Pechwinkel - Martin Arz - E-Book

Pechwinkel E-Book

Martin Arz

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Beschreibung

Schock bei der Bachauskehr: Im Glockenbach wird eine Frauen-leiche entdeckt. Wurde die alte Frau Opfer einer brutalen Entmietung, weil den Haien auf dem völlig überhitzten Münchner Immobilienmarkt jedes Mittel recht ist? Max Pfeffer entdeckt Parallelen zu weiteren Morden an alten Damen, die alle augenscheinlich nur wegen ein paar Euro Beute erwürgt wurden. Pfeffer stößt in ein Rattennest aus Habgier und beinahe wird der eiskalte Glockenbach für ihn zum nassen Grab. Denn das Haus der Toten aus dem Bach birgt ein schreckliches Geheimnis …

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Martin Arz

PECHWINKEL

Martin Arz schrieb zunächst als freier Autor für zahlreiche Magazine. Dann arbeitete er mehrere Jahre lang als PR-Berater, bevor er sich ganz den Künsten widmete: der Malerei und dem Schreiben. Seine Gemälde waren bereits auf vielen Ausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Arz ist Autor von zahlreichen Sachbüchern, Krimis und historischen Romanen.

Max-Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer Verlag:

· Das geschenkte Mädchen – Pfeffers 1. Fall

· Reine Nervensache – Pfeffers 2. Fall

· Die Knochennäherin – Pfeffers 3. Fall

· Pechwinkel – Pfeffers 4. Fall

· Westend 17 – Pfeffers 5. Fall

· Geldsack – Pfeffers 6. Fall

· Münchner Gsindl – Pfeffers 7. Fall

Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.

Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P.

© Hirschkäfer Verlag, München 2011/2020

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.

E-Book-ISBN 978-3-940839-20-6

Besuchen Sie uns online:

www.hirschkaefer-verlag.de

Inhalt

Kapitel 01

Kapitel 02

Kapitel 03

Kapitel 04

Kapitel 05

Kapitel 06

Kapitel 07

Kapitel 08

Kapitel 09

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

PS

01

Rudi war maulfaul. Er hatte keine Lust etwas zu sagen. Es gab auch nichts zu sagen. Und das Reden übernahm sowieso Mo. Mo hieß eigentlich Mohammed, aber so rief ihn höchstens noch sein Vater. Mo redete ohne Unterlass, was Rudi zunehmend auf die Nerven ging. Alles musste Mo kommentieren.

»Mann, Mann, Mann. Schon wieder ein altes Fahrrad«, sagte Mo und wuchtete das mit schleimigen Algen überwucherte Metallskelett über die Betonbrüstung auf den Rasen. »Mann, Mann, Mann, was die Leute alles in den Bach hauen.« Er studierte seine versifften Arbeitshandschuhe.

Was Rudi besonders nervte, war, dass Mo jeden Satz mit drei Mal »Mann« begann. »Mann, Mann, Mann, ist der Kaffee heiß.« »Mann, Mann, Mann, ist die Mieze heiß.« »Mann, Mann, Mann, regnets schon wieder.«

»Bei zwei Rädern insgesamt kann man nicht von ›schon wieder‹ sprechen«, knurrte Rudi.

»Na, und der Einkaufswagen?«

»Das ist kein Rad.«

»Mann, Mann, Mann. Haste auch wieder recht.« Mo zündete sich eine Zigarette an. »Noch schnell eine rauchen, bevors unter die Stadt geht.«

Rudi verdrehte die Augen. Er hatte vor sieben Jahren das Rauchen aufgegeben, und die Argumente, warum man schnell noch eine rauchen musste, bevor man irgendwas anderes machte, nervten ihn ebenso wie das Gequassel. Er starrte auf seine orangefarbenen Gummistiefel und wartete.

Bachauskehr. Jeden April dasselbe. Die Schleusen am Kraftwerk an der Isartalstraße wurden geschlossen, das Wasser floss direkt in die Isar zurück, der Stadtbach lief langsam leer, und die Männer vom Baureferat machten sich auf, das Bachbett zu reinigen. Der Bach floss in einem Betonbett durch das Schlachthofviertel, dann unter der Kapuzinerstraße hindurch ins Glockenbachviertel, wo er an der Pestalozzistraße unter den Häusern verschwand. Selbst die meisten Münchner wussten nicht, dass der Bach unterirdisch zuerst die ganze Altstadt umrundete, bevor er vor der Staatskanzlei am Hofgarten wieder an die Oberfläche kam und dann in den Englischen Garten floss. Wenn man hier, wo Rudi und Mo standen, ein Quietscheentchen in den Bach setzen würde, käme es vor dem Arbeitszimmer des Ministerpräsidenten heraus. Die Idee mit dem Entchen hatte Rudi schon immer mal gereizt. Aber sie kam ihm immer nur, wenn er auf Bauchauskehr war. Wenn das Wasser wieder floss, hatte er es wieder vergessen.

»Ein Ratz«, sagte Rudi trocken und packte den Kadaver einer Ratte am Schwanz. Das Tier hatte sich in einem Einkaufsnetz verfangen, konnte sich dann wohl nicht befreien und war ersoffen. Rudi warf die Ratte in den blauen Müllsack, den sie für kleinere Fundstücke bei sich führten. Er lüpfte ein wenig die Kapuze seines knallorangen Arbeitsparkas und sah zum Himmel. Grau. Regen. Keine Wolkenlücke in Sicht.

Mo trat seine Zigarette aus. »Bereit für die Dunkelheit, Meister? Mann, Mann, Mann.« Sie stiegen aus dem Bachbett, weil ihnen die Rechenanlage den Weg versperrte. Die Rechenanlage sorgte dafür, dass keine größeren Gegenstände vom offenen Bachlauf unter die Häuser gelangen konnten. Große Äste oder Ähnliches stießen gegen die Gitter, woraufhin sich ein automatischer Arm in Bewegung setzte, der die Gegenstände auf die Seite zog.

