Patrick Hohmann - Der Bio-Baumwollpionier - Nicole Müller - E-Book

Patrick Hohmann - Der Bio-Baumwollpionier E-Book

Nicole Müller

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Beschreibung

Wie ist es möglich, den Bauern und Näherinnen in Indien, Tansania oder Bangladesch faire Preise zu bezahlen, die Natur zu schützen und zugleich nachhaltig zu produzieren? Der Schweizer Baumwoll-Visionär Patrick Hohmann hat es allen Widrigkeiten zum Trotz gewagt. Kaum ein anderer Stoff ist so eng verknüpft mit den negativen Seiten der Globalisierung und des Kapitalismus wie die Baumwolle. Der Stoff, den wir auf der Haut tragen, ruiniert ganze Volkswirtschaften und zerstört die Natur. Hohmann, der lange Jahre im konventionellen Baumwollhandel tätig war, wollte dies nicht länger hinnehmen. Denn, so seine Überzeugung: "Es kann nicht sein, dass ein Bauer aus Indien mein T-Shirt subventioniert." Hohmann gründete die bio-Re® Stiftung, die Bio-Baumwoll-Anbauprojekte in Indien und Tansania als Eigentümerin führt und mit rund 6000 Biobauern zusammenarbeitet. Der Zweck der Stiftung ist die Förderung des Biolandbaus als nachhaltige Lebensgrundlage von Bauernfamilien. Sie unterstützt den Infrastrukturaufbau in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Existenzsicherung und fördert die Partizipation der Bauerngemeinschaften mit menschenrechtsbasiertem Ansatz. Heute zählt das von Hohmann gegründete Unternehmen Remei AG zu den Pionieren der Bio-Baumwolle. Das vorliegende Buch erzählt Hohmanns beeindruckende Geschichte.

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Nicole Müller

PATRICK HOHMANN DER BIO-BAUM- WOLLPIONIER

Die Autorin und der Verlag bedanken sich für die großzügige Unterstützung bei

Remei AG

Der rüffer&rub Sachbuchverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

Erste Auflage Frühjahr 2019 Alle Rechte vorbehalten Copyright © 2019 by rüffer&rub Sachbuchverlag GmbH, Zürich [email protected] | www.ruefferundrub.ch

Design E-Book: Clara Cendrós

ISBN Book: 978-3-906304-51-9 ISBN E-book: 978-3-906304-58-8

Vorwort | Anne Rüffer

Patrick Hohmann und das weiße Gold

Vom Samen zum Kleidungsstück

Eine Kindheit in Alexandria

Im Schatten der Pfullinger Unterhose

Elisabeth Hohmann Holdener: Ehefrau, Verbündete, Sparringpartner

Ein Baumwollhändler geht pleite

Patrick Hohmann und Jürg Peritz: Zwei Männer engagieren sich für die Nachhaltigkeit

bioRe® India Ltd.

bioRe® Tanzania Ltd.

Remei AG, bioRe® Stiftung, bioRe® Labels

Transparenz und Rückverfolgbarkeit vom fertigen Kleidungsstück bis zum Bauern

Das Lebenswerk loslassen

»Der Lebhag« von Meinrad Inglin

Patrick Hohmann zu seiner Lieblingserzählung »Der Lebhag«

»Der Lebhag« von Meinrad Inglin

Anhang

bioRe® Sustainable Cotton

bioRe® Sustainable Textiles

Welchen Beitrag können Sie als Konsument/in leisten?

Anmerkungen

Bildnachweis

Dank

Autorin

Meiner lieben Dida in Dankbarkeit

Vorwort

Anne Rüffer, Verlegerin

2. Dezember 2015, Genf. Im voll besetzten »Auditorium Ivan Pictet« hat sich ein hochrangiges Publikum versammelt, um die aktuellen Preisträger des Alternativen Nobelpreises zu ehren. Selten stimmt die Adresse eines Ortes so unmissverständlich mit den Inhalten der Veranstaltung überein wie an diesem Abend: »Maison de la Paix«. Deutschlands Umweltministerin Barbara Hendriks und UN-Generaldirektor Michael Møller eröffnen den Anlass, der unter dem Titel steht: »On the Frontlines and in the Courtrooms: Forging Human Security.«

