Perry Rhodan 123: Terra im Schussfeld (Silberband) - William Voltz - E-Book

Perry Rhodan 123: Terra im Schussfeld (Silberband) E-Book

William Voltz

5,0

Beschreibung

Wir schreiben das Jahr 425 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Die Kosmische Hanse, die bedeutendste Handelsorganisation in der Milchstraße, wird von schweren Anschlägen der Superintelligenz Seth-Apophis heimgesucht. Diese bedrohlichen Vorfälle versetzen die Erde in Aufruhr. Julian Tifflor, der Erste Terraner, gerät in Verdacht, Agent dieser feindlichen Superintelligenz zu sein, und Reginald Bull wird entführt. Im benachbarten Wega-System arbeiten die Besatzungen fremdartiger, schwingenförmiger Raumschiffe an der Fertigstellung einer sogenannten Zeitweiche. Eine weitere tödliche Bedrohung kommt damit auf die Erde zu - denn Terra liegt genau im Schussfeld ...

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Nr. 123

Terra im Schussfeld

Wir schreiben das Jahr 425 Neuer Galaktischer Zeitrechnung. Die Kosmische Hanse, die bedeutendste Handelsorganisation in der Milchstraße, wird von schweren Anschlägen der Superintelligenz Seth-Apophis heimgesucht.

Diese bedrohlichen Vorfälle versetzen die Erde in Aufruhr. Julian Tifflor, der Erste Terraner, gerät in Verdacht, Agent dieser feindlichen Superintelligenz zu sein, und Reginald Bull wird entführt.

1.

Der Hund war seltsam. Er kam die nächtliche Straße entlanggehumpelt, ignorierte die prächtigen Birken rings um den Stadtbrunnen und näherte sich der Auslage von Stifters »Galaktische Delikatessen«. Sein Schwanz stand schräg ab und war am Ende gespalten. Eines seiner Ohren ähnelte einer prallen Seifenblase, beide Augen hingen wie schlaffe Würste zentimeterweit aus den Höhlen.

Eine Zeit lang starrte der Hund aus diesen Stielaugen auf die Köstlichkeiten, die Stifter in einem Hologrammlichtkegel darbot. Währenddessen schrumpfte sein Schwanz zu einem grauen Klumpen, der sich wie ein kleiner Blumenkohl über dem Steiß türmte.

Schließlich verkürzten sich die Vorderbeine des Tieres. Der Hund richtete sich auf wie ein menschlicher Gnom und bog in die Naupaumgasse ein.

»Mein Gott!«, flüsterte Erasco Schulder, der die Szene von seinem Schlafzimmer aus beobachtete. Er krallte die Hände in den zurückgezogenen Fenstervorhang, war bleich und zitterte am ganzen Körper.

»Was machst du da?«, fragte seine Frau schlaftrunken vom Bett aus. »Musst du jede Nacht herumgeistern?«

Schulder starrte auf die nun verlassene Straße hinab und blinzelte verwirrt. »Da ... war eben ein Hund«, ächzte er. »Eigentlich kein richtiger Hund, sondern irgendetwas Unheimliches.« Er zog sich hastig an.

Juvia Schulder schaltete das Licht ein. »Es ist kurz nach zwei«, stellte sie fest. »Kannst du mir erklären, was du da tust?«

»Ich muss ihn finden!«

»Wen? Was ist überhaupt los mit dir?«

Schulder stopfte sich das Hemd in die Hose. Seine Hände zitterten.

Juvia verließ das Bett, trat zu ihm und ergriff ihn am Arm. »Hast du wieder schlecht geträumt? Ich weiß, wie sehr dir die Ereignisse auf Arxisto noch zu schaffen machen. Du musst das alles vergessen! Wir wurden evakuiert und zur Erde gebracht. Hier in Shonaar gibt es keine Dinge mehr, die aus dem Nichts erscheinen.«

Schulder riss sich los. »Du hast ihn nicht gesehen!«, stieß er hervor. »Wenn du ihn nur gesehen hättest.«

»Sprichst du von dem Hund?«

»Es war kein Hund – es war ein Ding!«, sagte er schwer atmend. »Kein Traum und keine Halluzination. Ich bin doch nicht verrückt; ich weiß, was ich sehe.«

Er stürmte aus dem Zimmer, polterte die Treppe hinab und verließ das Haus.

Die Naupaumgasse war um diese Zeit nur spärlich beleuchtet, aber Erasco Schulder entdeckte das groteske Hundeding sofort. Es stand wieder auf vier Beinen und schnüffelte an der Glassittür von »Raymonds Schneckenhaus«, in dem in erster Linie ehemalige Prospektoren verkehrten. Das Ding hatte mittlerweile einen deformierten Kopf und einen Höcker auf dem Rücken.

Schulder drückte sich gegen eine Hauswand und ging so leise wie möglich weiter. Er war ein großer, zur Fettleibigkeit neigender Mann.

Als er sich dem Ding bis auf knapp fünfzig Schritt genähert hatte, sah er, dass es mit einem schnell wachsenden Arm und einer Greifklaue nach dem Öffner der Glassittür tastete. Gleich darauf verschwand es in »Raymonds Schneckenhaus« und zog die Tür hinter sich zu.

Schulder war der kalte Schweiß ausgebrochen. Er wollte sein Entsetzen hinausschreien, doch er brachte keinen Ton hervor. Trotz seiner Furcht ging er langsam weiter.

In der kleinen Siedlung am Fuß des künstlich geschaffenen Wandergebirges, mehr als 300 Kilometer südwestlich von Terrania, war es still. Etwa hundert Menschen aus den evakuierten Handelskontoren waren vor dem Jahreswechsel in Shonaar eingezogen. Die übrigen Bewohner der Siedlung waren in erster Linie ehemalige Raumfahrer. Schulder, dem der Schock von den Vorgängen auf Arxisto noch in den Gliedern steckte, fragte sich bestürzt, ob er erneut in den Strudel einer gefährlichen Entwicklung zu geraten drohte.

In dem Augenblick verließ der Hund »Raymonds Schneckenhaus« wieder. Nur sah er jetzt weder wie ein Hund aus noch wie ein menschlicher Gnom. Das Ding war eine triefende Masse, die auf Pseudopodien dahintaumelte und eine feuchte Spur hinterließ. Wäre der Gedanke nicht so absurd gewesen, Schulder hätte geschworen, das Ding sei berauscht.

Wie unter einem inneren Zwang folgte er dem Unheimlichen. Auf der Höhe von »Raymonds Schneckenhaus« roch er jenes unverkennbare Obstwässerchen, das Raymond in seiner Kneipe ausschenkte. Der Geruch kam jedoch nicht aus der Tür, sondern stieg von der Spur auf, die das Ding hinterließ.

Schulder brachte ein klägliches Grinsen zustande. Ein betrunkenes Monster ist vielleicht nicht ganz so gefährlich, machte er sich Mut.

Die ganze Zeit über war er sich bewusst, dass er unverantwortlich handelte. Es wäre seine Pflicht gewesen, Alarm auszulösen. Das Ding musste eingefangen und untersucht werden.

Schulder hörte Schritte, fuhr herum und sah seine Frau am Eingang zur Naupaumgasse auftauchen. Sie hatte nur ihren Mantel übergeworfen und machte einen verstörten Eindruck.

Ängstlich blickte er zu dem Ding, aber es schien Juvias Erscheinen nicht bemerkt zu haben. Es floss jetzt mehr dahin, als es ging, und steuerte dabei einen unverkennbaren Zickzackkurs.

Schulder bemerkte, dass seine Frau die Kreatur nun ebenfalls entdeckt hatte. Sie schloss zu ihm auf und klammerte sich an ihn. »Was ist das?«, fragte sie bestürzt. »Wir müssen die Stadtverwaltung informieren, Erasco. Du weißt, was im vergangenen Herbst hier in Shonaar passiert ist?«

»Gerüchte«, wehrte er ab. »Wir wissen nichts Genaues über jene Geschehnisse.«

Offenbar war ein monströses Geschöpf in den Wäldern der Abenteuerlandschaft erschienen, und es hatte sogar Tote gegeben. Manche sprachen davon, dass ein Einsatzkommando aus Terrania unter Reginald Bull dem Spuk ein Ende bereitet hatte.

»Trotzdem müssen wir die Verantwortlichen warnen!«, beharrte Juvia.

Erasco nickte langsam. »Du gehst zum Verwaltungsgebäude und versuchst, Bürgermeister Deerno oder einen seiner Leute zu erreichen. Ich verfolge inzwischen dieses Ding.«

Sie war entsetzt. »Ich werde dich nicht allein lassen!«

»Wenn ich dem Monstrum nicht auf den Fersen bleibe, verschwindet es irgendwo. Wir wissen nicht, was es dann anrichtet.«

Juvia wandte sich nach kurzem Zögern ab und rannte davon. Schulder nahm die Verfolgung wieder auf, achtete aber auf einen sicheren Abstand zwischen ihm und dem merkwürdigen Wesen. Das Ding war endgültig zur formlosen Masse geworden, zu einer Art dahingleitendem Protoplasmafladen. Es bewegte sich auf die Bungalows am Ende der Naupaumgasse zu. Jedes dieser Gebäude besaß einen als Garten angelegten Hof, und hinter ihnen erstreckte sich einer der vielen Parks von Shonaar.

Es war der 5. Januar. Erasco Schulder spürte die Kälte der klaren Winternacht; fröstelnd schlug er den Kragen seiner Jacke hoch. Je länger er hier draußen war, desto unwirklicher erschien ihm die Situation. Er hätte sich nicht gewundert, wenn er übergangslos in seinem Bett aufgewacht wäre. Seit das Kontor der Kosmischen Hanse auf Arxisto zerstört worden war, wurde er von Albträumen heimgesucht.

Das Ding drang in den Hof eines Bungalows ein. Aus mehreren Fenstern des Gebäudes fiel Licht nach draußen, offenbar schliefen die Bewohner noch nicht. Schulder vermutete, dass das monströse Geschöpf vom Licht angelockt wurde. In einer Schreckensvision sah er das Wesen in das Haus eindringen und die Menschen darin angreifen.

Doch das Ding glitt durch den Vorhof, bog ab und verschwand zwischen den Sträuchern im Garten.

