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Das Comeback des einstigen Weltstars Nives Marell steht unter schlechtem Vorzeichen: Im Gemüsebeet ihres Gartens wird ein Skelett gefunden. Man vermutet einen historischen Fund aus der Keltenzeit. Doch der Münchner Kriminalrat Max Pfeffer ahnt schnell, dass mehr dahintersteckt. Die Gebeine scheinen hervorragend zu einem lange zurückliegenden Vermisstenfall zu passen. Die bayrische Bilderbuchidylle des beschaulichen Wallfahrtsortes vor den Toren Münchens, in dem die fast vergessene Diva residiert, entpuppt sich schnell als reine Fassade. Würde die Schauspielerin für ihr geplantes Comeback am Münchner Residenztheater gar über Leichen gehen?
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Seitenzahl: 488
Veröffentlichungsjahr: 2016
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Martin Arz
Max Pfeffers 3. Fall
Martin Arz, geboren 1963 in Würzburg, schrieb als freier Autor für zahlreiche Magazine und arbeitete als PR-Berater, bevor er sich ganz der Malerei und dem Schreiben widmete. Im Januar 2004 erschien »Das geschenkte Mädchen«, der erste Pfeffer-Krimi aus der Feder von Martin Arz. Es folgten »Reine Nervensache«, »Die Knochennäherin«, »Pechwinkel«, »Westend 17« und »Geldsack«. Kriminalrat Pfeffer ermittelte außerdem im Frühjahr 2010 in Deutschlands erstem Twitter-Krimi »Der Tote vom Glockenbach«, der über Twitter publiziert wurde. Martin Arz veröffentlichte zudem mehrere Sachbücher über die Stadt, in der er lebt und arbeitet: München.
Pfeffer-Krimis im Hirschkäfer-Verlag:
Das geschenkte Mädchen Max Pfeffers 1. Fall
Reine Nervensache Max Pfeffers 2. Fall
Die Knochennäherin Max Pfeffers 3. Fall
Pechwinkel Max Pfeffers 4. Fall
Westend 17 Max Pfeffers 5. Fall
Geldsack Max Pfeffers 6. Fall
Handlung und Personen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Ereignissen oder Personen wäre rein zufällig.
E-Book-Ausgabe, Februar 2016
Cover und grafische Gestaltung von Hirschkäfer Design/Coriander P.
© Hirschkäfer Verlag, München 2016
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Verarbeitung in elektronischen Systemen.
E-Book-ISBN 978-3-940839-47-3
eBook-Herstellung und Auslieferung: HEROLD Auslieferung Service GmbHwww.herold-va.de
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01
Sie zitterte am ganzen Leib. Immer noch. Wie konnte sie es nur so weit kommen lassen? Es war ihre Schuld, ganz eindeutig, einzig und allein ihre Schuld. Sie wuchtete sich vom Bett auf und schlurfte schwer atmend ins Bad. Alles tat ihr weh. Sie verfluchte sich dafür, dass sie ihn immer noch liebte. Sie liebte ihn. Liebte sie ihn? Irgendwie jedenfalls. Sie blieb kurz stehen. Eigentlich hatte sie sich in der letzten Zeit nicht wirklich mit dieser Frage beschäftigt: Liebte sie ihn überhaupt noch?
Sie zog den gelben Nylonvorhang zur Seite und stieg in die Wanne, um sich zu duschen. Als sie den Vorhang zuzog und das Wasser aufdrehte, klebte sich der Vorhang sofort an ihre Beinen und der Hüfte. Sie seufzte und ließ das Wasser an sich herunterprasseln. Sich gegen den anschmiegsamen Vorhang zu wehren, war sinnlos. Auch ohne die Sogwirkung des heißen Dampfs würde der Vorhang an ihr pappen – einfach weil sie so enorm viel Körper hatte.
Fritz schaffte es immer wieder, dass sie in seinem Kosmos lebte, seine Spielchen mitmachte. Aber sie wollte keine Spielchen mehr spielen – raus aus seinem Kosmos.
Als Fritz das erste Mal diesen Namen, als er das erste Mal ›Viola‹ gekeucht hatte, da hatte sie blanke Wut überkommen. Sie hatte sich aufgebäumt wie ein bockendes Pferd, ihn von sich geschubst und sich dann auf ihn gewälzt. Da hatte sie ihn das erste Mal gewürgt. Ganz spontan. Er nannte es später eine ›Offenbarung‹. Nives war anfangs erschrocken darüber, dass es ihr Spaß gemacht hatte. Herrin über Leben und Tod sein. Seit damals stöhnte er immer wieder ›Viola‹, wenn er ES brauchte. Er benannte es nie, es war immer ES. Nives hatte allerdings einige Zeit gebraucht, um zu durchschauen, dass er nicht deshalb den Namen ihrer Nebenbuhlerin keuchte, weil er in Wirklichkeit Viola begehrte, während er mit Nives schlief. Für Fritz war es nur ein Spiel, sein Signal für den Wunschorgasmus mit Sauerstoffmangel.
Sie wusch sich die Haare und spülte das Schampoo gründlich aus. Dabei sah sie an sich hinunter. Wie widerlich fett sie war. Wütend drückte sie den klebenden Vorhang weg. Sie hasste diesen Körper. Alles ausschließlich für ihn. Nur weil er sie so üppig wollte. Sie hatte sich für ihn so fett gefressen. Wie schön sie einmal gewesen war … Männer, echte Männer hatten sich nach ihr verzehrt, hatten sich in Unkosten gestürzt, um sie zu beeindrucken … Nun, immerhin stürzte auch er sich immer noch in Unkosten, um sie zu beeindrucken. Das musste sie zugeben.
Nives drehte das Wasser ab und trocknete sich ab. Sie wickelte das große Badetuch um ihren Körper und verknotete es über der Brust. Auf dem Weg zurück ins Zimmer bürstete sie sich die nassen, blondierten Haare. Wie strohig sie waren, Spülung vergessen. Egal.
Ihr Blick fiel zufällig auf den Radiowecker. Ohne Kontaktlinsen konnte sie die Ziffern nicht deutlich erkennen. Mit zusammengekniffenen Augen erahnte sie, dass es kurz vor acht Uhr sein musste. Sie trat auf den Balkon hinaus und genoss die frühmorgendliche Hitze. Zwischen den Palmen und den üppig grünen Bäumen, deren Namen sie nicht kannte, sah sie hinunter auf den Strand. Wenig los in aller Herrgottsfrühe.
Das Hotel, das er für sie ausgesucht hatte, um dem Weihnachtstrubel zu entgehen, gefiel ihr. Es war ein tropisches Paradies, eine luxuriöse Anlage aus Pfahlhütten auf einer kleinen Halbinsel. Die Hütten erreichte man über Holzstege, die hoch über dem Boden liefen. Unten samtiges Grün, dichte Vegetation. Dazwischen Palmen und riesige Bäume, die angenehm Schatten spendeten. Ständig wuselten Gärtner durch die Anlage und sorgten für wohlgeordneten Wildwuchs. Nachts, wenn Tausende von Lichterketten in den Bäumen die Anlage in einen glitzernden Märchenwald verwandelten, wollte sie am liebsten die ganze Zeit nur über die Holzstege laufen und Atmosphäre tanken. Sie freute sich auch an diesem Morgen, dass sie noch eine der wenigen Hütten in Strandnähe mit direktem Meerblick bekommen hatten. Ihr Bungalow lag hoch über dem Erdboden, etliche Meter von den Felsen und dem Meer entfernt, und war vom Wasser durch einen üppigen Grüngürtel getrennt.
Nives atmete tief ein. Ihr Blick fiel auf den Mann, der unten am Strand stand und in die Ferne starrte. Das musste er sein. Er wollte vor dem Frühstück ein wenig schwimmen gehen. Sie erkannte zwar, dass der Mann wie Fritz eine blaue Badehose trug, auch die Statur stimmte – klein, untersetzt. Doch sie war sich nicht sicher. Nives ging zurück ins Zimmer und holte die Digitalvideokamera. Nicht ihr Weihnachtsgeschenk, sein jüngstes und liebstes Spielzeug, geballte Hightech sogar für Profiansprüche – nein, das Luxusgerät war für sie tabu. Sie hatte ihm hoch und heilig schwören müssen, dass sie die neue Kamera nicht anfassen würde. Sie nahm also die alte, die mit der niedrigen Auflösung und den seiner Meinung nach lächerlichen Pixeln. Auf dem Balkon klappte sie das Display zur Seite, hielt auf den Mann am Strand, der nun in Richtung Meer blickte. Nives kannte die wichtigsten Funktionen und zoomte so stark heran, wie es die Kamera zuließ. Ihre Hand zitterte, das Bild wackelte. Wo war noch mal der Knopf, der das Wackeln ausgleichen konnte?
Der Zoom half nicht wirklich. Vielleicht stand da Fritz, vielleicht auch nicht. Sie rief seinen Namen, obwohl sie wusste, dass er zu weit weg war, um sie zu hören. Sie rief und winkte. Keine Reaktion.
Dann ließ sie etwas aufhorchen. Sie konnte es nicht benennen und sah sich suchend um. Ein Tier? Ein Vogel?
Es war kein Geräusch, wie ihr plötzlich klar wurde. Es war das Fehlen von Geräuschen. Kein Tier, kein Vogel. Nichts. Absolute, fast greifbare Stille, sogar die Wellen schwiegen. Die Wellen!