In der darauf folgenden Diskussion der vier Preisträger von 2015 fällt auf einmal die Aussage, die mich elektrisiert: »Die UN wurde nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, um nachfolgende Generationen vor der Geisel des Kriegs zu bewahren. Seither hat es über 170 Konflikte gegeben – und ihr habt die Möglichkeit einer Abschaffung von Kriegen nie diskutiert? Come on, guys, das ist doch unglaublich!« Verlegenes Gelächter und ungläubiges Staunen im Publikum, doch Dr. Gino Strada, Gründer der internationalen Hilfsorganisation »Emergency« weiß nur zu gut, wovon er spricht: Seit den frühen 1990er-Jahren baut er Kliniken in Kriegsregionen und kümmert sich um die zivilen Opfer – 10% sind Kämpfer der verschiedenen Kriegsparteien, 90% Zivilisten. Er beendete sein Statement mit der Feststellung: »Nennt mich ruhig einen Utopisten, denn alles ist eine Utopie, bis jemand seine Idee in die Tat umsetzt.«

Einer der wohl meistzitierten Sätze der letzten Jahrzehnte lautet: »I have a dream.« Nicht nur Martin Luther King hatte einen Traum – viele Menschen träumen von einer gerechteren Welt für alle. Und es sind einige darunter – mehr als wir wissen und noch lange nicht genug –, die ihren Traum mit Engagement, Herz und Verstand realisieren. Es sind Pioniere in ihren Bereichen, man mag sie – wie Gino Strada, Martin Luther King, Mutter Teresa oder Jody Williams – durchaus Utopisten nennen. Doch: Jede große Errungenschaft begann mit einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision.

Den Funken einer Idee, einer Hoffnung, einer Vision weiterzutragen und damit ein Feuer des persönlichen Engagements zu entzünden, das ist die Absicht, die wir mit unserer neuen Reihe – wir nennen sie »rüffer&rub visionär« – verfolgen. Im Mittelpunkt steht die persönliche Auseinandersetzung der Autoren mit ihrem jeweiligen Thema. In packenden Worten berichten sie, wie sie auf die wissenschaftliche, kulturelle oder gesellschaftliche Frage aufmerksam geworden sind, und was sie dazu veranlasste, sich der Suche nach fundierten Antworten und nachhaltigen Lösungen zu verpflichten. Es sind engagierte Texte, die darlegen, was es heißt, eine persönliche Verpflichtung zu entwickeln und zu leben. Ob es sich um politische, gesellschaftliche, wissenschaftliche oder spirituelle Visionen handelt – allen Autoren gemeinsam ist die Sehnsucht nach einer besseren Welt und die Bereitschaft, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren.

So vielfältig ihre Themen und Aktivitäten auch sein mögen – ihr Handeln geschieht aus der tiefen Überzeugung, dass eine bessere Zukunft auf einem gesunden Planeten für alle möglich ist. Und: Wir sind davon überzeugt, dass jeder von uns durch eigenes Handeln ein Teil der Lösung werden kann.

