Paulas Powerbuch - Ulrike Kuckero - E-Book

Paulas Powerbuch E-Book

Ulrike Kuckero

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Beschreibung

Paula ist entsetzt! Noel, ein Mitschüler aus ihrer Parallelklasse, soll in den Kongo abgeschoben werden, obwohl er dort noch nie war. Schnell ist klar: Paula und ihre Freundinnen aus der Mädchen-Arche wollen sich für Noel und seine Familie engagieren. Doch wie? Eine Demo organisieren? Unterschriften sammeln? Einen Solidaritätslauf veranstalten? Jetzt ist jede Menge Power gefragt. Und Paula spürt, dass es hier um sehr viel geht. Nicht zuletzt auch um ihre Gefühle für Noel … Ein spannendes Buch über Mut, Zivilcourage und Liebe!

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Seitenzahl: 184

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Ulrike Kuckero

Paulas Powerbuch

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Paula ist entsetzt! Noel, ein Mitschüler aus ihrer Parallelklasse, soll in den Kongo abgeschoben werden, obwohl er dort noch nie war. Schnell ist klar: Paula und ihre Freundinnen aus der Mädchen-Arche wollen sich für Noel und seine Familie engagieren. Doch wie? Eine Demo organisieren? Unterschriften sammeln? Einen Solidaritätslauf veranstalten? Jetzt ist jede Menge Power gefragt. Und Paula spürt, dass es hier um sehr viel geht. Nicht zuletzt auch um ihre Gefühle für Noel …

Ein spannendes Buch über Mut, Zivilcourage und Liebe!

Über Ulrike Kuckero

Ulrike Kuckero wurde in Bremen geboren, studierte nach dem Abitur Literaturwissenschaften, Anglistik und Pädagogik in Kiel, New York und Hamburg und lebt inzwischen wieder in Bremen.

Inhaltsübersicht

Für HarounWir werden gebrauchtEr mag mich nochBunt muss es sein!Das geht nicht so einfach!Immer zwei geben ein PaarDie können nicht andersAls ob nichts gewesen wärIf I were blackEine Glatze am SchulhoftorWie ein EindringlingAber nur eigentlichAbwesendJe mehr, desto besserSchulhof-CDKeine ChancePaulas PowerKüsse im Flur«Deutsches» EisViel zu tunWir brauchen dich noch!Eine ÜberraschungGemeinsames AbwaschenEine Verabredung, aus der zwei werdenMit der Hautfarbe hat das nichts zu tun!Essen bei PapsWir passen nicht zusammenSehnsucht und eine weiße BluseWas alles wirklich passiertWir gehören zusammenEin Versprechen

Für Haroun

Wir werden gebraucht

Der Tag begann hektisch. Es fing schon damit an, dass Paula Mühe hatte, das Fahrrad vor der Schule abzuschließen, weil mal wieder das Schloss klemmte, und sie den Schlüssel nicht mehr herausbekam. Ihre Freundin Judith probierte es, ruckelte an dem Schloss herum, gab aber schließlich auch auf.

«Du brauchst Öl», meinte sie und sah sich suchend um.

Als ob vor der Schule ein Kännchen Fahrradöl rumsteht, dachte Paula entnervt und drehte selbst wieder am Schlüssel. Wenn sich das blöde Ding nicht lockerte, kamen sie zu spät zum Unterricht.

«Lass den Schlüssel doch einfach stecken», schlug Judith vor. «Wenn du ihn nicht rauskriegst, schafft es ein Dieb auch nicht.»

«Ha, ha», machte Paula nur und ruckelte noch einmal besonders kräftig. Zack! Plötzlich hatte sie ihn in der Hand.

«Na bitte, geht doch!», murmelte sie erleichtert und warf ihrem Rad einen bösen Blick zu. Dann hastete sie hinter Judith her, die bereits zum Schultor eilte. Bestimmt wollte Judith noch eine gewisse Person treffen, bevor der Unterricht begann. Doch diese Person tauchte nicht auf, und Judith trottete immer langsamer neben Paula durch die Flure.

Kaum hatten Paula und Judith den Klassenraum betreten, da stürmte die Klassenlehrerin, Frau Essigbaum, herein und rief: «Bitte setzt euch hin, ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen.»