Sie sah hinunter auf den Strand. Das war ihr so seltsam vorgekommen. Es gab keine Wellen. Es gab kein Wasser, es gab überhaupt kein Meer. Nur Sand, vom Strand bis zum Ende der Halbinsel, auf der ihr Hotel sich befand. Nives rieb sich ungläubig die Augen. Kein Zweifel, das Meer war weg, die komplette Bucht war leergelaufen. Sie drehte sich um und versuchte, durch die Bäume zu spähen, die den Blick auf den weiten Horizont gegenüber der Bucht verdeckten. Ganz weit hinten vermeinte sie das Glitzern des Wassers zu erkennen. Erneut richtete sie die Kamera auf den Mann, der vermutlich Fritz war, und drückte auf den »Record«-Knopf. Sie wollte es festhalten: Er am endlosen Strand ohne Wasser. Wie bizarr. Es würde ihm gefallen, wenn er später den Film sah.
Dann hörte sie es. Die Stille fand urplötzlich ein Ende. Ein dumpfes Grollen rollte aus der Ferne heran. Es steigerte sich von Sekunde zu Sekunde, eskalierte zu einem tosenden Crescendo. Nives sah vom Kameradisplay auf und blickte sich um. Für einen Moment fürchtete sie ein Erdbeben, doch der Hüttenbungalow stand still. Sie drehte den Kopf, als zwei dünnere Bäume krachend gegen die Brüstung ihrer Terrasse geschleudert wurden. Die Palmen und die größeren Bäume bogen sich bedrohlich, Zweige berührten den Holzboden der Terrasse.
Das Meer kam zurück.
Die Gischt spritzte zwischen den Holzbohlen des Terrassenbodens zu ihr hinauf, als sich das Wasser an den Felsen unter der Hütte rieb. Die Pfahlkonstruktion erhielt einen Stoß, der Nives schwanken ließ.
Eine gigantische Welle schob sich in die Bucht. Nives starrte in das Display der Videokamera und sah den Mann, der wohl Fritz war, in schäumendem Wasser verschwinden. Die Monsterwelle peitschte über den Strand, fraß sich in die beiden benachbarten Strandhotels und spülte über die Straße, bis sie an dem Hügel dahinter brach. Für einen kurzen Moment stoppte die Bewegung, die Oberfläche schien stillzustehen. Dann begann die Gegenbewegung. Das Wasser strömte zurück und riss alles mit sich, was nicht fest verankert war.
Nives stand breitbeinig da, hielt sich mit der Linken am Geländer fest und blieb mit dem rechten Zeigefinger wie festbetoniert auf dem Auslöser. Autos, Möbel, Bäume, Menschen – der Wassersog in ihrem Display nahm sich alles. Sie sah nur das Geschehen im kleinen Monitor, es hätte ein Film sein können, die Realität um sie herum schien so unendlich weit entfernt.
Erst als das Wasser komplett zurückgegangen war, hörte sie auf zu filmen. Sie ließ die Kamera sinken und stand da, unfähig zu begreifen, was eben passiert war. Langsam gaben ihre Knie nach. Sie sackte zusammen und stierte zwischen die Bohlen unter ihr. Sie erkannte die Fundamente der Bentonsäulen, auf denen der Bungalow ruhte. Sie erkannte das Bootswrack, das sich um einen der Pfeiler gewickelt hatte, sie erkannte die Plastik-und Stoffplanen, die sich zwischen dem abgerissenen Bäumen verfangen hatten, die zertrümmerten Strandliegen aus Holz oder Metall, und sie erkannte den leblosen Körper eines kleinen blonden Mädchens, die mit weit aufgerissenen Augen und seltsam verdrehten Kopf direkt unter ihren Füßen auf dem Felsen lag.
Nives öffnete den Mund, um zu schreien. Doch ihr Schrei blieb tonlos.
Das erneute Krachen, das Splittern von Holz riss sie aus ihrer Starre. Gerade noch rechtzeitig, um mühsam ihren Leib hochzustemmen und einer Palme auszuweichen, die von der zweiten gewaltigen Welle gegen die Terrassenbrüstung gedrückt wurde. Die Hütte erbebte, die Holzbrüstung splitterte.
Was, wenn die ganze Terrassenkonstruktion nachgab? Was, wenn der ganze Bungalow nachgab? Schließlich waren die Hütten nur Pfahlbauten, die sich an den Steilhang der Halbinsel kuschelten. Nives versuchte zur Tür zu hechten, doch ihr ungeheures Körpergewicht sorgte dafür, dass es ein Versuch blieb. Sie fiel der Länge nach hin. So schnell sie konnte, rappelte sie sich auf und krabbelte zur Tür. Sie erreichte die Tür in dem Moment, als das Tosen auch schon wieder aufhörte. Nives drehte sich um und sah, wie die zweite Welle über den Strand fegte. Da das Gehölz vor ihrer Terrasse nun gelichtet war, konnte Nives die ganze Bucht überblicken. Die Straße, die hinter den benachbarten Strandhotels hervorkam und als eine Art Strandpromenade den Sand von den Hotelkomplexen am Fuß der Hügelkette trennte, konnte sie nicht mehr ausmachen. Gurgelnde Strudel bohrten sich zwischen die Häuser. Wieder gab es einen ungeheuren Sog, als sich das Wasser zurückzog. Autos, Möbel, Bäume, Menschen, Boote, ganze Hütten schossen auf das offene Meer hinaus.
Fritz!, schoss es ihr durch den Kopf. Hatte sie ihn wirklich am Strand gesehen? Für einen Moment wünschte sie sich, dass er es gewesen war. Dann wäre er nun mit Sicherheit tot oder zumindest schwer verletzt. Keine der beiden Möglichkeiten erschreckte sie, wie sie feststellen musste. Im Gegenteil. Es würde vieles lösen und sie erlösen. Nives lächelte versonnen. Raus aus seinem Kosmos. Endgültig.
Die dritte, vergleichsweise harmlose Welle, die das Zerstörungswerk der Natur vollendete, riss sie aus ihren Gedanken. Nives bemerkte nun, dass die Klimaanlage nicht mehr funktionierte. Die Luft in der Hütte begann allmählich stickig und feucht zu dampfen. Nives entknotete das Badetuch und entwickelte eine hektische Betriebsamkeit, um ihre Panik herunterzuspielen. Sie schlüpfte schnell in ihren Badeanzug und wickelte sich das bunte Batiktuch, das sie erst vorgestern auf dem Nachtmarkt in Patong gekauft hatte, um die Hüften. Zuletzt setzte sie den Sonnenhut aus Stroh auf. Sie musste etwas tun, da draußen war eben das Unglaublichste passiert, das Schlimmste, Grauenhafteste … Etwas, wofür sie keine Worte fand und das sie nicht begreifen konnte.
Nives ließ sich schwer auf das Bett plumpsen und starrte ins Leere. Sie konnte nichts tun. Ob Fritz tot war, schien ihr plötzlich völlig unwichtig. Wie lange sie dasaß, wusste sie nicht. Es passierte häufiger, dass sie einfach so dasaß und vor sich hinstarrte.
Eine Stimme riss sie aus der Lethargie.
»Mann, hast du diesen Wahnsinn mitbekommen?!«
Fritz.
Er stand vor ihr, wie sie ihn vermeinte, am Strand gesehen zu haben: ein kleiner, untersetzter, stark behaarter Mann mit blauer Badehose und ungepflegtem Fusselbart. Nives’ Herz machte einen kleinen Hüpfer, ob vor Freude oder Enttäuschung, konnte sie nicht sagen.
»Die sagen, das war ein Tsunami. So eine Monsterwelle. Wusch, alles mitgenommen, das Scheißding!«
»Du … ich dachte, du …«, stammelte Nives tonlos.
»Was? Keine Sorge, mir ist nichts passiert.« Fritz kam zu ihr ans Bett, beugte sich hinunter und gab ihr einen Kuss auf den Mund. »Mich bringt so leicht nichts um.«
»Aber ich habe diesen Mann am Strand gesehen und gefilmt, der aussah wie du und dann die Welle …«
»Ich war gerade auf dem Weg nach oben, weißt schon, mitten auf der Holztreppe, die vom Strand zu den Hütten hochführt. Was für ein Wahnsinn! Ein Tsunami! Wow.« Fritz setzte sich neben sie aufs Bett. »Hey, ich könnte tatsächlich tot sein. Die Treppe hat es halb weggerissen.« Er grinste, als hätte er eine sensationelle Entdeckung gemacht. Dann sprang er auf. »Du hast den Tsunami gefilmt? Lass mich sehen.« Er schnappte sich aufgeregt die alte Kamera und sah sich ihre Aufnahme an. »Wow. Der sieht wirklich fast aus wie ich. Wahnsinn, das Wasser!«
Sie hasste es, wenn er »wow« sagte, als wären sie noch Teenager. Ein Mann, der bald sechzig wurde und wow – lächerlich. Ebenso lächerlich fand sie, dass er, nachdem er sein Double auf dem kleinen Display im Inferno verschwinden gesehen hatte, sofort mit ihr schlafen wollte.