Patrick Hohmann und das weiße Gold

»Es kann nicht sein, dass ein Bauer aus Indien mein T-Shirt subventioniert.«

Ein Frühsommertag, es ist kalt und windig. Im Garten des Restaurants »Tisch + Bar«, in Riesch-Rotkreuz, haschen die Kellnerinnen nach den Speisekarten, die davonsegeln, während die Gäste mit dem Gewicht ihrer Hand die Servietten am Davonflattern hindern. Ein Kellner kniet am Boden und fegt die Scherben eines hinuntergefallenen Glases aus dem Kies. Patrick Hohmann will zahlen. Er beugt sich über das Kartenlesegerät, das ihm die Kellnerin entgegenschiebt, hält das Gerät mit beiden Händen umfangen. »Ich sehe ja nichts«, sagt er und lacht. Ein erster Tippversuch misslingt. Hohmann blickt auf und blinzelt hoch zum Gesicht der Kellnerin, geblendet vom Licht. »Ich kann nichts sehen«, sagt er und lacht noch immer, entzückt wie ein Kind, das mehrere Male hintereinander in eine Pfütze springt. Erneut beugt sich der groß gewachsene Mann über das Tippfeld, die Augen ganz nah am kleinen Bildschirm. »Jetzt hat es geklappt«, sagt er zufrieden und lehnt sich zurück. Nichts sehen und es doch nochmals versuchen. Hinausgehen ins Ungefähre, scheitern und einen weiteren Versuch unternehmen. Sich auf das Eigene konzentrieren, während die Welt davonfliegt. Es ist, als würde in dieser winzigen Szene im Kleinen sichtbar, was Patrick Hohmann als Unternehmer im Ganzen ausmacht.

Patrick Hohmann ist ein Pionier der Bio-Baumwolle. Die Firma Remei, die er zusammen mit seiner Frau Elisabeth Hohmann Holdener und weiteren Freunden gegründet hat, ist der größte Anbieter von Bio-Baumwolle weltweit. Die zertifizierte bioRe® Baumwolle und die bioRe® Textilien, die aus ihr hergestellt werden, genügen fünf Kriterien: Sie basieren auf biologischem Anbau, sind fair produziert, CO2-neutral, ökologisch und hautfreundlich. Darüber hinaus herrscht volle Transparenz über die gesamte Produktionskette. Konsumentinnen und Konsumenten können jeden einzelnen Zuarbeiter digital überprüfen, die ganze Linie zurück bis zum Bauern, der die Baumwolle ausgesät, großgezogen und geerntet hat.

Patrick Hohmann betrachtet das Geschäftsmodell, das er entwickelt hat, als Folge reiner Logik. Für den studierten Textilingenieur ist es selbstverständlich, dass man die Natur nicht mutwillig zerstört, wo sie doch die Lebensgrundlage aller Menschen ist, ganz gleich, auf welchem Kontinent sie leben. Auf Vernunft gründet für ihn auch ein Gemeinwesen, das in der Balance ist. Die ungleiche Behandlung von Menschen und die Tatsache, dass die Globalisierung den Armen ein asymmetrisches Risiko aufbürdet: Alles unlogisch. »Es kann doch nicht sein, dass ein indischer Bauer mein T-Shirt subventioniert«, so Hohmann.

Bis in die 1990er-Jahre hinein war Patrick Hohmann ein Garn- und Baumwollhändler wie andere auch. Eines Tages jedoch kommt Hohmann mit einem indischen Baumwollbauern ins Gespräch: »Ich wollte wissen, wie viel er verdient. Rund 1 Dollar pro Kilogramm. Und wie viel er davon in Chemie investiere: 70 Cents. Weil der Einsatz der Pestizide vom Staat zu 50% subventioniert ist, gehen gleichzeitig nochmals 70 Cents an die Chemie. Für wen arbeitet der Bauer also? Er hat keine Beziehung zum Händler oder zum Kunden, produziert ins Leere und verschuldet sich dabei erst noch.« Die betriebswirtschaftliche Absurdität geht Hohmann nicht mehr aus dem Kopf. Wie kann es sein, dass ein Produkt, das mehr als 1,40 Dollar Aufwand erzeugt, nur einen Dollar einbringt? Und wie kommt es, dass die Menschen in der Landwirtschaft kaum etwas verdienen, während am anderen Ende der Produktionskette, beim Geschäft mit der fertigen Kleidung, die Gewinne nur so sprudeln?