Die beiden Männer stiegen hinter dem Gitter wieder ins Bachbett und steuerten auf die Öffnung zu, die unter die Häuser an der Pestalozzistraße führte. Schweigend zückten sie ihre Stablampen und machten sie an. Rudi mochte die unterirdische Bachbegehung nicht. Seit Jahren machte er den Job, und er kannte die Strecke, gefunden hatte er nie mehr als tote Ratten und ausrangierte Gerätschaften, dennoch kroch jedes Mal dieses Gefühl von Unbehaglichkeit über seinen Nacken. So wie jetzt.

»Mann, Mann, Ma…«

»Tu mir einen Gefallen, Mo.« Rudi blieb noch im Eingang stehen und schob die Kapuze vom Kopf. »Kein ›Mann, Mann, Mann‹ mehr für den Rest des Tages.«

»Aber …«

»Habe ich mich klar ausgedrückt?«

»Okay.« Mo zuckte gleichgültig mit den Schultern und folgte dem Lichtkegel seiner Taschenlampe ins Dunkel des Bachtunnels. Den Müllsack hielt er mit der linken Hand und zog ihn über den Boden schleifend hinter sich her. »Mann, … äh … scheißdunkel hier. Na, wenigstens schiffts hier nicht.«

Die beiden stapften langsam tiefer in den Kanal. Ihre Lichtkegel wanderten über den Boden, die Wände hinauf, die Decke entlang, wieder die Wände hinunter und über den Boden. Alles zumindest flüchtig inspizieren. Auch eine grobe Überprüfung der Bausubstanz gehörte zu ihrer Arbeit. Nicht, dass eine der Wohnungen über dem Bach dank maroder Böden und Wände plötzlich ins Wasser stürzte. Das war zwar erst ein Mal vorgekommen, und selbst der erfahrene Rudi kannte die Geschichte von dem Ehepaar, das sich abends schlafen legte und wenige Stunden später eine Etage tiefer im tosenden Bach aufgewacht war, umgeben von den Trümmern ihrer Schlafzimmereinrichtung, nur vom Hörensagen. Dennoch mussten sie auf Risse oder Ähnliches achten.

»Fuck«, sagte Mo dann. Er hatte bisher seine Kapuze nicht vom Kopf genommen. Nun schob er sie langsam in den Nacken. »Da hat doch einer sauber seinen Müll entsorgt.« Er hielt seine Lampe auf den Boden vor ihnen gerichtet.

Rudi folgte dem Lichtschein und sah das Bündel. »Klasse«, grunzte er. Er drehte sich um. Ganz entfernt konnte er noch den Schimmer Tageslicht ausmachen, der von der Tunnelöffnung kam. »Ist nicht so weit. Können wir noch zum Eingang zurücktragen.«

»Lass uns erst aufmachen«, sagte Mo und beugte sich über das Bündel, das zu groß war, um in einen Plastikmüllsack gesteckt zu werden. »Sieht aus wie ein Duschvorhang. Ist ein Duschvorhang. Meine Tante hat genau so einen. Und schön mit Schnur verknotet.« Mo seufzte und wühlte in der Hosentasche nach seinem Taschenmesser. »Wir machens auf, vielleicht finden wir ja einen Hinweis, wer von den Spacken da oben«, er deutete auf die Tunneldecke über ihnen, »seinen Schrott einfach in den Bach schmeißt.«

02

Pfeffer bahnte sich den Weg durch die dürren Äste der Büsche den kleinen Abhang hinunter und stieg dann die wacklige Aluminiumleiter hinab, die an der Betonmauer lehnte. Der pickelgesichtige uniformierte Kollege, der die Leiter unten hielt, begrüßte den Kriminalrat mit einem schiefen Lächeln.

»Einfach immer auf das Licht zu«, sagte er und deutete in das Dunkel der Kanalröhre. »Können Sie gar nicht verfehlen.«

»Danke.« Pfeffer ging vorsichtig auf die Öffnung zu, denn der Boden war rutschig von grünlichen Algen. Das dämmrige Dunkel des unterirdischen Bachbetts umfing ihn. Stimmen hallten durch den Tunnel. In nicht allzu weiter Ferne sah Pfeffer eine Gruppe Menschen in weißem Licht. Er hielt darauf zu. Vier Scheinwerfer hatten die Kollegen von der Spurensicherung aufgebaut. Das gleißende Licht tat in den Augen weh.

»Maxl«, begrüßte die Rechtsmedizinerin Dr. Gerda Pettenkofer den Kriminalrat und richtete sich stöhnend von dem Bündel auf, dem sie bislang ihre Aufmerksamkeit gewidmet hatte. Sie hatte ein gewaltiges Gewichtsproblem, das ihr nicht nur das Aufrichten schwer machte. Sie keuchte rasselnd und hustete, wie eine Kettenraucherin eben hustet. »Riskierst du mal wieder Ärger mit deiner Chefin?« Sie zog ihre Gummihandschuhe aus und ließ einen spielerisch in Richtung Pfeffer schnalzen.

Pfeffer verzog den Mundwinkel seiner alten Freundin Gerda zuliebe um Millimeter, für ein Lächeln reichte seine Laune nicht. Die Rechtsmedizinerin spielt darauf an, dass Max Pfeffers Vorgesetzte, Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser, es gar nicht gerne sah, dass Pfeffer in seiner Position noch Recherchearbeit vor Ort machte. Als Kriminalrat sollte er sich auf Schreibtisch und Verwaltungsarbeit beschränken. Den Disput führten sie schon lange. Und ebenso lange schob Pfeffer den eklatanten Personalmangel vor, der ihn einfach auf die Straße zwingen würde. Alle wussten, dass das nur ein vorgeschobener Grund war. Pfeffer war einfach nicht für den Schreibtisch geboren.

Er warf einen Blick auf das Bündel. »Was muss ich wissen, Gerda?«

»Miese Laune?«

»Schlecht geschlafen.«

»Details?«

»Später. Sag mir jetzt bitte, was ich wissen muss.«

»Wie lange sie tot ist, kann ich dir noch nicht sagen.«

»Sie? Eine Frau?« Pfeffer sah genauer hin. Der Duschvorhang, in den die Leiche eingewickelt war, war nur ein wenig geöffnet. Mehr als den Kopf sah Pfeffer nicht. Dunkle Haarsträhnen klebten daran. Das Gesicht der Toten war aufgedunsen und beinahe weiß, schillerte ein wenig grüngelb.

