Perry Rhodan 139: Einsteins Tränen (Silberband) - William Voltz - E-Book

Perry Rhodan 139: Einsteins Tränen (Silberband) E-Book

William Voltz

5,0

Beschreibung

Vishna ist ein uraltes kosmisches Wesen, das damit droht, die Menschheit zu vernichten. Nachdem verschiedene Angriffe gescheitert sind, entreißt Vishna die Erde und den Mond ihrer bisherigen Umgebung: Sie werden vom Sonnensystem in den Grauen Korridor geschleudert. Aus diesem Tunnel gibt es kein Entrinnen – in ihm stürzen die Erde und ihre Bewohner durch Raum und Zeit. In dieser Phase tauchen Einsteins Tränen auf: zehn Milliarden Kugeln, für jeden Erdbewohner eine, die einen Meter durchmessen und ein Abbild der Erde darstellen. Kurz darauf findet sich jeder Mensch auf einer dieser winzigen Erden wieder, die außer ihm kein anderes Leben trägt. Einer dieser Menschen ist Reginald Bull, der älteste Freund Perry Rhodans. Er ist ebenfalls auf mikroskopische Größe geschrumpft und sucht verzweifelt nach Antworten: Für welchen Zweck sind die winzigen Menschen gedacht?

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Nr. 139

Einsteins Tränen

Cover

Klappentext

Kapitel 1-10

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

Kapitel 11-20

11.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

Kapitel 21-30

21.

22.

23.

24.

25.

26.

27.

28.

29.

30.

Kapitel 31-35

31.

32.

33.

34.

35.

Nachwort

Zeittafel

Impressum

Vishna ist ein uraltes kosmisches Wesen, das damit droht, die Menschheit zu vernichten. Nachdem verschiedene Angriffe gescheitert sind, entreißt Vishna die Erde und den Mond ihrer bisherigen Umgebung: Sie werden vom Sonnensystem in den Grauen Korridor geschleudert. Aus diesem Tunnel gibt es kein Entrinnen – in ihm stürzen die Erde und ihre Bewohner durch Raum und Zeit.

In dieser Phase tauchen Einsteins Tränen auf: zehn Milliarden Kugeln, für jeden Erdbewohner eine, die einen Meter durchmessen und ein Abbild der Erde darstellen. Kurz darauf findet sich jeder Mensch auf einer dieser winzigen Erden wieder, die außer ihm kein anderes Leben trägt.

1.

Reginald Bull nippte an seinem Kaffee und stellte die Tasse dann zur Seite. Niemand schien noch in der Lage zu sein, einen guten Kaffee zu kochen, nicht einmal die Automatik.

Bull verzog grimmig das Gesicht. Er hatte seit Monaten nicht mehr richtig geschlafen, das konnte sogar einen Zellaktivatorträger zermürben. Das Vishna-Fieber war abgeklungen, aber er wusste, dass sein Körper sich in einem weiteren Stadium dieser entsetzlichen Krankheit befand. Er schloss kurz die Augen. Manchmal musste er sich dazu zwingen, morgens überhaupt aufzustehen. Doch er war das Symbol des Widerstands; wenn er oder einer der anderen Verantwortlichen aufgaben, brach alles zusammen. Also hielt er durch.

Nach sechs Plagen, die Vishna durch den Grauen Korridor zur Erde geschickt hatte, war das nicht so einfach. Und nun begann die siebte Plage.

Bull blickte auf das große Holo, das den Weltraum zwischen Terra und Luna zeigte. Eigentlich war dieser Sektor verlassen, aber nun quollen Milliarden leuchtender Kugeln aus dem Raum selbst, wie Tropfen durch ein feines Sieb.

Es war ein gespenstischer Anblick. Vor drei Minuten hatte Bull einen Verband von Beobachtungsschiffen und Kamerasonden losgeschickt. Sie sollten herausfinden, was das Geschehen bedeutete.

Kaum, dass eine Kugel materialisierte, driftete sie schon in Richtung Terra, so viel stand fest.

Bull, der sich minutenlang völlig abgekapselt hatte, öffnete sich wieder für die Umgebung. Er war nicht allein im zentralen Kontrollraum im Hauptquartier der Kosmischen Hanse. Es wimmelte von Wissenschaftlern und Spezialisten. Auch Experten der Liga Freier Terraner waren dabei, an der Spitze Geoffry Abel Waringer, der einen steten Kampf um neue Erkenntnisse führte. Waringer war überzeugt, dass er Vishna und ihren Plagen wissenschaftlich beikommen konnte. Die Frage war nur, wann der richtige Weg entdeckt wurde.