Schulder ignorierte seine eigene Sicherheit und stürmte voran. Mit langen Sätzen erreichte er den Bungalow und schlug auf den Türmelder. »Aufpassen!«, schrie er. »Kommt heraus und verschwindet so schnell wie möglich von hier!«

Er blickte zur Seite, um sicher zu sein, dass die Kreatur nicht zurückkam und ihn anfiel.

Die Tür wurde geöffnet. Ein großer Mann stand im Eingang und sah Schulder erstaunt an. Erasco kam sich plötzlich lächerlich vor. »Da ... da ist so ein ... Ding in deinem Garten!«, stotterte er. »Ein monströses Wesen. Warne deine Familie! Meine Frau ist schon zur Stadtverwaltung unterwegs.«

»Stadtverwaltung!« Der Mann atmete tief durch. »Auch das noch.«

Schulder war irritiert.

»Komm herein«, sagte der Große. »Es ist eiskalt, du wirst dich erkälten.«

»Aber ... aber«, stammelte Erasco. »Es ist im Garten verschwunden, und wir müssen ...«

»Schon gut.« Der Mann ergriff ihn am Arm. »Hier besteht nicht die geringste Gefahr.«

Widerstrebend betrat Schulder das Haus.

»Du bist einer der Evakuierten, nicht wahr?« Als Schulder nickte, lächelte der Mann und fuhr fort: »Ich bin Jakob Ellmer.«

Ellmer führte ihn in einen behaglich eingerichteten Wohnraum mit einem Kuppelfenster zur Gartenterrasse hin. Mit einem Fingerschnippen schaltete er die Bildwand an.

»Lies das! Es handelt sich um die letzten lokalen Nachrichten.«

Schulder blickte verwirrt auf den Text.

Die Anzahl der Alkoholdiebstähle in Shonaar hat in den letzten Wochen zugenommen, ohne dass eine Erklärung für diese mysteriösen Vorgänge gefunden werden konnte, las er. Hinweise, die zur Ergreifung der Täter führen können, nimmt die Stadtverwaltung von Shonaar entgegen. Auf Wunsch werden Mitteilungen diskret behandelt.

In Schulders Bewusstsein entstand das Bild des aus »Raymonds Schneckenhaus« kommenden Wesens. Instinktiv begriff er, dass zwischen der Nachricht und dem vor wenigen Minuten beobachteten Ereignis ein Zusammenhang bestand.

Ellmer schnippte abermals mit den Fingern. Die Bildwand erlosch. Eine knappe Geste öffnete das Kuppelfenster zum Garten.

»Ich ...«, begann Schulder.

»Warte!« Ellmer trat auf die Veranda hinaus. »In Ordnung, Parnatzel«, sagte er. »Du kannst hereinkommen. Endlich hat dich einer erwischt.«

Zwischen den Sträuchern im Garten entstand eine Bewegung. Erasco Schulder beobachtete aus weit aufgerissenen Augen, wie das unheimliche Ding zur Terrasse kam. Ungefähr in der Mitte des fladenförmigen Körpers entstand ein Klumpen, der entfernt an einen menschlichen Kopf erinnerte und in dem zwei gelbe Augen funkelten.

Stöhnend wich Schulder zurück.

»Immer mit der Ruhe«, sagte Ellmer. »Er ist völlig ungefährlich.« An das Ding gewandt, fügte er kritisch hinzu: »Du solltest trotz deines Zustands versuchen, die Form zu wahren, Parnatzel! Ich habe dich oft genug aufgefordert, diese nächtlichen Streifzüge aufzugeben. Mir war klar, dass dich früher oder später jemand dabei erwischen würde.«

Das Geschöpf wuchs in die Höhe, bekam Ärmchen und Stummelbeine. Es blubberte leise.

»Was ... was ist das?«, ächzte Schulder.

»Weißt du das nicht? Ein Matten-Willy von der Hundertsonnenwelt.« Ellmer schüttelte den Kopf. »Vor wenigen Jahren waren wir beide noch Besatzungsmitglieder einer Karracke. Einer meiner Brüder, Josef Ellmer, gehörte zu den Schürfern von Orph in der Kleinen Magellan'schen Wolke. Du hast sicher schon von den Blutdiamanten gehört, die dort in den Claims gefunden werden. Josef hatte Glück. Er fand insgesamt siebzehn große Steine und vermachte drei davon mir. Das reichte für mich aus, den Dienst bei der Hanse zu quittieren und mich auf Terra niederzulassen. Parnatzel blieb bei mir. Allerdings sehe ich ein, dass es ein Fehler war, ihn mit nach Shonaar zu bringen.«

Die gelben Augen des Matten-Willys rollten hin und her.

»Jakob ist an allem schuld«, behauptete eine schrille Stimme, von der Schulder nicht erkennen konnte, woher sie kam. »Er weigert sich, meine Rationen zu erhöhen.«

»Man muss jedem Matten-Willy ab und zu Alkohol über den Körper gießen, das gefällt ihnen.«

Schulder ließ sich in einen Sessel sinken. Aus der Ferne ertönte Sirenenklang.

»Die Stadtverwaltung auf Monsterjagd«, sagte Ellmer wütend. »Das hast du dir selbst zuzuschreiben, Parnatzel. Sie werden in wenigen Minuten hier sein, dann kannst du dir ein Bild davon machen, was es bedeutet, in die Maschinerie terranischer Bürokraten zu geraten.«

»Du wirst mich diesen Leuten nicht übergeben«, jammerte Parnatzel. »Ich verspreche ...«

»Es ist egal, was du mir versprichst«, drohte Ellmer. »Auf jeden Fall werde ich für deine nächtlichen Zechtouren nicht länger aufkommen.«

Parnatzel schrie gequält auf und sank wieder in sich zusammen. Jäh warf er sich herum und verschwand, halb kriechend, halb fließend, im Garten. Ellmer rannte ihm nach, aber der Matten-Willy war schon zwischen den Büschen verschwunden.

»Schnell!«, rief Ellmer Schulder zu. »Wir müssen ihn finden. Ich fürchte, ich habe meine Drohungen übertrieben. Der arme Bursche hat den Kopf verloren.«

Ja, dachte Schulder sarkastisch. Im wahrsten Sinn des Wortes.

Das Sirenengeheul wurde lauter, und gleich darauf flammten grelle Scheinwerfer über dem Bungalow auf. Gleiter sanken herab.

Jakob Ellmer fluchte hemmungslos. »Wie soll Parnatzel sich nur zurechtfinden, wenn er von hier flieht?«

Bewaffnete schwebten aus der Höhe herab und landeten im Garten.

»Trampelt nicht meine Blumen nieder!«, rief Ellmer ärgerlich. »Was wollt ihr überhaupt?«

Ein großer Mann mit kantigem Gesicht kam heran. Schulder erkannte Brude Deerno, den Bürgermeister von Shonaar. Deerno sah Schulder an.

»Bist du Erasco?«

»Ja«, bestätigte Schulder unglücklich.

»Deine Frau befindet sich in einem der Gleiter. Sie behauptet, dass ihr ein merkwürdiges Wesen entdeckt hättet.«

Schulder wich dem Blick des Bürgermeisters aus. »Die Sache verhält sich so«, setzte er an. »Wir haben ...«

Zu seiner Erleichterung trat Ellmer zwischen sie. »Ich kann das alles erklären ...«

Halb von Sinnen floh Parnatzel aus der blendenden Helligkeit tiefer in das Gestrüpp des Gartens. Er war so aufgeregt, dass sein schlangenförmiger Körper, den er für die Flucht am geeignetsten hielt, einem länglichen Luftballon glich.

Sein umnebeltes Bewusstsein war nicht in der Lage, zusammenhängend zu denken. Die dritte Flasche, deren Inhalt er im »Schneckenhaus« über sich ausgeschüttet hatte, war doch ein bisschen zu viel für ihn gewesen; seine gesamte Masse dröhnte wie ein Resonanzkörper. In jedem halbwegs vernünftigen Zustand hätte er versucht, zur Tarnung eine den Menschen vertraute Form anzunehmen. Doch er war völlig derangiert, wie die Matten-Willys eine derartige Verfassung nannten.

Er wand sich unter dem Zaun hindurch auf ein Nachbargrundstück. Seine mangelnde Selbstkontrolle sorgte dafür, dass er nun eher einem eingebeulten Kürbis ähnelte. Zu seinem Entsetzen registrierte er, dass es in den Häusern ringsum hell wurde und Menschen herauskamen. Sie wollten nachsehen, was der nächtliche Lärm bedeutete.

Mehr unbewusst als zielstrebig eilte er dem dunklen Park entgegen. Vielleicht, dachte Parnatzel zusammenhanglos, hätte er nicht bei Ellmer bleiben sollen. Die Hundertsonnenwelt war seine Heimat. Ihm hätte sich auch die Möglichkeit geboten, an Bord eines Fragmentraumers der Posbis zu gehen und dort zu arbeiten. Die Posbis waren mit der Kosmischen Hanse assoziiert; außerdem war vertraglich vereinbart, dass sie ihre Schiffe in Notfällen der LFT zur Verfügung stellen würden.

Der Lärm ebbte hinter Parnatzel ab. Bislang schien ihm niemand zu folgen.

Der Matten-Willy hielt einen Augenblick inne. Er hatte überstürzt gehandelt. Warum hatte er sich nicht einfach in den Boden gebohrt und einen Meter unter der Erde abgewartet, bis alles vorüber war? Es war unverzeihlich, so die Nerven zu verlieren.

Trotzdem würde er nicht zu Ellmer zurückkehren, wenigstens vorerst nicht. Parnatzel malte sich aus, wie der ehemalige Raumfahrer sich um ihn sorgte.

Er kroch weiter und genoss es, wieder halbwegs bei Sinnen zu sein.

In diesem Moment entdeckte er das Mädchen.

Was er sah, war äußerst ungewöhnlich. Das Mädchen lag in einer Bodenfurche zwischen zwei Büschen und schlief. Ein weniger geübter Beobachter als Parnatzel wäre vielleicht auf den Gedanken gekommen, das Kind sei tot. Immerhin war es kalt, und das Mädchen trug keine Kleidung. Zusammengerollt, als wolle es sich auf diese Weise vor der Kälte schützen, lag es da. Es war mager. Seine Knochen standen hervor. Es war groß und feingliedrig und sehr bleich. Parnatzel schätzte, dass dieses Menschenkind zehn Jahre alt sein mochte, vielleicht sogar ein wenig älter.