»Ja, eindeutig eine Frau.« Die Rechtsmedizinerin bückte sich und zog eine Ecke des Duschvorhangs komplett beiseite. Die Tote war nackt. »So um die sechzig oder siebzig.«

Max Pfeffer zog den Reißverschluss seiner Lederjacke hoch. Die feuchte Kälte kroch in die Glieder.

»Dem ersten Anschein nach wurde sie erwürgt. Allerdings ist da noch eine Kopfverletzung«, sagte die Rechtsmedizinerin. »Sie weist zusätzlich am Körper noch weitere Hämatome auf. Dazu mehr, wenn ich sie auf meinem Arbeitstisch hatte. Der Täter hat die Frau also womöglich geschlagen und dann erwürgt. Danach die Leiche in den Duschvorhang gewickelt und irgendwie in den Bach befördert.«

»Das Wasser hat sie dann bis hierher mitgerissen«, sagte Annabella Scholz. Die Hauptkommissarin war leise zu ihrem Chef und der Pathologin hinzugetreten. »Der Täter hat zwar ein paar Backsteine zum Beschweren der Leiche mit in das Bündel gewickelt, aber bei der starken Strömung … Er wird die Leiche irgendwo da draußen in den Bach geworfen haben.« Sie deutete unbestimmt in Richtung Ausgang.

»Nein«, sagte Pfeffer leise.

»Wie nein?«

»Nein, er hat sie nicht da draußen in den Bach geworfen. Das geht nicht.«

»Klär mich auf, Chef. Weißt du was, was ich nicht weiß«, sagte Annabella Scholz mit pikiertem Unterton.

»Ich darf mal.« Max Pfeffer nahm einem Kollegen die Taschenlampe weg und trat aus dem gleißenden Licht der Spots. Er ließ den Lichtkegel der Lampe über die Wände an der rechten Seite wandern. Man konnte deutlich erkennen, wie hoch der durchschnittliche Wasserstand war. Bis über Hüfthöhe reichten die Algen. Darüber war der Beton trocken und blank. Pfeffer ließ das Licht ein wenig höher wandern. Annabella Scholz pfiff leise und Dr. Gerda Pettenkofer gab ein undefinierbares Glucksen von sich.

»Verstehe«, sagte die Hauptkommissarin. Sie trat näher an die Wand und klopfte gegen die Eisentür über ihr an der Wand. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um den Türgriff zu erreichen und rüttelte daran. Nichts tat sich.

»Und woher wusstest du das, Maxl?«, fragte die Rechtsmedizinerin.

»Bin hier aufgewachsen«, antwortete Pfeffer knapp. »Wenn jemand etwas so Großes in den offenen Bachlauf wirft, dann wird das von der automatischen Rechenanlage draußen gestoppt. Die soll nämlich genau so was verhindern. Dass Menschen in den unterirdischen Bachlauf geraten. Die kann keiner mehr retten. Einmal hatte sich eine Leiche darin verfangen. Ein Obdachloser, der vermutlich betrunken ins Wasser gefallen war. Lange her. Also muss jemand die Leiche hinter der Rechenanlage reingeworfen haben. Das könnte er theoretisch noch auf dem schmalen Streifen zwischen Rechenanlage und Haus machen. Aber da ist das Gelände unwegsam, steil und besonders dicht bewachsen. Aus besagten Gründen. Also bleibt ein logischer Schluss: Jemand hat die Tote über den Kellerzugang in den Bach geworfen. Du hast vermutlich recht, Bella, dass das Bündel trotz des Gewichts von der Strömung ein wenig mitgerissen wurde, bis es auf den Boden sank. Also bleiben uns die Zugänge von hier bis vorne zum Tunnelbeginn.«

Hauptkommissarin Scholz machte ein paar Schritte in Richtung Ausgang und kniff die Augen zusammen. »Vier oder fünf, würde ich sagen.«

»Vermutlich.« Pfeffer gab die Taschenlampe dem Kollegen zurück. »Wissen wir denn schon, wer die Tote ist?«

Annabella Scholz schüttelte den Kopf. »Sie ist nackt. Keine Papiere, keine auffälligen Merkmale.«

»Dann sollten wir uns mal mit den Lebenden oben beschäftigen. Vielleicht wird ja eine alte Dame vermisst. Wer hat eigentlich die Tote gefunden?«

Doktor Gerda Pettenkofer deutete mit dem Kopf in Richtung der zwei Männer in orangefarbener Arbeitskleidung.

»Bachauskehr«, sagte Pfeffer leise, »wie jeden April. Du hast ihre Aussagen, Bella?«

Die Hauptkommissarin nickte. »Mehr als die Tatsache, dass sie sie gefunden haben, konnten sie allerdings auch nicht beitragen.«

Max Pfeffer ging zu den beiden Männern, die aufmerksam die Arbeit der Spurensicherung beobachteten.

»Seit wann ist Bachauskehr?«, fragte er den Älteren. Doch bevor Rudi seinen Mund öffnen konnte, sagte Mo: »Mann, Mann, Mann, das ist eine Scheiße, Alter.«

»So kann mans auch nennen. Trotzdem meine Frage: Wann wurde das Wasser abgestellt?«

»Vorigen Mittwoch«, sagte Rudi.

»Gerda?«

»Bin hinter dir, Max.«

Pfeffer drehte sich um und runzelte die Stirn, als wäre ihm eben etwas eingefallen. »War die Leiche eigentlich nass? Lag sie eindeutig im Wasser?«

»Eindeutiger geht es nicht. Ich würde sogar sagen, dass sie längere Zeit im Wasser lag. Das Wasser ist so verdammt kalt, dass sich jedweder Verwesungsprozess stark verlangsamen muss. Selbst wenn das Wasser jetzt schon eine Woche nicht mehr kühlt, hier drunten ist es immer noch saukalt.«

»Gut, dann fällt meine Theorie, dass der Täter die Bachauskehr genutzt hat und trockenen Fußes reingekommen ist, um die Tote hier hinzulegen, flach.«

»Darf ich eine rauchen?«, fragte Mo und trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.

