Pazifische Grenze - Kim Stanley Robinson - E-Book

Pazifische Grenze E-Book

Kim Stanley Robinson

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Beschreibung

Kalifornische Utopie

Wir schreiben das Jahr 2065. Kevin Claiborne hat sich auf den Bau „grüner“ Häuser spezialisiert, und arbeitet daran, aus El Modena ein modernes Ökotopia zu machen. Er gehört den „Grünen“ an, deren politische Gegner die New Federalists sind. Den einen geht es darum, nachhaltig und umweltschonend zu leben, die anderen verfolgen vor allem wirtschaftliche Interessen. Plötzlich findet Kevin sich in einer Auseinandersetzung wieder, die sich nicht mehr allein auf die politische Bühne beschränkt, und muss erkennen, dass hinter der Öko-Idylle Kräfte lauern, die ihre Ziele um jeden Preis erreichen wollen …

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KIM STANLEY ROBINSON

 

 

 

Pazifische Grenze

 

Roman

 

 

 

 

WILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Buch

Wir schreiben das Jahr 2065. Kevin Claiborne hat sich auf den Bau »grüner« Häuser spezialisiert, und arbeitet daran, aus El Modena ein modernes Ökotopia zu machen. Er gehört den »Grünen« an, deren politische Gegner die New Federalists sind. Den einen geht es darum, nachhaltig und umweltschonend zu leben, die anderen verfolgen vor allem wirtschaftliche Interessen. Plötzlich findet Kevin sich in einer Auseinandersetzung wieder, die sich nicht mehr allein auf die politische Bühne beschränkt, und muss erkennen, dass hinter der Öko-Idylle Kräfte lauern, die ihre Ziele um jeden Preis erreichen wollen …

 

 

 

 

Der Autor

Kim Stanley Robinson wurde 1952 in Illinois geboren, studierte Literatur an der University of California in San Diego und promovierte über die Romane von Philip K. Dick. Mitte der Siebzigerjahre veröffentlichte er seine ersten Science-Fiction-Kurzgeschichten, 1984 seinen ersten Roman. 1992 erschien Roter Mars, der Auftakt der Mars-Trilogie, die ihn weltberühmte machte und für die er mit dem Hugo, dem Nebula und dem Locus Award ausgezeichnet wurde. Kim Stanley Robinson lebt mit seiner Familie in Kalifornien.

 

 

Von Kim Stanley Robinson sind im Heyne-Verlag folgende Romane lieferbar:

2312, Schamane, Roter Mars, Grüner Mars, Blauer Mars, Aurora, Das wilde Ufer, Goldküste, Pazifische Grenze, Die eisigen Säulen des Pluto, Sphärenklänge.

 

 

 

 

 

www.diezukunft.de

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Titel der Originalausgabe

PACIFIC EDGE

Aus dem Amerikanischen von Michael Kubiak

© Copyright 1990 by Kim Stanley Robinson

Copyright © 2016 der deutschsprachigen Ausgabe by

Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Das Illustrat, München

Satz: Thomas Menne

ISBN 978-3-641-20873-8 V002

 

 

 

Für meine Eltern

1

 

Ein solcher Morgen konnte nicht durch Verzweiflung getrübt werden.

Die Luft war kühl und duftete nach Salbei. Sie hatte jene Klarheit, die sich im Süden Kaliforniens immer dann zeigt, wenn der Wind allen Dunst und Ballast der Geschichte aufs Meer hinausgeweht hat – Luft wie ein riesiges Vergrößerungsglas, sodass die schneebedeckten San-Gabriel-Berge zum Greifen nahe erschienen, obgleich sie vierzig Meilen weit entfernt waren. Die blauen Vorberge waren von Schluchten und Rinnen durchzogen, und unterhalb der Vorberge schien die breite Küstenebene aus nichts anderem als Baumwipfeln zu bestehen: weite Gärten und Haine mit Orangen, Avocados, Zitronen, Oliven; Eukalyptus und Palmen als Windbrecher; Tausende von verschiedenen Arten von Zierbäumen, sowohl natürlichen Ursprungs als auch genetisch manipuliert. Es war, als bestünde die ganze Ebene aus einem entfesselten Garten, den die abendliche Sonne in allen möglichen Grünschattierungen erstrahlen ließ.

Auf all dies blickte ein Mann hinab, der einen Bergpfad hinunterschritt und gelegentlich stehen blieb, um die Aussicht zu genießen. Er bewegte sich locker und lässig und vollführte ab und zu einen leichten Hüpfer, als sei er in ein Spiel vertieft. Er war zweiunddreißig Jahre alt, aber er sah aus wie ein Junge, der durch die Berge streunt und alle Zeit der Welt hat.

Er trug eine Arbeitshose aus Khakistoff, ein T-Shirt und schmutzige Tennisschuhe. Seine Hände waren groß, schwielig und voller Narben; seine Arme waren lang. Von Zeit zu Zeit unterbrach er seinen Marsch, um einen unsichtbaren Baseballschläger zu ergreifen und auszuholen und schwungvoll zuzuschlagen. Dabei stieß er ein lautes »Bumms!« aus. Tauben, die ihrem morgendlichen Paarungsritual frönten, flatterten auseinander, und der Mann lachte laut und eilte weiter den Pfad hinunter. Sein Nacken war gerötet, die Haut voller Sommersprossen, die Augen blickten schläfrig, und sein Haar war blond und stand zu allen Seiten ab. Er hatte ein längliches Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und blassblauen Augen. Indem er gleichzeitig zu laufen und nach Catalina hinunterzublicken versuchte, stolperte er und musste ein Stück bergab rennen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. »Hey!«, rief er. »Mann! Was für ein Tag!«

 

Er kam den Berghang nach El Modena hinunter. Seine Freunde tauchten einzeln oder zu zweit aus den Bergen auf, zu Fuß oder per Fahrrad, um sich an einer aufgerissenen Kreuzung zu treffen. Sie griffen nach Hacke oder Schaufel, sprangen in tiefe Löcher hinunter und fingen an zu arbeiten. Erde flog in Loren, Spitzhacken trafen mit einem Klirren auf Steine, Stimmen riefen sich etwas zu.

Sie rissen die Straße auf. Es war eine große Kreuzung gewesen: vierspurige Asphaltstraßen, Bordsteine aus weißem Beton, große asphaltierte Parkplätze und Tankstellen an den Ecken, dahinter Einkaufszentren. Nun waren die Gebäude verschwunden und auch der größte Teil des Asphalts, wegtransportiert zu den Raffinerien in Long Beach; und sie gruben sich tiefer.

Seine Freunde begrüßten ihn.

»Hey, Kevin, sieh mal, was ich gefunden habe.«

»Hi, Doris. Das sieht aus wie ein Schaltkasten für Ampeln.«

»So einen haben wir schon mal gefunden.«

Kevin hockte sich zu dem Kasten und untersuchte ihn. »Jetzt haben wir zwei. Sie haben ihn wahrscheinlich einfach hiergelassen, als sie einen neuen aufstellten.«

»Was für eine Verschwendung.«

Aus einem anderen Krater hörte man Gabrielas Stöhnen. »Nein! Nein! Telefonleitungen, Energiekabel, Gasleitungen, PVC-Rohre, die Leitungen der Verkehrslichter – und schon wieder ein neuer Tankstellentank!«

»Seht mal, hier ist ein Haufen zerquetschter Bierdosen«, sagte Hank. »Wenigstens einige Dinge haben sie richtig gemacht.«

 

Während sie gruben, neckten sie Kevin wegen der abendlichen Versammlung des Stadtrates, Kevins erster Auftritt als Ratsmitglied. »Ich kann mir noch immer nicht erklären, wie du dich dazu hast überreden lassen können«, sagte Gabriela. Sie arbeitete mit Kevin und Hank auf dem Bau; jung, hart und wild, sie hatte ein loses Mundwerk und machte Kevin oft das Leben schwer.

»Sie meinten zu mir, es wäre ganz lustig.«

Alle lachten.

»Sie meinten zu ihm, es sei lustig! Da geht einer zu Hunderten von Ratsversammlungen, aber wenn Jean Aureliano ihm sagt, es sei lustig, dann pflichtet Kevin Claiborne ihr sofort bei: ›Na klar, das glaube ich auch!‹«

»Sicher, vielleicht sind sie es in Zukunft auch.«

Sie lachten wieder. Kevin schwang seine Hacke und grinste verlegen.