Lange schwarze Haare umflossen den Kopf. Parnatzel näherte sich und betrachtete das wohl beeindruckendste menschliche Gesicht, das er je gesehen hatte. Obwohl die Augen geschlossen waren, lag eine seltsam wilde Kraft in diesem Gesicht, dazu Einsamkeit und Melancholie – und eine Spur von Gier.

Eine Zeit lang konnte der Matten-Willy nichts tun, als das Kind zu beobachten. Nur allmählich wurde ihm seine Fahrlässigkeit bewusst – er hätte längst etwas unternehmen müssen, um das Mädchen vor der niedrigen nächtlichen Temperatur zu schützen.

Schuldbewusst glitt er weiter, machte sich ganz flach und hüllte das Kind behutsam ein. Er war entsetzt über die Kälte des menschlichen Körpers.

Das Kind lag völlig ruhig, seine Atemzüge waren so rhythmisch wie das Pochen seines Herzens. Von Mitleid und Zuneigung übermannt, wärmte der Matten-Willy das Mädchen. Nach einer Weile streckte und entspannte es sich wie unter einer Decke.

Endlich öffnete das Kind die Augen. Sie waren groß und dunkler als die Nacht.

So wurde Srimavo gefunden, das Mädchen, das Terraner Sphinx nennen würden.

Als Bürger einer »Raumfahrersiedlung« waren Shonaars Einwohner den Anblick exotischer Intelligenzen gewohnt. Das Trio jedoch, das sich am frühen Morgen des 5. Januar 425 Neuer Galaktischer Zeitrechnung der Stadtverwaltung näherte, erregte Aufmerksamkeit – vor allem das jüngste Mitglied der kleinen Gruppe, ein dürres, langhaariges Mädchen, um dessen Körper viel zu weite Männerkleidung schlotterte. Jedes andere Kind hätte in diesem Aufzug mitleiderregend oder gar lächerlich gewirkt, das Mädchen schritt indes einher wie in einer Herrscherrobe.

Der Mann, der dem Trio angehörte, war groß und kräftig, jeder Zoll ein Raumfahrer, der Hunderte von fremden Planeten besucht und vielen Gefahren getrotzt hatte. Seine imposante Erscheinung verblasste dennoch an der Seite des Mädchens.

Auch der Dritte, ein Matten-Willy, der sehr grotesk einen menschlichen Körper imitierte und normalerweise für Aufsehen gesorgt hätte, kam neben dem Kind nicht zur Geltung.

Das Mädchen war fremd in Shonaar, denn zweifellos hätte sich jeder an eine Begegnung erinnert. Es war fremd, aber es zeigte nichts von der Unsicherheit, die Fremde in einer ihnen unvertrauten Umgebung oft erkennen ließen. Die Heranwachsende bewegte sich stolz und würdevoll, sodass jeder Beobachter ohne Weiteres bereit war, sie wie eine Erwachsene zu akzeptieren.

Ihre Augen, die offen umherschauten, waren von jugendlichem Feuer erfüllt und gleichzeitig weise. Es waren die dunkelsten Augen, in die die erstaunten Passanten, die der Gruppe an diesem Morgen begegneten, jemals geblickt hatten. Männer und Frauen blieben auf der Straße stehen, um den drei Gestalten nachzusehen. Menschen, die einander kaum kannten, fragten einer den anderen, wer das seltsame Kind sein mochte.

»Sie gehört sicher zu den Evakuierten«, war die am häufigsten zu hörende Antwort, trotzdem wollte niemand so recht daran glauben.

Das Mädchen schritt wie eine dunkle Flamme durch die kleine Stadt, und es war tatsächlich eine Ahnung wie von schwarzem Feuer, die im Bewusstsein aller Beobachter entstand.

Am stärksten loderte dieser Eindruck in Jakob Ellmer, und er fragte sich, ob tatsächlich er die Richtung bestimmte, in der sie sich bewegten.

»Da ist es«, sagte er gleichsam entschuldigend und deutete auf das Gebäude der Stadtverwaltung. Klinocs, der lädierte alte Roboter, der längst zum Inventar von Shonaar gehörte, öffnete soeben den Hauptzugang.

Ellmer blieb stehen und rieb sich sein borstiges Kinn. »Vielleicht wäre es besser, wenn wir uns über gewisse Dinge einigen könnten, bevor wir hineingehen«, sagte er. »Du hast uns bisher nur deinen Namen genannt, Srimavo. Das ist alles, was wir von dir wissen. Natürlich wollen wir dir helfen, aber du machst es uns nicht gerade leicht.«

Das Mädchen sah ihn an. Srimavos Atem kondensierte in der Winterluft, hing sekundenlang wie ein feiner Schleier über ihrem Gesicht.

Ellmer räusperte sich. »Wir sollten wissen, woher du kommst und wer deine Eltern sind, damit wir ihnen mitteilen können, dass wir dich gefunden haben. Bestimmt machen sie sich größte Sorgen deinetwegen.«

»Niemand macht sich meinetwegen Sorgen.« Srimavos Stimme erhob sich über jedes andere Geräusch, obwohl sie sanft und nicht besonders laut sprach. Es lag eine Lebendigkeit in jeder gesprochenen Silbe, fremd und vertraut zugleich, aber auch an tief verborgene Empfindungen der Zuhörer rührend.

Musik, dachte Ellmer, und das schwarze Feuer in seinem Verstand griff um sich. Ihre Worte sind wie Musik!

»Wenigstens solltest du uns sagen, woher du kommst«, bat er.

»Woher?«, echote sie, und das Wort aus ihrem Mund wuchs zu unvorstellbaren Räumen, zu Abgründen und unermesslichen Weiten.

Ellmer gewann den Eindruck, dass sie zum Wandergebirge hinaufschaute.

»Ich glaube, von dort oben«, sagte Srimavo.

»Aber das ist doch Unsinn«, wehrte er ab. »Oder hast du zusammen mit deinen Eltern dort oben Urlaub gemacht?«

Srimavo schüttelte den Kopf.

»Ich muss die Behörden einschalten«, sagte der Raumfahrer resignierend. »Ein Kind, das nachts allein ist und nackt im Park schläft, noch dazu bei dieser Kälte, ist ein Fall für die Stadtverwaltung. Du kannst froh sein, dass Parnatzel dich gefunden hat, sonst wärst du vermutlich erfroren.«

»Nein«, entgegnete sie entschieden. »Mir wäre nichts passiert.«

Ellmer seufzte. Er glaubte ihr. Srimavo wäre nicht erfroren. Kälte konnte ihr nichts anhaben.

»Guten Abend«, begrüßte Klinocs die drei Besucher mit seiner blechernen Stimme. »Das statistische Amt erwartet euch schon.«

Ellmer musterte den Roboter belustigt. Eineinhalb Beine, die verbeulte, fleckige Ynkeloniumhülle und ein zerbrochenes Auge – die Maschine sah wie die Karikatur eines Roboters aus.

»Es ist früher Morgen«, belehrte er Klinocs. »Wir sind auch nicht auf dem Weg zum statistischen Amt, sondern zur Einwohnermeldebehörde.«

»Ist jemand krank?«, erkundigte sich der Roboter höflich.

»Natürlich nicht«, versicherte ihm Ellmer.

Der Roboter humpelte ihnen voraus die Stufen zum Eingang hinauf. Plötzlich gab es einen seltsamen Effekt. Im ersten Moment hielt Ellmer das Geschehen für eine optische Täuschung. Klinocs wurde durchsichtig, die in seinem Innern komprimierten Bauteile waren zu sehen.

»Donnerwetter!«, entfuhr es dem Raumfahrtveteranen. »Was war das? Hast du es auch bemerkt, Parnatzel?«

Der Matten-Willy ließ seine Augen ein Stück heraustreten und blickte wild um sich.

»Schon gut«, beschwichtigte Ellmer. »Und du, Srimavo? Erschien es dir ebenfalls, als wäre Klinocs vorübergehend transparent gewesen?«

»Es erschien nicht nur so«, erwiderte das Mädchen gleichmütig.

Jakob Ellmer verharrte auf der untersten Stufe. Ein merkwürdiges Gefühl beschlich ihn. Es war absurd, gewiss, aber in seiner augenblicklichen Stimmung hätte er womöglich noch verrücktere Ideen akzeptiert.

War es möglich, dass das Mädchen mit der vorübergehenden Veränderung des Roboters zu tun hatte?

Fast hätte er Srimavo gefragt, aber er durfte sich nicht lächerlich machen. »Kommt jetzt!«, stieß er schroffer als beabsichtigt hervor.

Sie betraten das Gebäude. Abermals fiel Ellmer auf, wie ungezwungen Srimavo sich bewegte. Das Mädchen schien keinerlei Orientierungsschwierigkeiten zu haben.

Er musterte sie nachdenklich. »Du wirst andere Kleidung bekommen«, versprach er. »Meine Sachen sind dir entschieden zu groß.«

In der Portierloge arbeitete ein grauhaariger Mann. Unwillig schaute er auf. »Ich habe schon gehört, was in der Nacht los war, und ich sage ...« Sein Blick fiel auf Srimavo, und er verstummte erstaunt.

»Wer ist das?«, fragte er Sekunden später mit einer Betonung, als hätte alles andere an Bedeutung verloren.

»Sie heißt Srimavo«, sagte Ellmer, aber der Portier hörte ihm überhaupt nicht zu.

»Mein Gott, Kind!«, rief der Grauhaarige. »Wer hat dich so zugerichtet? In diesen Klamotten kann man dich doch nicht herumlaufen lassen!«

Ellmer errötete. »Ich habe ihr Sachen von mir gegeben. Wir, das heißt Parnatzel hat das Mädchen im Park gefunden. Wir wissen nicht, zu wem sie gehört – deshalb sind wir hier.«

»Ich gehöre zu niemandem«, verkündete Srimavo.

Ihre Stimme schwang durch die Eingangshalle und schien in den Korridoren und im Treppenhaus ein Echo hervorzurufen.

»Sie ist nicht von hier«, stellte der Grauhaarige fest. »Das seht ihr doch.«

»Wir möchten mit jemandem von der Einwohnermeldebehörde sprechen«, sagte Ellmer geduldig. »Ich denke, Jedrik ist zuständig.«

»Jedrik befindet sich in Terrania«, versetzte der Portier. »Er will verhindern, dass uns weitere Evakuierte geschickt werden. Wir haben keinen Platz mehr für sie.«

Klinocs richtete sich steif auf. »Möchte jemand einen Kaffee?«, fragte er unerwartet.