Um das Singuläre an der Lebensleistung von Patrick Hohmann zu verstehen, muss man sich vor Augen halten, wie weit Baumwolle in die Gesellschaft hineinreicht. Wer sich einmal im Alltag umschaut, wird verblüfft sein, wie präsent dieser Stoff überall ist. Wir tragen T-Shirts, Blusen und Hemden. Wir schlüpfen in Jeans, streifen Baumwollsocken über. Babys liegen auf Baumwolltüchern und halten ihr baumwollenes Nuckeltüchlein in der kleinen Faust. In den Restaurants liegt makelloser Damast auf den Tischen. Wir schlafen unter Decken mit Baumwollbezügen, ziehen Vorhänge zu, alles aus 100% Cotton. Abgesehen von diesen für alle sichtbaren Textilien versteckt sich die Baumwolle aber auch in Dingen, die überraschen. So etwa in Geldscheinen oder in der Umhüllung von Kaffepads. Selbst das, was unter dem Label »Speiseöl« verkauft wird, ist oft nichts weiter als Öl aus den Baumwollsamen.

In einer umfassenden, spannend zu lesenden Studie mit dem Titel »King Cotton« hat der deutsche Historiker Sven Beckert, Professor an der renommierten Harvard University, der Baumwolle ein Denkmal gesetzt. Er weist nach, dass die industrielle Revolution von der Baumwolle entfacht wurde und Europa immensen Reichtum bescherte. Bis 1760 kleideten sich die meisten Menschen in Europa in Leinen und Wolle, in höheren Ständen vielleicht noch in Seide. Diese Stoffe kratzten, waren schwer zu waschen und ließen sich nur mit Mühe färben. Die Welt unserer Ahnen war – abgesehen von den bunten Kirchen und den schön bemalten Herrenhäusern – farblos, und sie roch ziemlich streng. Mit dem Aufkommen der Baumwolle änderte sich dies fundamental.

Beckert weist in seinen Forschungen nach, dass die Globalisierung, wie wir sie kennen, von der Baumwolle initiiert, angeschoben und zur Blüte gebracht wurde. Die tiefe Kluft, die heute den globalen Norden vom globalen Süden trennt, hat im Wesentlichen mit der Baumwollindustrie des 19. Jahrhunderts zu tun. Anders als andere Rohstoffe wie etwa Reis oder Tabak kennt die Baumwolle zwei intensive Phasen: jene auf dem Feld und jene in den Fabriken. Baumwolle muss entkernt und zu Ballen gepresst werden, ihre Fasern müssen zu Garn versponnen werden. Das Garn muss zu Stoff verwoben, gewirkt oder gestrickt werden, je nachdem, ob daraus ein Jersey-Spannlaken oder ein leichter Sommerpullover entstehen soll. Und schließlich müssen die Stoffe gefärbt und konfektioniert werden.

Es war nicht allein die Erfindungsgabe der technisch versierten Europäer und Amerikaner, nicht allein ihr Geist der Aufklärung, die Manchester, das elsässische Mulhouse oder Lowell in Massachussetts zu Zentren der Weltwirtschaft werden ließen. Es war vielmehr das, was Beckert »Kriegskapitalismus« nennt: die mit Gewalt vorgenommene Enteignung von Land und die Versklavung von Menschen in Asien, Afrika und den beiden Amerikas. Erst der Kriegskapitalismus brachte die Teilung in einen agrarisch geprägten Teil der Welt und in einen produzierenden Teil der Welt hervor. Es war die Baumwollindustrie, die ganz entfernte Gegenden miteinander verknüpfte und zu Schicksalsgemeinschaften verschweißte. »Die Baumwolle [ist] ein Schlüssel zum Verständnis der modernen Welt, der großen Ungleichheiten, die sie charakterisieren, der langen Geschichte der Globalisierung und der sich ständig wandelnden Ökonomie des Kapitalismus«,1 so Historiker Beckert.

Während Jahrhunderten bauten die indischen Bäuerinnen und Bauern Baumwolle zum Eigengebrauch an. Die Stoffe, die sie am Handwebstuhl webten, waren für sie selbst bestimmt, allenfalls noch zur Abgabe an die lokalen Herrscher. Nach der industriellen Revolution, d.h. nach dem Aufkommen des Maschinenzeitalters an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert, wurden die indischen Märkte mit billigen, maschinell hergestellten Baumwollstoffen aus Europa, hauptsächlich aus England, geflutet. Damit waren die Entwicklungsmöglichkeiten der indischen Wirtschaft gekappt, die Bauern wurden gewaltsam in die Arbeit auf dem Feld gezwungen. Es ist kein Zufall, dass Mahatma Ghandi den handgewobenen Khadi-Baumwollstoff zum Symbol des gewaltfreien Widerstandes gegen die Briten machte. Voller Stolz trug er das traditionelle, handgewobene Beinkleid namens Dhoti und forderte seine Landsleute auf, einheimische Stoffe zu tragen. Damit zeigte er den Inderinnen und Indern einen Weg auf, die Einwilligung in die eigene Unterdrückung zu verweigern. Ghandis gewaltloser Widerstand war erfolgreich: Bis heute ziert das Spinnrad die indische Flagge.