»Das sind sie nicht«, erklärte Doris. Sie war die andere Grüne im Rat. Nachdem sie für zwei Perioden dabei gewesen war, galt sie als eine Art Berater Kevins, eine Aufgabe, die ihr offenbar nicht sonderlich gefiel. Sie waren Hausgenossen und alte Freunde, daher wusste sie, was sie erwartete. Sie sagte zu Gabriela: »Jean hat sich Kevin ausgesucht, weil sie jemanden wollte, der prominent ist.«

»Das erklärt noch lange nicht, warum Kevin eingewilligt hat!«

Hank meinte: »Der Baum, der am schnellsten wächst, wird auch als Erster gefällt.«

Gabriela lachte. »Lass dir was Besseres einfallen, Hank, klar?«

 

Die Luft erwärmte sich, während der Morgen voranschritt. Sie stießen auf den dritten Schaltkasten, und Doris blickte finster drein. »Die Leute waren so verschwenderisch.«

Hank sagte: »Jede Kultur ist so verschwenderisch, wie sie es sich leisten kann.«

»Nee. Es ist nur eine Frage der niederen Werte.«

»Was ist denn mit den Schotten?«, fragte Kevin. »Es heißt doch, dass sie geizig waren.«

»Aber sie waren auch arm«, meinte Hank. »Sie konnten es sich gar nicht erlauben, nicht geizig zu sein. Und das beweist doch mein Argument.«

Doris warf Erde in eine Lore. »Geiz ist ein Wert, der nicht von den Umständen abhängt.«

»Man kann doch begreifen, warum sie die Sachen alle hier liegen ließen!«, ereiferte Kevin sich und klopfte auf den Schaltkasten. »Es kostet doch eine unendliche Mühe, so eine Straße aufzureißen.«

Doris schüttelte ihr kurzes schwarzes Haar. »Du drehst wieder alles um, Kev, genauso wie Hank. Es sind die Werte, die deine Handlungen bestimmen sollen, nicht umgekehrt. Wenn es ihnen so wichtig gewesen wäre, dann hätten sie dieses ganze Zeug herausgeholt und benutzt, so wie wir es tun.«

»Wahrscheinlich.«

»Es ist genauso wie Radfahren. Die Werte sind der Abwärtstritt, die Aktionen der Aufwärtstritt. Und es ist der Abwärtstritt, der die Dinge vorwärtstreibt.«

»Und?«, fragte Kevin und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Wenn du Fußhaken hast, dann hast du beim Hub aber auch ganz schön Dampf. Bei mir ist es jedenfalls so.«

Gabriela sah schnell zu Hank. »Kraft im Hub, Kev? Tatsächlich?«

»Ja, du ziehst doch an den Fußhaken. Ist denn bei dir nichts dahinter?«

»Aber klar, Kev, ich hab eine ganze Menge Wucht beim Hub.«

»Was meinst du denn, wie viel du gewinnst?«, fragte Hank.

Kevin rechnete. »Na ja, wenn ich die Dinger fest angezogen habe, dann dürften es so um die zwanzig Prozent sein.«

Gabriela brach in wildes Gelächter aus. »Das, ha! – das ist also der überragende Geist, der in den Stadtrat einziehen will! Ich kann es kaum erwarten! Ich kann kaum erwarten mitzuerleben, wie er sich mit Alfredo auf eine Diskussion einlässt! Scheiß-Fußhaken – er redet über FUSSHAKEN!«

»Was denn?«, sagte Kevin stur. »Hast du denn keine Kraft im Aufwärtstritt?«

»Aber zwanzig Prozent?«, fragte Hank jetzt mit interessierter Stimme. »Die ganze Zeit oder nur, wenn du deine Muskeln ausruhst?«

Doris und Gabriela stöhnten. Die beiden Männer vertieften sich in eine angeregte Diskussion über das Thema.

Gabriela sagte: »Wenn Kev sich mit Alfredo anlegt, dann sagt er nur Fußhaken! Er sagt: ›Nimm dich in acht, Fredo, oder ich vergifte dein Blut!‹«

Doris kicherte, und Kevin stand in seiner Grube und blickte finster drein.

 

Gabriela spielte auf einen Vorfall in Kevins Schulzeit an, als er ausgewählt worden war, mit einigen anderen über die Behauptung »Die Schreibfeder ist stärker als das Schwert« zu diskutieren. Kevin musste die Debatte einleiten, indem er sich für diese Behauptung stark machte, und er hatte vor der Klasse gestanden, puterrot im Gesicht, hatte seine Hände gerungen, hatte sich das Hirn zermartert – bis er schließlich meinte, wobei er unsicher blinzelte: »Also wenn man nur eine Schreibfeder hat – und wenn man jemanden damit sticht –, dann könnte der Betreffende von der Tinte eine Blutvergiftung bekommen.«

Köpfe fielen auf die Pulte, minutenlang hilfloses, brüllendes Gelächter; Mr. Freeman wischte sich die Tränen aus den Augen – einige fielen sogar von den Stühlen! Niemand hatte das je vergessen. Tatsächlich kam es Kevin manchmal so vor, als wäre an diesem Tag jeder Mensch, den er kannte, in dem Klassenzimmer gewesen, sogar Leute wie Hank, der zehn Jahre älter war als er, oder Gabriela, die zehn Jahre jünger war. Jeder! Aber es war nur eine Geschichte, die die Leute sich immer wieder erzählten.

 

Sie gruben tiefer, stießen auf rundgeschliffene Sandsteinblöcke. In den Jahrtausenden war der Santiago Creek über die Schwemmkegel gewandert, die sich aus den Bergen von Santa Ana herabsenkten, und es schien, als wäre ganz El Modena zu irgendeinem Zeitpunkt mal sein Flussbett gewesen, denn sie fanden diese Steine überall. Sie arbeiteten ohne sonderliche Eile; man betrachtete das Ganze am besten als eine Art Party, um sich nicht über die Ineffizienz zu ärgern. In El Modena wurde von ihnen verlangt, zehn Stunden pro Woche für die Stadt zu arbeiten, und so gab es alle möglichen Gelegenheiten für Verdruss. Sie hatten das Ganze etwas aufgelockert, indem sie es nicht allzu ernst nahmen.

Kevin fragte: »Wo ist Ramona?«

Doris blickte auf. »Hast du es nicht gehört?«

»Nein, was?«

»Sie und Alfredo haben sich getrennt.«

Das weckte die Aufmerksamkeit aller. Einige unterbrachen ihre Arbeit und kamen heran, um die Geschichte mitzubekommen. »Er ist aus dem Haus ausgezogen und nach Redhill zu seinen Partnern gegangen.«

»Du machst Witze.«

»Nein, ich glaube, sie haben sich in letzter Zeit häufig gestritten. Jedenfalls erzählen das alle im Haus. Wie dem auch sei, Ramona hat heute Morgen einen Spaziergang gemacht.«

»Aber das Spiel!«, rief Kevin.

Doris stieß ihre Schaufel wenige Zentimeter vor seinem Fuß ins Erdreich. »Kevin, ist dir eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass es wichtigere Dinge gibt als Softball?«

»Na sicher«, erwiderte er und machte ein zweifelndes Gesicht.

»Sie sagte, sie sei rechtzeitig zum Spiel wieder zurück.«

»Wirklich?«, sagte Kevin, dann gewahrte er ihren Gesichtsausdruck und fügte hastig hinzu: »Schade, wirklich schlimm. Tut mir leid. Aber es überrascht mich auch.«

Er dachte an Ramona Sanchez. Zum ersten Mal allein seit der neunten Klasse, unglaublich.

Doris sah den Ausdruck seiner Augen und wandte sich von ihm ab. Ihre stämmigen braunen Beine waren unterhalb der grünen Nylonshorts staubig; ihr ärmelloses Leibchen war verschwitzt und schmuddelig. Glatte schwarze Haare schwangen hin und her, als sie erneut die Erde attackierte. »Hilfst du mir mal bei diesem Stein?«, sagte sie unfreundlich zu Kevin. Unsicher half er ihr dabei, einen weiteren der von Wasser abgeschliffenen Sandsteinblöcke wegzuräumen.

 

»Also wenn das nicht der neue Stadtrat bei der Arbeit ist«, sagte eine amüsierte Baritonstimme über ihnen.

Kevin und Doris schauten hoch und sahen Alfredo Blair persönlich, der auf seinem Mountainbike saß. Der helle Titanrahmen blinkte in der Sonne. Ohne nachzudenken, meinte Kevin: »Wenn man vom Teufel spricht.«

»Sieh mal an«, meinte Doris mit einem schnellen warnenden Blick in Kevins Richtung, »wenn das nicht der neue Bürgermeister beim Nichtstun ist.«

Alfredo grinste unverschämt. Er war ein großer gutaussehender Mann, schwarzhaarig, mit Schnurrbart, ebenmäßiges Gesicht. Es fiel einem schwer sich vorzustellen, dass er am Tag vorher eine fünfzehnjährige Beziehung beendet hatte.

»Viel Glück bei eurem Spiel heute«, sagte er in einem Ton, der andeutete, dass sie es brauchen würden, obgleich sie nur gegen die schwachen Oranges antraten. Alfredos Team, die Vanguards, und ihr Team, die Lobos, waren ständige Rivalen; bis zu diesem Tag waren darüber immer wieder Witze gerissen worden, da Ramona bei den Lobos spielte. Nun war Kevin sich nicht sicher, wie es weitergehen sollte. Alfredo fuhr fort: »Ich freu mich schon drauf, wieder gegen euch zu spielen.«

»Wir haben zu arbeiten, Alfredo«, sagte Doris.

»Lasst euch von mir nicht aufhalten. Die Arbeit für die Stadt ist für jeden von Vorteil.« Er lachte und radelte davon. »Wir sehen uns bei der Ratsversammlung!«, rief er über die Schulter.

Sie gingen wieder an die Arbeit zurück.

»Hoffentlich machen wir sie richtig fertig, wenn wir wieder gegen sie spielen«, meinte Kevin.

»Das hoffst du doch immer.«

»Stimmt.«

Kevin und Alfredo waren in derselben Straße aufgewachsen und hatten in der Schule viele Klassen und Kurse gemeinsam besucht. Daher waren sie alte Freunde, und Kevin hatte viele Gelegenheiten gehabt, Alfredo zu beobachten, wie er sich mit der Welt auseinandersetzte, und er wusste sehr wohl, dass sein Freund eine äußerst bewundernswerte Persönlichkeit war, klug, freundlich, beliebt, energisch und erfolgreich. Alles fiel ihm leicht; und jeder mochte ihn.

Aber der Tag war einfach zu schön, als dass er ihn sich durch Gedanken über Alfredo verderben ließ.

Außerdem hatten Alfredo und Ramona sich getrennt. Seltsamerweise von dieser Vorstellung erfreut, wuchtete Kevin einen Steinblock in eine Lore.