Das tote Mädchen! Nives schreckte vom Bett hoch. Und was, wenn noch mehr Wellen kämen, Wellen, die am Ende ihre Hütte mitreißen würden? Sie rappelte sich auf und ging auf die Terrasse. Vorsichtig spähte sie zwischen den Lücken im Holzboden hinunter. Sie sah jede Menge Schrott, Holz, Planen, Kanister und Kleidung – aber kein Mädchen. Auch keine andere Leiche. Schnell richtete sie sich wieder auf. Nur nicht zu genau hinsehen, am Ende würde sie doch etwas entdecken, was sie nicht entdecken wollte.
Der Boden unter ihren Füßen knarrte, als sie das Gewicht verlagerte. Panik überkam sie. Nichts wie zurück ins sichere Zimmer.
Der kleine Elefant stand regungslos und mutterseelenallein am Strand, als sei er eine Statue. Nur das Wedeln seiner Ohren verriet, dass das Tier noch lebte. Nives erkannte es. Ein alter Mann war mit dem Elefäntchen, dessen Rückenhöhe ihr gerade bis zur Schulter reichte, nachts durch die Lokale der Umgebung gezogen, Touristen konnten sich mit dem Tier fotografieren lassen, es mit Bananen füttern, streicheln, bedauern und versuchen, ihm die drahtigen Haare auf dem Kopf auszureißen, die auf den ersten Blick wie Flausch aussahen. Nun schenkte niemand dem Elefanten Beachtung. Dabei war das Tier rot, ziegelrot.
Fritz spielte schon die ganze Zeit mit der Videokamera herum. Es nervte Nives endlos, gleichzeitig wunderte sie sich, dass er nicht die neue Luxuskamera mitgenommen hatte, sondern das alte Ding.
Wie die anderen Überlebenden waren sie stundenlang am Strand herumgeirrt. Stunde um Stunde, auf und ab. Nives, fassungslos und unfähig zu sprechen, allen Blicken ausweichend, jede Begegnung mit anderen Menschen panisch meidend. Fritz, aufgeregt wie ein kleines Kind, alles filmend, alles kommentierend. Er fasste jeden Müll an und las (in seinen Augen) interessante Teile auf, betrachtete diese eingehend und warf sie anschließend wieder weg. Das Ausmaß der Zerstörung schien ihn völlig kaltzulassen. Nives fand keine Worte, um ihre Gefühle auszudrücken. Das viele Laufen, ihr eigenes Gewicht so ungewohnt lange auf den Beinen zu halten, hatte sie komplett ermüdet. Dennoch steuerte sie auf den kleinen roten Elefanten zu, der zwischen den Trümmern zahlloser Strandliegen stand.
»Komm her, kleiner Racker«, sagte sie leise und streckte die Hand aus. Sie betastete seine rote Haut. Es war Farbe, vermutlich Wandfarbe. Er war nicht vollkommen rot, eher wie eine buntscheckige Kuh gefärbt. Nives vermutete, dass das Tier von einem oder mehreren Eimern Farbe getroffen worden war. Vielleicht hatte es vor der Welle in einem Schuppen Zuflucht gesucht, in dem jemand Farbe aufbewahrte. Sicher konnte man es mit Wasser abschrubben. Das Elefäntchen löste sich aus seiner Starre und machte ein paar unsichere Schritte auf Nives zu. Es hob den Rüssel und schlang die Spitze um ihre ausgestreckte Hand. Sie führte das Tier ins flache Wasser. Rings um sie herum fischten Menschen Trümmer aus dem Meer, thailändische Soldaten und ein paar Mönche in orangen Wickelgewändern hatten begonnen, Leichen aus dem Wasser zu bergen. Einige Touristen in quietschbunten Shorts halfen ihnen wortlos. Da, wo vorher die Strandpromenade entlanggeführt hatte, warteten nun zwei Pritschenwagen, auf denen Helfer die Toten stapelten.
Im seichten Wasser stand Nives Marell, die die Umgebung ausblendete und mit bloßen Händen an einem roten Elefäntchen herumschrubbte. Die Farbschicht warf Falten und bekam mit jeder Bewegung des Tiers mehr und mehr Risse, sie ließ sich jedoch nicht richtig abwaschen. Nives hielt inne, weil ihr der Gedanke, der sich in ihr Hirn schlich, so absurd und doch so real vorkam: Alles eine Inszenierung. Hollywood drehte den Katastrophenfilm des Jahrhunderts mit gigantischen Spezialeffekten. Sie hob den Kopf und sah sich um.
Und Action!
Plötzlich kam ihr die Szenerie erträglicher vor.
Irgendwann gab Nives auf, packte das Elefäntchen am Rüssel und zog es zurück zum Strand. Sie sah sich nach Fritz um, der auf einem umgestürzten Palmstrunk saß und ins Display starrte. Er filmte sie, sie hasste ihn dafür und zeigte es ihm, indem sie die Kamera gewaltsam wegdrehte, bevor sie sich erschöpft neben ihm niederließ.
Unvermittelt sagte Fritz: »Wow, was für ein grandioses Schauspiel! Was für eine Inszenierung!«
Nives schlug ihm wortlos ins Gesicht. Einmal, zweimal. Der Elefant nickte mit dem Kopf.
»Du verstehst wieder mal gar nichts!«, schrie er sie an und rieb sich die Wange. »Weißt du, was Stockhausen gesagt hat, als er die Bilder vom 11. September im Fernsehen gesehen hatte? ›Was da geschehen ist, ist natürlich – jetzt müssen Sie alle Ihr Gehirn umstellen – das größte Kunstwerk, was es je gegeben hat.‹ «
»Diesen bodenlosen Unsinn kannst du auswendig referieren?« Nives konnte und wollte diese Art des Denkens nicht begreifen. Nur Fritz, der hatte sich schon damals mit Verve auf die Seite Stockhausens gestellt. Zum Glück geschah dies in einer Zeit, als die Medien sich für Fritz Roloff kaum noch interessiert hatten, als seine Karriere nach zwei grandiosen, millionenschweren Flops am Ende schien.
»Das ist kein Unsinn! Nur weil die Welt aus lauter Debilen besteht, die nichts kapieren, die keinen Sinn für die Schönheit der Katastrophe haben, ist es noch lange kein Unsinn. Der Anschlag auf das World Trade Center war das größte Kunstwerk aller Zeiten – bis das hier passierte!« Er machte eine weit ausholende Geste. »Und ich bin dabei! Was für eine Inszenierung!«
»Ich möchte mit dir diesen hanebüchenen Blödsinn nicht ernsthaft diskutieren«, sagte Nives leise und bestimmt. »Ein Ton mehr und ich bin weg. Für immer.« Sie schrubbte dem Elefäntchen kräftig über den Rüssel und pulte mit den Fingernägeln etwas Farbe ab.
Zu ihrer Überraschung schwieg er tatsächlich und sah sich zum x-ten Mal die Welle an, die seinen Doppelgänger verschlungen hatte. Stop, rewind, play, stop, rewind, play …
»Was, wenn ich das da wäre«, fragte er dann wie nebenbei und kratzte sich am Bart. »Was, wenn ich tot wäre?«
»Du bist es aber nicht.« Nives seufzte.
»Man würde es glauben, wenn man diese Bilder hier sehen würde. Stell dir mal vor, ich könnte abtauchen. Untertauchen. Eine neue Existenz aufbauen. Den Beweis für meinen Tod könnte man …«
»Hör auf!«, rief sie. »Bist du so krank? Warst du schon immer so krank?!«
»Nur so als Spaß, verstehst du nicht, Maus? Für eine Woche oder zwei. Du zeigst den Film. Lass mich tot sein. Und dann tauche ich wieder auf. Was für eine Publicity für unseren nächsten Film! Wahnsinn, das ist überhaupt die Idee! Wenn im März die Dreharbeiten beginnen, haben wir im Vorfeld jede Menge Medienpräsenz. Du machst den Anfang und trauerst öffentlichkeitswirksam um mich …« Er brach ab und setzte sich seine Sonnenbrille auf. »Was ist das denn für ein Elefant?«
Nives starrte ihn an. Die Frage, ob sie ihn liebte, fiel ihr wieder ein. Nun wusste sie die Antwort.
»Das öffentliche Trauern für die Kameras kann Viola sicher besser als ich«, sagte sie dann kühl. Sein neuer Film! Sie könnte wieder die Wände hochgehen. Nach Jahren hatte er endlich einen Produzenten gefunden, der das Wagnis eingehen wollte, einen neuen Fritz Roloff-Film zu finanzieren. Nach den letzten Roloff-Flops grenzte das an ein Wunder. Und Nives Marell sollte wie in guten alten Zeiten die Hauptrolle spielen. Und ganz wie in alten Zeiten sollte sie auch mindestens eine Nacktszene sowie eine Bettszene haben. Sie, als fette alte Frau. Ihre Proteste waren ungehört verhallt.
»Schau dir Altmanns ›Prêt-à-porter‹ an«, hatte Fritz sie angeschnauzt. »Da haben Sophia Loren und Marcello Mastroianni eine zischend heiße Bettszene. Okay, Marcello schläft dabei ein, aber Sophia ist sensationell. Sie ist sechzig, und es ist keine Sekunde lächerlich!«
»Sophia Loren ist auch kein Wal!«, hatte sie zurückgegiftet.
