zumindest.

»Weißt du, Nudeln, Toilettenpapier und Duschbad kaufe ich schon im Supermercato, natürlich nur bestimmte Sorten«, fügt sie einschränkend hinzu.

»Aber lieber unterstütze ich die regionalen Anbieter. Die Qualität überzeugt, du wirst sehen.«

Nudeln und Toilettenpapier? Leckere Mischung. Ich nicke. »Ist bei uns genauso.«

Maria gibt ein wissendes Grunzen von sich.

Gefühlte hundert verschlungene Gässchen weiter biegt Maria in einen Hof ein. Mindestens acht Minikätzchen, Babys oder einfach nur mager, wuseln ohne Scheu herum. Neugierig pirschen sie sich an, als wir aussteigen. Ich gehe in die Hocke.

»Das sind ja Minimiezen. Gerade mal ein Schenkel von unserem Kater. Miez, miez, miez …«, locke ich entzückt mit Babykatzenlocksprache ein paar der kleinen Racker an.

Maria sieht mich ungläubig an.

Eine Handvoll weißgraues maunzendes Etwas leckt an meinem Daumen, während ich das Köpfchen zwischen den Ohren kraule.

»Ungelogen, unser Rambo wiegt 7,1 Kilo. Gewogen auf der digitalen Körperwaage, die mein lieber Daddy zur Gewichtskontrolle täglich besteigt.«

Maria lacht.

»Eitel war er ja schon immer, der liebe Sascha. Aber auch ganz schön knackig.«

Knackig? Mein Vater?

Maria lacht weiter, sie hat offenbar meine Skepsis bemerkt, aber beschlossen, das Thema zu wechseln.

»Sieben Kilo? Bist du sicher, dass du von einer Katze sprichst? Die muss ja riesig fett sein.«

Fett! Ich bin fast ein bisschen beleidigt.

»Nein, Rambo ist nicht fett, er ist halt groß und kräftig …«

Die mageren Kätzchen umschmeicheln meine Beine, ich fühle die Knochen von meinem weißgrauen Schmuser, dann setze ich ihn wieder zu den anderen und stehe auf.

»Na ja, vielleicht ein bisschen fett.«

Maria und ich prusten gleichzeitig los, dann machen wir uns an die Einkäufe. Das unrentable Geschäft mit den Milchkühen haben die Besitzer zu einem mittlerweile florierenden Hofladen umgerüstet.

Lucia, die Chefin, bedient uns selbst. Käse, Ricotta, Salami, Milch, Mozzarella, Butter und ein paar andere Köstlichkeiten mehr landen in Marias Einkaufskorb. In meinem Magen landet jede Menge Käse. Entzückt von meiner Begeisterung für ihren Laden, besteht Lucia darauf, dass ich jede Sorte Käse probiere, bevor sie in Marias besagtem Korb landet. Langsam wird mir schlecht. Lecker, aber mengenmäßig zu viel. Leichte Lactoseunverträglichkeit. Egal. Hat sich gelohnt. Der beste Käse, den ich jemals gegessen habe.

Im Auto meint Maria: »Nur noch ein bisschen Obst und frisches Gemüse, alles andere haben wir.«

Wieder zurück im Hotel, übergibt Maria die Einkäufe einem jungen Mädchen, das an der Bar steht und gerade nichts zu tun hat.

»Giulia, das ist Doro aus Deutschland. Sie hilft hier in nächster Zeit ein wenig aus, hauptsächlich in der Küche.« Maria wendet sich zu mir.

»Doro, Giulia übernimmt meistens nachmittags die Rezeption und die Bar. Wenn du etwas brauchst, hilft sie dir sicher gerne. Alora, ich fahre jetzt nach Hause. Heute Abend bin ich wieder hier, dann trinken wir ein Gläschen von unserem Rotwein und machen den Speiseplan, okay?«

»Okay.« Habe ich eine Wahl?

Aus dem Gläschen werden zwei Fläschchen, und wir sind noch nicht am Ende. Vincent bemüht sich ebenfalls sehr darum, und Maria wird hier im Hotel schlafen. Na bitte!

Aperitivo: Hauseigener Vino bianco frizzante mit gefrorenen Erdbeeren und Minzblättern. Ein Häppchen Salat mit Krabben, dazu Olivenbruschetta. Danach ein Löffelchen Risotto mit Steinpilzen. Hauptgericht: Bandnudeln mit Entenfleisch oder Crostatini, Rindfleischstreifen auf Rucola und Parmigiano reggiano, dazu selbstgebackenes Weißbrot. Espresso und Nachspeisenteller mit Tiramisu, Feigenzimt­parfait à la Maria, Apfeltarte an »salsa canella« à la Maria.

»Und der Koch muss alles probieren«, stöhne ich, »das wird mich glatt ein oder zwei Kilo kosten«, reibe mir dabei aber wollüstig mein Bäuchlein und feixe in Richtung Vincent.