Überrascht schauten alle auf ihre Lehrerin.

«Aber es hat doch noch gar nicht geklingelt», beschwerte sich Jenny, fischte eine Haarbürste aus dem Rucksack und ließ sie in aller Ruhe durch ihre langen blonden Haare gleiten.

«Egal!», rief Frau Essigbaum und klatschte in die Hände.

Gehorsam gingen alle zu ihren Plätzen. Doch von Ruhe konnte keine Rede sein. Immer wieder ging die Tür auf, noch jemand kam herein und schaute irritiert erst auf Frau Essigbaum, dann auf die Uhr.

«Hat es schon geklingelt?», fragte Nevin schüchtern und huschte zu ihrem Tisch.

«Nein», flüsterte Paula und drückte sich neben Judith auf ihren Platz. «Irgendwas ist los. Die Essigbaum ist ziemlich aufgeregt.»

«Vielleicht fällt der Unterricht aus, weil die Heizung kaputt ist», frohlockte Judith. «Bestimmt haben wir jetzt eine Woche keine Schule!»

Paula zweifelte an dieser Vermutung. Heizungsferien im Mai? Doch sie schwieg und sah zu, wie Jenny weiter vorne ihre Bürste wieder verstaute und den Freundinnen einige vielsagende Blicke zuwarf. Bestimmt meinte Jenny damit, dass sie sich in der Pause treffen sollten, dachte Paula und nickte ihr zu. Dann beugte sie sich zur Seite und flüsterte Judith und Nevin zu: «In der ersten Pause bei der großen Linde!»

«Ist in der Schule eingebrochen worden?», fragte jemand.

Manche lachten. Frau Essigbaum reagierte nicht. Sie ging zum Fenster und öffnete es. Dann drehte sie sich zur Klasse um und sagte: «Ihr kennt doch alle Noel aus der 8b. Vorgestern Nacht sollte die Familie in ihr Heimatland Kongo abgeschoben werden. Die Familie hat jedoch rechtzeitig in der Friedenskirche Kirchenasyl bekommen und wird bis auf weiteres dort bleiben. Unsere Schulleitung bittet euch nun alle in die Aula, denn sie möchte euch über diesen Vorgang informieren.»

Unruhe kam auf.

«Noel ist doch der Schwarze, oder?», fragte Judith.

«Muss wohl so sein», sagte Paula.

Sie sah den hochgewachsenen Jungen mit dem stillen Gesicht vor sich. Ein paar Mal hatte sie ihn beim Fußballspielen gesehen. Sie hatte sich noch gewundert, dass ein Junge, der so still und sanft aussah, Fußball spielen konnte. Doch eigentlich hatte Paula keine Ahnung, wer dieser Noel war.

«Ich dachte, der wäre adoptiert und Deutscher», murmelte Judith.

«Vielleicht ist er ja hier geboren», meinte Paula und stand auf. «Los, wir gehen.»

In der Aula herrschte großes Gedrängel. Schülergruppen quetschten sich durch die Sitzreihen, andere liefen lärmend durch die Halle. Paula blieb mit Judith an der Seite stehen und ließ den Blick über die Reihen gleiten. Wo gab es noch freie Plätze? Plötzlich blieb ihr Blick hängen, ihr Atem stockte, dann schaute sie schnell woanders hin.

Elias. Dort saß er.

Paula merkte, dass ihr Gesicht heiß wurde. Es war zwar bereits mehrere Monate her, dass er sich von ihr getrennt hatte, aber Paula hatte noch immer das Gefühl, als würde ein Messer durch ihr Herz schneiden, wenn sie ihn sah.

Judith winkte jemandem zu. Paula folgte ihrem Blick. Natürlich. Felicitas, von allen Fee genannt. Judiths Liebste seit mehreren Monaten. Mit Wehmut dachte Paula an jene Woche, als Elias sie wegen einer anderen verlassen hatte und gleichzeitig Judith im siebten Himmel war. Sie warf einen verstohlenen Blick auf ihre Freundin. Judith strahlte, winkte und formte mit den Lippen «Erste Pause».

