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Sogar das Schreiben über ihre chronischen Kieferschmerzen wird bei Maggie Nelson zur Meditation über das große Ganze. »Eine der schärfsten und geschmeidigsten Denkerinnen ihrer Generation.« (Olivia Laing) Mit ihrem Mund stimmt etwas nicht. Als Kind sprach sie den meisten zu schnell und zu viel und heute leidet sie unter anhaltenden Kieferschmerzen, für die sie eine Odyssee durch die Praxen von Los Angeles auf sich nimmt. In der Absicht, die vielen Ärzt:innen besser informiert zu halten, dokumentiert sie ihren Leidensweg in den „Pathemata“. Doch in diesen Aufzeichnungen geht es schnell um sehr viel mehr als physischen Schmerz: Nelson schaut ihrer Partnerschaft beim Zerbrechen zu, trauert um geliebte Menschen und stellt sich ihrer Verlustangst. Ein Nachdenken über Verletzlichkeit, das eigenwillig ist und poetisch und von der ganz besonderen Stimmung getragen wird, die Maggie Nelsons Bücher auszeichnet.
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Seitenzahl: 76
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Sogar das Schreiben über ihre chronischen Kieferschmerzen wird bei Maggie Nelson zur Meditation über das große Ganze. »Eine der schärfsten und geschmeidigsten Denkerinnen ihrer Generation.« (Olivia Laing)Mit ihrem Mund stimmt etwas nicht. Als Kind sprach sie den meisten zu schnell und zu viel und heute leidet sie unter anhaltenden Kieferschmerzen, für die sie eine Odyssee durch die Praxen von Los Angeles auf sich nimmt. In der Absicht, die vielen Ärzt:innen besser informiert zu halten, dokumentiert sie ihren Leidensweg in den »Pathemata«. Doch in diesen Aufzeichnungen geht es schnell um sehr viel mehr als physischen Schmerz: Nelson schaut ihrer Partnerschaft beim Zerbrechen zu, trauert um geliebte Menschen und stellt sich ihrer Verlustangst. Ein Nachdenken über Verletzlichkeit, das eigenwillig ist und poetisch und von der ganz besonderen Stimmung getragen wird, die Maggie Nelsons Bücher auszeichnet.
Maggie Nelson
Pathemata
Die Geschichte meines Mundes
Aus dem Englischen von Cornelius Reiber
Hanser Berlin
Ich stehe als Erste auf, um Zeit allein zu haben und auch weil mein Kiefer zu sehr schmerzt, um noch im Bett zu bleiben.
Jeden Morgen fühlt es sich so an, als habe mein Mund einen Krieg überlebt — er hat aufbegehrt, er hat sich versteckt, er hat gelitten.
Haltlos trieben die Kiefer umher, schlugen an ihren winzigen Kontaktpunkten zu und zogen sich blitzartig zurück, Schmerzen fielen ins Gelenk ein und setzten sich dort fest.
Meine Zähne beißen nicht aufeinander, sondern auf die Innenwand der Wange, die sie zerkauen und dabei zwei hügelige Grate hinterlassen.
Ich stecke mir den Rand meiner Bettdecke in den Mund, um zu spüren, dass ich noch verwurzelt bin hier in der Welt.
Wenn H zu Hause ist, im Moment ungefähr die Hälfte der Zeit, entschuldige ich mich bei ihm für die weißen Flecken am Saum der Decke.
Das sei schon okay, sagt er, sie würden ihn nur traurig machen.
Als ich auf Zehenspitzen in die Küche gehe, mache ich einen »Biss-Check«, wovon man mir eigentlich abrät, was ich aber trotzdem tue, um sicherzugehen, dass meine oberen und unteren Zähne noch im selben Mund sind, entfernte Cousins desselben Sterns.
Er ist auf einer Landstraße rechts rangefahren, um einer Schildkröte über die Straße zu helfen.
Wir stehen an einer schwer einsehbaren Anhöhe, und es besteht durchaus Gefahr, dass die beiden von einem entgegenkommenden Auto erfasst werden könnten.
Er behandelt die Schildkröte mit Zärtlichkeit und Dringlichkeit, mehr Zärtlichkeit und Dringlichkeit, als er mir jemals entgegengebracht hat.
Ich warte auf dem Beifahrersitz und betrachte die über dem heißen Asphalt flimmernde Luft.
Es ist mir egal, ob die Schildkröte überlebt, aber ich tue so, als würde ich es hoffen.