 

Kapitel 4

La festa (Das Fest)

Venerdi (Freitag) – 1. August

Die illustren Gäste trudeln nach und nach ein. Emilio Zarbos Familie. Bin gespannt, Emilio offensichtlich auch. Er tigert im Foyer auf und ab, ohne Knopf im Ohr und ohne die gute Laune vom Vortag. Was ist los? Freut er sich nicht? Ist er nicht deshalb aus Australien angereist? Wegen der Familie? Wahrscheinlich ist er nur nervös. Klappt schon alles. Zumindest in der Küche … aber auch nur, wenn ich mich wieder auf meine Aufgaben konzentriere und nicht ständig meine neugierige Nase aus der Küche stecke.

»Ich habe alles im Griff, du kannst Pause machen«, gibt mir Maria ein paar Minuten frei.

Gut. Ich knülle die Schürze zusammen, schnappe mir Vincent, der in der schwarzen Hose und dem blütenweißen Hemd fast italienisch aussieht – auf jeden Fall sehr sexy –, um mit ihm draußen eine Zigarette zu rauchen. Kein schlechter Platz. Jeder der Gäste muss an uns vorbei, und anhand der Tischordnung, die Emilio akribisch aufgestellt hat, wird uns das Who’s who nicht schwerfallen.

Zwölf Personen. Es sitzen im Uhrzeigersinn an der Längsseite Eve und Emilio Zarbo, daneben Salvatore Zarbo, Emilios Bruder, mit Ehefrau Antonietta. An der Stirnseite Rebecca Colucci, Enkeltochter von Salvatore und Anto­nietta, mit ihrem Verlobten, Tommaso Biasini. Gegenüber von Emilio sitzen Paolo Colucci, Rebeccas Vater, Maria Favelli, 90 Jahre alt, gehört quasi zur Familie Zarbo. An­drea Favelli, Marias Sohn, arbeitet schon seit seiner Jugend ebenfalls auf dem Zarboschen Weingut und denkt mit 65 noch nicht an Ruhestand. Neben ihm soll sich Mario Biasini, Tommasos Bruder, platzieren, Margaret und Hannah Rodari um die Ecke schließen den Kreis.

Durch die Glastür beobachten wir, wie Emilio jeden neuen Gast begrüßt und ihm ein Glas Prosecco in die Hand drückt. Alle stehen ein wenig verloren in der Halle herum, als der letzte Gast eintrifft. Emilios Ebenbild.

Salvatore, sein Bruder.

Ein Handschlag, taxierende Blicke, keine Umarmung, wie ich es von zwei Brüdern erwartet hätte, die sich so lange Zeit und durch die gesamte Erdkugel getrennt nicht gesehen haben.

Ich drücke die Zigarette aus.

»Komm, gehen wir wieder rein. Ich denke, das Fest beginnt.« Einen sanften Klaps auf Vincents knackigen Hintern kann ich mir nicht verkneifen.

»Hey! Nur weil ich Kellner bin, bin ich kein Freiwild für lüsterne Frauen«, protestiert er empört – und grinst nicht unlüstern.

»Genau. Du bist Kellner, und du kriegst heute bestimmt einiges aus der Familiengeschichte mit. Da liegen Spannungen in der Luft. Ich spüre das.«

»Meine neugierige Doro mit ihren Verschwörungsantennen. Keine Sorge, ich serviere dir alles Wesentliche sozusagen als Betthupferl.«

»Brav.« Ich nicke zufrieden. Vincent kennt mich schon ganz gut.

Jetzt aber ab in die Küche. Maria schwenkt gerade die Krabben für den Salat in ein wenig Butter, ich gebe einen Hauch von Dressing über die Salatvariation. Die Krabben darauf verteilt, jetzt ist Vincent dran. Das Risotto dünstet verführerisch duftend vor sich hin. Ich gebe immer im rechten Augenblick Brühe dazu und rühre regelmäßig um. Einen Schuss Weißwein für den Geschmack darf ich nicht vergessen. Und eine Prise Muskat.

Sektempfang und Aperitif haben die Stimmung gelockert. Es ist eine rege Unterhaltung im Gange. Vincent bestätigt, was ich bei gelegentlichen Blicken aus der Küche erhasche. Alle reden und gestikulieren und freuen sich sichtlich über diesen Familienabend. Nur Emilio und Salvatore sitzen nebeneinander, wechseln aber kaum ein Wort miteinander. Salvatores Frau, an dessen linker Seite, sitzt da, stumm und steif wie ein Spargel, Güteklasse 1A. Was ist da los? Geht’s wie so oft im Leben um Geld? Ist Emilio gar nicht wegen der lieben Familie zurückgekommen, sondern geht’s um den Familienbesitz?