Wie gut, dass sie trotz allem meine Freundin bleibt, dachte Paula dankbar und hätte Judith am liebsten kurz gedrückt. Dann entdeckte sie weiter hinten zwei freie Plätze und lotste Judith dorthin.

«Sie hat nächste Woche Geburtstag», sagte Judith und lächelte glücklich. «Sie wird siebzehn.»

Stolz schwang in ihrer Stimme.

Paula nickte. Siebzehn. Das klang richtig erwachsen. Unauffällig beugte sie sich noch einmal vor. Dort saß er. Zwei Reihen vor ihr. Redete mit Fynn und Mike. Seine neue Freundin, diese große Blonde, war zum Glück nicht zu sehen.

Paula straffte die Schultern. Lass ihn doch, mahnte sie sich. Denk nicht mehr an ihn. Dein Leben geht jetzt ohne ihn weiter.

Doch ein wehmütiger Schmerz war nicht zu unterdrücken. Paula schluckte. Liebte sie ihn immer noch? Nachdenklich hing ihr Blick an seinem Nacken. Ohne es zu wollen erinnerte sie sich, wie weich die Kuhle zwischen seinen Schlüsselbeinen war. Wie gern hatte sie ihn dort geküsst und seinen Duft eingeatmet. Paula seufzte. Dann riss sie ihren Blick los und schaute zur Bühne, wo inzwischen der Schulleiter und der Schulelternsprecher standen. Jeder hielt ein Mikrophon in der Hand.

«Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Kolleginnen und Kollegen!», sagte der Schulleiter und räusperte sich.

Sofort wurde es ruhig.

«Wie ihr vielleicht von euren Klassenlehrerinnen und -lehrern gehört habt, ist es ein trauriger Anlass, zu dem wir uns hier versammeln. Euer Mitschüler Noel Owusu und seine Familie sind von Abschiebung bedroht und haben in der Friedenskirche hier in unserem Stadtteil Kirchenasyl gefunden. Ihnen, Pastor Odental, und Ihrer Gemeinde dafür herzlichen Dank!»

Beifall kam auf. Pastor Odental trat einen Schritt auf die Bühne zu und nickte kurz als Dank.

«Nun sind wir alle gefragt», sprach der Schulelternsprecher weiter. «Wir alle sind mitverantwortlich für die Menschen, mit denen wir hier Zusammenleben. Und wenn sie unsere Hilfe brauchen, so sollen sie unsere Hilfe bekommen!»

Pfiffe ertönten, alle Schüler und Lehrer klatschten.

Paula fragte sich, wie ein Kirchenasyl eigentlich funktionierte. Und wie man helfen konnte. Hatte Noel noch Geschwister? Waren sie jetzt alle in der Kirche eingesperrt?

«Deswegen», fuhr der Schulelternsprecher fort und bat wieder um Ruhe, «deswegen wollen wir einen Solidaritätslauf veranstalten. Ihr wisst, wie das geht. Wir haben vor einigen Jahren schon einmal durch solch einen Lauf mehr als zweitausend Euro für das Kinderheim in Ghana gesammelt. Die Strecke ist wieder dieselbe. Jeder läuft um den Waldsee und für jeden gelaufenen Kilometer bekommt ihr Geld. Sucht euch Sponsoren und trainiert fleißig, dass ihr viele Kilometer schafft und viel Geld zusammenkommt. Der Unterstützerkreis der Gemeinde wird dann das Geld für Familie Owusu verwenden. Nächste Woche am Dienstag ist es so weit! Bis dahin: Seid erfolgreich!»

Die Schülersprecherin betrat die Bühne und ermunterte ihre Mitschüler, viele Sponsoren zu finden und die Eltern zu fragen, wer bereit war, an den Stationen des Laufes zu stempeln.

«Stempeln?», fragte Judith.

«Du weißt doch, an jeder Station gibt es einen Stempel auf den Arm. Damit du hinterher beweisen kannst, wie weit du gelaufen bist und entsprechend Geld bekommst», flüsterte Paula.

«Ach ja», sagte Judith. «Ich glaub, ich hab damals gerade mal drei Kilometer geschafft.»