Als sie Mittagspause machten, waren sie in Augenhöhe der alten Kreuzungsoberfläche angelangt, die nun ein wildes Durcheinander von Kratern und Löchern war, durchzogen von Gräben und Grabungsmarken. Kevin betrachtete die Szene und grinste. »Das wird eines Tages ein absolut spitzenmäßiges Softballfeld.«

 

Nach dem Mittagessen begann die Softballsaison. Spieler kamen aus allen Richtungen in den Santiago-Park geradelt, die Schläger quer über den Lenkstangen, und sie verfielen sofort in alte Verhaltensmuster; denn Softball war eine rituelle Angelegenheit, und die Aufnahme und Durchführung des Rituals ist ebenfalls ritualisiert. Füße wurden in steife Stollenschuhe geschoben, Handschuhe wurden übergestreift, und sie gingen hinaus auf das grüne Rasenfeld und warfen sich in Gruppen von zwei und drei Spielern die Bälle zu, die hin und her flogen und ein Netzwerk feiner weißer Linien in die Luft woben.

Die Schiedsrichter fuhren mit ihren Kreidewagen über die Auslinien, als Ramona Sanchez auf der Seite der dritten Base auftauchte und ihr Fahrrad fallen ließ. Lange Beine, breite Schultern, spanische Farbe, schwarzes Haar … Die restlichen Lobos begrüßten sie herzlich und waren erleichtert, sie zu sehen. Sie lächelte und sagte: »Hi, Freunde«, fast in ihrer üblichen Art; doch jeder konnte sehen, dass sie ziemlich verändert war.

Ramona war einer von den Menschen, die immer ein strahlendes Lächeln und einen freundlichen Tonfall haben. Doris fand das entsetzlich. »Sie ist eine biologische Optimistin«, schimpfte Doris immer, »das passt eigentlich gar nicht zu ihr. Es hängt irgendwie mit ihrer Blutchemie zusammen.«

»Moment mal«, widersprach Hank ihr dann, »du bist doch diejenige, die immer von Werten redet. Sollte Optimismus nicht die Folge des Willens sein? Ich meine, was heißt Blutchemie?«

Und Doris erwiderte, dass Optimismus tatsächlich ein Akt des Willens sein könnte, aber dass gutes Aussehen, Intelligenz und große sportliche Fähigkeiten zweifellos die Willensleistung minderten; und diese Qualitäten waren nun mal allesamt rein biologischer Natur.

Ramonas Anblick an diesem Tag war auf jeden Fall beunruhigend: eine unglückliche Optimistin. Selbst Kevin, der die feste Absicht hatte, sich völlig normal zu verhalten und ihr so eine Erholung von all dem unerwünschten Mitgefühl zu bieten, war betroffen, wie niedergeschlagen sie wirkte. Er kam sich wie ein Narr vor, als er versuchte so zu tun, als sei alles in Ordnung, und da sie seine Bemühungen ignorierte, warf und fing er nur und wärmte sie auf.

Ramona Sanchez hatte einen guten Wurfarm; sie war eine richtige Kanone. Einmal hatte Kevin beobachtet, wie einer ihrer Fehlwürfe eine Speiche sauber aus dem Rad eines geparkten Fahrrads herausgeschlagen hatte, ohne dass das Rad sich auch nur einen Millimeter bewegt hatte. Sie zerriss regelmäßig die Lederriemen in den Handschuhen des Mannes an der ersten Base. Kevin musste aufpassen, dass ihm nicht das gleiche Schicksal blühte, denn der Ball sprang ständig in dem Raum zwischen ihnen hin und her. Eine echte Kanone. Und nicht in der besten Stimmung.

Daher warfen sie schweigend, und es war nur das lederne Klatschen des Balles im Handschuh zu hören. In diesem Ritual steckte eine gewisse Art von Gemeinschaftsgeist, eine Art praktizierter Solidarität. Jedenfalls hoffte Kevin das, da ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können. Dann riefen die Schiedsrichter zum Spielbeginn auf, und er ging rüber und stand neben ihr, als sie sich setzte und ihre Stollenschuhe anzog. Sie tat es derart heftig, dass es geradezu gekünstelt wirkte, das nicht zu bemerken, daher sagte Kevin zögernd: »Ich hab das von dir und Alfredo gehört.«

»Wirklich«, sagte sie wenig beeindruckt.

»Es tut mir leid.«

Sie zog für einen Moment ihre Mundwinkel nach unten. So unglücklich wäre ich, wenn ich mich gehen lassen würde, verkündete ihr Blick. Dann kehrte die stoische Miene wieder zurück, und sie zuckte mit den Achseln, stand auf, um noch einige Auflockerungsübungen zu machen. Die Rückseiten ihrer Oberschenkel zuckten und verhärteten sich, und unter der glatten braunen Haut waren die Muskelstränge deutlich zu sehen.

Sie gingen zurück zur Bank, wo ihre Teamkameraden die Schläger schwangen. Die Mannschaftskapitäne gaben dem Zähler ihre Aufstellungskarten. Alle Aktivitäten konzentrierten sich auf das Ritual; mehr und mehr von dem, was nicht dazu gehörte, löste sich ab und verschwand; bis zu dem Zeitpunkt, als ein Team sich im Feld aufstellte, war alles Unwesentliche des Rituals ausgelöscht. Kevin, der erste Batter des neuen Jahres, trat an die Platte, und ein Adrenalinstoß jagte durch seinen Körper. Die Spieler riefen ihm und dem Pitcher aufmunternde Bemerkungen zu, und der Schiedsrichter brüllte: »Spielen!«

Und der Batter trat in die Box, und der erste Wurf der Saison stieg hoch in die Luft, und die Rufe (»Treffer!«, »Guter Anfang!«, »Ein Hoch auf den Batter!«) versanken, entfernten sich, verhallten, bis niemand sie hörte, nicht einmal die, die sie ausstießen. Die Zeit verwarf sich, und der dicke neue weiße Ball hing auf dem höchsten Punkt seiner Flugbahn mitten in der Luft, wurde zum Mittelpunkt all ihrer Welten – und das Spiel begann.

 

Soweit es Kevin betraf, war es ein großes Spiel: die Lobos hielten die ganze Zeit die Führung, wenn auch nicht besonders hoch. Und Kevin war vier von vier, was ihm immer ausreichte, um glücklich zu sein.

Im Feld stellte er sich an der dritten Base auf, achtete auf jeden Wurf, vor allem auf die Rechtshänder. Die dritte Base war wie ein Rasiermesser, die dritte Base war wie ein Mungo in der Schlangengrube: So hatte der Ansager in seinem Kopf es seit seiner Kindheit immer verkündet. Gelegentlich ergab sich mal die Chance, etwas zu tun, doch meistens hieß es nur Stellung halten, aufpassen, die gleichen Phrasen immer und immer wieder. Das Spiel als eine Art des Gebets.

So war er ein wenig abgelenkt, eingelullt von dem Rhythmus eines im Grunde völlig alltäglichen Spiels, als plötzlich das Tempo abrupt hochschnellte. Die Oranges schafften vier Runs bei ihrer letzten Schlagrunde, und nun, bei zwei Aus, sollte Santos Garcia schlagen. Santos war ein starker Schläger mit ausgeprägtem Zug, und während Donna sich auf den Wurf vorbereitete, ging Kevin in seine Startposition an der dritten Base und passte besonders auf.

Ein kurzer Wurf sackte ab, und Santos schleuderte einen wilden Wurf auf Kevins linke Seite. Kevin tauchte sofort ab, doch der Ball sprang über seinen Handschuh hinweg und verfehlte ihn um Zentimeter. Er hämmerte mit der Faust fluchend in den Staub, und während er auf seiner Brust und den Ellbogen vorwärtsrutschte, drehte er sich gerade noch rechtzeitig um und sah, wie die sprintende Ramona einen Satz machte und den Ball erwischte.

Es war ein phantastischer Rückhandfang, doch sie hatte beinahe das Gleichgewicht verloren, und nun rannte sie direkt von der ersten Base weg und war in vollem Schwung. Es blieb keine Zeit anzuhalten und zu zielen, daher sprang sie hoch in die Luft, drehte sich und ließ den Ball mit einem ruckartigen Abknicken des Handgelenks fliegen. Der Ball segelte über das Feld, und Jody fing ihn sauber an der ersten Base, dicht vor dem heranrasenden Santos. Drei aus. Spiel vorbei.

»Großartig!«, brüllte Kevin.

Alle jubelten. Kevin schaute zu Ramona. Sie war nach dem Wurf gestürzt und saß nun auf dem Rasen, entspannt, graziös, mit gespreizten Beinen, und die schwarzen Haare hingen ihr in die Augen. Und Kevin verliebte sich in sie.

 

Natürlich war es nicht genau so passiert. Das ist nicht die ganze Geschichte. Kevin war ein ziemlich direkter und offener Bursche und verrückt nach Softball, aber dennoch war er nicht die Art von Mensch, der sich auf Grund eines besonders guten Spielzugs in einem Softballmatch verliebte. Nein, das war etwas anderes, etwas, das sich über viele Jahre hinweg entwickelt hatte.

Er kannte Ramona Sanchez, seit er nach El Modena gekommen war, als sie beide noch die dritte Klasse besuchten. Sie waren in derselben Klasse der Grundschule gewesen. Und Kevin hatte sie immer gemocht. Eines Tages im sechsten Schuljahr hatte sie ihm erklärt, sie sei römisch-katholisch, und er hatte erzählt, dass es auch griechisch-katholisch gab. Sie hatte das indigniert abgestritten, und so hatten sie zusammen in einem Lexikon nachgeschlagen. Sie hatten keinen Eintrag für »griechisch-katholisch« gefunden, was Kevin nicht begreifen konnte, da sein Großvater Tom ganz gewiss eine solche Kirche erwähnt hatte. Aber nachdem nachgewiesen worden war, dass sie recht hatte, wurde Ramona richtig mitleidig, und sie sahen im Index nach und fanden einen Eintrag für »griechisch-orthodoxe Kirche«, was die Dinge zu erklären schien. Danach saßen sie vor dem Schirm und lasen den Eintrag und gingen auch die anderen Artikel durch, unterhielten sich über Griechenland, über die Reisen, die sie schon unternommen hatten (Ramona war in Mexiko gewesen, Kevin im Tal des Todes), über die Möglichkeit, eine griechische Insel zu kaufen und darauf zu leben und so weiter.