Vincent hat alle Hände voll damit zu tun, gebrauchte Gläser, Teller und Besteck einzusammeln. Das Risotto will auf den Tisch. Ich nutze die Chance und helfe ihm, den Gang zu servieren. Kurze Verschnaufpause. Vincent und ich verdrücken uns auf eine Zigarettenlänge. Ein Schlückchen Rotwein wäre jetzt nicht schlecht, aber damit warte ich besser, bis das Gröbste in der Küche vorbei ist. Will lieber nicht Salz mit Zucker verwechseln!

Antonietta rauscht an uns vorbei. Sie hat uns nicht gesehen. Sie geht zu der Piniengruppe, vielleicht 50 Meter vom Hotel entfernt.

»Kommst du?« Vincent hält die automatische Schiebeglastür einladend für mich offen.

»Geh ruhig schon vor, ich brauche noch ein bisschen frische Luft. Bei uns in der Küche ist es so heiß …«

Die Tür gleitet zu. Ich schlendere auf den dunklen Parkplatz hinaus. Das Schrappen der Tür dringt in meine Gedanken. Ich drehe mich um. Emilio Zarbo, mein singender Australier. Er schaut sich kurz um, sieht mich nicht, geht dann zu den Pinien. Weiß er, dass seine Schwägerin dort ist? Ich bleibe im Schatten der Nacht, höre Stimmen, verstehe aber nicht, was sie sagen. Zu weit weg. Dazu meine lückenhaften Italienischkenntnisse. Leider. Die Silhouetten der beiden heben sich im schwachen Mondlicht ab. Ich will zu gerne wissen, was sie zu bereden haben! Hinter den parkenden Autos kann ich mich näher schleichen.

»Warum hast du nicht mit mir geredet?«

Der traurige Unterton in Emilios Stimme überrascht mich.

»Warum bist du einfach gegangen?«

Die verbitterte Gegenfrage Antoniettas.

»Ich war so allein, so verzweifelt … und du bist gegangen …«

»Du warst schwanger.«

Ich kann seine Verwirrung spüren. Wie er die Hände hebt. Die Unsicherheit in seiner Stimme.

Eine Grille zirpt ihre endlose Melodie.

Antoniettas Lachen mutiert zu einem schrillen Crescendo.

»Ja, ich war schwanger. Umso mehr hätte ich dich gebraucht. Du hättest zu mir stehen müssen. Stattdessen bist du abgehauen.«

»Aber es war Salvatores Kind! Warum, glaubst du, bin ich gegangen? Weil ich dich nicht geliebt habe? Nein! Ich habe dich zu sehr geliebt. Und ich habe den Gedanken nicht ertragen, dass du mich mit meinem eigenen Bruder hintergangen hast, während ich versucht habe, aus seinen Klauen zu entkommen und eine Existenz für uns aufzubauen.«

Jetzt ist Emilio auch laut geworden.

Hoffentlich kann Maria mich noch in der Küche entbehren. Ich kann meinen Lauschposten hier unmöglich verlassen.

»Du hast dich aus seinen Klauen befreit, ja …«, der Hass ist aus ihrer Stimme verschwunden, ist der Resignation gewichen, »… und mich hat er gefressen. Mit Haut und Haaren. Mit Gewalt.«

»Heißt das …?«

Emilio ist anscheinend genauso unsicher wie ich, ob er die Aussage Antoniettas richtig verstanden hat.

»Ja, das heißt es. Dein Bruder hat mich vergewaltigt. Und mich mit meiner Scham erpresst. Er hat dir immer alles missgönnt. Sogar mich.«

Stille. Sogar die Grille schweigt für einen Moment.

Emilios Tränen machen seine Worte für mich fast unverständlich.

»Antonietta! Das habe ich nicht gewusst. Ich habe gedacht, nachdem Salvatore mich beim Vater angeschwärzt hatte und ich enterbt worden bin, hättest du dich dem wohlhabenderen Bruder zugewandt. So hat Salvatore es mir nahegebracht.«

Emilio verstummt.

»Das war leicht zu glauben, was? Du hättest mir vertrauen müssen!«

Whamm! Hat sich wie eine Ohrfeige angehört.

»Rühr mich nicht an. Kein Zarbo wird mich je wieder anrühren. Ich weiß, wie es für dich ausgesehen haben muss, aber ich hatte so auf dich gehofft.« Ihr Tonfall ist hart.

»Warum hast du es nicht richtiggestellt?«

»Ich habe mich geschämt. Und du warst so gemein.«

»Antonietta, was habe ich dir nur angetan! Aber ich war verletzt. Gedemütigt. Zu jung, zu verstehen.« Sein Flüstern klingt so gequält, dass es mir in der Seele wehtut.