»Um Himmels willen!«, rief der Grauhaarige. An Ellmer gewandt, sagte er entschuldigend: »Wenn dieses Wrack von Roboter Kaffee kocht, gibt es hier eine Überschwemmung.«

Srimavo deutete in den Hintergrund des Portierraums. »Aber der Kaffee ist bereits fertig«, stellte sie fest.

Ellmer folgte ihrer ausgestreckten Hand mit seinem Blick. Da stand tatsächlich eine dampfende Kanne auf einem Wandbord.

»Das ist ja wohl nicht möglich.« Der Grauhaarige seufzte. »Klinocs, wann hast du das gemacht?«

»Überhaupt nicht«, behauptete der Roboter.

Der Portier verzog das Gesicht. »Mit diesem Burschen lebt man gefährlich. Er macht jeden Tag mehr Fehler. Vermutlich wird er bald explodieren.«

Ellmer hatte ein Gefühl, als verlöre er den Boden unter den Füßen. In seinem Bewusstsein tanzte das schwarze Feuer, das von dem Kind ausging. »Wer vertritt Jedrik?«, hörte er sich fragen.

Jakob Ellmer betrat wenige Minuten später einen geräumigen Büroraum im ersten Stock. Ein länglicher Arbeitstisch war so aufgestellt, dass er wie eine Sperre zwischen den Besuchern und dem dahinter sitzenden Mann wirkte.

»Bist du van Duren?« Ellmer hielt dem zornigen Blick des aufspringenden Mannes stand.

»Keine unangemeldeten Besuche!«, rief sein Gegenüber.

In dem Moment betraten Srimavo und Parnatzel das Zimmer, und van Durens ohnehin verhaltenes Interesse an Ellmer erlosch schlagartig.

Der Raumfahrer nutzte die Chance. »Wir kommen wegen dieses Kindes«, sagte er mit Nachdruck. »In der vergangenen Nacht haben wir sie im Park aufgefunden. Die Kleine nennt sich Srimavo, aber sie weigert sich, uns zu sagen, woher sie kommt und zu wem sie gehört.«

Van Duren riss seinen Blick förmlich von dem Mädchen los. »Du bist Jakob Ellmer, oder?«, erkundigte er sich. »Dir haben wir den nächtlichen Einsatz zu verdanken?«

»Ja, aber ganz so verhält sich das nicht.«

Der Beamte nickte geistesabwesend. »Komm näher!«, forderte er das Mädchen auf. »Du heißt also Srimavo. Ist das dein vollständiger Name?«

»Ja.« Die Glockenstimme hüpfte förmlich durch das nüchterne Büro und verbreitete einen geheimnisvollen Zauber.

Van Duren aktivierte die Aufzeichnung. »Alter?«, fragte er.

»Zwölf«, antwortete Srimavo freundlich und schaute Ellmer an. »Das könnte doch hinkommen, nicht wahr?«

»Hm«, machte der Raumfahrer nur.

»Heißt das, dass du nicht weißt, wie alt du bist?«, fuhr van Duren dazwischen.

»So ungefähr«, sang die Glockenstimme.

»Angenommenes Alter zwölf«, wiederholte van Duren widerwillig. »Bist du eine Bürgerin Shonaars? Kannst du uns deine Adresse nennen?«

»Nein.«

Ellmer spürte, dass van Duren nicht wusste, wie er sich verhalten sollte.

»Du weißt also nichts über deine Herkunft?«

Die abgrundtiefen Augen des Mädchens sahen van Duren erstaunt an.

»Ich warte!«, drängte der Beamte.

Über seinem Arbeitstisch erhob sich ein kleiner Sturm. Das Zimmer war voll klimatisiert, alle Türen und Fenster waren verschlossen. Trotzdem entstand wie aus dem Nichts dieser Luftwirbel, der alles, was lose auf dem Tisch lag, quer durch den Raum wehte.

Ungehalten blickte van Duren in Richtung des Matten-Willys. »Hör sofort auf damit!«, befahl er.

Parnatzel sank ein Stück in sich zusammen. Sein Gesicht wurde zur formlosen Masse, in der nur ein kümmerliches Auge zurückblieb. »Ich habe nichts getan«, beteuerte das Wesen von der Hundertsonnenwelt.

»Er soll draußen warten!«, verlangte van Duren.

»Tu, was er sagt!«, forderte Ellmer den Matten-Willy auf.

Vor sich hin brummelnd glitt Parnatzel aus dem Zimmer.

»Einen Augenblick«, sagte van Duren. »Diese Angelegenheit erscheint mir besonders wichtig. Ich informiere mich, ob der Bürgermeister schon eingetroffen ist.«

Das entstehende Hologramm konnte Ellmer nicht einsehen. Er hörte auch nicht, was der Beamte sagte, da eine akustische Sperre den Tisch abschirmte. Aber schon kurz darauf betrat Bürgermeister Deerno den Raum. Er deutete mit dem Daumen hinter sich.

»Du hast diesen Schnapsdieb tatsächlich hierher gebracht«, fuhr Brude Deerno Ellmer an. »Nun ist er draußen im Gang und belästigt jeden.«

Sein Blick fiel auf Srimavo, und für den ehemaligen Raumfahrer war es faszinierend, dieses Wechselbad von Gefühlen auf dem Gesicht des Bürgermeisters ablesen zu können.

»Sie heißt Srimavo«, erklärte van Duren. »Sie ist zwölf. Ellmer hat sie im Park gefunden. Sie weiß angeblich nicht, woher sie kommt und zu wem sie gehört.«

Deerno, der gern als ein Mann auftrat, der auf alle Fragen eine Antwort wusste, sagte großspurig: »Sie hat einen Schock erlitten und dabei das Gedächtnis verloren, so was gibt es. Haben wir schon eine Vermisstenmeldung?«

»Hier nicht«, antwortete van Duren nervös.

»Also lassen wir sie erst einmal ins medizinische Zentrum bringen. Die Ärzte werden sie untersuchen. Bevor sie damit fertig sind, werden sich die Eltern wohl melden.« Deerno wandte sich an Ellmer: »Du kannst gehen. Übrigens wird dir wegen der Alkoholsache der Einsatz von Gerätschaften und Beamten der Stadtverwaltung in Rechnung gestellt.«

Ellmer sah Srimavo an. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber er hatte nicht den Eindruck, dass sie ängstlich oder traurig war. »Alle werden sich um dich kümmern«, versicherte er ihr. »Du bist in guten Händen.«

Sie sah kurz auf, und Ellmer zuckte unter ihrem Blick zusammen wie unter einer heftigen Berührung. Er floh förmlich auf den Gang hinaus. Gleich darauf spürte er, wie die dunklen Flammen in seinem Bewusstsein erloschen. Er fühlte sich wie von einer Last befreit, gleichzeitig hatte er das Gefühl, etwas sehr Wertvolles verloren zu haben.

Im Büro sagte Brude Deerno zu van Duren: »Die meisten dieser Raumfahrer sind aufsässige Liberale.«

Ein Schatten fiel über das Fenster, und vorübergehend herrschte in dem Raum Halbdunkel. Die seltsame Dämmerung hielt nur sekundenlang an, aber Deerno wurde blass. »Was war das?«, fragte er erschrocken.

»Eine Wolke vielleicht«, antwortete van Duren. »Soll ich nachsehen?«

»Unsinn«, lehnte der Bürgermeister ab. »Wozu?«

Srimavo stand still da. Ihr Gesicht wirkte auf eine Weise weltentrückt, wie Brude Deerno es bei einem jungen Menschen noch nie gesehen hatte. In der Nähe dieses Mädchens fühlte er sich unbehaglich, aber irgendetwas an ihm zog ihn zugleich an.

»Sie ist eine richtige kleine Sphinx«, raunte er.

So erhielt Srimavo jenen Namen, unter dem sie bald über Shonaars Grenzen hinaus bekannt werden sollte.

Als sich Jakob Ellmer und Parnatzel dem Bungalow näherten, blieb der ehemalige Raumfahrer jäh wie angewurzelt stehen.

Vor dem Hauseingang hockte ein dürres Mädchen in viel zu großer Männerkleidung.

»Srimavo«, ächzte Ellmer. »Parnatzel, sie ist schon wieder da.«

Der Matten-Willy wiegte den Kopf. »Wie ist das möglich? Entweder ist sie von der Stadtverwaltung hierher gerannt, oder sie kennt eine Abkürzung.«

»Vielleicht wurde sie mit einem Gleiter gebracht«, vermutete Ellmer.

Srimavo sah ihnen mit freundlicher Erwartung entgegen. Der Raumfahrer machte ein strenges Gesicht und betrat den Vorgarten.

»Wie kommst du hierher? Du solltest im medizinischen Zentrum sein.«

»Ich bin nicht krank.«

»Sie haben dich einfach entlassen?«, staunte Ellmer.

»Nein. Ich bin gegangen.«

Der Unterschied wurde ihm sofort bewusst, aber bevor er darauf reagieren konnte, hörte er aus dem Haus den Signalton eines Anrufs. Ellmer hob das Mädchen hoch und nahm es mit ins Wohnzimmer. Parnatzel folgte ihnen.

Der Anruf kam von der Verwaltung. Als sich das Hologramm aufbaute, erschien das Abbild des Bürgermeisters.

»Deine Sphinx ist verschwunden!«, sagte Deerno heftig. »Hast du eine Erklärung dafür?«

Sphinx!, dachte Ellmer verwundert. Ausgerechnet der knochentrockene Brude hat einen so zutreffenden Namen gefunden?

»Wie kann sie einfach verschwinden?«, fragte er ironisch zurück. »Deine Leute sind nicht in der Lage, ein zwölfjähriges Kind zu beaufsichtigen?«

»Jakob, du hast damit zu tun«, sagte Deerno drohend. »Letzte Nacht hatten wir Ärger mit deinem Freund von der Hundertsonnenwelt. Und nachdem du weggegangen bist, sind in der Verwaltung merkwürdige Dinge geschehen.«

»Merkwürdige Dinge?«, echote Ellmer.