Danach war Kevin unsterblich in Ramona verliebt, etwas, von dem er niemals jemand anderem erzählte – und ihr ganz bestimmt nicht. Denn er war im Grunde ein schüchterner Junge. Aber das Gefühl blieb bestehen, und in der Junior High, als es »in« war, sich zu verlieben und eine Freundin oder einen Freund zu haben, wurde das Leben zu einem verwirrenden polymorphen Strudel von Liebesleid und Liebesglück. Im Laufe der drei Jahre Junior High raffte der schüchterne Kevin sich nach und nach und mit viel Mühe auf, Ramona zu einem Tanzfest in der Schule einzuladen. Als er sie fragte und dabei ängstlich zu stottern begann, vermittelte sie ihm das Gefühl, dass sie dies für eine ganz wundervolle Idee hielt; aber sie sagte gleichzeitig, dass sie bereits eine Einladung von Alfredo Blair angenommen habe.

Der Rest war Geschichte. Ramona und Alfredo waren von jenem Fest bis zu diesem Tag ein Paar.

In späteren Jahren jedoch, als Biologielehrerin an der Highschool von El Modena, hatte Ramona sich angewöhnt, mit ihren Klassen zu Kevins Bauplätzen hinauszufahren, um etwas angewandte Ökologie zu lernen – auch Tischlerei und ein bisschen Architektur – und ihm ein wenig zu helfen. Kevin gefiel das, obwohl die Studenten eher Störung als Hilfe waren. Es war eine freundliche Geste, etwas, das Ramona und er taten, um ein wenig zusammen sein zu können.

Dennoch waren sie und Alfredo Partner. Sie heirateten nicht, aber sie lebten zusammen. So hatte Kevin sich daran gewöhnt, Ramona nur als Freundin zu betrachten. Eine gute Freundin, so ähnlich wie seine Schwester Jill – nur nicht genauso wie eine Schwester, denn es war immer noch ein besonderer Reiz dabei. Eine gegenseitige Anziehungskraft, so schien es. Es war nicht so bedeutend und wichtig, aber es gab ihrer Freundschaft eine Art Nervenkitzel, eine schöne Erfülltheit. Was diese Beziehung so romantisch machte.

Eine Sache fürs Leben also. Und vor dem Softballmatch, während er sich mit Ramona aufwärmte, war er sich bewusst gewesen, sie in einer Weise zu sehen, wie er es seit Jahren nicht getan hatte – ihre perfekten Proportionen von Rücken und Beinen, die spanische Färbung ihrer Haut, die feinen Züge, die sie zu einer Schönheit machten, ihre sorglose Lässigkeit. Tief in ihm hatten sich Erinnerungen gerührt, Erinnerungen an Gefühle, von denen er gemeint hatte, dass sie schon längst vergangen und vergessen wären, denn er dachte nie viel über die Vergangenheit nach, und wenn man ihn gefragt hätte, dann hätte er wohl gemeint, dass alles längst dahin war.

 

Daher, als er sich umdrehte, um sie nach ihrem spektakulären Spiel anzuschauen, und sie ausgestreckt im Gras liegen sah, war es so, als wäre er in einen Traum geraten, in dem alle Emotionen intensiviert wurden. Sein Herz klopfte, die Haut seines Gesichts erglühte und kitzelte unter dem Ansturm, unter der Erkenntnis, dass dies, ja – Liebe war. Daran bestand kein Zweifel.

 

Für Kevin war Fühlen gleichbedeutend mit Handeln, und daher hielt er nach Ramona Ausschau, nachdem er sich umgezogen hatte. Sie war ungewöhnlich still geworden, als nach dem Spiel Gratulanten auf sie zugestürmt waren. Und nun radelte sie allein davon. Kevin holte sie auf seinem kleinen Mountainbike ein, dann passte er sich an ihr Tempo an. »Gehst du heute Abend zur Ratsversammlung?«

»Ich glaube nicht.«

Sie wollte nicht miterleben, wie Alfredo als Bürgermeister vereidigt wurde. Demnach stimmte es also. »Na gut«, sagte er.

»Nun, weißt du – ich habe einfach keine Lust, dort zu sein und viele Leute glauben zu lassen, dass wir noch immer zusammen sind. Es wäre einfach zu peinlich.«

»Das verstehe ich. Also … was treibst du heute Nachmittag?«

Sie zögerte. »Ich hatte vor, zu fliegen. Etwas aus meinem Trott herauszukommen.«

»Aha.«

Sie sah zu ihm hinüber. »Hast du Lust mitzukommen?«

Kevins Herz klopfte ganz hinten in seinem Hals. »Wenn dir wirklich nach Gesellschaft ist, komme ich gerne mit. Ich weiß nur, dass ich manchmal am liebsten ganz allein abhauen möchte …«

»Ach ja. Ich hätte gegen Gesellschaft nichts einzuwenden. Vielleicht hilft's.«

»Gewöhnlich schon«, sagte Kevin automatisch. Er konnte seinen Herzschlag spüren. Er grinste. »Hey, das war ein Superspiel, das du da gemacht hast.«

 

Auf dem Gleiterplatz auf Fairhaven banden sie den Zweipersonenflieger der Sanchez, ein Northrop Condor, los und hängten ihn an die Startschlinge. Dann schnallten sie sich an und hakten die Füße in den Pedalen fest. Ramona gab den Flieger frei, und mit einem Ruck zogen sie los und traten wie verrückt in die Pedale. Ramona schloss die Landeklappen, die Schlinge wurde ausgeklinkt, und sie schossen hoch wie ein Stein aus einer Schleuder; dann erwischten sie den Aufwind und stiegen aufwärts wie ein Drachen, der von einem Läufer in den Wind gezogen wird.

»Juuhuu!«, schrie Kevin, und Ramona sagte: »Tritt schneller«, und sie pumpten und arbeiteten, lehnten sich weit nach hinten und drückten das kleine Fluggerät mit jedem Tritt höher. Der große Propeller surrte vor ihnen, doch Zweisitzer waren nicht ganz so leichtgängig wie Einsitzer; sie mussten ziemlich in die Pedale treten, um das Fluggerät auf zweihundert Fuß zu bringen, wo der Wind sie dann in größere Höhen trieb. Selbst ein Zweisitzer wog weniger als dreißig Pfund, und Windböen konnten ihn herumwerfen wie einen Federball.

Ramona drehte sie mit einem eleganten Möwenschwenk in den Wind. Dieses Gefühl des Fliegens! Sie verringerten ihr Tempo und kreisten am Himmel über Orange County. Harte Arbeit; es war ein seltsames Zeichen ihrer Zeit, dass die höchstentwickelten Technologien Geräte und Vorrichtungen schufen, die mehr und intensiveren physischen Einsatz erforderten als alles andere zuvor – wie zum Beispiel im Fall des durch Menschenkraft gesteuerten Fliegens, zu dem äußerste Anstrengungen nötig waren. Aber wenn es schon mal die Möglichkeit gab, wer konnte ihr widerstehen?

Nicht Ramona Sanchez; sie strampelte mit einem seligen Lächeln dahin. Sehr oft, wenn er auf Dächern arbeitete, in seine Tätigkeit vertieft war und sich das fertige Haus vorstellte, hörte Kevin eine Stimme von oben, und wenn er dann hinaufschaute, sah er sie in ihrem kleinen Hughes Dragonfly, mit dem sie dahinschwirrte wie ein Radfahrer und zu ihm herabwinkte wie ein verschwitzter Luftgeist. Jetzt sagte sie: »Fliegen wir nach Newport und sehen uns die Wellen an.«

Und so tauchten sie in den Seewind wie ihr Namenspatron, der Kondor. Von Zeit zu Zeit warf Kevin einen Blick auf Ramonas Beine, die im Tandem neben seinen arbeiteten. Sie hatte sehr muskulöse Beine mit wohlgeformten Oberschenkeln. Die Haut war sehr glatt, kaum aufgeraut durch feine, seidige Härchen …

Kevin schüttelte den Kopf, überrascht davon, wie sehr er ihre Beine anstarren konnte. Er schaute hinunter auf den Newport Freeway, wo wie immer viel Verkehr herrschte. Von hier oben waren die Fahrradspuren eine bunte Kollektion von Helmen, Rücken und pumpenden Beinen über spinnenhaften Gespinsten aus Metall und Gummi. Die Autospuren glänzten wie in Beton eingelegte Silberstreifen, und die Wagen huschten darüber hinweg, eine bunte Folge von blauen und roten Dächern.

Während sie durch die Luft segelten, sah Kevin auch Gebäude, auf denen er irgendwann einmal gearbeitet hatte: ein Haus, das den Sonnenschein mit seinem Dach aus Wolkengel und Thermobeton reflektierte; eine Garage, die zu einem Wohnhäuschen umgebaut worden war; Lagerhäuser, Büros, ein Glockenturm, ein Teichhaus … Seine Arbeit, hier und da zwischen den Bäumen versteckt. Es erfreute einen, sie zu sehen, sich an die Herausforderung der jeweiligen Aufgabe zu erinnern, der man sich gestellt und die man irgendwie gemeistert hatte.