Vorsichtig trete ich den Rückzug an. Ich will nicht als Spionin einer so delikaten Situation entlarvt werden. Und Maria wird sich schon wundern, wo ich bleibe. Vincent schickt mir einen fragenden Blick zu, Salvatore rutscht auf seinem Stuhl hin und her. Jetzt steht er auf und geht Richtung Ausgang. Muss ich die beiden da draußen warnen? Aber wie? Was soll’s! In Familiengeschichten mischt man sich am besten nicht ein – würde jedenfalls mein Vater empfehlen. Schnell schlüpfe ich in die Küche, wo mich sofort Marias allumfassend beschützende Aura umgibt. Auch sie schaut mich fragend an. Sie braucht dringend Hilfe beim Anrichten des Fleisches. Das muss schnell gehen. Raus aus der Pfanne, rauf auf die vorgewärmten Teller und dann auf den Tisch. Heiß und saftig. Ich zucke entschuldigend die Schultern. »Mir war nicht gut«, schwindle ich mit schlechtem Gewissen, »aber jetzt ist alles okay.«

Maria nickt sichtlich erleichtert. Klar könnte sie den Rest auch alleine stemmen, aber sie fühlt sich für mich verantwortlich. Dieser mütterliche Blick spricht Bände.

Hallo, ich bin 25! Ich grinse – und lasse mich eigentlich ganz gerne umsorgen. Schnell umarme ich Maria und stibitze dann einen Streifen des gegrillten Rindfleisches aus der Pfanne.

»Doro!«

Marias Augen blitzen gefährlich. Dann schüttelt sie den Kopf und lacht.

»Wie dein Papa.«

Stimmt. Ich lache auch. Was mir aber schnell vergeht. Ein schriller Schrei hallt durchs Haus. Wir rennen hinaus. Maria voraus, ich hinterher. Schade um das Fleisch, denke ich noch unpassenderweise. Die Tür zur Küche führt direkt in den Speisesaal. Wir sind nicht die Einzigen, die den Schrei gehört haben. Lobby, Speisesaal und Bar sind geschickt in einer großen Halle untergebracht, ein schmaler Flur führt zu den Aufzügen und ins Treppenhaus. Wir in der Küche haben nicht hören können, von wo der Schrei gekommen ist, einige der Gäste, allen voran Vincent, mein Kellner, eilen aber in diese Richtung.

Am Zwischenabsatz der Treppe, die zu meinem Zimmer führt, liegt jemand. Eine Frau. Am schwarzen Kleid, dem glitzernden Schal und den dunklen Haaren erkenne ich Rebecca Colucci. Salvatores Enkelin. Vincent reagiert als Erster. Er rennt zu der reglosen Frau, dicht gefolgt von Tommaso Biasini, Rebeccas Verlobtem.

Der streicht ihr vorsichtig die Haare aus dem Gesicht und flüstert beschwörend ihren Namen. Rebecca rührt sich noch immer nicht. Paolo Colucci, Rebeccas Vater, hat die Hände vors Gesicht geschlagen und starrt durch die Finger auf die Szene. Ich tippe auf Schockzustand. Maria und ich drehen die junge Frau vorsichtig aus ihrer verrenkten Lage in eine annähernd stabile Seitenlage. Wir fühlen Puls und Atmung. Sind vorhanden. Woher kommt das Blut?

Ziemlich viel Blut. Der dunkle Teppich saugt es auf, aber unsere Hände sprechen eine andere Sprache. Keine Kopfverletzung. Zumindest nicht äußerlich. Aber an ihren Beinen tropft in einem dünnen Rinnsal Blut auf den Boden.

»Wir brauchen einen Krankenwagen.« Entscheidet Maria.

Bald zerschneidet die durchdringende Sirene der Ambulanz die Nacht, zwei Sanitäter laden die bewusstlose Frau auf eine Trage und eilen zum Wagen. Tommaso und Antonietta hinterher. Sie fahren mit ins Krankenhaus.

Einigermaßen verwirrt bleiben wir anderen zurück.

Margaret kümmert sich um Paolo. Der wirkt paralysiert.

Was ist hier passiert? Ich frage mich, was Rebecca hier unten wollte. Die Toiletten liegen im Flur oben, und ansonsten gibt es nur unser Zimmer, einige Vorratsräume, einen Werkraum und die Abstellkammer, in der ich gestern den alten Carlos habe hantieren sehen.

Mittlerweile sind die anderen wieder im Speisesaal. Zwei Grüppchen haben sich gebildet. Die Australier, Paolo Colucci, den ich im Verdacht habe, ein Auge auf Margaret Rodari geworfen zu haben, und Salvatore mit dem Rest. Aufgeregt wird geflüstert, genauso wie bei uns in der Küche. Die Aufregung hat meine Magensäfte aktiviert. In Windeseile verschwinden ungefähr zwei Portionen dieser gigantisch leckeren Bandnudeln mit Entenfleisch, Tomaten, diversen Gewürzen und vor allem ein wenig Zimt in meinem Magen. Maria sieht es genauso. Der Unfall hat auch den anderen mit Sicherheit nur vorübergehend den Appetit verschlagen. Das Fleisch ist zwar nicht mehr ganz so kross, wie es sein sollte, aber kurz in der Pfanne geschwenkt, das wirkt Wunder.