Als sich im 19. und im frühen 20. Jahrhundert die Arbeiterinnen und Arbeiter in den höllisch lauten, verrauchten Fabriken Europas zu wehren begannen, höhere Löhne und Sozialleistungen verlangten, kehrte die Textilindustrie schrittweise nach Asien und Afrika zurück. In den Ländern, in denen heute Textilien produziert werden, kommt es in unregelmäßigen Abständen zu Skandalen, die uns zwar aufschrecken, die uns aber auch mit einem diffusen Gefühl der Ohnmacht erfüllen. Als am 24. April 2013 eine Näherei in Bangladesh einstürzte und 1135 Menschen unter sich begrub, war die Empörung überall auf der Welt groß. Gleichzeitig wurde aber aus der Berichterstattung ersichtlich, dass die Schuldigen nicht so einfach gefunden werden können, dass im Gegenteil gewaltige systemische Kräfte wirken, die den einzelnen Menschen oft ratlos zurücklassen.

Die Baumwollindustrie ist ein globales, arbeitsteiliges, extrem ausdifferenziertes Milliardengeschäft mit einer Menge an Stellschrauben und Parametern, von denen wir uns, die wir ganz gewöhnliche T-Shirt-Träger sind, keinen Begriff machen. Die Baumwolle wird meist in strukturschwachen Gegenden angepflanzt und geerntet. Dort fehlt in der Regel eine zuverlässige Versorgung mit Strom. Der Rohstoff wird abtransportiert und damit entschwindet für die betreffende Region auch die Möglichkeit, an der weiteren Wertschöpfung der Baumwolle teilzuhaben. Die Entkernung des Rohstoffes, das Verspinnen der Baumwollfasern zu Garn, das Weben, all dies sind Arbeitsschritte, die andernorts erfolgen, weit weg von dort, wo die Baumwolle das Licht der Sonne erblickt hat. Nicht selten wird der Rohstoff zur Weiterverarbeitung sogar in ein anderes Land gebracht. Die Baumwollindustrie ist eine nomadisierende Industrie, die der Spur des günstigsten Preises folgt: Wenn es günstiger ist, die tansanische Baumwolle in Sambia zu verspinnen, dann schafft man sie eben nach Sambia, auch wenn es in Tansania Spinnereien gibt, die die Arbeit übernehmen könnten.

Die Abnehmer von Baumwollprodukten agieren global. Die Anbieter dagegen hängen von lokalen Rahmenbedingungen ab. So ist es durchaus möglich, dass eine Regierung im Land A den Mindestpreis für Baumwolle anhebt mit dem Ziel, Mehreinnahmen für die einheimischen Bauern zu generieren. Wenn aber die globalen Abnehmer den gleichen Typ Baumwolle in Land B günstiger bekommen können, dann verdienen die Bauern in Land A nicht nur nicht mehr, sondern gar nichts mehr. Das System ist fragil und vertrackt. Auch die Tatsache, dass der Baumwollpreis in Dollar notiert, setzt die Bauern großen Risiken aus. Die Ernte kann gut sein, die Qualität auch, aber wenn der Dollar eine Abwertung erfährt, dann erhalten die Bauern real weniger Geld in ihrer Landeswährung. Zu den systemischen Risiken gesellt sich die Abhängigkeit vom Wetter, ein Risiko, das sich in Zeiten des Klimawandels laufend verschärft.