Ramona lachte. »Es muss dich sicher erfreuen, dein ganzes Lebenswerk auf diese Weise betrachten zu können.«

»Ja«, sagte er und war plötzlich verlegen. Er hatte nur mit halber Kraft getreten.

Hohe Eukalyptus-Windbrecher zerteilten das Land in riesige Rechtecke, als ob das ganze Becken eine Flickendecke aus Häusern, Obstgärten, grünen und gelben Äckern wäre. Kevins Lungen füllten sich mit Wind, er war überwältigt von dem Anblick von so viel Land, und alles war ihm so wunderbar vertraut. Der Seewind wurde über Costa Mesa stärker, und sie trieben ab zu den Irvine Hills. Das große Kreuz des San Diego und des Newport Freeway erschien wie eine Betonbrezel. Dahinter erstreckte sich viel Wasser, in dem sich das Sonnenlicht widerspiegelte wie in unzähligen Spiegelscherben, die über das Land gestreut waren: Flüsse, Fischteiche, Stauseen, die Marschlandschaft der Upper Newport Bay. Es herrschte gerade Ebbe, und ein großes Gebiet grauen Watts lag frei. Tausende von Enten und Gänsen tanzten auf dem Wasser.

»Es ist wieder Wanderzeit«, sagte Ramona nachdenklich. »Die Zeit der Wandlung.«

»Es geht nach Norden.«

»Die Wolken kommen schneller herein, als ich angenommen hatte.« Sie wies hinüber nach Newport Beach. Der nachmittägliche Seewind brachte die niedrigen Wolken mit, wie es häufig während des Spätfrühlings geschah.

»Also, wegen der Ratsversammlung würde es mir nicht unangenehm sein, wenn wir schon früh wieder zurückkehren könnten«, sagte Kevin.

Ramona betätigte die Kontrollen, und sie beschrieben einen weiten Bogen über Irvine. Die verspiegelten Glaskästen in den Industrieparks glänzten wie Bauklötze grün, blau und kupferfarben. Kevin streifte Ramona mit einem verstohlenen Blick und sah, dass sie heftig blinzelte. Weinte sie etwa? Verdammt, er hatte die Ratsversammlung erwähnt. Und sie hatten so viel Spaß gehabt! Er war ein Idiot. Impulsiv streichelte er den Rücken ihrer Hand, die auf dem Steuerknüppel lag. »Tut mir leid«, sagte er. »Hab nicht dran gedacht.«

»Ach«, meinte sie mit bebender Stimme. »Schon gut.«

»Also …« Kevin wollte fragen, was denn nun geschehen war.

Sie verzog das Gesicht, wollte wohl, dass es eine belustigte Miene wurde. »Es war ziemlich unangenehm.«

»Das kann ich mir vorstellen. Ihr wart ja sehr lange zusammen.«

»Fünfzehn Jahre!«, sagte sie. »Fast mein halbes Leben!« Sie schlug ärgerlich auf den Knüppel, und der Condor sackte nach links. Kevin zuckte zusammen.

»Vielleicht war es zu lange«, meinte sie. »Ich meine, eine zu lange Zeit, in der nichts passierte. Und keiner von uns beiden hatte irgendwelche Partner gehabt, ehe wir zusammenkamen.«

Kevin hätte beinahe ihre gemeinsame Lektüre in dem Lexikon erwähnt, entschied aber, es nicht zu tun. Als Beispiel für eine frühere Partnerschaft ließ es sich wohl doch nicht verwenden.

»Studentenliebe!«, rief Ramona. »Es klappt wirklich nicht, wie alle sagen. Man hat zwar eine Menge Gemeinsamkeiten, aber im Grunde weiß man nicht, ob die andere Person wirklich der beste Partner ist, den man finden kann. Und dann geschieht es, dass einer von beiden sich darüber Klarheit verschaffen will.« Sie schlug auf den Rahmen über den Kontrollen und ließ Kevin und das Flugzeug einen Hüpfer vollführen.

»Au-au«, sagte er. Sie war wütend, das war klar. Und es war toll, dass sie Kevin erzählte, was sie empfand. Wenn sie nur ihre Argumente nicht mit solchen harten Schlägen auf den Rahmen unterstreichen würde.

Sie bewegten dieselbe Kette, und Ramona pumpte wie wild und arbeitete für sie beide. Sie sackten immer wieder seitlich weg, wenn sie auf den Rahmen schlug. Kevin schluckte krampfhaft, entschlossen, ihre Gedanken nicht mit lächerlichen Warnungen zu unterbrechen.

»Ich meine, eigentlich braucht man sich nicht zu wundern!«, sagte sie und wedelte mit der Hand. »Ich weiß, dass Alfredo sich seine Gedanken machte. Ich glaube, ich bin überhaupt nicht so interessant …«

»Wie bitte?«

»Na ja, es gibt eigentlich nur wenige Dinge, die mir wichtig sind. Und Alfredo interessiert sich für alles.« Rumms. Ein Schlag direkt auf die Landeklappen. »Er befasst sich mit so vielen Dingen, dass man es einfach nicht glauben kann.« Rumms. »Und er war immer so verdammt beschäftigt!« RUMMS! RUMMS! RUMMS!

Kevin trat heftig in die Pedale, aber er bewegte sie nur wirkungslos mit, so als wären die Pedale gar nicht mit einer Kette verbunden.

»Ich selbst bin gar nicht so scharf auf die Ehe, aber meine Eltern und meine Großeltern sind katholisch, und Alfredos Familie ebenfalls, und du weißt ja, wie das ist. Außerdem dachte ich daran, endlich eine Familie zu gründen, jeden Tag hatte ich mit den Kindern in unserem Haus zu tun, versorgte sie, und ich dachte, warum soll eins davon nicht von uns sein?« Rumms! »Aber Alfredo wollte nichts davon wissen, o nein. Ich habe dafür keine Zeit, sagte er. Ich bin noch nicht so weit. Und wenn er dann endlich so weit ist, dann ist es für mich zu spät.«

»Autsch«, sagte Kevin und blickte gespannt auf die Baumwipfel. »Aber so viel Zeit würde es doch gar nicht in Anspruch nehmen, oder? Nicht in eurem Haus.«

»Du würdest staunen. Viele Leute sind dort, um zu helfen, aber am Ende steht man mit ihnen allein da. Und Alfredo … na ja, er hat seit Jahren davon geredet. Doch nichts hat sich verändert, verdammt! Deshalb wurde ich ziemlich giftig, glaube ich, und Alfredo war immer häufiger weg, weißt du …« Sie fing wieder an zu blinzeln, und ihre Stimme zitterte plötzlich.

»Eine Feedbackschleife«, sagte Kevin und versuchte, analytisch zu denken. Eine Beziehung hatte Feedbackschleifen, wie jedes andere ökologische System – das sagte Hank immer. Eine Bewegung in die eine oder andere Richtung konnte sehr schnell außer Kontrolle geraten. So ähnlich wie eine Trudelbewegung, wenn Kevin es sich recht überlegte. Verdammt schwierig abzufangen, wenn man einmal hineingeraten war. Tatsächlich kamen dauernd Menschen bei Abstürzen ums Leben, die dadurch ausgelöst wurden. Unkontrollierte Feedbackschleifen. Er versuchte sich an die wenigen Flugstunden zu erinnern, die er genommen hatte. Meistens war er einer, der nur paukte und sich abmühte, wenn er flog …

Aber es konnte auch in die andere Richtung wirksam werden, dachte er, als er in seinen Pedalen wieder etwas Gegendruck verspürte. Ein Aufwärtssteigen, ein Aufblühen des Geistes, in den alles hineinströmt …

»Eine ganz schlimme Feedbackschleife«, sagte Ramona.

Sie strampelten weiter. Kevin pumpte heftig, behielt die Kontrollen im Auge, beobachtete Ramonas rechte Faust. Er fand ihre Geschichte in einiger Hinsicht ziemlich erstaunlich. Er verstand Alfredo nicht. Wenn er sich vorstellte, die Chance zu haben, diese wunderschöne Frau zu lieben, dabei zuzusehen, wie sie mit einem Kind dick und rund wurde, einem Kind, das aus ihm und ihr … Er verdrängte diesen Gedanken und sah auf Tustin hinunter. »So«, sagte er frei heraus. »Du hast Schluss gemacht.«

»Ja. Ich weiß nicht, ich wurde richtig wütend, aber ich hätte wahrscheinlich weitergemacht, durchgehalten. Ich hatte eigentlich nie an etwas anderes gedacht. Aber Alfredo, er wurde auch wütend auf mich, und … und …«

»Ach, Ramona«, sagte Kevin. Das war wohl die falsche Taktik. Der direkte Weg war nicht immer der beste. Er trat fester und leistete plötzlich die Pedalarbeit für sie beide. Er biss die Zähne zusammen und begann zu strampeln wie ein Besessener. Ihr Flieger sank trotzdem, rutschte leicht seitlich weg. Ungeheurer Widerstand auf den Pedalen. Sie sanken den Bergen hinter Tustin entgegen. Ramonas Augen waren fest geschlossen; sie war zu erregt, um irgendetwas zu bemerken. Kevin merkte, wie seine Besorgnis wuchs und seine Gedanken abglitten. Tödliche Unfälle waren in solchen Situationen gar nicht so selten.

»Entschuldige«, keuchte er, strampelte wild. »Aber …« Er nahm eine Hand vom Rahmen, um ihr kurz auf die Schulter zu klopfen. »Vielleicht … hmm …«

»Es ist schon gut«, sagte sie und rieb sich mit den Händen über das Gesicht. »Manchmal geht es einfach mit mir durch.«

»Ja.«

Sie blickte auf. »Scheiße, wir krachen gleich auf den Redhill!«

»Nun, ja.«

»Warum hast du nichts gesagt?«

»Also …«

»O Kevin!«

Sie lachte, schniefte, streckte die Hand aus und kniff ihm in die Wange. Dann begann sie wieder in die Pedale zu treten und steuerte sie nach Hause zurück.