Reginald Bull schritt langsam los. Während er an einem der Terminals vorbeiging, sah er sich kurz in der spiegelnden Verkleidung.

Seine Kombination schien ihm nicht mehr richtig zu passen, sie hing schlaff und Falten werfend an ihm. Er hatte abgenommen. Sogar das rundliche Gesicht war hager geworden. Harte Linien ließen es unduldsam erscheinen. Das Haar war lang und sorgfältig gescheitelt, dabei kannte ihn jeder mit Stoppelhaaren.

Er erreichte Waringer, der soeben über Interkom mit Galbraith Deighton redete, dem Sicherheitschef der Hanse. Bull legte Waringer eine Hand auf die Schulter. Der Wissenschaftler zuckte zusammen. Kein Wunder, sie waren alle nervös geworden.

»Geoffry hat mir gerade berichtet«, sagte Deighton aus dem Übertragungsholo. »Was ist da schon wieder für eine Teufelei im Gange?«

»Die siebte Plage!«, antwortete Bull.

Waringer machte eine abwehrende Geste. »Es kann sich ebenso um ein Phänomen des Grauen Korridors handeln.«

»Seifenblasen im Weltraum, vielleicht.« Bull nickte.

Er ging weiter. Augenblicke später rief Waringer hinter ihm: »Die NANTUCKET ist im Zielbereich angelangt. Wir bekommen soeben die ersten Daten über diese Kugeln!«

Ein wenig träger als für gewöhnlich, wandte Bull sich um. Von der Bildübertragung blickte ein Mann herab, den er nicht kannte.

»Das ist Jordan Murgel, Kommandant der NANTUCKET«, sagte Waringer.

Bull nickte knapp. »Was habt ihr herausgefunden, Jordan?«

»Es scheint sich um Energieblasen zu handeln. Ich würde mich ihnen freiwillig nicht weiter nähern.«

»Und warum nicht?«

»Energetische Schockwellen gehen davon aus, insbesondere Sextadimimpulse.«

»Verstehe«, bestätigte Bull. »Ich erwarte, dass alle Messwerte sofort an NATHAN weitergeleitet werden!«

Waringer gestattete sich ein kurzes Lächeln. »Das habe ich schon veranlasst«, kommentierte er.

»Jede der Blasen durchmisst etwa einen Meter zwanzig bis einen Meter dreißig«, fuhr Murgel fort. »Sie nähern sich im Pulk der Erde, ohne Ausnahme.«

»Ein Angriff?«, fragte Bull. »Geoffry, wie aussichtsreich dürfte ein Versuch sein, die Kugeln aus dem Raum zu fegen?«

»Vorerst würde ich nichts gegen diese Flut unternehmen«, antwortete der Hyperphysiker skeptisch. »Jedenfalls nicht, solange unklar ist, um was es sich handelt. Mit einem Waffeneinsatz erreichen wir womöglich das Gegenteil von dem, was wir erhoffen. Vor allem, wenn Vishna damit zu tun hat.«

»Beobachtet weiter!« Bull wandte sich wieder an den Schiffskommandanten. »Sobald Außergewöhnliches geschieht, erwarte ich Meldung!«

Ein weiteres Holo baute sich auf. Julian Tifflor, der Erste Terraner, war der Anrufer. Tifflor hatte sich in einer Konferenz mit den GAVÖK-Vertretern befunden, die nach dem Sturz Terras in den Grauen Korridor noch in Terrania weilten.

»Es geht um die technomanischen Apparate, die überall auf unserem Planeten gebaut wurden«, sagte Tifflor übergangslos. »Wir haben deutliche Hinweise, dass sie unter ihren Schutzschirmen aktiv werden. Die ersten Maschinen zapfen bereits unsere Kraftwerke an – mit sehr hoher Leistungsentnahme. Bislang können wir die Energieversorgung aufrechterhalten. Aber wenn wir nicht an die Apparate herankommen und sie stoppen, wird in weiten Landstrichen das Stromnetz zusammenbrechen.«

»Alle diese Maschinen wurden von unseren Leuten hier auf Terra gebaut«, wandte Waringer ein. »Wir müssen herausfinden, warum sie unsere Kraftwerke anzapfen. Erst dann können wir vielleicht dagegen einschreiten.«

Tifflor fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht. »Der Löwenanteil der geraubten Energie wird gespeichert, das ist leicht zu erkennen. Ebenso wird Energie abgegeben – an jene igelähnlichen Apparaturen, die das Gros aller Konstruktionen ausmachen.«

Von zwei bis hin zu achtzehn Metern durchmaßen die Igel. Bislang hatte niemand herausgefunden, welcher Sinn sich hinter ihnen verbarg.