Wir haben richtig vermutet. Die Teller kommen relativ leer gegessen in die Küche zurück. Laut Kurzbericht von Vincent ist die Stimmung jetzt anders. Emilio und Salvatore haben offensichtlich einen Riesenstreit, den sie versuchen vor den anderen zu verbergen. Aber die sind abgelenkt. Thema Rebecca natürlich und ihr Unfall. Paolo Colucci hat den Platz getauscht mit Mario Biasini und unterhält sich mit Margaret. Angeregt – wie mir seine lebhaften Handbewegungen verraten. Warum ist er eigentlich nicht mit ins Krankenhaus gefahren? Er ist immerhin Rebeccas Vater? Ich schieb’s mal auf den Schreck.

Hannah und Eve vertreten sich ein wenig die Beine, und Andrea Favelli, der Gutsverwalter der Zarbos, redet heftig auf den missmutig dreinblickenden Mario Biasini ein, der sich bald darauf verdrückt.

Hmmh, ich würde zu gerne hören, was Salvatore zu Emilios Vorwürfen zu sagen hat. Denn dass Emilio seinen Bruder Salvatore mit seinem neuen Wissen über alte Zeiten konfrontiert, steht für mich außer Frage. Deshalb ist er hier.

Kapitel 5

Morte (Tod)

Sabato (Samstag) – 2. August

Nein! Meine Augenlider verweigern den kaum wahrnehmbaren Befehl meines müden Gehirns, sich zu öffnen. Es war spät gestern – und aufregend. Okay, nützt ja nix. Ich quäle mich aus dem Bett. Duschen werde ich später. Erst mal Maria helfen, die Spuren des Abends zu beseitigen.

Vincent dreht sich auf die andere Seite, er fühlt sich eindeutig nicht zuständig. Faultier!

Ich kann meinen Mund kaum geschlossen halten vor lauter Gähnen, als ich die Treppe nach oben schlurfe.

Aufgeregte Stimmung in der Lobby. Die Müdigkeit ist weg. Ich eile zu dem Grüppchen im Foyer.

»Schlechte Nachricht von Rebecca?«, frage ich Maria, die in einem dunkelblauen Kostüm so frisch aussieht, als hätte sie drei Stunden mehr Schlaf gehabt als ich.

»Nein, nein. Über Rebecca weiß ich noch nichts Aktuelles. Aber es ist etwas Schreckliches passiert.«

Maria schaudert, den Arm hat sie um Carlos’ Schultern gelegt.

»Carlos’ Hund ist tot. Vermutlich vergiftet. Cesare ist in der Früh wie immer draußen gewesen. Heute kam er mit Schaum an der Schnauze zurück und hat sich zum Sterben hingelegt. Aus. Einfach so.«

Leises Schniefen von Carlos. Er hat Tränen in den Augen. Kann ich verstehen, man hängt an einem Tier. Noch mehr, wenn man alleine ist. Ich verschränke die Arme vor der Brust. Plötzlich ist mir kalt. Ich muss raus in die Sonne, die schon heiß vom Himmel brennt. Das ist der Süden. Blauer Himmel und Wärme. Keine Unfälle und keine vergifteten Hunde. Meine Stimmung trübt sich beträchtlich.

- Egoistin, ruft mir meine helle Seite zu.

- Na und? Ich mache hier Ferien, lässt die dunkle Seite mein Gewissen abblitzen.

Natürlich tut er mir leid, der Carlos. Aber helfen kann ich ihm auch nicht. Ich geh wieder rein, fülle den Siebeinsatz der Espressomaschine mit frisch gemahlenen Bohnen und lasse einen Espresso in die Tasse laufen. Das ist der Vorteil, wenn man zum »Inventar« gehört. Die anderen finden die Idee anscheinend gut. Sogar Carlos kommt, sanft geschoben von Maria. Alle wollen Kaffee, wie sie hier sagen. Und einen Grappa. Und dann noch einen Kaffee.

Carlos löst sich als Erster aus der erschütterten Gesellschaft.

»Ich begrabe ihn jetzt.«

»Carlos!« Maria läuft ihm nach.

»Warte, Carlos. Wo willst du ihn denn begraben? Der Boden ist steinhart. Und Cesare ist ein großer Hund!«

Maria hat recht, denke ich. Die Erde springt überall auf, so hart und ausgetrocknet ist die Natur.

»Das geht schon.«

Carlos verschwindet in Richtung Geräteschuppen im Garten und taucht kurz darauf mit Spaten und Harke wieder auf.