Deerno winkte heftig ab. »Das lässt sich nicht so ohne Weiteres beschreiben. Ich warne dich allerdings. Wenn du diesen Matten-Willy nicht unter Kontrolle hältst, werden wir dafür sorgen, dass er Terra verlassen muss.«

»Was wirft er mir eigentlich vor?«, fragte Parnatzel aus dem Hintergrund.

»Es ist nichts Konkretes.« Ellmer trat einen Schritt zur Seite. Dabei gerieten Parnatzel und das Mädchen in den Aufnahmebereich des Bildfunks.

»Da ist sie ja!« Deernos Gesichtsausdruck veränderte sich, sein Blick zeigte blankes Entsetzen. Ellmer war überzeugt davon, dass der Bürgermeister etwas Schreckliches in seinem Hologramm erblickte, was nicht der Realität entsprach. Jedenfalls wurde die Verbindung von der anderen Seite unterbrochen.

»Was mag er gesehen haben?«, fragte Parnatzel, der offenbar ähnliche Überlegungen anstellte wie Ellmer. »Er schien mir vom Grauen schier überwältigt.«

Der Raumfahrer nickte langsam. Er zeigte auf einen freien Sessel und forderte Srimavo auf, darin Platz zu nehmen. Parnatzel kauerte sich unter dem Tisch zusammen.

»Ich gehe davon aus, dass wir sehr schnell Besuch von der Ordnungsbehörde erhalten«, sagte Ellmer. »Willst du unter diesen Umständen endlich reden, kleine Sphinx?«

»Ich habe alles gesagt.« Srimavos Blicke hüllten ihn regelrecht ein. Er hatte den Eindruck, in einen Abgrund zu stürzen.

»Wenn wir dir helfen sollen, musst du mit uns zusammenarbeiten, Sri!«, fuhr Ellmer eindringlich fort. »Auf dem Weg hierher habe ich intensiv nachgedacht und bin zu einer Art Lösung gekommen.«

»Oh!«, rief Parnatzel neugierig.

»Ich könnte mir vorstellen, dass Sri ausgesetzt worden ist. Es gibt da vermutlich Eltern, die nicht mehr aus noch ein wissen. Zwei verzweifelte Menschen, die ihre Tochter vermutlich innig lieben, die aber keinen anderen Ausweg mehr sehen, als sich ihrer zu entledigen.«

»Wer sollte so handeln?«, rief der Matten-Willy empört. »Das hast du dir doch nur zusammengereimt, Jakob.«

»Zugegeben, es ist eine Hypothese«, erwiderte Ellmer. »Stell dir Eltern vor, deren Kind unglaubliche Fähigkeiten entwickelt und die verrücktesten Dinge anstellt.«

Parnatzel gab ein pfeifendes Geräusch von sich. »Du glaubst, dass Srimavo eine Mutantin ist?«

»So ungefähr. Aber sie hat ihre Fähigkeiten nicht unter Kontrolle. Was sie tut, geschieht unbewusst. Sie lässt sich von ihren Gefühlen leiten. Man braucht Sphinx doch nur anzusehen, um zu erkennen, dass sie ein außergewöhnliches Kind ist. Erinnere dich an Klinocs, Parnatzel, an den plötzlich zubereiteten Kaffee, an den Sturm in van Durens Büro und an Deernos Gesicht im Hologramm.«

Srimavo hatte sichtlich bestürzt zugehört, nun schüttelte sie entschieden den Kopf. »Niemand hat mich ausgesetzt!«, rief sie. »Ich bin auch nicht das, was ihr eine Mutantin nennt.«

»Auf jeden Fall bist du eine Nummer zu groß für uns«, sagte Ellmer bekümmert. »Ich kann verstehen, dass du bei uns bleiben möchtest, aber das ist unmöglich. Die Behörden müssen sich deiner annehmen und herausfinden, wer du wirklich bist und wohin du gehörst.«

In der Ferne erklang Sirenengeheul.

Parnatzel blickte unter dem Tisch hervor. »Lasst uns abhauen!«, drängte er. »Noch ist Zeit dazu.«

Ellmer ging zu Srimavo. Er hatte sie tröstend in die Arme nehmen wollen, aber ihm wurde bewusst, dass sie seinen Zuspruch nicht nötig hatte.

Keine Behörde des Planeten würde ihr etwas anhaben können, davon war er überzeugt.

Er öffnete die Veranda. Drei Gleiter schwebten heran. In der vorderen Maschine hockte Deerno neben dem Piloten und gestikulierte heftig.

»Rührt euch nicht!«, rief Ellmer ins Wohnzimmer zurück. »Dieser Narr von Bürgermeister trägt eine Waffe.«

Die Gleiter schienen plötzlich Triebwerksprobleme zu haben. Jedenfalls taumelten sie aufeinander zu, stießen zusammen und fielen aus nur mehr wenigen Metern Höhe zu Boden. Erdreich und Pflanzen wurden hochgeworfen. Schreiend schwangen sich die Insassen aus den Maschinen und rannten ziellos durch den Garten. Zuletzt sprang Deerno ins Freie.

»Hierher!«, schrie der Bürgermeister und stürmte zur Veranda.

»Dafür wirst du büßen!«, zischte er Ellmer an und hastete an ihm vorbei. Ein gutes Dutzend bewaffnete Männer und Frauen folgten ihm.

Unvermittelt blieben alle stehen. Ein goldenes Leuchten erfüllte das Wohnzimmer. Aus dieser Flut angenehmer Helligkeit trat Srimavo hervor, ihre Augen versprühten schwarze Flammenspeere.

Dann erlosch das seltsame Licht.

2.

Geoffry Abel Waringer betrat Perry Rhodans Arbeitszimmer im Hauptquartier der Kosmischen Hanse. Rhodan führte soeben eine hitzige Debatte mit Reginald Bull. Waringer grüßte stumm und ließ sich in einem freien Sessel nieder. Er hörte einige Zeit zu und stellte fest, dass Rhodan und Bull sich nicht über ihr weiteres Vorgehen im Fall des Haluters Icho Tolot einigen konnten. Tolot hielt sich mittlerweile an Bord der BASIS auf, die zur Galaxis Norgan-Tur unterwegs war. Als potenzieller Agent von Seth-Apophis bedeutete der Haluter zwar eine Bedrohung für das Fernraumschiff, doch Rhodan nahm dieses Risiko in Kauf. Der erste Sprecher der Kosmischen Hanse wollte mehr über Tolots Absichten und damit über Seth-Apophis herausfinden.

Ziel der BASIS war der Planet Khrat. Dort befand sich der Dom Kesdschan, ein geheimnisumwittertes Gebäude des Wächterordens der Ritter der Tiefe. Jen Salik hatte dort die endgültige Weihe als Ritter der Tiefe erhalten. Er hatte nach seiner Rückkehr Rhodan aufgefordert, ebenfalls nach Norgan-Tur zu reisen und dort seinen Ritterstatus zu vervollkommnen.

Zunächst war Perry Rhodan von dieser Idee wenig begeistert gewesen. Dem Auftrag von ES folgend, expandierte die Kosmische Hanse mittlerweile weit über die Grenzen der Milchstraße hinaus. Die damit verbundenen Aufgaben und die deutlicher werdenden bedrohlichen Aktivitäten der ES-Kontrahentin Seth-Apophis ließen es Rhodan geraten erscheinen, sich in erster Linie um die Belange der Handelsorganisation zu kümmern.

Inzwischen hatte sich jedoch manches ereignet, was Rhodan veranlasst hatte, seine Meinung zu ändern.

Nachdem der im Spätsommer des letzten Jahres auf geheimnisvolle Weise erschienene Quiupu zum ersten Mal die Begriffe »Viren-Imperium«, »Vishna« und die »drei Ultimaten Fragen« erwähnt hatte, waren Rhodan durch Carfesch und Jen Salik weitere Einzelheiten zu diesem Komplex bekannt geworden.

Quiupu versuchte offenbar, einen Teil des Viren-Imperiums im Auftrag der Kosmokraten zu rekonstruieren. Wenn man ihm glaubte, und Rhodan tat dies, war Quiupu nicht als Einziger mit dieser Aufgabe betraut. An verschiedenen Orten waren wohl Unbekannte damit befasst, Viren, die Quiupu als »Maschinchen« bezeichnete, zusammenzusetzen. Sein erster Versuch in dieser Hinsicht war ohne Wissen der terranischen Behörden erfolgt und hatte im Wandergebirge von Shonaar fast zu einer Katastrophe geführt.

Inzwischen befand Quiupu sich mit Billigung der Kosmischen Hanse und der Liga Freier Terraner auf dem Planeten Lokvorth, um seine Experimente fortzusetzen. Doch der Extraterrestrier war in den Wäldern von Lokvorth untergetaucht, und Perry Rhodan wartete bislang vergeblich auf Quiupus Wiedererscheinen.

Der teilweise Wiederaufbau des Viren-Imperiums stand eindeutig in engem Zusammenhang mit den drei Ultimaten Fragen. Die Kosmokraten suchten scheinbar verzweifelt nach Antworten darauf.

Rhodan ahnte, dass von diesen Antworten Entwicklungen von universeller Bedeutung abhingen, auch das Schicksal der Menschheit und vieler anderer Zivilisationen.

Nach allem, was er bisher über diese Fragen erfahren hatte, lautete die erste: Wo beginnt und wo endet die Endlose Armada? Die zweite Frage hieß: Wer hat das GESETZ initiiert und was bewirkt es?

Die dritte Frage war dem Wortlaut nach nicht bekannt, aber sie stand in engem Zusammenhang mit etwas, das als »Frostrubin« bezeichnet wurde.

Rhodan wusste nicht, ob dies der tatsächliche Inhalt der drei Ultimaten Fragen war. Er konnte nicht einmal sicher sein, ob er diese Fragen in der richtigen Reihenfolge ihrer Bedeutung kannte.

Allerdings hatte Jen Salik unabhängig von Carfesch – einer projizierten Existenzform, die einst dem Kosmokraten Tiryk als Botschafter gedient hatte und nun auf der Erde weilte – Rhodan einen faszinierenden Bericht über seine Erlebnisse in einem Gewölbe unter dem Dom Kesdschan auf Khrat gegeben. Dieses Gewölbe stellte eine Art Museum des Wächterordens dar, dort wurden Relikte aus ferner Vergangenheit aufbewahrt.