»Gute Idee«, sagte Dr. Gerda Pettenkofer. Sie zückte ihre Zigaretten und einen kleinen Taschenaschenbecher. »Auch eine, Max?«

»Ja, aber lass uns rausgehen, wenn wir hier fertig sind. Brauchen wir die Zeugen noch, Bella? Nein. Okay. Dann können Sie gehen. Wir melden uns bei Ihnen, wenn wir noch Fragen haben. Danke.«

»Süß, der Migrationshintergründler«, sagte die Rechtsmedizinerin, als sie aus dem Kanal ins Freie traten und gab Pfeffer Feuer.

»Süßer Migrationshintergründler? Wusste gar nicht, dass du auf öläugige Bubis stehst.«

Annabella Scholz lachte.

»Ich guck ja nur. Er ist ganz putzig, wenn man den hardcore-südländischen Typ mag.« Die Rechtsmedizinerin nahm einen tiefen Zug. »Tu nicht so, Maxl. Ich weiß, dass bei dir auch der exotische Typ Paarungsbereitschaft evoziert.«

»Was bei mir Paarungsbereitschaft auslöst, steht nicht zur Debatte und deine Hormonbooster interessieren mich, ganz im Vertrauen, werte Gerda, nicht die Bohne.«

Der Regen hatte aufgehört, stattdessen zog leichter Nebel auf. Die Abenddämmerung setzte ein.

Gerda Pettenkofer erklomm schwer schnaufend die Aluminiumleiter und stapfte durch das Gebüsch hinauf zur Pestalozzistraße. Zwei Altbauten in der Straße waren eingerüstet. Riesige Transparente kündeten von den »Wohnträumen in begehrter Lage«, die hier entstünden. Begehrte Lage. Pfeffer musste lachen. Die Gegend war früher mal ein echtes Glasscherbenviertel gewesen. Pfeffer kannte sich aus. Hier war er aufgewachsen. Zugegeben, nicht direkt hier im Glockenbachviertel, sondern ein paar Straßen weiter südlich im Schlachthofviertel. Aber das gesamte Areal der Isarvorstadt gehörte damals zu seinem Kiez, er kannte alle Gassen und Winkel. Damals beherrschten gewaltbereite Jugendbanden die Gegend, und Pfeffer hatte gelernt, sich zu prügeln. Er war nie davongelaufen. Er hatte seine blauen Augen und Blessuren mit Stolz getragen. Er erinnerte sich an den Baiersbrunner Schorschi, der besonders skrupellos die Jüngeren schikanierte und mit sadistischer Perfektion quälte. So wie damals, als Schorschi zwei seiner devoten Lakaien den jungen Pfeffer festhalten ließ, damit er ihm »die blöde Schlachthoffresse zur Schlachtplatte hauen« konnte, wie es der Schorschi ausdrückte. Damals hatte Pfeffer das erste Mal festgestellt, wie empfindlich Jungs im Genitalbereich sein können. Und da Max Pfeffer schnell und wendig war, bekamen nicht nur die beiden Lakaien seine Stiefel zu spüren, sondern auch der Schorschi. Dem Schorschi brach er dann noch die Nase. Danach ließen sie ihn in Ruhe. Der Schorschi hatte sogar versucht, sein Freund zu werden. Doch Max Pfeffer konnte sich beherrschen.

Damals gab es auch noch die billigsten Striplokale der Stadt im Viertel und den Straßenstrich an der Müllerstraße. Die Mieten waren ein Witz verglichen mit den begehrten Wohnlagen in Schwabing oder Haidhausen. Also kamen bald die Künstler, die Kreativen und mit ihnen die Schwulen. Das Schmuddelkind Isarvorstadt wurde langsam cool und hip. Lange Jahre stimmte der Mix aus Alt und Neu, aus schwul und hetero, aus Szene und Gerontologie. Den Begriff Glockenbachviertel kannten nur die Einheimischen und es war ein Bäh-Wort, dort wollte niemand zu Hause sein. Also sagte man entweder, man wohne im Gärtnerplatzviertel (schon erheblich besser) oder gleich in Thalkirchen (noch viel besser). Dann änderte sich alles. Die Kreativen zogen die Chichis nach sich, die schwule Partyszene zog das hetero Ballermannpack nach sich, die Immobilienpreise explodierten, die Mieten stiegen ins Obszöne, die erwachsen gewordenen Schlägertypen konnten sich ihren Kiez nicht mehr leisten und mussten an den Stadtrand ziehen. Statt verrosteter Toyotas oder Corsas eroberten SUVs und Mini Cooper die schmalen Straßen. Plötzlich gab es nur noch das Glockenbachviertel, vom Viktualienmarkt bis mitten hinein nach Sendling. Und die Schlachthofviertler reckten ihre Nasen noch etwas höher und beschlossen, dass sie von nun an im Dreimühlenviertel wohnten, weils schicker klingt. Gentrifizierung nannte sich das alles in Neudeutsch. Pfeffer hatte auf einem alten Volvo einen Aufkleber gesehen, den er sich unbedingt besorgen wollte: »Willkommen im Viertel, ihr Arschlöcher!« Dann musste er sich aber eingestehen, dass er mittlerweile selbst dank seiner Einkommensklasse den Lebensstil der Arschlöcher pflegte. ›Aber immerhin‹, so sagte er sich, ›habe ich eine andere Einstellung.‹ Er fuhr keinen SUV, mied Bioläden – hauptsächlich, weil Tim fürs Einkaufen zuständig war – und hatte keinen kreativen Job. Obwohl er sich seinen Job durchaus kreativ gestaltete.

»Wir sehen uns morgen im Büro, Bella«, sagte Max Pfeffer zu seiner Kollegin. »Dann machen wir uns auf die Suche nach vermissten alten Frauen und ihren Mördern.«

»Geht klar, Chef.« Die Hauptkommissarin verabschiedete sich und ging mit schnellen Schritten die Straße hinunter.

»Ihre erste Woche als Hauptkommissarin«, sagte Pfeffer und sah seiner Kollegin hinterher.

»Was?« Doktor Pettenkofer gab dem Kriminaler einen Schubs. »Sie ist befördert worden? Warum sagt mir keiner was? Ich hätte ihr gratuliert!«

»Ich muss da lang«, sagte Max Pfeffer.