»Ich schau mal, ob ich ihm helfen kann.«

»Lieb von dir, Doro«, Maria tätschelt mir den Rücken.

Auf der Nordseite des Hotels, zwischen Weinberg und Hotel, gibt es ein kleines Rasenstück. Carlos hantiert dort mit dem Schlauch. Voll aufgedreht, steht bald das Wasser auf dem ausgedörrten Stück Wiese und läuft über den Weg, Richtung Weinberg, färbt den hellen Staub dunkel. Carlos hackt kraftlos auf den Boden ein.

»Lass mich das machen.«

Ich nehme ihm die Harke aus der Hand. Dann kommt mir ein Gedanke. Sollten wir den Hund nicht zum Tierarzt bringen? Immerhin ist er vergiftet worden.

»Hör mal, Carlos …«, vorsichtig unterbreite ich dem Alten meine Erwägungen.

»Wenn es sein muss.« Ruhig stellt er das Wasser ab und nimmt Spaten und Harke, um sie wegzuräumen. Mit schlechtem Gewissen schaue ich ihm hinterher. Seine Schultern hängen tiefer als sonst. War es notwendig, ihn in der Trauerphase zu stören?

Ich gehe Vincent wecken.

Der liegt noch genauso im Bett wie vorher. Vor einer guten Stunde. Als ich das Zimmer verlassen habe. Müde, aber glücklich. Jetzt schlüpfe ich zu ihm unter die Decke. Traurig. Traurig für Carlos. Ich drücke mein Gesicht an Vincents warmen Rücken. Er riecht beruhigend.

»Es ist so traurig.« Vinc dreht sich zu mir. Ich erzähl ihm von Carlos’ Hund.

»Du kannst nicht die Welt retten, Doro«, er schiebt einen Arm unter meinen Nacken und drückt mich an sich.

»Komm, schwimmen wir ’ne Runde und dann frühstücken«, murmelt er in mein Ohr.

Essen ist immer ein belebender Gedanke für mich. Vincent schleicht sich bedenklich subtil in mein Herz! Zur richtigen Zeit das Richtige sagen.

Das Wasser im Pool kräuselt sich in der Morgenbrise, meine große Zehe fungiert als Thermometer.

Gefühlte 20 Grad. Maximal. Aber ich bin auch übermüdet, emotional angeschlagen.

»Hey! Bist du wahnsinnig!« Ich schnappe nach Luft.

Vincent plätschert im Pool, als könne er kein Wässerchen trüben und die Arschbombe somit unmöglich von ihm gewesen sein. Na gut, wenn er es so will. Ich stürze mich mit einem uneleganten Bauchplatscher ins Wasser und nehme die Verfolgung auf.

Hannah und Margaret treten raus auf die Terrasse. Sie lehnen sich übers Geländer oberhalb des Pools und winken uns freundlich zu.

»Good morning«, rufe ich nach oben.

»Very sporting«, lobt Hannah Rodari uns, dann schlendern sie und ihre Tochter zu ihrem Frühstückstisch auf der sonnigen Terrasse. Eve und Emilio sitzen bereits vor einer Tasse Kaffee.

»Ich bin gespannt, wie es Rebecca geht. War ja kein besonders tolles Familientreffen«, sag ich zu Vinc, der mit gekreuzten Armen neben mir am Beckenrand hängt.

»Stimmt.« Er nickt.

Gemeinsam genießen wir den gigantischen Panoramablick über die Terraferma.

»Möchte bloß wissen, wie es passiert ist.«

Der Unfall gestern lässt mich nicht los.

»Sie wird halt gestolpert sein …«

»Gut möglich. Aber was wollte sie überhaupt da unten?«

»Keine Ahnung! Mensch, Doro, zügle deine Fantasie. Zum Schluss bekommt noch Maria Ärger, wenn jemand auf die Idee kommt, der Teppich sei vielleicht Schuld an dem Sturz.«

Vincent hat recht. Ich nage an meiner Lippe, bis ich den metallenen Geschmack von Blut auf meiner Zunge spüre. Ich muss aufpassen, dass ich mit meinem Geschwätz keine Gerüchte in die Welt setze.

»Komm, gehen wir frühstücken.«

Ich schwimme voraus und steige aus dem Becken. Unsere Handtücher hängen in der Sonne, schön kuschelig warm. Ich wickle mich ein, schlüpfe in meine türkisblauen Flipflops.

Eine Viertelstunde später sitzen wir bei einer heißen Tasse Filterkaffee und einem Maria-Spezial-Apfelkuchen auf der Frühstücksterrasse. Zwischen Australien und Deutschland liegt Frankreich. Nicht geografisch gesehen, logo. Obwohl, das vielleicht auch, aber das mein ich nicht. Aber am Nebentisch sitzt ein französisches Paar, Marke edel und fein.