«Da waren wir ja auch erst in der fünften Klasse», gab Paula zu bedenken. «Armer Noel», fügte sie leise hinzu und stellte sich vor, wie er mit seinen kleinen Geschwistern hinter der Orgel schlafen musste. Oder hinter dem Altar. Und was taten sie am Sonntag während des Gottesdienstes? Ob sie dann alle ihre Sachen wegräumen mussten?

«Hauptsache, wir machen jetzt nicht gleich mit Englisch weiter», seufzte Jenny, als sie sich im Treppenhaus trafen. «Das hier war so eine schöne Unterbrechung!»

«Schöne Unterbrechung nennst du das?», fauchte Paula entrüstet. «Stell dir mal vor, du müsstest in der Kirche wohnen. Wie fändest du das? Schöne Unterbrechung?!»

«Erst mal würde ich alle Kirchenlieder singen. Und dann würde ich die dicke Bibel auf dem Altar durchlesen. Und wenn es mir langweilig werden würde, würde ich auf der Orgel spielen. Außerdem gibt es bestimmt ein paar hübsche Messdiener», sagte Jenny und warf ihre langen blonden Haare über die Schulter.

«Die gibt’s nur in katholischen Kirchen», bemerkte Judith kühl und blickte suchend die Treppe hinauf. Doch keine Fee war zu sehen. Und kein Elias, dachte Paula erleichtert und enttäuscht zugleich und hakte sich verwirrt bei Judith ein.

«Darf Noel denn jetzt gar nicht mehr zur Schule gehen?», fragte Nevin besorgt.

Paula zuckte mit den Schultern.

«Ich glaube, die Leute im Kirchenasyl sind nur in der Kirche sicher», sagte sie. «Wenn sie draußen erwischt werden, können sie sofort verhaftet und abgeschoben werden.»

«Dürfen denn auch Kinder verhaftet werden, wenn sie zur Schule gehen wollen?», fragte Nevin empört.

«Am besten, wir fragen Frau Essigbaum», entgegnete Paula. «Vielleicht werden wir von der Mädchen-Arche jetzt gebraucht.»

Er mag mich noch

In der Pause standen die vier Freundinnen der Mädchen-Arche, wie sie sich seit der letzten Klassenfahrt nannten, unter der großen Linde.

«Armer Noel», sagte Nevin mitfühlend. «Ich kann verstehen, dass er erst einmal bei seiner Familie bleibt und nicht zur Schule kommt. Stellt euch vor, welch große Angst er gehabt haben muss. Jederzeit konnte die Polizei ins Haus kommen und alle verhaften und abschieben in ein Land, das er gar nicht kennt. Das ist ja unmenschlich!»

«Ich wusste gar nicht, dass eine Schwester von ihm behindert ist», sagte Judith nachdenklich. «Im Kongo hätte sie überhaupt keine ärztliche Versorgung. Und könnte sie dort überhaupt zur Schule gehen? Ich verstehe unsere Politiker nicht.»

Paula schüttelte den Kopf. «Alle reden immer davon, dass sich die Ausländer integrieren sollen. Und wenn sie sich integrieren wie die Owusus, dann werden sie abgeschoben! Das gibt’s doch nicht!», rief sie empört.

Auch die anderen Mädchen konnten es nicht fassen, dass alles, was Frau Essigbaum eben erzählt hatte, wirklich in diesem Land passieren konnte. Frau Owusu war seit längerem krank. Kein Wunder bei diesem Stress, denn das Asylverfahren zog sich bereits über mehrere Jahre hin. Die ganze Zeit über mussten sie fürchten, abgeschoben zu werden und in ihrem Heimatland ins Gefängnis zu kommen. Denn Herr Owusu hatte sich hier in Deutschland in einer Organisation engagiert, die Politiker im Kongo kritisiert, was im Kongo unter Strafe steht.

Hier in Deutschland hatte Herr Owusu in einer Gärtnerei geholfen. Er hätte sogar eine feste Stelle dort bekommen, wenn die Gesetze ihm dies erlaubt hätten. Aber Asylbewerber, die noch keine anerkannten Asylanten mit Bleiberecht sind, bekommen keine Arbeitserlaubnis.