»Und ich da.« Die Rechtsmedizinerin deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Begleitest du mich zum Auto?«

»Hast du Angst, alleine zu gehen?« Pfeffer schmunzelte. »Allein in München. Grusel. Noch dazu im Glockenbachviertel. Shiver!«

»Blödmann.« Die Rechtsmedizinerin zündete sich eine neue Zigarette an. »Dachte immer, du wärst ein Kavalier. Dann begleite ich dich eben zu deinem Auto, Maxl, schließlich sind wir im Glockenbachviertel, und schon mein Vater selig hat immer gesagt, dass man da als Mann mit dem Arsch zur Wand durch die Straßen laufen muss, damit man nicht ganz die Unschuld verliert.«

»Weiser Mann, dein Vater.« Pfeffer lachte.

»Ein Depp war er!«

»Oder so.«

»Wenigstens hast du jetzt bessere Laune. Sag, wo steht dein Wagen, Maxl? Ich begleite dich wirklich.«

»Mein Wagen steht nirgends. Ich bin gelaufen.«

»Echt?« Doktor Gerda Pettenkofer blieb abrupt stehen. »Von Obermenzing bis hierher?« Sie pfiff durch die Zähne.

»Nicht von Obermenzing. Ich wohne zurzeit hier ums Eck. Zurück in der alten Hood. Und ich bin ein Kavalier, die Dame. Ich begleite dich doch selbstverständlich.« Sie bummelten weiter die Pestalozzistraße hinunter, kamen an der Heilsarmee vorbei und steuerten auf den alten Suzuki-Geländewagen der Rechtsmedizinerin zu, der unter einer Laterne vor einem Tagescafé parkte.

»Oh, rausgeschmissen worden? Erzähl! Ich brauche mehr Details.« Die Rechtsmedizinerin sah den Kriminalrat sensationslüstern an.

»Es ist denkbar banal, Gerda-Hase. Wir haben beschlossen, die Bäder neu machen zu lassen. Na, eigentlich nur das obere Bad. Da die aber empfohlen haben, gleich das ganze Rohrsystem zu erneuern, haben wir uns dazu entschlossen, alle Bäder und Toiletten im Haus neu machen zu lassen. Ach ja, und die Küche. Da wurde seit der Erbauung nichts mehr gemacht. Alles original Zwanzigerjahre. Lauter Schrott. Kostet eine Stange und das ganze Haus ist eine Baustelle. Und wir sind alle ausgezogen. Na, eigentlich nur ich.«

»Ich sagte doch: mehr Details!« Sie waren längst neben dem alten japanischen Geländewagen der Rechtsmedizinerin angekommen, und Gerda Pettenkofer lehnte sich gegen die »Friseusenschleuder«, wie sie ihr Auto selbstironisch nannte.

»Cosmo hat Osterferien und ist auf Ibiza, angeblich fürs Abi lernen. Flo ist in England, und Tim hat ein dreiwöchiges Seminar bei einem Pharmariesen in Hamburg. Nur ich bin hiergeblieben. Einer muss ja die Bauarbeiten beaufsichtigen. Ich habe per Zufall hier um die Ecke eine Wohnung als Zwischenmieter bekommen. Kostet mich nur die Nebenkosten.«

»Echt? Wer ist so großzügig?«

»Severin Hemberger. Der Ex von meiner Ex. Na, streng genommen ist er nicht der Ex meiner Ex, sondern so was wie der Witwer meiner Ex. Sie waren nicht verheiratet, als sie starb. Aber zusammen, du verstehst?«

»Der Ex von deiner Exfrau bietet dir ein Dach über dem Kopf? Hat er jetzt das Ufer gewechselt?«

»Nö.« Pfeffer schlug den Jackenkragen hoch. Es war kalt, viel zu kalt für einen normalen Aprilabend. Aber was war in den letzten Jahren schon normales Wetter. Seit das Thema Klimaerwärmung in aller Munde war, hatte sich Pfeffer auf lange, heiße Sommer und milde Winter gefreut. Er war wetterabhängig, was seine Stimmung anging. Er brauchte Sonne und Wärme. Doch statt Sonne und Wärme waren die letzten Sommer desaströs verlaufen. Und auch ein richtiger Frühling ließ sich nicht mehr blicken. Meist klebte ein dichter grauer Deckel über der Stadt oder es regnete, und die Winterdepression wollte nicht aus Pfeffers Seele weichen. Kalter Nebel stand mittlerweile zwischen den Häusern.

»Der Ex von meiner Ex ist eigentlich ein ganz netter«, sagte Max Pfeffer. »Er hat meine Ex wirklich geliebt. So richtig mit allem drum und dran. Wie man es sich wohl nur wünschen kann, geliebt zu werden. Als sie dann gestorben ist, hat ihn das völlig aus der Bahn geworfen. Ebenfalls so richtig mit allem Drum und Dran. Klapsmühle, Psychopharmaka und so. Er musste seinen Weinladen aufgeben, Offenbarungseid, totale Pleite, und alles, was du dir an Drama vorstellen kannst. Er hartzt nun und fristet ein Hungerleiderdasein als freischaffender Künstler.«

»Und er vermietet also unter, um Geld zu verdienen?«

»Nein. Er hat eine Zweizimmerwohnung vorne in der Arndtstraße, die hat ihm sein Vater verschafft, der im selben Haus wohnt. Nun ist sein Vater wegen Schlaganfall für mehrere Wochen in der Reha, und dessen Wohnung steht leer. Neulich habe ich per Zufall mit Severin telefoniert, er erkundigt sich alle Jubeljahre mal nach den Kindern, weil er die Jungs echt mag, und da sind wir auf das Thema Badumbau gekommen etcetera, und er hat mir die Wohnung seines Vaters angeboten. Nun wohne ich vorübergehend in einer Wohnung, die nach altem Mann müffelt und die mit den schockierendsten Möbeln der Nachkriegszeit eingerichtet ist, die du dir vorstellen kannst.«

»Das möchte ich sehen.« Die Rechtsmedizinerin klatschte begeistert in die Hände. »Wann lädst du mich auf einen Kaffee ein?«

»Definitiv nicht jetzt. Machs gut, fahr vorsichtig und dann süße Träume.«

»Dir auch ’ne gute Nacht, Maxl.«

03

Pfeffer ging den Weg zurück. Der Leichenwagen fuhr eben weg. Pfeffer bog von der Pestalozzistraße in den kleinen Weg, der neben dem Bach durch die Grünanlage führt. Der Kriminalrat vergrub die Hände in den Taschen seiner Lederjacke, als er über den kleinen Steg ging, der über den Bach führt. Totensteg heißt der im Volksmund, weil er vom Glockenbachviertel zum Seiteneingang des alten Südfriedhofs führt. Die feuchte Kälte drang durch die Kleidung. Novembernebel im April. Zum Kotzen.