»Prada«, flüstere ich Vincent zu.

»Hä?«

»Na, die Handtasche von Madame.«

»Aha.«

Vincent hat wieder mal keine Ahnung. Ich schau ihm tief in die Augen.

»Wär ein schönes Geburtstagsgeschenk«, gebe ich ihm einen Tipp.

»Wahrscheinlich so ein sauteures Markenzeug«, winkt er lässig ab. Schade. Hat mich schnell durchschaut, mein Süßer.

»Einen Versuch war’s wert!« Ich grinse.

Er grinst auch. Aber nicht wegen Prada. Eher wegen der Geräusche, eindeutig französischer Art, die heute Nacht für kurze Erheiterung bei uns gesorgt haben. Das Zimmer der beiden muss direkt über unserem liegen, die akustische Rohrpost von Bad zu Bad funktioniert ausgezeichnet. Darauf werde ich in Zukunft achten, wenn wir wegen Hitze die Türen auf Durchzug stellen, uns andererseits ganz zwischenmenschlich vergnügen!

Margaret Rodari lehnt am Geländer und raucht. Höflicher Abstand zu den anderen Gästen. Ist in Australien Usus, wie ich weiß. Und auch Vorschrift. Unsere Blicke treffen sich. Einladend hält sie die Zigarettenschachtel hoch. Nette Geste. Ist ihr nicht entgangen, dass ich mich ebenfalls in regelmäßigen Abständen an der frischen Luft aufhalte. Vincent hat keine Lust auf Nikotin und Frauengespräche. Auch recht.

Ich krame im englischen Wortschatzrepertoire. Sie im deutschen. Wir verstehen uns auf Anhieb. Nicht nur sprachlich.

»Nicht so toll, das mit dem Unfall gestern.«

Was so viel heißt wie »Mist, wenn so was im Urlaub passiert« – und das ist, was ich empfinde.

Margaret lacht kurz auf.

»Das ist wahr. Obwohl ich Rebecca im Grunde nicht kenne. Wir sind ja auch nicht verwandt. Aber Onkel Emilio tut mir leid. Das Familientreffen ist so wichtig für ihn. Sie ist immerhin die Enkelin seines Bruders.«

Ich nicke. Und von Antonietta, Emilios Jugendliebe, aber davon weiß Margaret nichts …

»Sie liegt im Koma, die Ärzte sind zuversichtlich, nur das Baby konnten sie nicht retten.«

Das Baby? Das habe ich nicht gewusst.

»Tut mir leid.«

»Ja, es könnte aber auch vieles erleichtern …«

»Erleichtern? War es kein Wunschkind?«

»Doch. Aber nicht für alle.«

Margaret spricht in Rätseln. Ich verstehe relativ gar nix.

»Wie meinst du das?«, bohre ich nach.

Aber Margarets Mitteilungsbedürfnis scheint befriedigt. Sie zuckt mit den Schultern.

»Keine Ahnung. Nur ein Gefühl.«

Wer’s glaubt! Ich jedenfalls nicht. Macht nichts. Ich erfahr’s schon noch. Ich drücke die Zigarette aus und bereichere Vincent wieder mit meiner Gesellschaft.

Maria bringt uns zwei Frühstückseier.

»Maria, das ist lieb, danke. Aber du sollst uns doch nicht bedienen!«

»Das sind Eier von meinen eigenen Hühnern. Ihr werdet den Unterschied schmecken«, verspricht sie mir flüsternd. Muss ja nicht jeder hören, dass das Küchenpersonal Extrawürste gebraten kriegt. Vincent und ich köpfen unser Ei und kosten.

»Hmmh, echt gut. Anders. Schon die Farbe vom Dotter.«

Ich löffle den Rest auf meine Buttersemmelhälfte, Salz drauf. Alte Angewohnheit. Das halbe Löffelei gehört aufs Brot.

Vincent bevorzugt die traditionelle Art, ein weiches Ei zu konsumieren.

Ich lasse mich in den Stuhl zurückfallen und lege die Hände auf den Bauch.

»Mann, bin ich jetzt satt. Bis zum Abend brauche ich nichts mehr.«

Vincent lümmelt seinerseits zufrieden im Stuhl. Mittlerweile kenne ich ihn gut genug, um zu ahnen, dass er gerne ein Nickerchen halten würde. Nur zehn Minuten zur Regeneration – sagt er. Klappt selten. Nicht das Nickerchen, sondern die zehn Minuten.

Heute irritiert mich allerdings sein Grinsen. Lüstern, möchte ich fast wetten – nee, mein Lieber, dafür habe ich im Moment keine Zeit. Sorry.

Vincent hat verstanden. Er gähnt.

Der letzte Schluck Kaffee, dann suche ich Maria. Sie ist in der Küche. Ich lobe das Ei und frage nach dem Tagesplan.