«Was sind das für Wörter!», regte Nevin sich auf. «Bleiberecht, Aufenthaltsgenehmigung, Duldung – und das sagt etwas darüber aus, wo ein Mensch sein darf. Was ist das für eine Sprache?»

«Du meinst, was ist das für eine Politik?», entgegnete Jenny.

«Genau», fügte Paula hinzu. «Wie kann es sein, dass Menschen über andere Menschen bestimmen und entscheiden, wo sie leben dürfen?»

Die Mädchen nickten zustimmend und etwas ratlos.

«Das wäre was für Maxie», sagte Judith. «Die würde jetzt zur Hochform auflaufen.»

Paula nickte. Maxie. Sie fehlte ihnen. Sie würde jetzt mitreißende Ideen haben. Sie würde die anderen anstecken mit ihrem Optimismus – zumindest war es früher so, dachte Paula wehmütig und sah Maxie vor sich, wie sie mager und schweigsam vor einigen Monaten ihre Taschen packte und mit ihrer Mutter im Taxi in die Klinik fuhr. Der Versuch, bei Paula zu wohnen und dort mehr und regelmäßiger zu essen, war gründlich schiefgegangen. Alle hatten gehofft, sie könnte wieder ins Gleichgewicht kommen, aber es war nicht so.

«Es ist nicht deine Schuld», hatte Maxies Mutter zu Paula gesagt, als klar war, dass Maxie in die Klinik musste. «Du hast ihr wichtigen Halt gegeben. Aber es war ein Fehler von mir zu denken, dass sie nur eine andere Umgebung braucht. Es liegt nicht an der Umgebung. Es liegt an ihrer Selbstwahrnehmung. Und an wer weiß was noch …»

Dann hatte sie Paula und auch Paulas Mutter umarmt und dabei mit einer schnellen Bewegung Tränen vom Gesicht gewischt.

Paula schluckte bei dem Gedanken an den stummen Abschied.

«Wenigstens dürfen die Kinder weiter zur Schule gehen», sagte Jenny jetzt.

«Und in den Kindergarten», ergänzte Nevin. «Wer bringt die Kleinen eigentlich da hin? Mich hat meine Mutter immer gebracht.»

«Bestimmt muss Noel alles machen», vermutete Paula. «Er ist der Zweitälteste. Seine ältere Schwester ist behindert, die kann nicht mithelfen.»

«Und wer kauft ein?», fragte Judith. «Wer besorgt etwas zu essen? Wer geht mit den Kindern zum Arzt?»

Die Mädchen schwiegen. Immer neue Probleme tauchten auf, je länger sie über die Situation nachdachten. Auch wenn der Unterstützerkreis der Gemeinde viele Aufgaben übernahm, so hatte Frau Essigbaum gewiss recht damit, dass die Familie jede Menge Helfer brauchen konnte.

Judith hob die Hände und ließ sie wieder fallen.

«Vielleicht sind sie ja gar nicht so lange in der Kirche eingesperrt», sagte sie vage. Dann fügte sie verlegen hinzu: «Ich muss mal kurz da rüber.»

Paula schaute ihr nach. Ein Stück entfernt stand Fee am Zaun. Natürlich. Judith hatte sich in der Aula mit ihr verabredet.

«Ich geh dann auch mal», sagte Jenny nun.

Schon eine Weile hatte sie geschwiegen und immer wieder suchend über den Hof geschaut. Jetzt reckte sie sich, schüttelte ihre blonde Mähne und schlenderte zu der Mädchengruppe, die weiter hinten auf den Bänken hockte.

Natürlich. Jede von ihnen hatte ihr eigenes Leben, das weiterging. Nur ich nicht, dachte Paula bitter und warf einen kurzen Blick zur Fußballecke. Doch kein Elias war dort.

Paula zwang sich, an etwas anderes zu denken, und sah Noel vor sich, wie er an jeder Hand zwei kleine Geschwister hielt.

«Ich finde, wir sollten da mal hingehen», sagte sie plötzlich.

Nevin sah Paula überrascht an.

«Du meinst in die Kirche?»