»Vielleicht sollte ich Sophia fragen, ob sie die Rolle spielen will.«
»Bitte! Nur zu.«
Seit Fritz den Produzenten gefunden hatte – eben erst zwei Monate her –, hatte Nives mit einer heimlichen Abmagerungskur begonnen. Sie wollte nicht als nackter Freak auftreten, also hungerte sie so, dass er es nicht merkte, denn er wollte die Freakshow. Ein schwieriges Unterfangen, aber immerhin hatte sie schon fünf Kilo geschafft. Noch fiel es niemandem außer ihr auf.
Ein älterer Mann mit beiger Shorts und labbrigem weißen Unterhemd, das am Bauch spannte und gleichzeitig die schlaffe Brust freiließ, blieb stehen und starrte Nives an. Dann schwirrte sein Blick zu dem ziegelroten Elefäntchen und wieder zurück. Er näherte sich zögernd und lächelte. An der linken Hand zerrte er einen kleinen Thaijungen hinter sich her. Das Kind, das höchsten zehn Jahre alt sein mochte, blickte mit toten Augen auf seine Füße, dann in Nives’ Augen, dann wieder auf die Füße.
»You are Nives Marell, right?«, fragte der Mann mit leiser Stimme. Er sagte »Näivis Märell«.
Nives nickte.
»I’m Geoff from Boston. I recognized your eyes! Your beautiful eyes.« Der Mann strahlte und schüttelte ihre Hand mit beiden Händen, dabei ließ er den Thaiboy nicht los. Er zerdrückte fast die Hand des Knaben zwischen seiner und Nives’. Nives spürte die zarte Kinderhaut auf ihrem Handrücken und fühlte sich unangenehm berührt.
Ihre Augen. Die berühmten türkisen Katzenaugen der Nives Marell – früher hatte man sie deswegen mit der jungen Simone Signoret verglichen.
»I’m your biggest fan! Really, believe me.« Geoff aus Boston strahlte sie an. »I’ve seen all your movies, all of them. All, all. Even those old German ones. I’m your biggest fan. Never dared to dream meeting you … specially in this … this dramatic circumstances …«
»Ja, danke, äh, thank you so much, Geoff. Yes, it’s a catastrophe! I’m shattered. « Wie lange sie schon keinen Small Talk mehr mit Fans hatte machen müssen, noch dazu auf Englisch. Es war so ewig lange her, dass sie völlig aus der Übung war. Sie starrte auf den Jungen und versuchte sich nicht auszumalen, durch welche Hölle er ging. Sie blickte zu dem Mann auf und unterdrückte ein kleines Schluchzen. Sie nahm ihre Sonnebrille und setzte sie so demonstrativ auf, dass der Mann die kleine Träne, die sie zustande brachte, noch erkennen konnte. »Ich bin … fassungslos, I am stunned, speachless.« Sie spielte gut. Als wäre ein Schalter umgelegt worden, fand sie in ihre Rolle. Sie konnte es immer noch. »Excuse me, Geoff, but I …« Sie machte eine unbestimmte Handbewegung und biss sich auf die bebende Unterlippe.
»I see.« Der Mann schüttelte ihr noch einmal die Hand. »I’m so sorry. I didn’t want to disturb. I’m so sorry. If I can do anything for you, let me know. You’ve still got your hotel room?«
Nives Marell nickte mit zusammengekniffenen Lippen, brachte ein schiefes Lächeln zustande und ließ ihre Hand zu Fritz wandern. Sie tätschelte seinen Oberschenkel. Fritz nahm ihre Hand und drückte sie fest. Geoff aus Boston grinste unsicher, verabschiedete sich und zog schließlich den Thaijungen hinter sich her.
»Those old German ones. Der Arsch. Die sind von mir, those old German ones. Du bist aber immer noch scheißgut, Nives Marell. Ich sage doch, unser nächster Film wird wieder ein Knaller«, sagte Fritz Roloff grinsend. »Er hat mich übrigens nicht erkannt.«
»Da kannst du dir bei einem Amerikaner was drauf einbilden. Mit diesem Fusselbart und der riesen Sonnenbrille erkennt dich sowieso keiner. Mich hingegen erkennt man seit Jahren nur noch an meinen Augen! Ich war mal schön.«
»Du bist noch schön, Maus. Für mich.«
»Ich will für niemanden schön sein, der Katastrophen schön findet!«
Fritz brach in schallendes Gelächter aus.
Nives Marell stand von dem Palmstrunk auf, zog das Elefäntchen am rechten Ohr und sagte im Weggehen: »Fick dich, Fritz Roloff, fick dich doch einfach.«
»Bleib hier, du blöde Kuh.« Fritz sprang auf und lief hinter ihr her. Er packte ihr Handgelenk.
»Lass mich los. Ich rufe jetzt Rocco an. In Deutschland müsste jetzt Tag sein. Vielleicht hat er auch schon versucht, mich zu erreichen«, sagte Nives und legte ihre Handtasche auf den Rücken des kleinen Elefanten. Sie wühlte umständlich darin herum, bis sie das gesuchte Mobiltelefon endlich zu Tage förderte. Es war noch ausgeschaltet.
»Nix wirst du!« Fritz entriss ihr das Handy.
»Gib es her. Rocco wird sich Sorgen machen. Alle werden sich Sorgen machen! Das ist bestimmt längst auch in Deutschland in den Nachrichten. Die Toten hier, das wird auch bei uns eine Nachricht sein! Wenn es stimmt, dass nicht nur die Bucht hier, sondern die ganze Insel betroffen ist …«
»Sollen sie sich doch Sorgen machen! Lass sie ein wenig zappeln.« Fritz schleuderte ihr Mobiltelefon in weitem Bogen quer über den Strand ins Meer.
Nives bebte vor Zorn und krallte ihre Finger in den Nacken des kleinen Elefanten. »Du bist ein Schwein, Fritz Roloff, ein erbärmliches Schwein.«
»Und? Deshalb liebst du mich doch, oder?«
Als sie den Mund aufmachte, um ihm zu antworten, kam ein Klingeln dazwischen. Ein Klingeln aus ihrer Tasche. Sie wühlte erneut und zog nach einer Weile ein zweites Handy hervor. Fritz’ Handy. Er warf gerne seine Sachen in ihre Handtasche: Schlüssel, Papiere, Telefone, Drehbücher, Post, MP3-Player, Filofax et cetera, damit er Platz für seine Hände in den Hosentaschen hatte. Einmal hatte sie sich über das Gewicht ihrer Tasche gewundert und festgestellt, dass er sein Notebook in ihre Tasche gesteckt hatte. Sie hatte es herausgeholt und vor seine Füße geschleudert. Zu ihrer beider Überraschung war es heil geblieben.
Das Display des Mobiltelefons zeigte ›Viola privat‹ an. Natürlich, sie hatte es immer gewusst. Die Geschichte mit Viola war entgegen seiner Beteuerungen keineswegs beendet. Nives fixierte Fritz, der sie abschätzig ansah. Sein Blick sagte ›Trau dich!‹.
»Gib her«, sagte er dann und griff nach dem Telefon.
Nives drehte sich abrupt weg, drückte die grüne Taste, hielt sich das Telefon ans Ohr und sagte laut: »Hallo?«
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz irritiertes Schweigen. Dann sagte die Frauenstimme: »Hallo, hier ist Viola. Nives, Liebes, bist du das? Was für eine Frage, natürlich bist du das. Du, ich habe eben in den Morgennachrichten … nun, bei euch scheint etwas passiert zu sein … diese Monsterwelle …«
»Richtig«, unterbrach Nives. »Eine Monsterwelle. Eine Katastrophe. Angeblich soll es ganz Phuket erwischt haben.«
»Phuket? Nives, Liebes, die Welle ist bis nach Afrika geschwappt! Halb Thailand, Indien, Sri Lanka – angeblich alles zerstört! Die Seychellen sollen komplett unter Wasser sein! Es gibt aber noch kaum Bilder.«
Nives brauchte einen Moment, um die Neuigkeiten zu verdauen. »Alles zerstört«, wiederholte sie tonlos, und ihr Hirn spielte Karussell. Langsam kristallisierte sich ein Gedanke aus dem Strudel. Fritz wollte seine Inszenierung, sie würde wieder seine Spielchen mitmachen. Auch wegen dieser Viola.
»Hallo, Nives?«, kam es aus dem Hörer.
»Ja, alles kaputt hier, so viele Leichen.« Nives schluchzte kurz und sah dabei mit kalten Augen zu Fritz hinüber, der schmunzelte. Nives Marell begann zu spielen. »Du kannst es dir nicht vorstellen, Viola, Liebes. Es ist so … so … grauenvoll …« Sie brach in Schluchzen aus. Fritz applaudierte ihr pantomimisch. »All die Toten, all das Leid! Und dann der arme kleine Elefant …«, stammelte sie stakkatoartig.
»Nives, Schätzchen.« Viola schien deutlich mitgenommen und vor allem durch die Erwähnung eines kleinen Elefanten schwer irritiert. »Sicher, auch die Tiere … Ich wusste nicht, dass es so schlimm ist. Was ist mit Fritz … mit euch, meine ich! Was ist mit euch?«
»Ich weiß nicht, was mit Fritz ist. Unser Hotel …«, log Nives mit bebender Stimme und machte eine Pause. Sie wollte nicht gleich zu viel bieten. Erst abwarten, was Viola wollte, was sie im Fernsehen gesehen hatte.