Salik hatte aber auch die Überreste der Steinernen Charta von Moragan-Pordh gesehen, die die Regeln der Porleyter beinhaltete, einer Vorläuferorganisation der Ritter der Tiefe. Auf diesen Bruchstücken gab es ebenfalls Informationen über einen Frostrubin, eine Endlose Armada und über das GESETZ. Sie waren jedoch so unvollständig, dass Carfeschs Behauptungen damit nur gestützt, nicht aber ergänzt werden konnten.

Um ohne Zeitverlust nach Khrat gelangen und das Gewölbe aufsuchen zu können, hatte Rhodan die BASIS nach Norgan-Tur geschickt. Da die BASIS ein Raumschiff der Kosmischen Hanse war, konnte er sie mithilfe von Laires Auge und dem distanzlosen Schritt ebenso in Nullzeit erreichen wie jeden anderen Stützpunkt der Handelsorganisation.

Rhodan ahnte, dass der Konflikt zwischen ES und Seth-Apophis nur ein vordergründiges Problem war, dass es tatsächlich um weit bedeutsamere Dinge und Zukunftsaspekte ging. In den Tiefen des Universums spielten sich womöglich Vorgänge ab, die über die Zukunft dieses Raum-Zeit-Kontinuums entscheiden konnten.

In den vergangenen Tagen hatte Perry Rhodan alle Verantwortlichen der Hanse, der Liga und der Galaktischen Völkerwürde-Koalition in alles eingeweiht, was er über die Ultimaten Fragen und das Viren-Imperium wusste. Außerdem bereitete er für die nächsten Tage eine Rede vor. Er wurde von allen Seiten mit Fragen bestürmt. Das Auftreten von Cyber-Brutzellen, Seth-Apophis-Agenten und Zeitweichen ließ sich nicht mehr mit läppischen Erklärungen und Ausflüchten abtun. Die Völker der Milchstraße mussten die Wahrheit erfahren.

Die Wahrheit – das war das eigentliche Ziel der Kosmischen Hanse, die nur vordergründig als Handelsorganisation gedacht war.

Es war die Aufgabe der Hanse, Agenten und Aktivitäten von Seth-Apophis aufzuspüren. Darüber hinaus sollte der Versuch unternommen werden, der im Konflikt mit ES stehenden Superintelligenz aus ihrer verzweifelten Lage zu helfen. Seth-Apophis drohte sich durch eine evolutionäre Fehlentwicklung in eine Materiesenke zu verwandeln. Deshalb griff sie die Mächtigkeitsballung von ES an. Sie wollte ihre eigene Situation stabilisieren, indem sie dem Bereich von ES Kräfte entzog.

Perry Rhodan wusste, dass die Milchstraße bisher nur peripher davon betroffen war. Die Menschheit hatte noch nicht viel von den Angriffen zu spüren bekommen, die sich andernorts vermutlich zutrugen. Nun sah es aber so aus, als sollten die Zivilisationen der Milchstraße tiefer in die Auseinandersetzungen verwickelt werden.

Ein Gefühl der Ohnmacht überkam Rhodan jedes Mal, wenn er an die eigentliche Aufgabe dachte. Wie sollte die Hanse einer Superintelligenz helfen, wenn niemand wusste, wer oder was sie war und wo sie sich befand?

Erst Tolot hatte einige Hinweise geliefert. Der Haluter hatte mehrfach von einem Depot gesprochen, das er unter allen Umständen erreichen wollte. Darüber hinaus war inzwischen bekannt, dass Seth-Apophis offenbar den Zwillingsquasar 0957+561 A und 0957+561 B, der nicht weniger als 14 Milliarden Lichtjahre entfernt war, als eine Art mentales Leuchtfeuer benutzte.

Kein Wunder, dass Rhodans Gefühle, was die BASIS anging, ziemlich widersprüchlich waren: Einmal hoffte er, über die BASIS bald in das Gewölbe auf Khrat zu gelangen und weitere Informationen über die Ultimaten Fragen zu erlangen – zum anderen wollte er Tolot an Bord der BASIS so weit wie möglich gewähren lassen, um mehr über Seth-Apophis zu erfahren.

Das war die Situation, wie sie sich am 9. Januar 425 NGZ darstellte.

»Das Dilemma ist, dass keiner von uns weiß, wie der richtige Weg aussieht«, sagte Waringer. »Wir können nur hoffen, intuitiv das Richtige zu tun. Ein Fehler wird allerdings für uns alle schmerzliche Folgen haben.«

Reginald Bull schaute den Wissenschaftler grimmig an. »Ist Geoffry nicht ein wahrer Philosoph?«, fragte er sarkastisch. »Wären wir je auf diese Gedanken gekommen, Perry, wenn er uns blinden Hühnern nicht die Augen für die Wirklichkeit öffnen würde?«

Waringer spitzte die Lippen. »Immerhin kommen wir mit dem Projekt PHOENIX voran.«

»Diese merkwürdigen Experimentalraumschiffe, die vermutlich niemals in Serie gehen werden?«, fragte Bull misstrauisch. »Ein Antrieb, wie er beim Prototyp der PHOENIX geplant ist, kann nicht funktionieren.«

»Ja«, sagte Waringer gleichmütig. »Schon möglich, dass es ein Reinfall wird.«

»Da wird das Kapital mit vollen Händen zum Fenster rausgeworfen«, klagte Bull. »Und bei wirklich wichtigen Projekten kommt dann der große Meister persönlich, um seine Freunde anzupumpen.«

Rhodan reagierte mit einer unwilligen Handbewegung. »Du wirst dein Geld, das du in das Lokvorth-Projekt gesteckt hast, zurückerhalten, Bully.«

»Natürlich. In dreißig Jahren vielleicht und in Form von Naturalien. Einige Sack Kaffeebohnen, die auf Lokvorth geerntet wurden.«

Perry Rhodan wurde einer Antwort enthoben, denn Julian Tifflor meldete sich über die Hotline. Das Gesicht des Ersten Terraners entstand im Hologramm.

»Eine illustre Versammlung«, bemerkte Tifflor, als er die drei Männer in Rhodans Büro sah. »Fehlt nur noch dieses plattschwänzige Ungeheuer von einem Mausbiber, und die Hanse-Mafia ist komplett.«

»Ich bitte dich«, sagte Rhodan.

»Hanse-Mafia?«, wiederholte Bull. »Ihr Spekulationspensionäre von der LFT habt solche Kommentare gerade nötig!«

Obwohl die Kosmische Hanse und die Liga Freier Terraner eng zusammenarbeiteten, gab es ein gewisses Konkurrenzdenken – und wenn es auch nur im Austausch von Anzüglichkeiten bestand.

Tifflor grinste breit. »Glaubt einer von euch an Hexen?«, erkundigte er sich.

Die Frage löste Verblüffung und Ratlosigkeit aus. Die drei Männer in Rhodans Büro wussten, dass der Erste Terraner ein viel beschäftigter Mann war, der nicht anrief, um Scherze zu machen. Wenn er sich meldete, hatte dies einen triftigen Grund.

»Die letzte Hexe, an die ich mich erinnere, hieß Tipa Riordan – aber sie wurde keineswegs auf einem Scheiterhaufen verbrannt«, bemerkte Reginald Bull.

»Ich bin in einem Nachrichtenstream auf etwas gestoßen, dem ich normalerweise keine große Bedeutung beigemessen hätte«, sagte Tifflor. »Allerdings ist eine Region betroffen, die uns seit dem letzten Herbst in unangenehmer Erinnerung ist.«

»Sprichst du von Shonaar?«, fragte Bull stirnrunzelnd.

Tifflor nickte. »Ich spiele euch eine Nachricht ein, die ich dem lokalen Teil von Terra-Info entnommen habe.«

Das Hologramm veränderte sich. Aus einem Funkenwirbel heraus entstand eine Textpassage.

Sphinx – Die Hexe von Shonaar, lautete die Schlagzeile. Darunter stand: In der Raumfahrersiedlung Shonaar am Fuß des gleichnamigen Wandergebirges, das im Oktober 424 NGZ schon einmal Schauplatz mysteriöser Ereignisse war, geschehen offenbar erneut seltsame Dinge. Ein geheimnisvolles Kind, über dessen Herkunft wohl keine Klarheit besteht, sorgte in den vergangenen Tagen für gehörigen Wirbel bei der lokalen Verwaltung. Das Mädchen, seines Aussehens und seiner seltsamen Fähigkeiten wegen von den Bürgern Shonaars nur »Sphinx« genannt, heißt Srimavo. Angeblich ist sie für eine Reihe von Spukerscheinungen verantwortlich, die teilweise Chaos in der Stadtverwaltung auslösten. »Dieses Mädchen ist eine Hexe«, soll der amtierende Bürgermeister Brude Deerno sich zu den Zwischenfällen geäußert haben. Unserem nach Shonaar entsandten Berichterstatter war es indes nicht möglich, das geheimnisvolle Kind zu sehen. Es soll in Begleitung des Raumfahrtveteranen Jakob Ellmer und eines Matten-Willys verschwunden sein.

Julian Tifflor wurde wieder sichtbar.

»In Shonaar hören die Leute seit Quiupus Viren-Experiment das Gras wachsen«, kommentierte Bull.

»Srimavo ...«, murmelte Waringer. »Hat einer von euch diesen Namen schon gehört?«

Rhodan schüttelte den Kopf. »Vermutlich hat Bully recht. Merkwürdige Ereignisse rufen über kurz oder lang Nachahmer auf den Plan.«

»Trotzdem lassen sich paranormale Vorgänge in Shonaar nicht ganz ausschließen«, wandte Tifflor ein.

»Warum ausgerechnet wieder Shonaar?«, fragte Bull. »Ein derartiger Zufall ist mehr als unwahrscheinlich.«

»Und wenn es kein Zufall wäre?«, provozierte der Erste Terraner.

»Es ist absurd, eine Verbindung zwischen Quiupus missglücktem Viren-Experiment und diesem jüngsten Ereignis herbeizudeuten, Tiff.« Rhodan winkte ab. »Ich glaube, dass es sich bei den Vorfällen um Srimavo lediglich um eine lokale Klatschgeschichte handelt. Ein Zusammenhang mit Quiupu lässt sich nicht einmal konstruieren.«

»Natürlich hast du recht, Perry.« Tifflor nickte zögernd. »Aber du selbst hast uns angehalten, alles besonders aufmerksam zu beobachten, was mit Shonaar zu tun hat.«

»Was schlägst du vor?«, fragte Rhodan.