Kevins Herz füllte sich mit Zuneigung für sie. Es war eine Schande, dass man ihr derart weh getan hatte. Obgleich er nicht unbedingt den Wunsch hatte, mitzuerleben, wie sie und Alfredo sich wieder miteinander versöhnten. Überhaupt nicht. Er sagte sehr vorsichtig: »Vielleicht ist es besser, dass es jetzt passiert ist, wenn es schon dazu kommen sollte.«

Sie nickte knapp.

Sie kreisten bald über dem kleinen Gleiterplatz von El Modena. Ein Dragonfly vor ihnen sank herab, schwer wie eine Biene bei kaltem Wetter. Geschickt leitete Ramona den Landeanflug ein. Ihr Schatten eilte ihnen auf der grasbewachsenen Rollbahn voraus. »Ich fliege sehr oft in dieser Höhe«, sagte Ramona, »nur um diesen Eindruck zu haben.«

»Gute Idee.« Ihr leises Lächeln, die Bäume ringsum – Kevin hatte das Gefühl, als führe der Wind mitten durch seine Brust. Wenn er sich vorstellte, dass sie eine ungebundene Frau war! Und hier neben ihm saß.

Er konnte sie nicht ansehen. Sie brachte sie in einem eleganten Bogen auf die Rollbahn herunter, und sie traten hart in die Pedale, als sie landeten. Ein schnelles, kurzes Ausrollen bis zum Stand. Sie schnallten sich los, standen schwankend da, streckten und lockerten ihre müden Beine, schoben den Flieger von der Bahn hinüber zu seinem Stellplatz.

Ramona atmete heftig ein und aus. »Estoy cansada.«

Kevin nickte. »Ein schöner Flug, Ramona.«

»Ja?« Und während sie den Flieger im Hangar verstauten, umarmte sie ihn kurz und drückte ihn an sich und sagte: »Du bist wirklich ein guter Freund, Kevin.«

Was durchaus eine Warnung hatte sein können, doch Kevin hörte nicht hin. Er spürte noch immer die Berührung. »Das möchte ich auch sein«, sagte er und merkte, wie seine Stimme zitterte.

 

Der Stadtrat von El Modena hatte seine Räume im ältesten Gebäude der Gegend, nämlich in der Kirche in der Chapman Avenue. Dieses Bauwerk hatte im Laufe der Jahre wie ein Totem das Schicksal der Stadt widergespiegelt. Die Kirche war von den Quäkern im Jahre 1886 erbaut worden, kurz nachdem sie diese Gegend besiedelt und Weinberge angelegt hatten. Ein Freund stiftete eine Glocke, die sie in einem Turm am vorderen Ende der Kirche aufhängten; doch das Gewicht der Glocke war zu groß für die Konstruktion, und beim ersten starken Wind brach das ganze Bauwerk zusammen. In ähnlicher Weise vernichtete die Trockenfäule in den Weinbergen die wirtschaftliche Grundlage der Ansiedlung, sodass die neue Stadt praktisch aufgegeben wurde. So viel zu El Modena Eins. Aber sie pflanzten neu an, und dann wurde die Kirche wiederaufgebaut, die erste einer langen Reihe von Wiederauferstehungen; es folgten der Barrio und seine verborgene Armut (die Kirche wurde geschlossen), dann kam die Zeit der Vorstädte (die Kirche wurde zu einem Restaurant umgebaut) – dann entstand El Modena neu als Stadt mit eigenen Zielen und Aufgaben, und dann kaufte der Rat das Restaurant und verwandelte es in ein enges und seltsam aussehendes Rathaus, das für alle möglichen Anlässe gemietet werden konnte. So wurde die Kirche am Ende doch der Mittelpunkt der Gemeinde, wie die Quäker es sich fast zwei Jahrhunderte vorher gewünscht hatten.

Nun waren die Hofmauern mit bunten Papiergirlanden geschmückt, und japanische Papierlaternen hingen in den drei großen Weiden im Hof. Die McElroy Mariachi Men schlenderten umher, während sie ihre leichte, einschmeichelnde Musik spielten, und ein langer Tisch bog sich unter einer Unmenge Flaschen mit Al Shroeders abscheulichem Champagner.

Unbehaglich radelte Kevin auf den Parkplatz. Als selbstständiger Handwerker war er unzählige Male vor dem Rat erschienen, doch diesen Hof als Ratsmitglied zu betreten, war etwas völlig anderes. Wie, zum Teufel, hatte er sich nur in diesen Schlamassel hineingeritten? Schön, er war ein Grüner, war es immer gewesen. Renoviert dieses heruntergekommene Loch von einer Welt! Und dieses Jahr mussten sie einen ihrer Spitzenposten im Stadtrat besetzen, aber die meisten der prominenten Parteimitglieder hatten entweder zu viel zu tun, oder sie hatten vorher schon mal zur Verfügung gestanden oder konnten aus anderen Gründen nicht zur Wahl antreten. Plötzlich bestürmten alle Kevin, die Aufgabe zu übernehmen. Er sei bekannt und beliebt, und er habe in der Gemeinde sehr viel Arbeit geleistet, die für alle zu sehen sei. Am Ende war er überredet. Grüne Ratsmitglieder stimmten in allen wichtigen Angelegenheiten entsprechend der Meinung ihrer ganzen Gruppe ab, daher waren seine Aufgaben eigentlich nicht zu schwierig. Wenn es irgendwelche Dinge gab, die er nicht kannte, dann würde er sie schon erlernen. Jeder sollte mal an die Reihe kommen. Es würde sicherlich ganz lustig! Und er konnte sich Hilfe holen, wenn es sein musste.

Aber am meisten würde er Hilfe brauchen, wenn er tatsächlich da oben an dem Ratstisch saß. Das war mal wieder typisch für ihn, dachte er düster. Nun war es zu spät, er hatte den Job. Er konnte anfangen zu lernen.

Doris kam mit einer älteren Frau angeradelt. »Kevin, das ist Nadeshda Katajew, eine Freundin aus Moskau. Sie war meine Chefin, als ich dort im Austausch am Institut für Superleiter gearbeitet habe. Sie ist auf Besuch hier und wohnt bei uns.«

Kevin reichte ihr die Hand, und sie mischten sich unter die Leute. Die meisten waren Freunde oder Bekannte. Sie neckten ihn wie üblich; niemand nahm diesen Abend besonders ernst. Man reichte ihm einen Becher Champagner, und eine Gruppe der Lobos versammelte sich, um auf das Match des Tages anzustoßen. Mehrere Becher Champagner später fühlte Kevin sich bedeutend besser.

Dann betrat Alfredo Blair den Hof, begleitet von einer Schar Freunde und Bewunderer und von seiner Familie. Die McElroys intonierten die ersten Takte von »Hail To the Chief«, und Alfredo lachte und schien sich wohl zu fühlen. Dennoch war es seltsam, ihn bei einer solchen Gelegenheit ohne Ramona zu sehen.

Die Party wurde lauter und geriet richtig in Fahrt. »Da ist ein Wahnsinniger«, stellte Doris fest und wies auf einen Fremden. Sie beobachteten ihn: ein großer Mann in einem flatternden schwarzen Mantel, der mit seltsamer rhinozeroshafter Eleganz von Gruppe zu Gruppe schlich und eine Unterhaltung nach der anderen störte. Er sagte etwas, und die Leute reagierten verwirrt oder schockiert; er zog sich zurück und drängte sich woanders dazwischen, wobei seine Haare flogen und der Champagner aus seinem Becher schwappte.

Das Rätsel wurde gelöst, als Alfredo ihn vorstellte. »Hey, Oscar, kommen Sie mal her! Leute, das ist unser neuer Anwalt, Oscar Baldarramma. Sicherlich habt ihr ihn schon während der Befragung gesehen.«

Kevin hatte ihn nicht gesehen. Oscar Baldarramma näherte sich. Er war groß – größer als Kevin und ziemlich fett, und dieses Fett war über seinen ganzen Körper verteilt; sein Gesicht glich einem Mond, sein Hals war wie ein Baumstamm, und seine mächtige Brust entsprach in ihren Proportionen seiner ausladenden Mittelpartie. Sein krauses schwarzes Haar war sogar noch widerspenstiger als Kevins, und er trug einen dunklen Anzug, der schon mindestens fünfzig Jahre aus der Mode war. Er selbst sah aus wie vierzig.

Langsam nickte er, legte sein Mehrfachkinn in Falten und schürzte die Lippen. »Schön, den anderen Anfänger im Team kennenzulernen«, sagte er mit einer kratzigen, lakonischen Stimme, als meinte er diese Bemerkung als Scherz.

Kevin nickte und wusste nicht, was er erwidern sollte. Er hatte gehört, dass der neue Anwalt der Stadt eine Kanone aus dem Mittelwesten war und schon einige Jahre in Chicago gearbeitet hatte. Und sie brauchten einen guten Anwalt, denn El Modena wurde wie die meisten Städte ständig wegen irgendetwas verklagt. Der alte Stadtrat hatte fast sechs Monate gebraucht, um den vorherigen Anwalt zu ersetzen. Aber dann ausgerechnet auf diesen Burschen zu verfallen!