»Was soll das heißen?« Violas Stimme schrillte panisch durch das Handy. »Ich habe eben im Internet recherchiert, und euer Hotel ist nicht vom Tsunami betroffen. Das haben die da geschrieben! Euer Hotel ist nicht betroffen!« Die Stimme überschlug sich. »Das schreiben sie auf der Hotelwebsite. Nur eine Notiz: Don’t worry about our guests. The hotel is still standing. More news soon. Vor einer halben Stunde aktualisiert. Ich war eben noch online. Du lügst doch.«
»Viola, Liebes. Beruhige dich.« Nives biss sich auf die Lippe. »Ja, es stimmt, dass unser Hotel verschont wurde. Ich selbst war im Bungalow, als es passierte. Die Welle hat uns nicht erreicht. Aber Fritz … nun, er wollte an den Strand gehen. Fünf Minuten bevor es passierte. Er wollte schwimmen, du weißt doch, wie gerne er früh schwimmen geht.«
»Nein! Das weiß ich nicht.«
»Dann weißt du es eben jetzt. Ich habe auf der Terrasse gestanden und ihn am Strand gesehen, als die Welle kam. Er war auf einmal nicht mehr da. Verstehst du, Viola?« Sie weinte überzeugend, zumindest für eine Ohrenzeugin im fernen Deutschland, denn ihre Augen blieben trocken.
»Wie nicht mehr da?« Violas Stimme war nur ein fernes Flüstern.
»Nicht mehr da. Als die Welle zurückging, war er nicht mehr da. Mehr kann ich dir nicht sagen. Ich laufe den Strand auf und ab und rufe ihn … aber … Fritz, rufe ich, Fritz!« Ihre Stimme schallte über den Strand. Sie übertrieb, das merkte sie selbst. Unnötig, dass Fritz ihr Handzeichen gab, weniger dick aufzutragen.
»Dann geh noch mal!«, herrschte Viola sie an. »Such ihn.«
»Viola, Liebes, wir sollten nicht unnötig die Akkuleistung verschwenden. Ich melde mich, sobald ich etwas Neues weiß.« Nives legte schnell auf.
»Du bist klasse«, sagte Fritz und küsste sie auf den Mund. »Siehst du, das war der erste Schritt zu meinem Verschwinden. Den nächsten planen wir jetzt. Bald bin ich mausetot!«
»Ja, bald bist du mausetot, Fritz Roloff. Plan, was du willst. Ich rufe Rocco an, damit er weiß, dass es uns … dass es mir gut geht.«
02
Jahre später
»Sehen Sie, Frau Staubwasser«, sagte Maximilian Pfeffer und dehnte seinen linken Arm, während er mit der rechten Hand seinen piepsenden Piepser vom Gürtel nahm und auf das Display schaute. Das Armstrecken tat gut, er spürte einen leichten Muskelkater im Trizeps. In den letzten Wochen hatte er das Hanteltraining schleifen lassen. Warum, wusste er selbst nicht genau, denn er mochte seine Trizeps, seine Lieblingsmuskeln, auf deren perfekte Definition er sonst genau achtete. Nicht der prollige Bizeps, den die meisten Männer hingebungsvoll aufpumpten – in Pfeffers Augen weit überschätzt. Einen schönen, gut modellierten Arm machte der Trizeps aus. Wie ein kleines Mäuslein huschte der Strecker unter der Haut und machte der Herkunft des Wortes Muskel nach Pfeffers Ansicht am meisten Ehre. Mus, die Maus, musculus, das Mäuschen – so viel wusste er noch aus dem Lateinunterricht. Gestern war ihm die Vernachlässigung aufgefallen, und dann hatte er es übertrieben. Pfeffer genoss das Ziehen im Muskel, ein angenehm kleiner Schmerz, der Lebendigkeit signalisierte.
»Sehen Sie«, fuhr er dann fort und hielt den Piepser hoch, »genau aus diesem Grund kann ich nicht am Schreibtisch bleiben und das tun, was ein Mann in meiner Position tun sollte, wie Sie es durchaus richtig ausdrücken. Ich muss Bereitschaftsdienst machen und mit den Kollegen vor Ort ermitteln, weil es einfach zu wenig Kollegen gibt!«
»Kollege Pfeffer.« Die Kriminaldirektorin Jutta Staubwasser lächelte. »Wir wissen beide nur zu genau, dass Sie auch zu Zeiten, in denen wir personell besser aufgestellt waren, immer wieder Ermittlungsarbeit gemacht haben, die Sie rangniederen Kollegen hätten überlassen können.«
Pfeffer streckte möglichst unauffällig auch den rechten Arm. Der wohlige Schmerz im Trizeps ließ ihn für einen Sekundenbruchteil die Augen genussvoll schließen. »Ich sage nur, dass wir völlig unterbesetzt sind. Wir haben momentan drei ungeklärte Todesfälle. Und wenn ich mich nicht täusche, kam eben ein vierter herein.« Er hob den Piepser. »Man braucht mich. Entschuldigen Sie mich bitte für einen Moment. Darf ich?« Er beugte sich vor, um das Telefon vom Schreibtisch seiner Vorgesetzten zu angeln.
Jutta Staubwassers Nicken genehmigte das Telefonat. Während Max Pfeffer sein Gespräch führte, beobachtete sie ihn. Keine Frage, sie schätzte ihn als einen ihrer fähigsten Mitarbeiter. Auch wenn sie ihn einfach nicht von der Straße bringen konnte. Als Kriminalrat sollte Max Pfeffer in ihren Augen die Ermittlungen vor Ort den Kommissaren überlassen. Schon oft hatten sie darüber gesprochen. Er hielt sich nicht daran. Immer fand er eine Ausrede, warum er am Tatort sein musste, warum er Verhöre führen musste
– kurz, warum er nicht am Schreibtisch sitzen konnte.
In der gegenwärtigen Situation brachte er sie allerdings in die Defensive. Er hatte recht: Sie waren absolut unterbesetzt. Seitdem Pfeffers bester Mitarbeiter Kriminalhauptkommissar Paul Freudensprung zum LKA gewechselt hatte und aufgrund der Pensionierung eines anderen Kollegen waren zwei Stellen vorübergehend unbesetzt. Dazu noch mehrere Krankenstände. Es gab keinen Zweifel für Jutta Staubwasser, dass Pfeffer beim nächsten Fall wieder auf der Straße unterwegs sein würde. Er war ein Spürhund, kein Aktenhengst. Außerdem war er bei den meisten Kollegen beliebt und ein guter Chef. Kein eitler Karrierist wie manch anderer. Einer, der zu seinen Leuten stand und sich im Zweifelsfall nie scheute, eigene Fehler zuzugeben. Außerdem neigte er beizeiten zu unorthodoxen Methoden und schrägen Denkweisen, was sie schätzte. Und sie mochte seinen Humor.
Dass er dazu auch noch gut aussah, zumindest in den Augen zahlloser Kolleginnen, konnte Jutta Staubwasser zwar im objektiven, aber nicht im subjektiven Sinn bestätigen. Er war nicht ihr Typ – abgesehen davon, dass er nicht besonders hochgewachsen war. Sie bewertete Menschen sowieso nicht nur nach Äußerlichkeiten und hatte sich einst ihren Ehemann auch nicht wegen seiner Optik ausgesucht. Jutta Staubwasser war so erzogen worden, dass Männer und äußere Attraktivität nicht zwingend etwas gemein hatten. Sie hatte wirklich kein Auge für schlanke, durchtrainierte Männer in den besten Jahren wie Pfeffer. Sie stand auch nicht auf seine grauen Haare, die ihm ein so undefinierbar altersloses Aussehen gaben, weil sie in interessantem Kontrast zu seinem faltenfreien Gesicht mit dem markanten Kinn standen.
Ebenfalls war es ihr herzlich egal, ob man auf seinen Po Nüsse knacken konnte, was neulich ein paar Kolleginnen vermuteten. Nicht wirklich Kolleginnen, es waren drei Sekretärinnen gewesen, in der Essensausgabeschlange in der Kantine vor Jutta Staubwasser. Sie hatten Maximilian Pfeffer beobachtet, der sich bückte, weil sein Messer vom Tablett gerutscht war. »Da kannste Walnüsse drauf knacken«, hatte die eine mit einem gutturalen Gurren gesagt, was keinen Zweifel daran ließ, dass sie das am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte. Die anderen hatten sich nur mit weit aufgerissenen Augen angeschaut und dann wie Schulmädchen losgekichert. Eine hatte noch halblaut »Zwanzig Euro, wenn du dich traust« geflüstert und einen Heiterkeitssturm heraufbeschworen, der sich noch nicht gelegt hatte, als die Gruppe an der Kasse zahlte. ›Erwachsene Frauen!‹, war es Jutta Staubwasser damals durch den Kopf geschossen, und sie hatte missbilligend den Kopf geschüttelt.