Paula nickte. «Könnte doch sein, dass sie uns brauchen?», sagte sie und verfolgte, wie Judith und Fee Arm in Arm am Zaun entlanggingen.

«Ja! Lass uns gleich heute Nachmittag hingehen», schlug Nevin vor und lächelte glücklich. «Was gibt es Besseres, als Menschen in Not zu helfen, stimmt’s?»

Paula seufzte zustimmend. Auch wenn es kitschig klang, irgendwie hatte Nevin recht. Gedankenverloren wandte sie ihren Blick von Fee und Judith ab und schaute über den Hof. Dabei fiel ihr Blick auf Jenny, die nicht bei den Mädchen angekommen war, sondern mit einem älteren Jungen sprach, der am Hoftor stand.

Paula stieß Nevin an.

«Kennst du den?», fragte sie und deutete zum Hoftor.

«Nö», sagte Nevin. «Sieh mal, jetzt gibt er ihr was. Offenbar kennt sie den.»

So war Jenny. Dauernd sprachen sie irgendwelche Typen an. Aber den richtigen hatte sie trotzdem noch nicht gefunden.

Paula betrachtete die Wolken, die hochgetürmt vor einem blassen Maihimmel segelten, und dachte an ihre neue Aufgabe. Sie würde den Owusus das alte Memoryspiel mitbringen. Vielleicht hatten die kleinen Geschwister von Noel Lust, mit ihr zu spielen. Und ein Kinderbuch. Bestimmt las ihnen niemand vor. Das würde sie dann machen. Paula reckte sich und straffte die Schultern.

Es klingelte. Die Schüler und Schülerinnen strömten zum Eingang.

Paula stieg neben Nevin die Stufen hoch, als plötzlich ein «Hallo» hinter ihr ertönte.

Paula stockte der Atem. Sie blieb stehen.

«Wie geht’s?», klang es jetzt neben ihr.

Die Stimme kannte sie. Sie kannte sie so gut wie nichts sonst auf der Welt. Sie hob den Blick und sah Elias neben sich. Er lächelte kurz.

«Oh», machte sie nur. Dann berappelte sie sich und fügte hinzu: «Ganz gut. Und dir?»

«Auch», sagte Elias.

Einen Augenblick schwiegen beide. Nevin war weitergegangen. Was konnte sie noch so auf die Schnelle sagen?

«Äh», begann sie und verstummte. Ihr fiel einfach nichts ein.

Elias kickte mit dem Schuh gegen die nächste Stufe.

«Machst du auch mit bei dem Lauf?», fragte er und sah ihr kurz in die Augen.

Dankbar nickte Paula.

«Klar», sagte sie. «Du auch?»

Elias nickte ebenfalls.

«Na dann. Man sieht sich», sagte er, hob die Hand zum Abschied und sprang die Stufen hoch.

Paula sah ihm nach. Ein Glücksgefühl durchströmte sie. Seit ihrer Trennung hatten sie nur selten miteinander gesprochen. Aber jedes Mal war es Paula so vorgekommen, als wollte Elias ihr zeigen, dass sie ihm noch wichtig war. Aber nicht wichtig genug, dachte Paula bitter und sah, wie oben auf dem Treppenabsatz die große Blonde zu Elias trat und ihm besitzergreifend den Arm um die Hüfte legte.

Paula senkte den Blick. Es ist vorbei, natürlich. Aber er mag mich noch, dachte sie und zwang sich, den Schmerz runterzuschlucken. Und er zeigt es mir auch.

Das war trotz allem ein schönes Gefühl.

Bunt muss es sein!

Als Paula mittags zu Hause ankam, ging sie sofort auf den Dachboden und wühlte in den Kartons mit den Spielen. Es dauerte eine Weile, bis sie das Memoryspiel fand. Sie fand noch eine Menge anderer brauchbarer Sachen. Alte Kuscheltiere, ein paar Bauernhofsachen aus Holz und das Hütchenspiel, das sie als Kind immer so geliebt hatte. Sie trug alles runter in ihr Zimmer und stapelte es auf ihr Bett. Sie würde immer nur eines davon mitnehmen, nahm sie sich vor und betrachtete liebevoll die Überbleibsel ihrer Kindheit.