»Heute Abend kommt eine größere Gruppe. Radler aus Deutschland. Alles Männer. Sie werden hier übernachten und essen.«

»Okay. Ääh, Maria, eine Frage …«

»Was hast du ausgefressen?« Maria findet die Idee sichtlich lustig.

»Nichts. Aber ich wollte dich was fragen …«

»Na, dann raus mit der Sprache.«

»Es geht um mein Zimmer.«

Sie runzelt die Stirn. »Stimmt etwas nicht damit?«

Ich sehe förmlich kaputte Wasserhähne, defekte Kühlschränke und dergleichen durch Marias Hirn rattern.

»Nein, nein. So weit ist alles okay. Nur – könnte ich nicht vielleicht ein Zimmer weiter oben bekommen? Ich hasse Keller, und seit gestern Abend sehe ich auch noch ständig Rebecca Colucci da unten liegen, ich bin halt ein Schisser. Und wenn Vincent dann noch nach Hause fährt …«

Maria streicht sich die Haare hinters Ohr und zupft am Ohrläppchen.

»Hmm«, meint sie, »das habe ich nicht gewusst. Das Problem ist, dass wir in der Hauptsaison langfristig auf kein Gästezimmer verzichten können. Danach vielleicht, aber versprechen kann ich nichts. Ist es so schlimm?«

»Nein, nein, ich schaff das schon. Und Vincent ist ja noch da. Aber wenn du es im Auge behalten könntest, das wär toll.«

»Mach ich, versprochen.«

Wieso schaut sie mich jetzt so an?

»Was ist?«, frage ich.

»Ach, nichts … äh … hast du einen Vorschlag für das Essen heute Abend?«

Was ist das? Sie wird tatsächlich ein bisschen rot.

Mitleidslos ignoriere ich ihren Ablenkungsversuch.

»Maria! Du wolltest doch was ganz anderes sagen. Na los!«

»Das war nur so ein spontaner Gedanke, und Gedanken sind immer noch frei«, wehrt sie lachend ab.

»Aber nicht, wenn man so ein Gesicht dazu macht! Komm schon, jetzt hast du mich neugierig gemacht«, dränge ich.

»Also gut, wenn du es unbedingt wissen willst, aber es geht mich wirklich nichts an …«

»Maria!«

»Ich habe mich gefragt, warum du so lebst …«

»Aha. Und wie lebe ich?«

»Na ja, du bist 25. Und ziehst durch die Welt wie ein Teenager nach erfolgreichem Schulabschluss.« Sie hebt entschuldigend die Hände.

»Ähm …« Kurz fehlen mir die Worte.

»Du arbeitest hier wie in einem Praktikum. Ich würde es ja verstehen, wenn wir eine Sterneküche hätten, aber so …«, schiebt Maria den Versuch einer Erklärung nach.

Sie ist echt süß! Ich glaube, ich muss sie mal grundsätzlich an meiner Lebensphilosophie teilhaben lassen.

»Meine liebe Maria, erstens liegt es in den Genen. Schau Papa an. Der war früher genauso. Ist durch die Welt gezogen und hat auch nicht nur in Sterneküchen gearbeitet. Und heute hat er Erfolg, Sterne, Kohle, Stress – und eine liebende Tochter, die die Annehmlichkeiten eines wohlhabenden Vaters genießt. Und außerdem: Ich habe eine Berufsausbildung und arbeite bei Paps oft genug 14 Stunden am Tag und mehr. Aber festlegen muss ich mich doch jetzt noch nicht. Und hier bei dir krieg ich ziemlich viel mit.«

Maria tätschelt mir die Hand.

»Du musst mir nichts erklären, Doro. Weißt du, ich bin einfach sehr … sagen wir mal – bodenständig. Und ein bisschen älter als du.«

»Nur ein bisschen.« Wir lachen beide.

»Weißt du«, sagt Maria dann, »manchmal beneide ich Frauen, die sich Zeit lassen mit Verpflichtungen, die dich dann festlegen.«

»Eben«, sag ich nur.

»Du bist wahrlich deines Vaters Tochter.« Maria schüttelt lachend den Kopf.

»Wie wär’s mit einem Gläschen Prosecco?«, schlägt sie dann vor, schon auf dem Weg, ein Fläschchen desselbigen aus dem Kühlschrank zu holen.

»Da musst du Vaters Tochter nicht zweimal fragen«, sag ich trocken, schnappe zwei Gläser und folge Maria.

»Ich glaube, wir haben die Terrasse für uns«, sagt Maria, »das ist angenehm.«

Kapitel 6 

Cochenille (Schildlaus)

Lunedi (Montag) – 4. August

Gute Nachricht. Rebecca Colucci ist aus dem Koma erwacht. Außer einer momentanen Amnesie und einer Gehirnerschütterung geht es ihr wieder gut.

Und das mit dem Baby natürlich …