Mein Gott, Pfeffer war vierzig! Vierzig! Da durfte ein Mannsbild in ihren Augen ruhig ein bisschen angesetzt haben. Ein wenig Wohlstandsspeck, ein kleiner Rettungsring, ein wenig zum Festhalten, zum Kuscheln, zum Nicht-immer-starke-Frau-sein-Müssen. »Ein Mann ohne Bauch ist ein Krüppel.« Sie kannte den Spruch nur zu gut, und er traf auf ihren eigenen Mann keinesfalls zu. Der war wahrlich kein Krüppel und exakt zehn Jahre älter als Pfeffer. Vierzig! Männer wie Pfeffer, die physiognomisch noch wie Mittzwanziger daherkamen, erinnerten sie zu sehr an ihre eigenen körperlichen Defizite, die sich mit zunehmendem Alter einstellten. Sie war nur sieben Jahre älter als ihr Kollege und fühlte sich in seiner Gegenwart so unendlich viel älter. Nein, für Jutta Staubwasser stand auch bei näherem Hinsehen fest, dass Maximilian Pfeffer zwar gut aussah, besonders wenn, wie heute, auch noch ein leichter Bartschatten das markante Kinn betonte, aber eben nicht attraktiv für sie war.
Nur bei Pfeffers Augen – da kam sie bisweilen ernsthaft ins Schwanken. Wie konnte so ein Mann nur so sehnsuchtsvoll-sanfte Augen haben! Sie sah schnell weg. Pfeffer beendete sein Telefonat.
»Und?«, fragte sie.
»Ein Skelettfund in Zacherlkirchen.« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt werden Sie sagen: Das lassen Sie mal Ihre Kollegen machen. Dann werde ich sagen: Außer Kollegin Scholz habe ich momentan niemanden für einen neuen Job. Und alleine kann ich die Gute nicht nach Zacherlkirchen lassen. Dann gibt ein Wort das andere und dann …« Er beendete den Satz nicht, sondern sah sie mit fragend hochgezogener Augenbraue an. Keine Frage, auch er mochte seine Chefin.
Kriminaldirektorin Staubwasser schmunzelte und hob spielerisch drohend den Zeigefinger. »Dann werden Sie ohnehin nicht auf mich hören und schnurstracks nach Zacherlkirchen fahren. Hören Sie, ich verspreche Ihnen, dass wir die Personalsituation in den nächsten Wochen in den Griff bekommen. Die Krankschreibungen … Ich kämpfe auch für neue Planstellen. So wie es aussieht, wird eine der freien Stellen tatsächlich nicht mehr besetzt. Der momentane Sparkurs triff leider alle. Auch uns.«
»Schon gut«, winkte Pfeffer ab und stand auf. Dabei merkte er, dass er auch in den hinteren Oberschenkeln Muskelkater hatte. Wo der nur herkam? Er joggte jeden Tag fast eine Stunde, daran dürfte es kaum liegen. Dann fiel ihm wieder ein, was er gestern Nacht noch gemacht hatte, und er biss sich innen auf die Wangen, um ein Grinsen zu unterdrücken. Der Biss nutzte nicht viel.
03
»Verrecken sollst du«, murmelte die Mutter mit abgewandtem Kopf mehr vor sich hin als zu jemandem. Sie redete gerade so laut, dass die Tochter sie hören konnte – die Tochter, die zu ihren Füßen in gekrümmter Hocke kauerte und sich schwer atmend an ihren Rockzipfeln festkrallte.
»Was?« Die junge Frau hob den Kopf und versuchte mit tränenverschleierten Augen, den Blick der Mutter zu erhaschen. Doch die schwergewichtige Frau starrte unvermindert ins Nichts.
»Was?!«, wiederholte die Tochter deshalb lauter, und ihre Stimme überschlug sich, bevor sie in einem Schluchzen erstarb. »Mutter, ich … verrecken?«
»Nichts habe ich gesagt«, antwortete die ältere Frau ungerührt und verschränkte die Arme vor ihrer schweren Brust. Ihr Gesicht blieb eine teilnahmslose Maske.
Mit letzter Kraft rappelte sich die junge Frau vom Boden auf, zog sich mühsam an den Falten von Mutters Rock hoch, bis sie auf Knien Halt fand. Hilfe suchend blickte sie zum Vater hinüber, der zusammengesunken am Küchentisch saß und das Gesicht in den Händen vergraben hielt.
»Papa?!«, rief die junge Frau.
»Du hast deine Mutter gehört«, kam nach einer schieren Ewigkeit die gebrochene Stimme zwischen den Fingern hervor. »Du … Ich kann nichts mehr für dich tun.«
»Papa?!«, wiederholte sie mit weit aufgerissenen Augen und streckte die Hand in Richtung Küchentisch. Sie verlor das Gleichgewicht und stürzte vornüber auf den staubigen Holzboden. Eine Wolke kleiner Partikelchen stob auf und tanzte irrwitzig im grellen Licht der Deckenbeleuchtung. Die Frau trug nur ein langes, grünlich-verwaschenes T-Shirt, das um ihren mageren Körper schlabberte, sowie eine hautfarbene Strumpfhose.
Die Mutter sah kurz zu ihr hinüber. Sie zog sich einen der einfachen Holzstühle heran und ließ sich schwer darauf fallen. Der Stuhl knarzte unter ihrem Gewicht. Sie musste dringend noch mehr abnehmen, schoss ihr durch den Kopf. Wenn sie wollte, konnte sie sehr diszipliniert sein. Es machte ihr sogar Spaß, jeden Morgen auf der Waage zu kontrollieren, wie die Pfunde purzelten. Zwar brach sie nun nicht mehr bei jeder Bewegung in Schweiß aus, doch es reichte noch nicht. Sie musste unbedingt die Achtzig knacken. Sie wollte wieder wer sein!
Und sie hatte die Chance dazu. Sie blendete die Szenerie um sich herum komplett aus. Sie wusste, dass er dort irgendwo im Verborgenen saß und alles beobachtete. Und sie wusste, dass er vermutlich schon längst betrunken war, wie immer um diese Uhrzeit. Sie meinte sogar, seine Fahne bis hierher riechen zu können. Seine Bier-Jägermeister-Fahne und diesen unangenehmen säuerlichen Körpergeruch, den er ausdünstete. Sie musste sich endlich etwas einfallen lassen. Es durfte einfach nicht sein, dass er sich weiterhin in ihrem Leben breitmachen konnte. Sie musste … – sich zusammenreißen! Sie öffnete die Augen und horchte auf das Keuchen der Tochter, die sich auf dem Dielenboden wand.
Konzentriere dich, dumme Kuh, schalt sie sich. Versau nicht diese Chance.
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. Der Vater zuckte zusammen und blickte endlich auf.
Die Tochter hustete am Boden und wälzte sich auf den Rücken. »Er hat gesagt, dass er mich heiratet«, stammelte sie schwach.
»Hat er das?« Die Stimme der Mutter schnitt messerscharf durch den Raum. »Nun nicht mehr! Schau an, was er aus dir gemacht hat!«
»Nein.« Die junge Frau am Boden bäumte sich auf. »Nein, das hast du aus mir gemacht. Du allein!«
»Meine Tochter eine Hure, die sich von einem dahergelaufenen Kanaken schwängern lässt. Was habe ich zum Heiligen Zachäus von Palmyra gebetet!« Die dicke Frau faltete so energisch ihre Hände, als wollte sie Kartoffeln zerquetschen, nicht beten, dann erhob sie sich schwerfällig und griff sich an die Brust.
»Meine Tochter, das Türkenliebchen! Meine Tochter …« Sie brach ab. Ihr Blick schweifte durch den Raum, sie ließ die Arme schlaff hängen und begann leicht zu zittern. Sie fuhr sich mit der Rechten über das Gesicht. Als hätte sie einen Schleier weggezogen oder eine dicke Make-up-Schicht abgewischt, veränderte sich ihr Ausdruck schlagartig. Alle Härte wich aus ihren Zügen. Die Augen, eben noch türkiskalte Eisschollen, füllten sich mit Tränen und flammten warm auf. Ihr ohnehin sehr blasser Teint schien in Sekundenschnelle alle Reste von Farbe zu verlieren, schimmerte zartweiß, fast transparent wie die Oberfläche einer kostbaren Porzellanpuppe. Ihre Lippen, eben noch schmal zusammengepresst, entspannten sich und erblühten zu einer sinnlichen Knospe. Nun konnte man nicht nur erahnen, dass diese Frau einmal wunderschön gewesen war – man sah, dass sie es immer noch war.
»Ich …«, stammelte sie und sank neben der Tochter auf die Knie, »ich … will dich nicht verlieren, hörst du? Die Schande … mein einziges Kind …«
Die Worte sprudelten aus ihr heraus. Sie beugte sich vor und schlang vorsichtig die Arme um die junge Frau. Sie hob die Sterbende ein wenig an, zog sie auf ihren Schoß und wiegte sie leicht hin und her. Dabei verrutschte das lange T-Shirt der Tochter und gab ihren Unterleib frei. Blut rann die Schenkel herunter.
»Mein Kind«, flüsterte die Tochter. »Weg. Ausgeblutet.«
»Mein Gott!« Der Vater sprang auf und gab ein herbes Schluchzen von sich. »Ich kann das nicht mehr mit ansehen!«
»Ich auch nicht!«, mischte sich eine weitere männliche Stimme barsch ein.
Viola richtete sich seufzend auf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in die Richtung, aus der die Stimme kam. Nives und Werner beschirmten sich die Augen mit den Händen gegen das gleißende Licht und versuchten, im Dunkeln des weiten Raums hinter dem Licht etwas zu erkennen.
»Ich kann das auch nicht mehr sehen«, wiederholte die Stimme resigniert.
Viola erhob sich, strich das schlabberige T-Shirt zurecht und half dann der dicken Nives auf die Beine.