Zu der späten Stunde begegneten ihm nur wenige Menschen. Sie tauchten schemenhaft auf und verschwanden in der Suppe. Die meisten hatten es ziemlich eilig. Einer wankte bedenklich, eine Alkoholfahne wehte ihm noch lange nach, als er längst wieder im Nebel abgetaucht war. Eine Frau führte ihren Hund spazieren. Besser gesagt, sie wartete am anderen Ende der Leine darauf, dass ihr Köter seine Notdurft mitten auf den Gehsteig verrichtete.

Max Pfeffer verkniff sich einen Kommentar. Sein jüngster Sohn Florian hatte sich einmal einen Hund gewünscht. Der Bub hatte partout nicht verstehen wollen, warum sein Vater das so strikt ablehnte. Max Pfeffer mochte keine Hunde, weil er devote Wesen verabscheute. Und er fand schon immer die Situation ziemlich absurd, dass sich Menschen an ein Vieh leinen, darauf warten, bis es abkotet, und zuletzt, sofern sie auf ihre Mitbürger Rücksicht nehmen, auch noch die Scheiße in kleinen Plastikbeutelchen einsammeln.

Es war aber auch ziemlich absurd, dass alte Frauen zum Bündel verschnürt in einen Bach geworfen wurden.

Als Pfeffer an den Altglascontainern neben dem Jugendhaus der Caritas vorbeikam, hörte er ein Keuchen und ein Würgen. Er blieb unschlüssig stehen, sein Gastbett rief. Endlich schlafen und niemanden mehr sehen. Pfeffer beobachtete den Mann, der sich vornübergebeugt am Grünglascontainer festhielt und sich übergab.

»Kann ich Ihnen helfen?« Verdammtes Pflichtbewusstsein und ein immer noch nicht ganz überwundenes Helfersyndrom.

»Danke, geht schon«, murmelte der Mann am Container und richtete sich langsam auf. »Schon wieder okay.« Er wischte sich mit einem Taschentuch den Mund ab und drehte sich leicht wankend um. Die Blicke trafen sich.

»Max?«

»Severin? Was machst du denn für Sachen?«

»Sorry, Pfeffer.« Severin Hemberger richtete sich vollends auf und lächelte matt. »Manchmal finde ich mich eben selbst zum Kotzen.«

»Du solltest weniger trinken …«

»Ich trinke nicht genug! Spar dir deine Predigten für deine Kinder auf, Maximilian Pfeffer.« Es klang zu aggressiv, und Severin schickte schnell leise hinterher: »Tut mir leid. Du hast keine Ahnung von meinem Leben.«

»Okay. Aber ich glaube, ich bringe dich jetzt besser mal nach Hause.« Pfeffer streckte seine Hand aus, um Severin am Arm zu packen. »Wie praktisch, dass wir beide im selben Haus wohnen.«

Severin Hemberger, der seit dem tragischen Krebstod seiner Lebensgefährtin versuchte, sein Leben als durchaus talentierter, aber ebenso verkannter Künstler auf die Reihe zu bekommen, zog seinen Arm zurück. »Geht schon, Max. Ich bin nicht besoffen.«

»Was dann? Magen verdorben?«

»Du … Irgendwann erzähle ich dir mal ein wenig über mich, dann wirst du verstehen, warum mir von mir selbst schlecht wird«, sagte Severin Hemberger so betont geheimnisvoll, dass Pfeffer jegliches Interesse an der Geschichte verlor. »Komm, lass uns im Rumpler noch einen Absacker trinken. Ich brauch das jetzt. Und ich brauche … naja … Gesellschaft. Bitte.«

»Okay«, seufzte Pfeffer wenig begeistert. Scheiß Helfersyndrom. Er mochte Severin irgendwie, aber es reichte nicht, als dass man es eine Freundschaft nennen könnte. Sie hatten mal dieselbe Frau geliebt, mehr nicht. Max Pfeffer und Severin Hemberger waren beide virile, sehr maskuline Typen, aber sonst verband sie optisch nichts. Severin war ein großer Kerl, muskulös, breit. Pfeffer eher kleiner und drahtig. Severin war ein paar Jahre jünger als Pfeffer, sogar ein paar Jahre jünger als Pfeffers Exfrau. Seinem beginnenden Haarausfall begegnete er, indem er sich den Kopf rasierte. Trotz seines maskulinen Äußeren hatte er diesen scheuen Dackelblick, der überhaupt nicht zu ihm zu passen schien. Sie liefen schweigend die Straße hinunter auf die Wirtschaft am Eck zu, die schon seit gut und gerne einhundert Jahren existierte und damals wie heute Rumpler hieß. Vor der Eingangstür standen zwei Gestalten und rauchten. Als sie die Gaststube betraten, drehten sich die Köpfe der wenigen Gäste erwartungsvoll um. Weil jedoch niemand Aufregendes kam, widmete sich wieder jeder seinem Tisch- oder Tresennachbarn.

»Was treibt dich eigentlich zu so später Stunde in die Kälte einer Frühlingsnacht?«, fragte Severin, als sie am Tresen saßen und jeder ein schäumendes Bier vor sich hatte. »Amouren? Mal wieder ’ne kleine Tour durch Ochsengarten, Bau und Edelheiß? Marktwert checken?«

»Klar, hab nichts Besseres zu tun. Nein, Arbeit«, brummelte Pfeffer.

»Und?«, hakte Severin ungeduldig nach.