»Wir schicken unsererseits einen ... äh ... Berichterstatter nach Shonaar«, platzte Reginald Bull dazwischen.

»Akzeptiert«, sagte Rhodan. »An wen denkst du?«

»Ich werde gehen«, sagte Bully.

»Wir schicken Fellmer Lloyd. Als Telepath und Orter wird er rasch herausfinden, ob Ungewöhnliches in der Raumfahrersiedlung vorgeht.«

Die Pension, in der sie untergekommen waren, lag im Raumhafengebiet von Terrania. Jakob Ellmer vermutete zu Recht, dass seine beiden Begleiter und er hier, wo es von den verschiedensten Lebensformen nur so wimmelte, am wenigsten auffallen würden.

Ellmer ging davon aus, dass Bürgermeister Deerno die Sache nicht an die übergeordneten Behörden weitergeben würde. Vermutlich war Deerno sogar froh, Ellmer, Srimavo und den Matten-Willy endlich los zu sein.

Andererseits hatte Ellmer sich nichts zuschulden kommen lassen, und die Aussichten, alle Rätsel um das Mädchen zu lösen, wären in Shonaar besser gewesen.

Was wollen wir überhaupt hier?, fragte sich der Veteran verwirrt, als er ihre wenigen Habseligkeiten in einem Wandschrank verstaute. Sie hatten neue Kleidung für Sri gekauft. Das Kind war, kaum dass sie das Zimmer betreten hatten, auf einem der drei Betten eingeschlafen.

Ellmer blickte zu Srimavo. Sogar im Schlaf wirkte das magere Mädchen ungewöhnlich.

»Sie schläft fest.« Er wandte sich an Parnatzel. »Es wird Zeit, dass wir uns unterhalten und uns über unsere Absichten klar werden.«

»Hat das nicht bis später Zeit?«, erkundigte sich der Matten-Willy.

»Nein«, sagte Ellmer kategorisch. »Du weißt so gut wie ich, dass wir einen Fehler begangen haben. Dieses Kind gehört nicht zu uns. Wir hätten Sri den Behörden überlassen müssen.«

»Du meinst Deerno?«, fragte Parnatzel mit allen Anzeichen des Widerwillens.

»Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist, mit euch nach Terrania zu fliehen – wie ein Verbrecher«, fuhr Ellmer fort. »Auf jeden Fall werde ich das Versäumte so schnell wie möglich nachholen. Wir geben diese kleine Sphinx bei den Behörden in Terrania ab.«

»Und wenn sie nicht damit einverstanden ist?«

»Du redest Unsinn, Parnatzel. Sri ist nicht älter als zwölf, also minderjährig. Jemand ist für sie verantwortlich, vermutlich ihre Eltern. Auch wenn wir wollten – wir dürfen sie nicht bei uns behalten.«

Parnatzel seufzte. »Ich kenne einen Teil eurer unsinnigen Gesetze. Ist das, wovon du redest, eines davon?«

»Ja.« Ellmer nickte. »Und es ist nicht unsinnig, sondern zweckmäßig. Auf keinen Fall kann das Mädchen bei uns bleiben.«

Er hatte das untrügliche Gefühl, dass ihn jemand von hinten ansah, und wandte sich um. Srimavo war aufgewacht und hatte sich auf die Ellenbogen gestützt. In dieser Haltung sah sie Ellmer und das Protoplasmawesen an.

Wieder entstand in Ellmers Bewusstsein die Vision eines dunklen Feuers. Er hatte das Gefühl, von ihren Augen unnachgiebig angezogen zu werden.

»Es tut mir aufrichtig leid, Sri«, sagte er schwer. »Aber allmählich glaube ich, dass du Hilfe brauchst.«

Sie kletterte vom Bett. Auch in den jugendlichen Kleidern, die Ellmer für sie gekauft hatte, wirkte sie nur bei oberflächlicher Betrachtung wie ein Kind.

Sie ging zur Tür.

»Wohin willst du?«, fragte Ellmer.

»Ich gehe weg«, verkündete sie.

Er wollte sie daran hindern, aber er brachte nicht die innere Kraft auf, ihr den Weg zur Tür zu versperren. Immerhin folgte er ihr in einigen Metern Abstand. Parnatzel glitt schimpfend hinter ihnen her.

Die Pension besaß keinen Antigravlift. Srimavo schritt ohne Hast und ohne sich umzudrehen, die Treppe hinab.

Die Rezeption war nicht besetzt, aber auf einer Couch schräg gegenüber dem Eingang saß ein Ara. Der hagere glatzköpfige Mann blickte interessiert von einem Holomagazin auf, als er die Schritte hörte. Ellmer sah, wie die Augen des Galaktischen Mediziners sich wie an unsichtbaren Fäden bewegten, kaum, dass sie Srimavo taxierten. Das Mädchen verließ die Pension, und der Ara, wie im Bann einer unerklärlichen Magie, erhob sich.

»Ist das dein Kind?«, wandte er sich Ellmer zu.

»Ja«, sagte der Veteran. »Meine Tochter.«

Er trat ebenfalls auf die Straße hinaus, Parnatzel schloss zu ihm auf. Srimavo näherte sich bereits einem der parkenden Flugtaxis.

»Sie scheint sich gut auszukennen«, zwitscherte der Matten-Willy. »Vielleicht stammt sie aus Terrania.«

Ellmer sah, dass es sich bei dem Gleiter um ein Robotfahrzeug handelte, und er atmete auf. Srimavo hatte keine Kreditkarte und kein Geld, der Roboter würde sie also nicht transportieren.

Das schwarzhaarige Mädchen stieg in den Gleiter. Gleich darauf hob die Maschine ab und deutete an, dass sie sich in den fließenden Verkehr einordnen wollte.

Jakob Ellmer stieß eine Verwünschung aus. »Wie hat sie das nur fertiggebracht? Schnell, wir müssen ihr folgen.«

»Ich dachte, wir wollten sie loswerden«, sagte Parnatzel verblüfft, während sie beide in eine andere Maschine stiegen.

»Nicht auf diese Weise«, wehrte Ellmer ab. »Ich fühle mich für sie verantwortlich. Zumindest will ich wissen, dass sie in guter Obhut ist.«

Parnatzel thronte wie eine große Qualle auf einem der vorderen Sitze. Zwischen seinen Körperfalten zog er mit zwei Pseudopodien eine Karte hervor und presste sie gegen eine Leuchtfläche der Frontkonsole. »Folge der gerade gestarteten Maschine!«, befahl er dem Roboter.

Rund um den Raumhafen gab es unzählige Landeflächen. Auf einer davon ging Srimavos Robottaxi nach einer Weile nieder.

»Ist es möglich, dass ein Passagier ohne Bezahlung transportiert wird?«, erkundigte sich Ellmer.

»Nein«, antwortete die Positronik seines Fahrzeugs. »Sondertransporte erfolgen nur in Notfällen.«

»Vielleicht hat sie sich ohne unser Wissen Geld verschafft«, vermutete Parnatzel.

Ellmer glaubte nicht daran. Er nahm vielmehr an, dass es Sphinx gelungen war, den Roboter zu überzeugen, dass es sich bei ihrem Flug um einen Notfall handelte. Wie sie das gemacht hatte, war eine andere Frage – und sie beunruhigte den Veteranen.

Als sie landeten, stieg Srimavo gerade aus dem Robottaxi. Sie ging über den Parkplatz, als wäre sie allein auf der Welt. Ellmer war überzeugt davon, dass das Mädchen von den Verfolgern wusste. Ein derartiges Selbstbewusstsein wäre schon bei einem Erwachsenen ungewöhnlich gewesen, bei dem Kind wirkte es einfach beängstigend.

Sri erreichte ein Gleitband – und wurde sofort zum Mittelpunkt des Interesses aller Passagiere auf dem Band.

Ellmer rannte los. Parnatzel musste seine Beine verlängern, um mit ihm Schritt halten zu können.

»Sri!«, rief Jakob Ellmer, als sie das Mädchen allmählich einholten. »Warte auf uns, Sri!«

Er sprang aufs Band, kaum dass er in einer Höhe mit dem Mädchen war. Srimavo sah ihn an, verwundert und missbilligend zugleich. Nach Atem ringend, versuchte Ellmer, die neugierigen Blicke der Umstehenden zu ignorieren.

»Was hast du vor?«, keuchte er.

Das Mädchen blickte in Richtung des Raumhafens. »Vielleicht verlasse ich die Erde.«

»Wie stellst du dir das vor? Du kannst den Planeten nicht so einfach verlassen, ohne Ausrüstung, ohne Ziel, ohne Geld.«

»Oh, das macht mir nichts aus«, sagte Sri ruhig.

Mit Parnatzels Hilfe zog Ellmer sie vom Gleitband. Die Geräuschkulisse des Raumhafens hüllte sie ein, als summe in der Nähe ein Schwarm zorniger Rieseninsekten. Jakob Ellmer, der sich in dem Moment vorstellte, Srimavo könnte an Bord eines der vielen Raumschiffe verschwinden, schauderte zusammen.

»Du bist nicht von der Erde?«, fragte er.

Völlig unerwartet für Ellmer klammerte sich das Mädchen an ihn und hielt ihn umschlungen. Ellmer glaubte Srimavo schluchzen zu hören. Zögernd strich er ihr übers Haar. Es war zum ersten Mal, dass sie so reagierte, und es verwirrte den Raumfahrer noch mehr als alles andere, was sie bisher getan hatte.

»Ich weiß nicht, wohin ich gehöre«, murmelte sie, das Gesicht gegen seine Jacke gepresst. »Meine Kraft macht mir Angst.«

Ellmer hielt es für das Beste, wenn er jetzt schwieg. Er ahnte, dass das, was er soeben gehört hatte, der höchste Vertrauensbeweis war, den er von diesem Kind erwarten konnte. Tatsächlich machte Sri sich gleich darauf los und sah ihn fast zornig an. Zum ersten Mal empfand er das schwarze Feuer, das in ihrer Gegenwart in seinem Bewusstsein loderte, als schmerzhaft.

»Wir müssen nachdenken«, sagte Ellmer schließlich.