»Was ist nun schon wieder?«, fragte Werner ungeduldig. »Und würdest du bitte irgendwo ins Licht kommen, damit wir dich sehen können? Das Probelicht ist einfach scheiße. Blendet total.«
»Viola, du chargierst, du outrierst! Ich dachte, das hätten wir bereits ausdiskutiert. Das ist irgendwie echt … too much. Nives … brillant. Ehrlich, ich war … Gänsehaut. Echt. Gänsehaut! Du hast mir richtig Angst gemacht. Behalte das bitte bei! Viola, Süße, vielleicht hilft es dir, wenn du dir noch mal den Film mit Nives anschaust, wie sie damals die Rolle der Tochter angelegt hat.« Der Sprecher näherte sich, endlich konnten die drei auf der Bühne ihren Regisseur Hannes Wachsmuth sehen. Der großgewachsene, schlaksige Mann mit der schlechten Haltung strich sich durch die dichten, halblangen weißgrauen Haare und nahm seine Brille ab. Er wirkte müde.
Viola Bruhns verdrehte die Augen. »Wozu soll ich mir diesen Film mit Nives ansehen? ICH spiele die Tochter! Ich kann es nicht mehr hören, Hannes. Wirklich! Die große Nives Marell, unsere Frau in Hollywood. Wann war das noch einmal? Entschuldige, Nives, Schätzchen, du weißt, dass ich dich und deine Arbeit … nun … brillant, zweifelsohne, Hannes hat absolut recht … Ich will dir wirklich nicht zu nahe treten, du hast die Rolle der Tochter in der Verfilmung von ›Kanakenbraut‹ ganz eigen angelegt, ganz speziell … Aber damals, als du die Rolle gespielt hast … ich meine, da … « Sie machte eine viel- und gleichzeitig nichtssagende Handbewegung und ließ den Satz unvollendet.
»Da wog ich eine Tonne weniger, wolltest du sagen?« Nives Marell sah ihrer Kollegin offen in die Augen. »Sicher, Viola, Liebes. Aber ich habe die Bundesfilmpreise, den César und den Goldenen Löwen von Venedig damals nicht wegen meiner Figur bekommen. Ich habe die Tochter übrigens nicht nur im Film, sondern auch in der Theaterfassung gespielt …«
»Das wissen wir alle.« Viola Bruhns lächelte falsch. »Unter Fritz Roloff persönlich!«
»Zickenalarm«, seufzte Werner Androsch, der den Vater spielte, und setzte sich auf die Tischkante. Mit beiden Händen fuhr er erst über sein Gesicht, dann über seine schütteren, nach hinten pomadisierten Haare.
»Habe ich ein Wort über ihr Gewicht verloren?« Viola sah sich um, suchte Augenkontakt mit ihren Kollegen. Alle wichen ihrem Blick aus. »Ein Wort, Hannes? Werner?«
»Lass mich da raus!«, antwortete der Schauspieler und stierte auf seine Schuhe.
»Wenigstens war ich damals, als ich die Tochter spielte, tatsächlich im glaubwürdigen Tochteralter«, sagte Nives Marell.
»Wie bitte?«, fuhr Viola hoch. »Nives, meine Liebe, auch wenn du es nicht wahrhaben willst, ich könnte tatsächlich deine Tochter sein.«
»Könnte«, seufzte Nives. »Gott sei Dank nur könnte!«
»Können wir uns wieder konzentrieren«, ging der Regisseur Hannes Wachsmuth mit lauter Stimme dazwischen. An seiner Autorität gab es keine Zweifel, schließlich war er nicht nur Regisseur dieser Inszenierung, sondern auch Intendant des Theaters. »Viola, Süße, du …«
»Ich habe mit keinem Wort ihr Gewicht erwähnt, Hannes!« Violas Stimme bekam etwas Mädchenhaftes, Einschmeichelndes.
»Nein, sicher, hast du nicht.« Hannes Wachsmuth ließ die Schultern hängen. Es war mehr eine Geste, um Viola zu beruhigen als echte Resignation. Er hatte schon zu lange ein vorgeblich heimliches, in Wahrheit nur allzu bekanntes Verhältnis mit ihr, als dass er nicht genau wusste, wie er sie manipulieren konnte.
»Siehst du.« Viola Bruhns drehte sich triumphierend zu Nives Marell um. »Siehst du!« Sie schüttelte den Kopf und sah ihren Regisseur ernst an. »Hannes, wir geben alle unser Bestes, um ›Kanakenbraut‹ ganz im Sinn von Fritz auf die Bühne zu bringen. Wir vermissen ihn alle. Ich besonders, schließlich waren wir …« Sie brach ab. Ihre Augenlider flatterten dramatisch.
Alle wussten, was sie meinte. Alle verachteten sie dafür.
»Sie chargiert schon wieder«, flüsterte Nives Marell halblaut vor sich hin.
»Gut, das ist eine Weile her, dass er und ich …«, fuhr Viola unbeirrt fort, doch Nives fiel ihr ins Wort: »Und er und ich auch, Liebes, und was war mit Werner? Also hör auf, hier die trauernde Witwe zu spielen. Ich war dabei, als Fritz Roloff starb. Ich, Viola. Nicht du.«
»Darauf kannst du dir was einbilden.« Violas Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Schätzchen, wie du nur zu genau wissen dürftest, ist hier niemand an dem Stück beteiligt, ich betone, niemand, der nicht ein besonderes Verhältnis zu … oder auch mit Fritz Roloff hatte.«
»Doch, ich«, meldete sich ein junger Mann, der bisher neben der Bühne gehockt hatte. Er richtete sich auf und streckte sich. Sein muskulöser nackter Oberkörper zog sofort die Blicke auf sich. Er trug eine schamlos tief sitzende rote Trainingshose, über deren Bund sich schwarze Schamhaare kräuselten, so wie es seine Rolle als der Kanake in ›Kanakenbraut‹ forderte. Er zuckte mit den Schultern. »Ich hatte kein Verhältnis mit oder zu Fritz Roloff. Ich kannte ihn nicht mal.«
»So habe ich das nicht gemeint, Levent.« Viola Bruhns ging zu Levent Demir hinüber und fuhr ihm sanft über den Kopf durch das dichte schwarze Haar. Mit einer minimalen Kopfbewegung drückte der türkische Schauspieler sein Unbehagen über die Berührung aus. Viola genoss es, ihre Hand besonders langsam zurückzuziehen und dabei wie zufällig seine breiten Schultern zu berühren. Eine kaum merkliche Gänsehaut lief ihm über den Rücken. Viola schmunzelte.
»Doch, so hast du es gemeint«, sagte Nives Marell. »Genau so.«
»Wirklich?« Levent Demir zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Er sah nacheinander Viola Bruhns, Nives Marell, Werner Androsch und Hannes Wachsmuth an.
»Wirklich«, antwortete Nives, und Werner ließ zischend Luft zwischen seinen Lippen entweichen.
»Wow.« Levent Demir zuckte erneut mit den Schultern.
»Ich glaube nicht, dass hier die erotischen Eskapaden von wem auch immer zur Disposition stehen«, sagte Hannes Wachsmuth hörbar verärgert. »Bitte noch mal zurück auf Position. Wir sollten den letzten Akt ab dem ›Verrecken sollst du‹ von Nives noch einmal komplett durchspielen. Dann ist Feierabend.«
»Ich hab noch ’ne Anprobe«, murmelte Levent Demir, bevor er sich wieder ins Dunkel setzte, um sein Stichwort bei der Schlussszene abzuwarten.
Nives hatte sich nicht geirrt. Er saß wirklich da im Dunkeln. Obwohl er noch nichts bei den Proben zu suchen hatte. Noch spielten die Schauspieler mit Probenkostümen, die man aus dem Fundus zusammengesucht hatte. Noch hatte er nichts weiter zu tun, als die Zuschnitte zu machen und die Schneider zu beaufsichtigen. Jedenfalls tat er so. Seit der Neue da war, war alles schwieriger geworden. Denn der Neue war gut, wirklich gut, und das hatten die anderen längst bemerkt. Es wurde immer schwieriger, das Gesicht zu wahren. Da er nie zu kämpfen gelernt hatte, überließ er freiwillig das Terrain dem Neuen und bemühte sich, die letzten Jahre vor der Pensionierung so angenehm wie möglich zu gestalten.
Aber Nives zu beobachten – das liebte er, dafür stahl er sich gerne mal weg. Wie schön sie immer noch war. Nives Marell, dieses blasse, wohlgenährte, blutjunge Bauernmädel, das der große Fritz Roloff einst entdeckt hatte. Dieser üppige blonde Barockengel, der hoch hinausflog, der erst die Münchner Kleinkunstbühnen, dann den deutschen Film und schließlich die internationalen Kinoleinwände im Sturm erobert hatte. Er war dabei gewesen! Auch als der Absturz kam. Als der deutsche Star nach seinem Hollywood-Ausflug aufging wie ein Hefekuchen, gefüttert von unstillbarer Sehnsucht nach der wahren Liebe, gebläht von dem gierigen Hunger nach Koks und Champagner. Er war dabei gewesen, als sie in Frankreich und Italien von B- zu C-Filmen abrutschte, als die Angebote ausblieben, als La Nives Kassengift wurde, als keiner mehr ihre legendären türkisgrünen Katzenaugen auf Celluloid bannen wollte, als niemand mehr ihre milchweiße Haut strahlen und ihren üppigen Busen wogen sehen wollte – als es aus und vorbei war.