Oscar trat zu Kevin, senkte den Kopf und wackelte vielsagend mit den Augenbrauen. Ein Schmierenkomödiant hätte nicht dicker auftragen können: Achtung! Geheim! Vertrauliche Angelegenheit! »Ich hörte, dass Sie alte Häuser renovieren?«

»Das ist mein Job.«

Oscar schaute sich vorsichtig nach allen Seiten um. »Ich durfte ein älteres Haus in der Nähe des Gleiterhafens mieten, und ich dachte, dass Sie vielleicht interessiert wären, es für mich umzubauen.«

»Nun, dazu müsste ich es mir zuerst einmal ansehen. Aber angenommen, wir werden uns in allen Punkten einig, dann könnte ich Sie auf unsere Warteliste setzen. Zur Zeit ist sie ziemlich kurz.«

»Ich wäre durchaus bereit zu warten.«

Für Kevin klang das eigentlich ganz vernünftig. »Ich komme mal vorbei, schaue es mir an und gebe Ihnen dann einen Kostenvoranschlag.«

»Natürlich«, flüsterte der fette Mann.

Ein Tablett wurde herumgetragen, und jeder nahm sich einen Pappbecher mit Champagner. Oscar starrte nachdenklich in seinen Becher hinein. »Ich nehme an, ein hiesiges Gewächs.«

»Ja«, sagte Kevin, »Al Shroeder stellt ihn her. Er hat auf den Cowan Heights einen großen Weinberg.«

»Cowan Heights.«

Doris meinte in scharfem Ton: »Dass er nicht aus Napa oder Sonoma kommt, heißt noch lange nicht, dass er schlecht ist! Ich finde ihn sehr gut.«

Oscar musterte sie. »Und was ist Ihr Gewerbe, wenn ich fragen darf?«

»Ich bin Grundstoffforscherin.«

»Dann beuge ich mich Ihrem Urteil.«

Kevin konnte nicht anders, als über die Miene zu lachen, die Doris machte. »Der Champagner von Al ist ganz schön mies«, sagte er. »Aber er hat einen guten Rotspon – viel besser als das Zeug hier.«

Oscar verdrehte leicht die Augen. »Das werde ich feststellen. Eine solche Empfehlung sollte augenblicklich befolgt werden.«

Kevin schnaubte spöttisch, und Nadeshda grinste. Aber Doris wirkte noch ungehaltener als vorher, und sie wollte es Oscar klarmachen, als Jean Aureliano um Ruhe bat.

 

Es wurde Zeit für den ernsten Teil. Alfredo, der bereits sechs Jahre im Rat gesessen hatte, wurde als neuer Bürgermeister vereidigt, und Kevin musste seinen Eid als neues Ratsmitglied leisten. Diese Prozedur hatte Kevin ganz vergessen, und er stolperte auf dem Weg zum Kreis der offiziellen Vertreter. »Was für ein Start!«, brüllte jemand. Mit glühendem Gesicht legte er eine Hand auf die Bibel und wiederholte das, was der Richter ihm vorsagte.

Und mitten in diesem verschwommenen Durcheinander kam die plötzliche Erkenntnis – er gehört jetzt gewissermaßen zur Regierung. Genauso wie er es in der sechsten Klasse Bürgerkunde prophezeit hatte.

Sie zogen in den Ratssaal, und Alfredo nahm auf dem mittleren Sessel am geschwungenen Ratstisch Platz. Als Bürgermeister war er nicht mehr als Erster unter Gleichen, ein Ratsmitglied aus der stärksten Partei der Stadt. Er leitete ihre Versammlungen, aber er hatte genauso wie die anderen nur eine Stimme.

Auf der einen Seite von ihm saßen Kevin, Doris und Matt Chung. Auf der anderen Seite waren Hiroko Washington, Susan Mayer und Jerry Geiger. Oscar und die Stadtplanerin Mary Davenport hatten an der Seite ihren eigenen Tisch. Kevin konnte die Gesichter aller anderen Mitglieder sehen, und während Alfredo die Zuschauer aufforderte, sich zu setzen, betrachtete er sie der Reihe nach.

Kevin und Doris waren Grüne, Alfredo und Matt waren Feds. Die New Federalists hatten die Grünen als die stärkste Partei der Stadt zum ersten Mal nach vielen Jahren geschlagen; daher hatten sie nun ein ganz anderes Gewicht. Hiroko, Susan und Jerry vertraten kleinere örtliche Gruppierungen, wobei Hiroko und Susan als durchaus gemäßigt galten und Jerry eine wild streuende Kanone war, dessen Stimmabgaben ein Paradebeispiel für unerklärliche Unbeständigkeit waren. Damit war er bei einigen Modenos ziemlich beliebt, die der Geiger Party beigetreten waren, damit er im Rat bleiben konnte.

Alfredo schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Wenn wir nicht bald anfangen, sitzen wir noch die ganze Nacht hier! Willkommen für unser neues Mitglied Kevin Claiborne. Fangen wir gleich mit dem ersten Punkt der Tagesordnung – äh – dem zweiten Punkt an. Seine Begrüßung war der erste Punkt. Okay, Punkt zwei. Überprüfung der Forderung, die Bäume am Rand des Peters-Canyon-Stausees zu fällen. Ein Einspruch gegen diese Verfügung wurde eingereicht mit der Forderung, die Entscheidung noch einmal vor den Rat zu bringen. Der Einspruch kam von der Wilderness Party von El Modena, heute vertreten durch Hu-nang Chu. Sind Sie anwesend, Hu-nang?«

Eine ernst blickende Frau trat an das Zeugenpult. Sie erklärte dem Rat mit Nachdruck, dass die Bäume um den Stausee alt und heilig seien und dass ihre Entwurzelung einen willkürlichen Akt der Zerstörung darstellen würde. Als sie anfing, sich zu wiederholen, unterbrach Alfredo sie geschickt. »Mary, die Verfügung stammte von Ihren Leuten – wollen Sie als Erste etwas dazu bemerken?«

Die Stadtplanerin räusperte sich. »Die Bäume am Stausee sind hauptsächlich Cottonwoods und Weiden, beides extrem hydrophile Arten. Natürlich holen sie sich ihr Wasser aus dem See, und die simple Tatsache ist, dass wir uns das nicht leisten können. Ratsbeschluss zwei-null-zwei-zwei verlangt von uns, alles Mögliche zu unternehmen, um unsere Abhängigkeit vom OC Water District und von Municipal Water District zu mindern. Den Stausee zu vergrößern hat uns geholfen, und wir haben versucht, den Bereich zur Zeit der Vergrößerung von hydrophilen Bäumen zu säubern, doch die Cottonwoods wachsen ungemein schnell wieder nach. Weiden sind hier übrigens nicht einmal beheimatet. Wir schlagen vor, die Bäume zu fällen und sie durch Krüppeleichen und adaptiertes Wüstengras zu ersetzen. Wir wollen außerdem eine große Weide in der Nähe des Damms stehenlassen.«

»Irgendwelche Wortbeiträge?«, fragte Alfredo.

Jeder im Rat, der dazu etwas sagen wollte, war mit Marys Plan einverstanden. Jerry meinte, es sei wirklich nett, endlich einmal erleben zu dürfen, dass El Modena einige Bäume fällte. Alfredo bat um Meldungen von den Zuhörern, und ein paar Leute traten ans Pult, um ihre Meinung zu äußern, wobei sie gewöhnlich nur eine der vorherigen Erklärungen wiederholten. Alfredo ließ dann abstimmen. Die Verfügung, die Bäume zu fällen, wurde mit sieben zu null Stimmen verabschiedet.

»Einstimmigkeit!« Alfredo freute sich. »Ein sehr gutes Omen für die Zukunft dieses Rates. Es tut mir leid, Hu-nang, aber die Bäume brauchen wirklich zu viel Wasser. Weiter zu Punkt drei: der Vorschlag, die Lärmschutzvorschriften in der Umgebung des Stadions der Highschool zu verschärfen. Wer ist denn dieser tollkühne Zeitgenosse, der das verlangt?«

 

Und so ging die Versammlung weiter. Ein Kampf um eine Baugenehmigung, die sich zu einem Protest dagegen auswuchs, dass die Stadt Grundeigentum besaß, eine Vorschrift, Skateboards auf Fahrradwegen zu verbieten, ein Vorschlag, die Investitionsstruktur der städtischen Gelder zu verändern … alle Angelegenheiten, die zur Verwaltung einer Kleinstadt gehörten, wurden Punkt für Punkt in einer öffentlichen Sitzung zur Sprache gebracht. Die Arbeit, eine Welt in Gang zu halten, wie sie unzählige Male rund um den Erdball erledigt wurde; man konnte sagen, dass dort die wahre Macht verborgen lag.

Aber dieses Gefühl wollte sich in dieser speziellen Nacht in El Modena nicht einstellen – jedenfalls nicht bei Kevin. Für ihn war es nur eine höchst langweilige Arbeit. Er kam sich vor wie ein Richter ohne Präzedenzfall, nach dem er sich richten konnte. Selbst wenn er von Präzedenzfällen wusste, stellte er fest, dass sie für die jeweilige Situation doch nicht taugten. Ein wichtiges juristisches Prinzip, dachte er benommen, während er versuchte, die Nachwirkungen des Champagner abzuschütteln: Präzedenzfälle sind nutzlos. Oft entschied er, genauso zu stimmen wie Doris. Glücklicherweise gab es keine Vorschrift, jeden Einzelnen aufstehen und seine Entscheidung begründen zu lassen.

Etwa bei der fünften dieser Abstimmungen hatte er plötzlich ein Gefühl tiefer Verzweiflung – er würde für die nächsten zwei Jahre jeden Mittwochabend damit verbringen, sich sehr aufmerksam eine Menge Dinge anzuhören, die ihn nicht im Mindesten interessierten! Wie, zum Teufel, war er nur in diesen Schlamassel geraten?