Sie suchten ein kleines Automatrestaurant, das kaum besetzt war, und ließen sich an einem Ecktisch nieder. Srimavo beachtete Ellmers Rat und hielt den Kopf gesenkt, sodass sich die Aufmerksamkeit der anderen Gäste in Grenzen hielt oder fast ausschließlich auf Parnatzel konzentrierte, der wie das Zerrbild eines Menschen aussah.

Ellmer wählte Sandwiches mit Ei und Schinken und Kaffee für Srimavo und sich. Parnatzel ging wie immer bei solchen Gelegenheiten leer aus.

Der Kaffee war lau und schmeckte schal. Während Ellmer trank, versuchte er, seine Gedanken zu ordnen.

»Es ist sicher falsch, dich irgendwo abzugeben, Sri«, sagte er schließlich. »Du musst mit den richtigen Leuten zusammengebracht werden.«

Sie blickte ihn über den Tisch hinweg an. In ihren Augen lag stumme Verzweiflung, aber auch eine unheimliche Kraft, die Ellmer erschreckte.

»Zunächst müssen wir alles von dir wissen, kleine Sphinx«, sagte er leise.

Die beiden Teller auf dem Tisch kristallisierten; zumindest nahmen sie eine Maserung an, als wären sie von Tausenden winziger Fäden durchwirkt. Dann zerfielen sie. Ellmer hatte das schreckliche Gefühl, dieses Restaurant sei mit einem Mal von der Realität abgeschnitten, herausgetrennt von einer unvorstellbaren Macht. Er hörte die Entsetzensschreie der anderen Gäste. Hinter der Theke zersetzten sich Hunderte von Flaschen, rieselten wie Hagelkörner auf den Boden oder wurden von ihrem austretenden Inhalt weggeschwemmt. Der Besitzer des Restaurants, ein kleiner, schwarzhaariger Mann, hielt in einer Hand ein Handtuch, die andere streckte er hilflos der Zerstörung entgegen.

Ellmer war es, als laufe vor ihm ein grotesker Film ab. Auf dem Tisch lagen die Überreste der beiden Teller wie kantige Splitter aus hellem Marmor.

Endlich ergriff er Srimavo am Arm und zerrte sie hoch. »Was hast du getan?«, rief er entsetzt.

Er zog sie vom Tisch weg, dem Ausgang entgegen. Parnatzel glitt wimmernd vor Angst hinter ihnen her.

Dann stand Ellmer im Freien, die kühle Luft erschien ihm wie eine Erlösung. Er packte Srimavo an den Schultern und schüttelte sie heftig.

»Es ist wie in Shonaar! Du bist für diese Zwischenfälle verantwortlich.« Seine Stimme überschlug sich fast. »Meine Vermutung ist richtig, du bist eine Mutantin. Vermutlich haben deine Eltern versucht, deine Fähigkeiten zu unterdrücken und geheim zu halten. Sie wollten es nicht wahrhaben wie alle Eltern, deren Kind von der Norm abweicht. Aber diese Kraft lässt sich nicht unterdrücken.«

»Du tust mir weh«, sagte Srimavo.

Ellmer ließ sie los. »Ich habe Angst vor dir«, gestand er. »Du bist ein unheimliches Kind, und du hast deine Fähigkeiten offenbar nicht unter Kontrolle. In deiner Nähe kann alles Mögliche passieren. Ein Glück, dass es noch nicht zu schwerwiegenden Zwischenfällen gekommen ist.«

Er blickte zum Restaurant zurück und sah etliche Gäste hinter der Tür stehen und zu ihnen herausstarren. Ihre Gesichter waren von Entsetzen gezeichnet.

»Du wurdest nicht ausgesetzt, sondern bist von zu Hause weggerannt«, fuhr Ellmer fort, als müsste er nur genügend reden, um für alles eine Erklärung zu finden.

»Nein«, sagte das Mädchen.

»Am besten ist, wir warten einfach, bis die Polizei kommt«, fuhr Ellmer niedergeschlagen fort.

Srimavo wandte sich ab und ging weiter, als wäre nichts geschehen.

»Warum folgen wir ihr nicht?«, drängte Parnatzel.

»Weil wir das nicht können«, entgegnete der Terraner.

In den Mittagsstunden des 13. Januar meldete sich Fellmer Lloyd über Videofon aus Shonaar im Hauptquartier der Kosmischen Hanse. Er bekam eine Verbindung mit Reginald Bull, denn Rhodan war unterwegs, um gemeinsam mit Waringer den Prototyp des Experimentalschiffs PHOENIX zu besichtigen.

Lloyd konnte seine innere Erregung nicht verbergen. »Ich bin der Sache nachgegangen«, berichtete der Telepath. »Das ist nicht einfach nur ein Gerücht, Bully. Alle, die diesem Mädchen begegnet sind, stehen jetzt noch unter dem tiefen Eindruck, den Srimavo auf sie gemacht hat. Es ist merkwürdig, aber ihnen allen ist die Vision schwarzer Flammen gemeinsam, sobald sie an die kleine Sphinx denken.«

»Ich kann dir sagen ...«

Lloyd achtete nicht auf Bully Versuch, ihn zu unterbrechen. »Außerdem haben sich eine Reihe schwer erklärbarer Dinge ereignet. Das heißt, sie sind schwer erklärbar, falls man paranormale Einwirkungen ausschließt. Ich kann auch nicht an Massenhalluzinationen glauben.«

»Es sind keine Halluzinationen«, versetzte Reginald Bull. »Das ist ...«

Lloyd redete einfach weiter. »Leider sind Srimavo, Jakob Ellmer und dieser Matten-Willy aus Shonaar verschwunden. Ich konnte ihre Spur noch nicht aufnehmen.« Sein Gesicht verfinsterte sich. »Es scheint keinerlei Hinweise auf eine Verbindung zwischen Srimavos Auftauchen und den Ereignissen vom letzten Oktober zu geben.«

»Daran glaube ich auch nicht«, sagte Bull.

Lloyd nickte. »Ich versuche, sie zu finden.«

»Warte!«, rief Bully. »Was ich dir die ganze Zeit über erklären will, ist, dass du Shonaar verlassen kannst.«

Lloyds Augen weiteten sich. »Sie ist in Terrania, ihr habt sie?«

»Wir haben Ellmer und den Matten-Willy«, schränkte Bull ein. »Und seit drei Stunden ist Gucky hinter ihr her.«

»Eine Mutantin ...«, sagte Lloyd nachdenklich. »Und das in Shonaar. Wirklich seltsam. Seit Vapido, Howatzer und Eawy ter Gedan haben wir auf der Erde vergeblich nach positiven Mutanten Ausschau gehalten. Ich komme zurück und helfe dem Mausbiber, sie zu finden.«

Bull ließ sich in seinen Sessel zurücksinken. Schwarze Flammen!, dachte er. Das ist genau das, was Ellmer erzählt hat.

Sie standen auf der obersten Plattform des größten Aussichtsturms von Terrania und blickten auf die Stadt hinab, die sich endlos auszudehnen schien. Das Bewusstsein von Macht und Stärke, das Jakob Ellmer bei diesem Ausblick empfand, täuschte, denn noch vor wenigen Minuten hatte er sich in diesem Gewimmel dort unten aufgehalten – ein Krabbeltier unter Millionen anderen.

Eine solche Stadt raubt jedem den Atem und einen Teil des individuellen Lebensgefühls, dachte Ellmer. Ein Raumfahrer, der die Unermesslichkeit des Weltraums kannte, würde nie in einer solchen Stadt leben wollen – vielleicht gab es deshalb Siedlungen wie Shonaar.

Gucky, der zwischen Ellmer und Parnatzel stand und sich mit den Händen auf die Brüstung stützte, blickte seine beiden Begleiter abwechselnd an.

»Mir ist klar, dass ihr die von dort unten aufsteigende mentale Flut nicht fühlen könnt«, sagte er. »Dieser Brodem aus allen möglichen Empfindungen ist wie eine Woge, die über mir zusammenschlägt.«

Ellmer lachte nervös. Er hatte gehört, dass der Ilt immer zu Späßen aufgelegt sein sollte, aber davon war momentan nichts zu spüren.

»Vielleicht denkt ihr, Telepathie sei praktisch«, fuhr der Mausbiber fort. »Das mag in vielen Fällen auch zutreffen, aber manchmal wird sie zur Last.«

Ellmer deutete auf die Stadt und machte eine alles umfassende Geste. »Wirst du sie überhaupt finden können?«

Gucky schwang sich auf die Brüstung und ließ sich rittlings darauf nieder. Er schlug die Beine übereinander und lehnte sich mit dem Rücken gegen den unsichtbaren Prallschirm. »Ich finde sie nicht, wenn ich nur blind meine mentalen Fühler ausstrecke«, antwortete er. »Wir haben die Umgebung des Raumhafens gründlich abgesucht. Dort ist Srimavo vermutlich nicht, es sei denn, sie kann sich gegen einen paranormalen Lauscher absichern.«

»Was tun wir dann hier oben?«, fragte Parnatzel erstaunt.

»Das Ganze ist eine Lehrstunde in Sachen Realität«, antwortete der Ilt. »Für den Fall, dass ihr den besten Telepathen der Kosmischen Hanse überschätzt und ungeduldig werdet. Ich hoffe, dass diese kleine Demonstration euch zeigt, wie gering unsere Chancen im Grunde genommen sind, wenn Sphinx, wie ihr sie nennt, nicht selbst aktiv wird.«

»Du meinst, dass du sie nur finden kannst, wenn sie etwas Ungewöhnliches tut?«, argwöhnte der Raumfahrer.

»So ist es«, bestätigte Gucky. »Zumindest wissen wir dann, wo sie ungefähr zu suchen ist.«

»Aber du hast einen wertvollen Hinweis«, erinnerte Ellmer.

»Du meinst dieses schwarze Feuer, das angeblich im Bewusstsein der Menschen entsteht, die in Srimavos Nähe sind?«

»Vielleicht solltest du weniger nach Srimavo als nach solchen Menschen suchen.«

Der einzige Zahn des Ilts blitzte auf. »Ich tue beides!«, verkündete er großspurig.

Ein klirrendes Geräusch ließ Duhancoor erschrocken herumfahren. Dass um diese Zeit noch jemand außer ihm im Archiv sein könnte, zumal das Tor verschlossen war, vermochte er sich nicht vorzustellen – und doch stand da dieses Mädchen.

»Mein Gott, Kind«, sagte Duhancoor mit unsicherer Stimme. »Woher kommst du denn?«