»Stehen nicht im Norden Terranias Dutzende solcher Igel?«, fragte Bull.

»Dort gibt es regelrechte Pulks«, bestätigte Tifflor.

»Das Narwonwor-Team soll sich bereithalten!«, ordnete Bull an. »Ich werde mit Pawel Narwonwor einen dieser Pulks untersuchen. Immerhin ist denkbar, dass wir unter den neuen Gegebenheiten etwas herausfinden.«

Eine kurze Diskussion über Für und Wider wurde von weiteren Meldungen unterbrochen. In vielen Gebieten des Planeten stand die Stromversorgung vor dem Zusammenbruch. In den Randsektoren Terranias war der Blackout soeben eingetreten.

Schon bald nach seinem ersten Erwachen war Ernst Ellert wieder in eine schockähnliche Starre verfallen, die nur langsam von ihm abfiel. Zu groß war sein Entsetzen gewesen, als er festgestellt hatte, in welchem Körper er sich befand.

Während er gegen seine körperlichen und seelischen Schwierigkeiten ankämpfte, wiederholte sich in seinem Bewusstsein ein Teil jener Visionen, die Harno ihm auf EDEN II übermittelt hatte. Auch diesmal waren die Bilder nicht vollkommen, wenngleich weitaus deutlicher und verständlicher als beim ersten Mal.

Ellerts Visionen beleuchteten die Situation auf der Erde. Er sah die überall verstreuten technomanischen Maschinen in ihren glitzernden Energiesphären, sah die Unruhe in den Städten, die Verzweiflung verstörter Menschen. Dazu das Farbenspiel im Grauen Korridor. Und er sah im Weltraum Milliarden metergroßer Kugeln entstehen und auf die Erde zutreiben.

Das war es, was Harno ihm gezeigt hatte. Einsteins Tränen! Unvermittelt fiel ihm dieser Begriff wieder ein, der lange Zeit in seinem Unterbewusstsein verborgen gewesen war.

Einsteins Tränen!

Das war die Bezeichnung für die leuchtenden Kugeln, die sich Terra näherten – ein Name, der zweifellos Unheil verhieß.

Aber welche Gefahr war dahinter verborgen? So sehr Ellert im Halbschlaf seine Erinnerung durchsuchte, die richtige Antwort fand er nicht. Er entsann sich nur, dass er sie auf Harnos Oberfläche gesehen hatte.

Er musste das Hauptquartier der Hanse in Terrania erreichen, um Reginald Bull und alle anderen Verantwortlichen vor der siebten Plage zu warnen. Nur wie? Mit diesem Körper?

Abrupt war er hellwach. Er lag da und fühlte sich wie erstarrt. Den Kopf hatte er weit zurückgelehnt, damit er gar nicht in Versuchung kam, seinen Körper zu betrachten.

Warum hatte ES ihm das angetan?

Ellert versuchte, sich zu bewegen. Normalerweise war ein Körper wie der, in dem er sich nun befand, unbrauchbar. Nur, was war in diesen Tagen schon normal?

Er schaffte es, setzte sich auf und berührte mit den Füßen den Boden. Zugleich wurde ihm bewusst, dass er nackt war, der hässlichste Nackte, der je auf Terra erwacht war. Weiterhin bemüht, sich selbst nicht zu beachten, schaute Ellert sich um.

Licht war plötzlich aufgeflammt, von seiner Bewegung ausgelöst. Es beleuchtete den Raum, in dem er angekommen war. Einiges der Einrichtung erschien ihm vertraut, anderes war im Lauf der Jahrhunderte ausgetauscht oder erneuert worden.

Ellerts Blick wanderte zum Aufgang, der zu dem großen Tor hinaufführte. Konnte er überhaupt von hier entkommen? Er besaß keine Ausrüstung, schon gar keine Waffe, mit der er sich den Weg ins Freie hätte bahnen können. Falls das Tor verschlossen war, würde er ein Gefangener bleiben.

Seine Überlegungen stockten. Er entsann sich des automatischen Wachsystems, das umgehend Meldung weitergeben sollte, wenn er zu sich kam.