Ich versuche, geliebt zu werden.
Es gibt ein Zeitfenster, gleich nach dem Aufwachen, in dem der Geist angeblich am frischesten ist für kreatives Schaffen.
Den »Morgenschub« nennt es ein Zeitungsartikel.
Seit rund zwei Jahren töte ich ihn, indem ich Meldungen auf Twitter lese.
Zuerst lerne ich die Persönlichkeiten, Hunde und Strickgewohnheiten ehemaliger Staatsanwält:innen kennen.
Ich staune über ihre Leichtigkeit bei der Verwendung moralischer Sprache — insbesondere, nachdem sie jahrelang Menschen in Käfige gesperrt haben.
Dann verbringe ich Zeit mit verschiedenen Epidemiologen und lerne ihre Art von Humor kennen, ihre Zwänge (»Bin nur hier für Omikron!«), ihren Interpunktionsstil, ihre »Risikotoleranz« und ihre verletzten Reaktionen auf Angriffe.
Besonders gut gefällt mir Monica Gandhis kämpferischer Optimismus, ihr passiv-aggressives »Danke«, ihre fast erotische Wertschätzung der Impfstoffe.
Klinik für orofaziale Schmerzen Nummer eins kann nicht helfen.
Klinik für orofaziale Schmerzen Nummer zwei kann nicht helfen.
Als ich mich in die nicht versicherte Wildnis begebe, lege ich eine Datei auf meinem Desktop an, in der ich genau die Situationen aufliste, unter denen die Schmerzen auftreten, die Ärzte, bei denen ich schon war, die Befunde auf ihren Bildern, die Medikamente und Physiotherapien, die ich schon ausprobiert habe, die Umstände, unter denen die Schmerzen offenbar stärker oder schwächer werden, und so weiter.
Ich nehme das Dokument zu jedem neuen Termin mit, in der Hoffnung, dass es eine nützliche Zusammenfassung einer verwirrenden körperlichen Situation bietet und mich darüber hinaus als organisierte Patientin ausweist, die bereitwillig und kooperativ an ihrer Behandlung mitwirkt.
Wir fahren im Dunkeln in einem Lieferwagen auf der East Blithedale Avenue, Opa am Steuer.
Ich sehe ihn als Silhouette, und uns ist bewusst, dass wir in Schwierigkeiten stecken.
Wir sind auf dem Weg zum Ort des Verbrechens, aber welchen Verbrechens?
Wir kommen an, und zwar im Mädchenzimmer aus The Brady Bunch.
Eine ehemalige Studentin von mir läuft mit einer tumorartigen Hasenscharte herum, spricht über Trauma und nennt es die »Fuckfestivity«.
Darauf hat die eine anwesende Mutter einen psychedelischen Auftritt, ihr Schädel verwandelt sich in leuchtende Phosphene mit grauenhaften hohlen Zähnen — als Zeichen ihrer Schuld, dass sie ihren Mann, meinen Großvater, ungehindert seine Tochter foltern und umbringen ließ und all die Jahre sein Geheimnis bewahrte.
Schon bald habe ich verstanden, dass niemand diese Pathemata lesen will.
Die meisten blättern die Seiten kurz durch und stecken sie dann hinten in meine Akte, als besage das Dokument vor allem, dass ich eine Logorrhoikerin bin, die es ruhigzustellen gilt.
Meine Akte beginnt mit einer Grippe, die ich mir bei der Beerdigung meines Großvaters geholt hatte, eine ungewöhnliche Grippe, die mir wochenlang Fieber bescherte und eine Schluckstörung hinterließ.
Von da an verzweigen sich die Symptome buchstäblich: elektrische Fäden, die sich durchs untere Zahnfleisch ziehen, eine Schlange aus Schmerz, die sich vom Kiefer zum Auge windet, ständige Bewegungsschmerzen im Kiefergelenk, das wiederkehrende Gefühl, im Schlaf einen Schlag ins Gesicht bekommen zu haben.
Ich möchte kein Detail auslassen, das sich als entscheidend erweisen könnte, lasse mein Textgewebe wuchern und flechte frühere Erfahrungen ein, meine frühe Geschichte mit der Logopädie, meinen ewigen Kampf mit Mandelentzündungen, kieferorthopädische Abenteuer in der Jugend, die Einnahme von Barium und erste anfallartige Kiefergelenkentzündungen, das Abstillen meines Babys, die Perimenopause, häusliche Stressfaktoren, die reale und die symbolische Rolle des Mundes im Leben einer Schriftstellerin.