Draußen im Zuschauerraum standen die ersten Leute auf und gingen. Doris' alte Chefin Nadeshda blieb und verfolgte neugierig das Geschehen. Oscar und die Ratssekretärin machten sich eine Menge Notizen. Die Sitzung schleppte sich weiter.

Kevins Konzentration begann nachzulassen. Der lange Tag, der Champagner … es war schön und warm, und die Stimmen waren alle so ruhig und einschläfernd …

Schläfrig, ja.

Sehr, sehr schläfrig.

Wie peinlich!

Und doch so müde. Total schlaff. Bei seiner ersten Ratsversammlung. Aber es war so schön, so warm …

Schlaf nicht ein! O mein Gott.

Er kniff sich selbst. Sahen die Leute es, wenn man ein Gähnen unterdrückte? Er hatte sich das nie so genau überlegt.

Worüber redeten sie jetzt? Er war sich noch nicht einmal sicher, über welchen Punkt der Tagesordnung gerade diskutiert wurde. Mit einer ungeheuren Willensanstrengung versuchte er sich zu konzentrieren.

»Punkt siebenundzwanzig«, sagte Alfredo, und für einen kurzen Moment hatte Kevin Angst, dass Alfredo ihn mit einem wölfischen Grinsen ansehen würde. Aber er las weiter. Ein paar wasserverwaltungstechnische Kleinigkeiten, darunter die Nominierungen des Stadtplanungsbüros zweier neuer Mitglieder für den Wassermeister. Kevin hatte keinen der beiden Namen jemals gehört. Immer noch benommen schüttelte er den Kopf. Wassermeister. Als Kind war er von dieser Bezeichnung fasziniert gewesen. Zu seiner Enttäuschung hatte er erfahren müssen, dass es sich nicht um eine einzelne Person handelte, die bestimmte magische Kräfte besaß, sondern es war nur der Name für einen Rat, ein Komitee, irgendein Gremium innerhalb eines grenzenlosen Systems von Gremien. Kevin wusste nicht, was diese Wassermeister in ihrem Bezirk taten. Aber etwas, so spürte er, war seltsam. Vielleicht die Tatsache, dass Alfredo ihre Namen nicht gekannt hatte. Und dann, drüben am Seitentisch, hatte Oscar den Kopf leicht zur Seite geneigt. Er beobachtete sie noch immer mit einem Pokergesicht, doch etwas hatte sich in seiner Haltung verändert. Es war so, als habe die Statue des schlafenden Buddha ein Auge geöffnet und neugierig herausgeschaut.

»Wer sind sie?«, krächzte Kevin. »Wer sind die Kandidaten?«

Alfredo meisterte die Unterbrechung genauso wie Ramona, wenn sie auf dem Spielfeld eine schlechte Aktion gezeigt hatte, nämlich elegant und schnell. Er beschrieb die beiden Kandidaten. Einer war ein Partner von Matt. Der andere war ein Mitglied des Gremiums für Wasserbau des OC Water District.

Kevin hörte unsicher zu. »Und wie ist ihre politische Zugehörigkeit?«

Alfredo zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, es sind Feds, aber was heißt das schon. Es ist kein politischer Posten.«

»Du machst wohl Witze«, sagte Kevin. Wasser, nicht politisch? Alle Schläfrigkeit war verflogen, und er sah sich den Text von Punkt 27 an. Eine Menge Einzelheiten. Indem er Alfredos Aufforderung zu einer Erklärung ignorierte, las er weiter. Überprüfung der Angaben über Wasserförderung der Brunnen im Distrikt, Prüfung der Jahresberichte über die Grundwasserverhältnisse (gut). Ein Dankesbrief an die OCWD für Gelände im Crawford Canyon, das der Stadt im vergangenen Jahr geschenkt wurde. Eine schriftliche Anfrage von Seiten des Stadtplanungsrates nach weiteren Informationen zum Angebot des Metropolitan Water District, andere Städte mit mehr Wasser zu versorgen …

Doris stieß ihm den Ellbogen in die Rippen.

»Was meinst du?«, wiederholte Alfredo zum dritten Mal.

»Wasser ist immer etwas Politisches«, sagte Kevin geistesabwesend. »Sag mal, packst du immer so viele Einzelheiten in einen einzigen Tagesordnungspunkt?«

»Sicher«, sagte Alfredo.

Aber Oscars Kopf zuckte eine Winzigkeit nach links, genau wie eine Buddha-Statue, die zum Leben erwacht.

Wenn ich doch nur mehr darüber wüsste … »Was bedeutet dieses Angebot des MWD?«

Alfredo schaute auf die Tagesordnung. »Ach. Das war vor einigen Sitzungen. MWD haben ihre Zuteilungsmenge aus dem Colorado per Gerichtsbeschluss erhöht bekommen, und sie würden das Wasser gerne verkaufen, ehe die Columbia-Leitung fertiggestellt ist. Das Planungsbüro hat entschieden, dass wir, wenn wir mehr von MWD beziehen, die Strafen des OC Water District für die Mehrentnahme von Grundwasser vermeiden können. Und am Ende sparen wir damit sogar noch Geld. Und MWD steckt ziemlich in der Klemme – wenn die Columbia-Leitung fertiggestellt ist, dann wird es ein richtiger freier Markt mit Angebot und Nachfrage. Im Grunde ist es das heute schon, ein freier Markt.«

»Aber so viel pumpen wir hier aus dem Grundwasser doch gar nicht hoch.«

»Nein, aber die Pumpsteuern für Mehrentnahmen sind empfindlich. Mit dem Wasser von MWD können wir jede Überförderung selbst sofort ausgleichen und damit die Steuer vermeiden.«

Kevin schüttelte verwirrt den Kopf. »Aber zusätzliches Wasser von MWD bedeutet doch, dass wir niemals eine Mehrentnahme haben.«

»Genau. Das ist doch der Punkt. Außerdem ist es nur eine Anfrage und Bitte um weitere Informationen.«

Kevin ließ sich das durch den Kopf gehen. In seinem Gewerbe musste er sich oft Wassergenehmigungen besorgen, daher wusste er ein wenig darüber Bescheid. Wie viele Städte im Süden Kaliforniens kauften sie den größten Teil ihres Wasser vom Los Angeles Metropolitan Water District, der es vom Colorado heranpumpte. Aber viel mehr wusste er nicht, und diese Sache …

»Welche Informationen haben wir denn jetzt? Gibt es eine Zahl für die Mindestabnahme?«

Alfredo bat Mary, ihnen den Originalbrief von MWD vorzulesen, und sie suchte ihn und las. Kevin sagte: »Das ist viel mehr Wasser, als wir brauchen. Was hast du damit vor?«

»Nun«, erwiderte Alfredo, »wenn es anfangs irgendwelchen Überschuss gibt, können wir ihn dem Wassermeister des Distrikts verkaufen.«

Wenn, dachte Kevin. Anfangs. Irgendetwas ist an der Sache sonderbar …

Doris beugte sich auf ihrem Platz vor. »Steigen wir jetzt ins Wassergeschäft ein? Was ist eigentlich mit dem Beschluss, die Abhängigkeit von MWD zu reduzieren?«

»Das ist doch nur ein Brief, in dem um Informationen gebeten wird«, sagte Alfredo beinahe ungehalten. »Wasser ist ein sehr kompliziertes Thema, und es wird ständig teurer. Unser Job ist es, es so billig wie möglich herbeizuschaffen.« Er schaute zu Matt Chung, dann in seine Notizen.

Kevin ballte die Fäuste. Sie führten irgendetwas im Schilde. Er wusste nicht, was es war, aber er war sich plötzlich dessen ganz sicher. Sie hatten versucht, diesen Punkt an ihm vorbeizuschmuggeln, während seiner ersten Ratssitzung, in der er noch etwas durcheinander, müde und leicht betrunken war.

Alfredo erzählte etwas über Trockenheit. »Braucht man eigentlich für diese Angelegenheit nicht ein Gutachten über die Umweltfolgen?«, fragte Kevin und schnitt ihm das Wort ab.

»Wegen einer simplen Anfrage?«, fragte Alfredo beinahe sarkastisch.

»Okay, okay. Aber ich habe vor diesem Rat gestanden, um die Erlaubnis für zwei Treibhäuser und einen Hühnerstall zu bekommen, und ich musste ein Umweltgutachten vorlegen – daher werden wir so etwas sicherlich auch anlässlich solcher grundlegender Veränderungen haben müssen.«

Alfredo sagte: »Es ist doch nur Wasser.«

»Scheiße, du machst wohl Witze!«, rief Kevin verärgert.

Doris stieß ihn mit dem Ellbogen an, und er erinnerte sich wieder daran, wo er war. Er starrte auf den Tisch und errötete. Unter den Zuschauern wurde aufgeregt geflüstert.

Kevin blickte zu den anderen Ratsmitgliedern. Matt machte ein finsteres Gesicht. Die anderen schauten besorgt und verwirrt drein. »Sieh doch«, sagte Kevin. »Ich weiß nicht, wer die Kandidaten sind, und ich kenne die Einzelheiten des Angebots von MWD nicht. In einem solchen Stadium kann ich mich zu Tagesordnungspunkt siebenundzwanzig nicht äußern, und ich möchte, dass wir die Diskussion darüber bis zur nächsten Sitzung verschieben.«

»Ich bin ebenfalls dafür«, sagte Doris.

Alfredo erweckte den Anschein, als wollte er dem widersprechen. Doch er fragte nur: »Dafür?«

Doris und Kevin hoben die Hände. Dann auch Hiroko und Jerry.

»Okay«, sagte Alfredo achselzuckend. »Das wär's dann für heute.«

Er schloss die Sitzung ohne weitere Umstände und sah kurz zu Matt, während sie aufstanden.