Nun, er war auch bei anderen Gelegenheiten in Nives’ Leben dabei gewesen – und das gereichte ihm bisher nicht zum Schaden! Im Gegenteil. Jetzt war er wieder dabei, als sie nach langen Jahren der Vergessenheit ihr Comeback versuchte. Was für ein verrücktes Karussell das Leben doch sein konnte. Er lächelte. Er und Nives wieder bei der Arbeit vereint. Dass sie ihn bei jeder Begegnung mit inbrünstiger Verachtung anstierte, stachelte ihn nur noch mehr an. Sollte sie ihn hassen, er hatte sie in der Hand. Wer hätte das gedacht. Sie war ihm ausgeliefert. Und das nur, weil er sie auch in jener Nacht beobachtet hatte, als sie etwas tat, wobei sie auf gar keinen Fall hatte beobachtet werden wollen.
Er schraubte leise seine Thermoskanne auf und goss sich mit zittrigen Händen einen Becher Kaffee ein, während auf der Probebühne Viola erneut überdramatisch starb. Kaffee, schwarz und stark, ohne Zucker, ohne Milch. Er pustete vorsichtig in den Becher, beinahe schwappte das Getränk über, so sehr zitterten seine Hände. Dann bekam er den Tremor unter Kontrolle und trank in gierigen Schlucken. Es schüttelte ihn, so bitter schmeckte der Kaffee. Was war nur los mit ihm? Schon seit Tagen schmeckten ihm der Kaffee und leider auch das Bier bitter, viel zu bitter. Der Kräuterschnaps, den er immer hinterherschüttete, musste ja bitter sein, das irritierte ihn nicht. Gestern war ihm speiübel nach dem dritten Bier gewesen, richtig elend. Dabei war es da noch nicht mal halb drei Uhr nachmittags. Für gewöhnlich hatte er da schon mehr Biere. Heute in der Früh hatte er kaum seine zwei Halbe herunterbekommen, so grauslich bitter schmeckten sie – und jetzt der Kaffee. Er unterdrückte den aufkeimenden Brechreiz, er musste dringend mit seinem Hausarzt reden. Am besten noch heute. Wider besseres Wissen trank er noch einen Becher und noch einen. Bis die Kanne leer war. Bitter. Er schüttelte sich, Galle kroch seine Speiseröhre hinauf.
Eben war Viola auf der Bühne mit einer grotesken Verrenkung gestorben, und Nives schluchzte ergreifend. Das konnte sie wirklich – schauspielern. Das Publikum würde Rotz und Wasser heulen, wenn Nives die Trauernde gab und am Ende vor der Reliquie des Heiligen Zachäus von Palmyra zusammenbrach. Das Publikum hatte auch geschluchzt, als sie aus Thailand zurückgekommen war und die Welt über den tragischen Tod des großen Fritz Roloff unterrichtet hatte.
Er würgte den Mix aus bitterem Gallegeschmack und Kaffee hinunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. Er brauchte dringend ein Bier. Jetzt. Sofort. Nein, besser einen Jägermeister. Und dann zum Arzt.
»Viola, Süße«, unterbrach eben Hannes Wachsmuth die letzte Szene.
Das ideale Stichwort. Obwohl ihm hundeelend war, nutzte er die Unterbrechung, packte seine Thermoskanne und verließ den Probebühnenraum so unauffällig wie möglich. Beim Hinausgehen nickte er mit so viel Beherrschung, wie er noch aufbringen konnte, den Regie- und Kostümassistenten zu. Krämpfe beutelten seinen Magen. In den Beinen und Armen schienen Ameisen zu laufen. Er kratzte sich. Nun kribbelte es auch noch in seinen Lippen.
»Verdammt! Können wir bitte in Ruhe proben?!«, hörte er Hannes Wachsmuth noch schreien, während er die Tür hinter sich zuzog.
Kaum draußen, eilte er mit schleppenden Schritten den langen Flur hinunter Richtung Fahrstuhl und drückte seine linke Faust in den Bauch. Kalter Schweiß brach ihm aus. Dann hielt er kurz inne, drehte um und taumelte so schnell er konnte zu den Toiletten am anderen Ende des Ganges. Dass es in diesem Stockwerk nur Damentoiletten gab, störte ihn nicht. Er riss die Tür auf und übergab sich ins Waschbecken. Das Brennen in seinem Inneren ließ ein wenig nach. Er würgte, doch es kam nichts mehr außer gelber Spucke. Schwer atmend ließ er Wasser ins Becken laufen und versuchte, so gut als möglich sein Erbrochenes zu beseitigen. Dann wusch er sich das Gesicht und ordnete die spärlichen grauen Haare. Beim Blick in den Spiegel sah er sich wie durch einen Nebelschleier. Er musste zum Arzt. Er brauchte ein Bier. Erst das Bier, dann der Arzt.
Er verließ die Damentoilette und stieß mit Traudl zusammen. Die Schneiderin hatte eben nach der Türklinke greifen wollen und prallte nun erschrocken zurück. Traudl, die irgendwann in den Siebzigern stehen geblieben war und seitdem weder Make-up noch Kleidungsstil geändert hatte. Traudl, die sich die platinblondierten Haare wie ein riesiges Storchennest auftoupierte, wohl damit sie ein Gegengewicht zu ihrer überaus üppigen Oberweite bildeten. Traudl, diese alternde wandelnde Beleidigung für sein Auge, immer schon so provinziell wie ihr bäuerlicher Name: Traudl Sonnenbichl, geborene Kropfhamer. Wie er sie hasste.
Und wie sie ihn hasste. Kaum dass sich Traudl Sonnenbichl von dem kurzen Schreck erholt hatte, blitzen ihre Augen unter den übertrieben hellblau geschminkten Lidern vernichtend. Sie verzog abschätzig den Mund und sagte: »Jetzt hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt, Sepp. Verlass dich drauf. Ich werde dafür sorgen, dass jeder erfährt, dass du dich in der Damentoilette …«
»Halt dein Maul, Traudl, halt einfach dein dummes Schandmaul.« Er hob die Hand, wie wenn er sie ins Gesicht schlagen wollte, gab ihr aber nur einen schwachen, ungehobelten Schubs und stieg mit wackeligen Beinen die Treppen hinauf, die an diesem Ende des Ganges zu den obersten Stockwerken des Theaters führten.
»Halt! Deinen Müll solltest du dir schon mitnehmen.« Traudl holte ihn auf der zweiten Stufe ein und drückte ihm seine Thermoskanne in die Hand, die er neben dem Waschbecken hatte stehen lassen.
Er grunzte etwas und ging mühsam weiter die Treppen hinauf. Oben musste er zunächst wieder die Toilette aufsuchen und sich übergeben. Dann betrat er die Herrenschneiderei und versuchte, den Blicken der Schneider auszuweichen. Er rang um Haltung, ging zu seinem Arbeitstisch und sah seinen Kollegen, den er für sich immer noch den Neuen nannte, obwohl der schon seit mehr als zwei Jahren hier arbeitete, verbissen lächelnd an.
»Du, Basti, ich muss zum Arzt. Mir gehts nicht gut.«
»Hmmm«, brummte der Angesprochene, ohne von seiner Arbeit aufzusehen. Er zeichnete mit geübten Bewegungen einen Halbkreis auf den riesigen Bogen braunen Papiers, das auf seinem Arbeitstisch lag. »Du hast heute noch eine Anprobe mit Levent Demir für ›Kanakenbraut‹.«
»Weiß ich, Basti, weiß ich. Grad drum … tut mir auch wirklich leid. Aber mir geht’s gar nicht gut.« Er beugte sich vor, um den Blick von Sebastian Oßwald zu erhaschen. Doch der konzentrierte sich demonstrativ auf das Schnittmuster für ein Sakko, das er zeichnete, dabei pulsierte eine Ader an der Schläfe und seine Wangenmuskeln mahlten.
»Schon gut, Sepp. Ist dir wieder so wahnsinnig schlecht? Wieder alles bitter?« Sebastian sprach so beherrscht, als wäre es nicht gang und gäbe, dass sein Kollege ihn in der heißen Phase, wenn die Endproben und die fertigen Kostüme anstanden, im Stich ließ und eine Krankheit vorschob. Sebastian Oßwald konnte die Stunden zählen, in denen sein Kollege bei der Arbeit war, nicht umgekehrt. »Geh nur, Sepp. Ich mach die Anprobe mit Levent Demir. Soll ich morgen gleich noch die Anprobe mit Werner Androsch einplanen? Ich habe ja sonst nichts zu tun.«
Der letzte Satz peitschte durch die Luft wie ein Goaßlschnoizer. Die Schneider im Nebenraum, die durch die offene Doppelflügeltür jedes Wort mitbekamen, tauschten verstohlene Blicke, senkten die Köpfe über ihrer Arbeit und vermieden jedes Geräusch, um nichts zu verpassen. Keine Nähmaschine surrte, keine Bügelmaschine zischte, alle hatten plötzlich dringende Handarbeit zu erledigen.
»Tut mir ja leid, Basti, wirklich.« Sepp lächelte verkrampft. »Ich … morgen bin ich wieder auf dem Damm. Verlass dich drauf, gell, Basti.«