Als er auf mich zukommt, ist es nicht mehr er, sondern eine viktorianische Kewpiepuppe mit Hochsteckfrisur und einem senffarbenen Kleid.
Ihr Schamhaar ist durch das Kleid sichtbar, ein strähniger Hügel.
Ich greife mir meine Schatztruhe mit Dads Silberdollars, um sie damit wegzustoßen, doch als ich die Truhe nach oben ramme, komme ich mit ihr nur bis zu diesem Hügel.
Ich erzähle H von der grauenhaften Enthüllung, dass mein Großvater der Mörder seiner Tochter war.
Er versichert mir, dass böse Träume psychischer Schutt sind und nichts bedeuten, vergiss es einfach und schlaf weiter.
Diese Beschwichtigung, von der ich weiß, dass er sie als Trost meint, macht mich wütend.
Sie macht mich so wütend, dass ich aufstehe und meinen Traum aufschreibe.
Als Kind habe ich so viel und so schnell gesprochen, dass ich zur Sprachtherapie geschickt wurde, damit mich die Leute besser verstehen können.
Ich selbst konnte mich natürlich problemlos verstehen — genau wie meine Schwester —, sodass ich mich fragte, ob sie eigentlich etwas anderes richten wollten, das sie euphemistisch »meinen Mund« nannten.
»Gibt es an ihrem Mund auch einen Aus-Schalter?«, scherzte ein Freund meiner Eltern, nachdem er ein Wochenende lang auf mich aufgepasst hatte — einer der Witze unter Erwachsenen, die einen für den Rest des Lebens begleiten (und von denen ich inzwischen sicher auch schon mindestens einen gemacht habe, ohne es zu wollen).
Zu meinem schnellen Sprechen kam offenbar noch ein »tongue thrust«, ein »Zungenstoß«, hinzu, dem ein — inzwischen verstorbener — Kieferorthopäde mit rotbraunem Schnurrbart entgegenzuwirken versuchte, indem er eine Metallspitze auf die Rückseite meiner Vorderzähne klebte.
Das Ziel war wohl, meine Zunge so zu verschrecken, dass sie sich einen anderen Ort für die Produktion von Zischlauten suchen würde (nur wo?).
Jedes Mal wenn ich Erwachsene »thrust« sagen hörte, »stoßen«, klang es irgendwie fett und obszön, wie Jabba der Hutte.
Ich bin auf dem Weg zu einem Zahnarzttermin, bei dem sie endlich meinen Mund in Ordnung bringen werden.
H fährt mich, was nett ist, nur hat er sich die Strecke vorher nicht angeguckt.
Als wir am anderen Ende der Stadt ankommen, fährt er merkwürdige Hügel hoch, statt einfach weiter auf dem Santa Monica Boulevard zu bleiben.
Ich bin völlig entnervt, es ist 16.20 Uhr, und der Termin war eigentlich um 16 Uhr, gleich ist es fünf, wir werden ihn verpassen.
Wir halten an einem Bahnhof an, wir sind jetzt in Frankreich, dort ist ein kleiner Souvenirshop mit Mengen an Spitzendeckchen und plastikeingeschweißtem Zeug, außerdem Brioches.
Ich versuche, an einem Automaten eine Fahrkarte zu kaufen, aber mein amerikanischer Zwanziger kommt immer wieder unten raus.
Ich bin jetzt wütend und versuche, eine App runterzuladen, die man braucht, um die Praxis kontaktieren zu können.
Sie heißt BREATHE DENTISTRY, aber der Download klappt nicht.
Die Botschaft der Metallspitze war unmissverständlich — meine Zunge irrte, ihre Instinkte waren falsch.
Genau wie ihre Größe.
Ich stellte mir vor, sie zu etwas Dünnerem und Eleganterem zurechtzuraspeln, so wie man einen Spazierstock aus einem Ast schnitzt.
Aber eine Zunge kann man nicht zurechtschnitzen.
Eine Zunge ist blutig und stark.
Wir befinden uns in einem irgendwie öffentlichen Raum, vielleicht einem Seminarraum, und H sagt: Mich interessiert diese Person sehr, und ich habe beschlossen, mich nicht mehr zurückzunehmen und sie für ein Date zu treffen.