»Der Konsument trägt Baumwolle oder kauft Karotten und weiß gar nicht, was eigentlich dahintersteht«, sagt Patrick Hohmann. Will man es etwas genauer wissen, so ist man rasch mit unangenehmen Tatsachen konfrontiert. Rund 200 Millionen Menschen leben direkt oder indirekt von der Baumwolle, von ihrem Anbau oder den nachgelagerten Arbeitsprozessen. Großmächte im Anbau von Baumwolle sind Indien, China und die USA. Platz fünf, sechs und sieben belegen Brasilien, Pakistan und die Türkei. Von den jährlich rund 80 Millionen Tonnen geernteter Baumwolle ist nur ein verschwindend kleiner Teil Bio-Baumwolle, man schätzt ihren Anteil auf 1%. Baumwolle in der Art, wie sie heute üblicherweise angebaut wird, ist ein Desaster für Mensch und Umwelt. Der Aralsee zum Beispiel, der zu Usbekistan und Kasachstan gehört, war vor 30 Jahren noch so groß wie ganz Bayern. Heute ist der einstige See praktisch trockengelegt, geblieben ist eine giftige, staubige Salzwüste, eine Folge der beim Baumwollanbau in Usbekistan verwendeten Pestizide. Mit einem ausgeklügelten Bewässerungssystem haben die sowjetischen Ingenieure den 30 Meter tiefen See angezapft, denn es braucht zwischen 10000 und 20000 Liter Wasser für 1 Kilogramm Baumwolle. Wo natürliche Niederschläge fehlen, kommt es zu massiven Umweltschäden, die das Weltklima verschlechtern und uns alle angehen. Wasser ist nicht das einzige Problem. Auch die Beschädigung der »grünen Lunge« gehört zu den Folgen des industriell angelegten Baumwollanbaus. So werden in Brasilien Jahr um Jahr Tausende Hektar Urwald abgeholzt und gerodet, um Baumwolle zu pflanzen.

Es gehört zu den bitteren Ironien der Baumwollbranche, dass die Umweltsünden Hand in Hand gehen mit einer zunehmenden Verarmung der Menschen, die die Baumwolle anbauen. So muss China, der größte Baumwollproduzent der Welt, immer wieder gigantische Mengen an Baumwolle aufkaufen und horten, um die eigenen Produzenten per Staatsintervention zu schützen. Die Baumwolle wird dem Markt entzogen und künstlich verknappt, um den Preis stabil zu halten. Auch die USA verzerren mit ihrer Subventionspolitik den Markt. Bis 2014 erhielten die amerikanischen Baumwoll-Farmer mehr Subventionen, als der Verkauf des Rohstoffes einbrachte. Als Brasilien die USA wegen dieser Handelsverstöße einklagte, mussten die Vereinigten Staaten von Amerika 300 Millionen Dollar Buße bezahlen und die Subventionen an ihre Farmer in Texas, Georgia, Arkansas, Mississippi und Kalifornien streichen. Wirklich verändert hat sich aber nichts. Die Baumwoll-Farmer werden weiterhin staatlich unterstützt mit Defizitgarantien, mit Entschädigungen, die als Unterstützung für Hurrikan-Opfer getarnt sind, und mit massiv vergünstigten Ernteausfall-Versicherungen. Dabei ist es nicht etwa so, dass die amerikanischen Baumwoll-Bauern besonders begütert wären. Viele von ihnen kommen nur mit einem Zweitverdienst über die Runden, mit einem Job irgendwo in der Stadt. Sie sind ebenfalls Opfer eines Marktes, bei dem es zu keiner echten Preisbildung mehr kommt. Manche von ihnen würden gern aus der Baumwolle aussteigen, haben sich aber mit einem Maschinenpark verschuldet, der nur für die Baumwollernte zu gebrauchen ist. Eine Maschine, die die Baumwolle mechanisch erntet, kostet schnell einmal 750000 Dollar – zugleich erlauben Monokulturen wenig Flexibilität. Hinzu kommt, dass die Baumwoll-Farmer Angestellte auf der Gehaltsliste stehen haben, Menschen, für die sie sich verantwortlich fühlen. Abgesehen davon muss es eine deprimierende Erfahrung sein, ständig am Tropf der Steuerzahler zu hängen und ein Produkt herzustellen, das keinen wirklichen Gewinn abwirft.