Wie lange hatte sie nicht mehr mit diesen Sachen gespielt? Versunken in Erinnerungen packte Paula das Hütchenspiel aus und baute die bunten Hütchen in ihre bunten Häuser. Dann lief Schwarz los, dicht gefolgt von Rot.

«Hab dich!», rief Rot und stülpte sich über Schwarz. «Du hast hier nichts zu suchen. Ab ins Gefängnis!»

Die Tür ging auf.

Paula zuckte zusammen und wischte hastig die Hütchen unter die Bettdecke.

«Hey, was machst du denn da?», fragte Birte, Paulas ältere Schwester, neugierig und starrte auf die Spielsachen. «Kleine Regression?»

Wenn Paula etwas hasste, dann so etwas.

«Mit deinen neu gelernten Ausdrücken kannst du in der Schule angeben!», fauchte sie. «Schon mal was von Anklopfen gehört?»

«Sorry!» Birte hob die Hände und kam ins Zimmer. «Wollte nur mal fragen, ob ihr heute in der Aula wart. Hab euch gar nicht gesehen.»

Es hatte eindeutig Nachteile, mit der eigenen Schwester in die gleiche Schule zu gehen, dachte Paula und seufzte. Doch insgeheim wusste sie, dass es auch große Vorteile hatte. Im Moment jedoch wollte sie einfach nur in Ruhe gelassen werden.

«Klar», sagte sie knapp.

«Voll krass, oder?», sagte Birte und setzte sich auf den Schreibtischstuhl.

Paula packte die Hütchen in den Karton.

«Was meinst du?», fragte sie.

«Das Kirchenasyl natürlich!», sagte Birte ungeduldig und erhob sich wieder. «Unsere Lehrerin hat gesagt, es gab schon mal ein Kirchenasyl, das von der Polizei gebrochen wurde. Die Leute, ich glaube, es waren welche aus Vietnam, waren zum Glück vorher woanders untergetaucht. Ganz schön heftig.»

Paula sah hoch.

«Von der Polizei gebrochen? Das dürfen die doch gar nicht!», rief sie empört.

Birte nickte.

«Hoffentlich passiert so was nicht hier», sagte sie.

Paula warf ihr einen erschrockenen Blick zu.

«Wen willst du eigentlich als Sponsor gewinnen?», fragte Birte und wechselte das Thema. «Ich würde gern Oma und Paps fragen, wenn es dir recht ist.»

Darüber hatte Paula noch gar nicht nachgedacht. Aber Oma und Paps waren natürlich die Ersten, die ihr ebenfalls einfielen.

«Kommt nicht in Frage», sagte sie schnell. «Die will ich auch.»

«Also nehm ich Paps und du Oma», schloss Birte großzügig und ging zur Tür. «Ich frag übrigens auch noch bei der Sparkasse und im Blumengeschäft.»

Paula nickte. Darüber musste sie auch noch nachdenken. Aber nicht jetzt. Immerhin waren noch zehn Tage Zeit. Dann fiel ihr noch etwas ein.

«Kann ich deinen Hoolahoop-Reifen kriegen?», fragte sie wie beiläufig und stapelte die Bilderkarten des Memoryspieles auf der Bettdecke.

«Bist du wieder zehn?», fragte Birte belustigt.

«Nee, neun», entgegnete Paula bissig. «Kann ich nun?»

«Wenn du sagst, wofür», sagte Birte.

«Für die Owusu-Kinder, wenn du es genau wissen willst. Ich besuche sie heute Nachmittag.»

Birte zog die Augenbrauen hoch. Dann nickte sie zustimmend.

«Nimm meine alte hässliche Barbie auch mit», sagte sie noch, dann war sie verschwunden.

Paula ließ die Memorykarten zurück in die Schachtel fallen. Offenbar war Birte überrascht, dass Paula zu den Owusus wollte. Eigentlich war es auch ganz schön mutig, fand Paula jetzt und fragte sich, wie sie in die Kirche hineinkämen. War sie offen? Konnte jeder hineinspazieren? Bestimmt nicht! Vielleicht musste man sich anmelden? Aber wo?