»Wie und?«

»Du hast Bereitschaft, du bist draußen, also musst du einen neuen Fall haben, oder?«

»Richtig.« Der Kriminalrat trank einen großen Schluck. »Es geht dich zwar nichts an, aber du wirst es eh morgen oder eher Montag in der Zeitung lesen. Nichts Großartiges … Eine alte Frau. Sie wurde heute bei der Bachauskehr tot im Kanalbett gefunden.«

»Ertrunken?«

»Mehr darf ich dir beim derzeitigen Stand der Ermittlungen nicht sagen.«

»Derzeitiger Stand der Ermittlungen.« Severin Hemberger zog die Augenbrauen spöttisch hoch und trank sein Bierglas in einem Zug leer. Weil die Bedienung vorbeikam, hob er sein leeres Glas und deutete wortlos darauf.

»Ich halte dich auf dem Laufenden. Jetzt erzähl mir lieber die wahnsinnig spannende Geschichte, warum du dich manchmal selbst zum Kotzen findest.«

»Ein andermal. So genau willst du es gar nicht wissen. Erzähl du mir lieber, was du für Unterhosen hast.«

»Gehts noch?« Pfeffer verschluckte sich fast an seinem Bier.

»Hast du so peinliche Liebestöter, ausgeleierter Feinripp mit Eingriff? Das wäre ideal.«

»Wofür? Stehst du auf Fetischspielchen?«

»Ich mache eine neue Porträtserie. Alle Bilder im gleichen Format. Lauter Männer in Unterhosen. Und ich möchte, dass du mir Modell sitzt. Dazu wäre es schön, wenn du eine weiße Feinripphose mit Eingriff trägst, denn die haben bisher alle Modelle gehabt. Viele Männer, eine Hose. Alle sitzen auf meinem roten Sofa.«

»Wahnsinnskonzept«, sagte Pfeffer sarkastisch. »Ich fühle mich zwar geehrt, wenn du mich malen willst, aber Feinripp mit Eingriff trage ich nicht mehr, seit ich mir selbst meine Unterhosen kaufe.«

»Okay, dann leihe ich dir eine.«

»Ich glaube nicht, dass ich deine Feinrippunterhosen mit Eingriff tragen möchte.«

»Die Alternative wäre ganz nackt und ich lege die Hose neben dich auf das Sofa. Überlegs dir. Ich würde mich freuen. Wirklich. Ernsthaft. Komm doch morgen nach Dienstschluss.«

»Schaugn ma amoi.«

»Dann seng ma scho«, ergänzte Severin.

04

Erster Espresso und erste Zigarette. Dann Joggen an der Isar mit Ella Fitzgerald im Ohr. Eine ungewohnte Strecke für Max Pfeffer, doch er fühlte sich an seine Jugend erinnert. Er wählte die für ihn kürzere Strecke. Am Rodenstock-Gelände vorbei, am Stadtbach entlang zum Flaucher, dann über den Flauchersteg auf die andere Isarseite und in den Isarauen zurück zur Reichenbachbrücke. Unterwegs ein paar Liegestütze und Sit-ups auf dem asphaltierten Radweg. Die Sonne war hervorgekommen, der Asphalt war leidlich warm. Zurück in der Gastwohnung erst rasieren, dann duschen. Kein Rasierwasser, das vertrug seine empfindliche Haut nicht. Und die üblichen Après-Balms rochen ihm zu üblich. Er nahm seinen Flakon Blenheim Bouquet, ein Spritzer links an den Hals, einen rechts, einen ans Brustbein. Das reichte. Dann die zweite Zigarette mit dem zweiten Espresso. Kurz mit Tim in Hamburg telefonieren und ihm einen schönen Tag wünschen.

Mit einem Handtuch um die Hüften wählte Max Pfeffer die Kleidung für den Tag. Ihm war nach Grau. Loriot kam ihm in den Sinn. ›Ein frisches Steingrau‹, dachte er sich und wählte den schmal geschnittenen mittelgrauen Anzug. Dazu ein schwarz-weiß kariertes Hemd, dessen Karos zu groß waren für den langweiligen Businesslook der ganzen Bürohengste und zu klein für derbe Holzfälleroptik. Max Pfeffer legte stets Wert darauf, gut und passend gekleidet zu sein. Meist eher sportlich, aber oft mit einem Hang zu maskuliner Eleganz. So wie es eben zu einem durchtrainierten Mann Anfang vierzig passte. Pfeffer wusste, was ihm stand und wie er seinen athletischen Körperbau vorteilhaft in Szene setzen konnte. Er war zu selbstkritisch, um sich sonderlich attraktiv zu finden. Aber er wusste um die Wirkung seiner kuscheligen braunen Teddyaugen, besonders bei Frauen.

»Der Beschreibung nach könnte es sich bei unserer Toten um Erna Kubelik handeln«, sagte Annabella Scholz und legte einen dünnen Aktendeckel auf Pfeffers Schreibtisch. »Rentnerin, dreiundsiebzig Jahre alt. Wohnte in dem Haus Ecke Pestalozzistraße und Holzplatz und wurde kurz nach Neujahr als vermisst gemeldet.«

»Verwandtschaft?« Pfeffer polierte seine chromblitzende Espressomaschine, die er vor einiger Zeit auf eigene Kosten fürs Büro angeschafft hatte. Als echter Koffeinjunkie konnte er einfach die langweilige Plörre, die aus der alten normalen Kaffeemaschine tröpfelte, nicht mehr trinken. Ein italienisches Luxusgerät für Gastronomieansprüche mit perfekter Crema. Sie war sein Heiligtum, das er liebevoll pflegte und jeden Tag polierte. Niemand außer ihm und Kollegin Annabella Scholz durfte es benutzen. Da die Maschine in seinem Büro stand und er als Kriminalrat über ein Einzelbüro verfügte, war sie sowieso nicht öffentlich zugänglich.