Es gibt aktuell keine genauen Zahlen, wie viel der insgesamt angebauten Menge an Baumwolle transgen ist. Je nach Quelle wird ihr Anteil mit 64–81% beziffert.2 Zwischen 51 Millionen Tonnen und 65 Millionen Tonnen Rohbaumwolle jährlich sind folglich transgen. Das heißt, dass das Erbmaterial der Baumwollpflanze mit einem Protein manipuliert wurde, das die klassischen Baumwoll-Schädlinge tötet bzw. töten sollte. Falls Sie nicht ganz bewusst ein Kleidungsstück aus Bio-Baumwolle gekauft haben, dann tragen Sie gerade jetzt, wenn Sie diese Zeilen lesen, ein Kleidungsstück aus genmanipulierter Baumwolle. Die Erfahrung zeigt, dass in den ersten drei, vier Jahren die Ernte von genmanipulierten, hybriden Pflanzen tatsächlich üppiger ausfällt und der Verbrauch von Pestiziden zurückgeht. Nach dieser Frist jedoch entwickeln die Schädlinge Resistenzen, und das bedeutet schärfere Pestizide in noch höheren Dosen, noch mehr Genmanipulation, erneut aggressivere Pestizide etc. Genmanipuliertes Saatgut ist außerdem patentiert. Nicht zuletzt ist der Samen, der aus einer genmanipulierten Pflanze entsteht, nur eingeschränkt keimfähig. Die Idee dahinter: Der Bauer muss jedes Jahr frisches Saatgut kaufen und spült so den Großkonzernen Geld in die Kasse. Swissaid schätzt, dass drei Agrarkonzerne inzwischen rund zwei Drittel des gesamten Baumwoll-Saatgutes besitzen. Das ist nicht nur eine gefährliche Einschränkung der Bio-Diversität, sondern eine existenzielle Bedrohung für die Bauern.

»Näherinnen sind unterbezahlt«, kommentiert Patrick Hohmann, »aber die Landwirtschaft ist noch unterbezahlter.« Die Bauern in armen Ländern haben keine Ersparnisse. Deshalb kaufen sie Saatgut und Pestizide auf Pump. In der Hoffnung natürlich, dass der Verkauf der Ernte genügend Geld einbringt, um die Ausgaben zu decken. Wenn etwas dazwischenkommt – ein Schädlingsbefall, schlechtes Wetter, Wasserknappheit –, schnappt die Schuldenfalle zu. Jedes Jahr berichten indische Tageszeitungen wie »Times of India« oder »The Hindu« von Suizidserien der Bauern in ländlichen Gebieten. Obwohl der Ton der Artikel durchaus mitfühlend ist, wird selten über die effektiven Hintergründe berichtet.

Ein einzelner Mensch kann gleichzeitig viel und wenig ausrichten. Wenn Patrick Hohmann irgendwo auf dem Perron eines Bahnhofes steht, ist er ein Passant unter Passanten. Ein großer, breitschultriger, freundlich wirkender Mann in Windjacke und Chinos, den Rucksack über die eine Schulter geworfen. Er hat sein halbes Berufsleben dafür eingesetzt, das Los der Bauern zu verbessern und Baumwolle mit der Natur und nicht gegen die Natur zu produzieren. Trotzdem wird das Geschäftsmodell, das er gemeinsam mit seinen Partnern in jahrelanger Arbeit entwickelt hat, immer wieder herausgefordert und angepasst. Die Produktionsabläufe der bioRe® Sustainable Cotton & Textiles sind enormen Fliehkräften und der Übermacht einer Industrie ausgesetzt, bei der die Rendite an erster Stelle steht. Dem Sog der Maximierung zu widerstehen erfordert menschliche Wärme, Mut und sehr viel Erfindungsgabe von der Art, wie sie David zum Sieg gegen Goliath verholfen hat.