»Keine. Sie war alleinstehend, keine Kinder. Sie wurde von einer Sozialbetreuerin vermisst gemeldet. Eine gewisse Verena Klein. Die betreut ehrenamtlich alte Leute im Viertel. Einkäufe. Behördengänge etcetera. Das ist so ein soziales Projekt von der Kirche. Das Interessante daran ist, dass die Erna Kubelik noch ein weiteres Mal als vermisst gemeldet wurde, von einem gewissen Bertram Xylander. Cooler Name. Egal. Er hat sie bereits nach Weihnachten als vermisst gemeldet. Es gab also mehrere Menschen, denen sie abging.«

Max Pfeffer setzte sich in den Schreibtischstuhl und wippte ein wenig. »Weißt du, was mir durch den Kopf geht, Bella?« Er wartete keine Antwort ab. »Helene Schneider und Gisela Schlüter. Wir hatten in den letzten Monaten schon zwei ermordete alte Damen. Die Kubelik wäre unsere Nummer drei. Und bei keiner einzigen gibt es eine vernünftige Spur auf den oder die Täter. Gut, bei der Kubelik wissen wir es noch nicht.«

»Du glaubst, da besteht ein Zusammenhang?« Hauptkommissarin Scholz setzte sich auf die Schreibtischkante. »Räumlich sehe ich da keinen. Helene Schneider lebte in Giesing und … okay … Gisela Schlüter wohnte auch in der Isarvorstadt, Baaderstraße.«

»Ist nur so eine Idee«, sagte Pfeffer nachdenklich. »Die drei wurden der Spurenlage nach in ihren Wohnungen überfallen, ermordet und ausgeraubt. Zumindest fehlten Portemonnaies und Bargeld. Es gab in keinem einzigen Fall Einbruchspuren, also müssen die den Täter freiwillig in die Wohnung gelassen haben.« Er stand auf und holte die Unterlagen zu den beiden anderen Fällen. Er überflog die Protokolle und Zeugenaussagen. Max Pfeffer schlug die Aktendeckel zu. »Kein Nerv. Das mach ich später. Wohnungen nicht durchwühlt. Okay. Der Täter hat nur den Inhalt der Handtaschen geschnappt und ist sofort abgehauen. Keine vernünftigen Zeugenaussagen. Wenn ich mich recht erinnere, will bei der Schneider eine Nachbarin einen unbekannten jungen Mann gesehen haben, den sie aber nicht näher beschreiben kann. Südländischer Typ. Natürlich, was sonst. Und die Tochter von Helene Schneider hat ausgesagt, dass auch wertvoller Schmuck fehlt. Die anderen haben keine Verwandten, die etwas über fehlenden Schmuck oder andere Wertgegenstände sagen können. Allerdings haben wir bei der Schlüter ein wenig Schmuck gefunden. Und der war nicht mal gut versteckt. Der Täter hätte ihn leicht finden können. Seltsam. Wir haben also keine Ahnung, ob wirklich etwas fehlt, und wenn ja, was. Wann haben wir zuletzt bei den üblichen Verdächtigen nachgehakt, ob Schmuck aus unbekannter Quelle angeboten wurde?«

»Letzte Woche. Kein Ergebnis.«

»Dann hat es der Täter offenbar nicht eilig, den Schmuck von Helene Schneider sofort zu Geld zu machen. Er wartet ab. Oder er hat einen Abnehmer, den wir nicht kennen.«

»Oder er hat die Sachen schon längst irgendwo im Ausland vertickt.«

Pfeffer nickte. »Alles dürftig. Gut, vielleicht täusche ich mich auch, und es besteht keinerlei Zusammenhang zwischen den Taten. Widmen wir uns also der Erna Kubelik.«

»Verena?« Der junge Mann studierte immer noch interessiert die Ausweise, die Pfeffer und seine Kollegin hochhielten. Dann gab er den Weg in die Wohnung frei. »Nein, meine Freundin ist nicht da.« Mit einer Handbewegung forderte er die Kriminaler auf, ihm zu folgen. Sie betraten ein Wohn-/Arbeitszimmer mit riesigem Flachbildschirmfernseher, moderner Sitzecke und einem großen Arbeitstisch, auf dem sich Papiere stapelten sowie der größte Computerbildschirm stand, den Pfeffer je gesehen hatte. An den Wänden hingen gerahmte Poster, Werbung aus den Zwanzigerjahren.

»Herr …«

»Degenhardt, Alexander Degenhardt.«

»Herr Degenhardt …«

»Ich bin Grafiker«, fing der junge Mann unaufgefordert an zu erzählen und deutete auf den Schreibtisch. Seine Hände zitterten. »Freischaffend. Mein Büro. Und unser Wohnzimmer.« Er zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Ein richtiges Büro kann ich mir momentan nicht leisten. Die Auftragslage ist nicht gerade rosig. Und wir brauchen jeden Cent. Sie kennen ja die Mieten in München. Na, wird sich hoffentlich mal ändern, wenn Verena ihren Doktor hat.« Er hörte so unvermittelt auf zu reden, wie er begonnen hatte. »Ich weiß, ich labere zu viel. Entschuldigung. Meine Freundin ist in der Uni. Sie macht gerade ihre Dissertation und hat viel um die Ohren. Worum geht es denn?«

»Sagt Ihnen der Name Erna Kubelik etwas?«, fragte Pfeffer.

»Die alte Säuferin?« Alexander Degenhardt schmunzelte. »Klar sagt die mir was. Einer von Verenas Härtefällen. Hat ihre ganze Rente in Schnaps und Bier umgesetzt. Die konnte man im Sommer jeden Abend um die Häuser torkeln sehen. Und dann ihre Bude! Verena hat mich mal mitgenommen, weil ich ihr nicht glauben wollte, wie es bei der aussah. Also meiner Meinung nach am Rande des Messietums. Und gemüffelt hat es in der Wohnung. Entschuldigung. Ich rede zu viel … Sagt Verena auch immer. Was ist mit der Alten? Soweit ich mich erinnere, war Verena schon lange nicht mehr bei ihr. Sie wird, glaube ich, vermisst. Verena hat vor einigen Monaten mal so was gesagt. Verena war einigermaßen besorgt, dachte, sie sei in der Wohnung gestürzt oder so. Verena hatte den Schlüssel und wir sind zusammen hingegangen. Verena hatte Angst, alleine hinzugehen und dann am Ende über eine Leiche zu stolpern. Aber die Wohnung war leer. Also nicht leer im Sinne von leer. Das ganze Gerümpel stand noch herum. Es war halt niemand da.«

»Und?«