Aber wer bewachte schon eine halb verweste Leiche?

Ellert lachte bitter. Er brauchte Kleidung. In seinem Zustand würde er an der Oberfläche keine drei Schritte weit kommen.

Hier unten gab es nichts, keine Schränke, keine Behälter. Bis auf das Lager mit den Lebenserhaltungssystemen war der Raum leer. Das war sein Mausoleum!

Ellert stand auf. Er schwankte leicht, doch allen anatomischen Gesetzen zum Trotz hielt der verkommene Körper stand.

Die Macht des Geistes triumphiert über die Materie!, dachte Ellert ironisch. Er brauchte diese Ironie, um den Körper ertragen zu können, der sein eigener war und älter als zwei Jahrtausende. Er seufzte klagend. Diese fleischliche Hülle war unrettbar verloren und im Grunde genommen unbenutzbar. Trotzdem hatte ES ihn in den alten Körper geschickt! Ellert verkrampfte die Hände.

Vielleicht tat er ES auch unrecht. Womöglich hatte das Geisteswesen keine andere Möglichkeit gesehen. Ellert schritt durch den Raum. Während er sich mit dem Körper vertraut machte, der ihm unheimlich fremd erschien, obwohl er sein eigener war, fing er an, das Mausoleum zu durchsuchen. Die Erinnerung sagte ihm, dass er nichts Brauchbares finden würde, trotzdem wollte er den Versuch machen.

Ellert hatte nie erwartet, eines Tags in den Körper zurückzukehren, in dem er geboren worden war. Nun war es geschehen.

Ob er von ES genügend mentale Kraft erhalten hatte, diese Hülle zu regenerieren? Er glaubte es nicht, denn sonst hätte der Prozess der Erneuerung bereits eingesetzt.

Wie er befürchtet hatte, gab es innerhalb des Mausoleums nichts, was er brauchen konnte.

Nach kurzem Zögern stieg er die Stufen zum Ausgang hinauf. Tausend Gedanken gingen ihm dabei durch den Kopf. Einmal blieb er stehen und versuchte, sich durch Konzentration in einen anderen Körper zu versetzen. Jeder menschliche Körper wäre ihm recht gewesen, wenn er seinen Leichnam hätte verlassen können. Doch der Versuch misslang.

Auf der obersten Stufe hielt er inne, um zu lauschen. Manches war an diesem Mausoleum architektonisch verändert worden, das sah er aus der Höhe deutlich. Trotzdem war es ihm egal. Es war ohnehin verrückt, dass einige Menschen Kult mit seinem Körper trieben. Jeder war sicher, dass Ernst Ellert nicht zurückkehren würde – jedenfalls nicht an diesen Ort.

Draußen war alles ruhig. Das Tor war ohnehin so dick, dass nur sehr lauter Lärm durchgedrungen wäre. Und das Mausoleum lag in einer einsamen Gegend außerhalb der Stadt.

Ellert starrte auf das Tor und wagte nicht, es anzurühren. Seine Furcht, es könnte verschlossen sein, wurde quälend.

»Hörst du mich, ES?«, fragte er leise. »Erkennst du, in welche Lage du mich gebracht hast?«

Das waren auf gut Glück hervorgebrachte Worte. Er durfte nicht damit rechnen, von innerhalb des Grauen Korridors Kontakt mit ES zu bekommen. Vermutlich hatte sogar der Korridor mit seinen ungewöhnlichen physikalischen Bedingungen ES gezwungen, Ellert in den Originalkörper zu schicken.

Er griff nach dem Tor – und zuckte zurück, als hätte er glühendes Metall berührt. Wie er schon befürchtet hatte: Das Tor war verriegelt.

Eine Zeit lang fühlte Ellert sich wie betäubt. Nur zögernd schälte sich in seinen Gedanken eine Überlegung heraus: Geh zurück und leg dich wieder hin! Fast wäre er umgekehrt und hätte sich in sein Schicksal ergeben, doch endlich erwachte ein Teil seiner alten Entschlossenheit.

Ellert fing an, die Tür mit Händen und Füßen zu bearbeiten. Die entstehenden dumpfen Laute musste jeder hören, der in der Nähe war.

Er hielt inne, um eine Antwort nicht zu überhören.

Unvermittelt dröhnte eine Stimme: »Was ist da drinnen los? Hält sich wer im Mausoleum auf?«

Ellert zuckte erschrocken zusammen. Er begriff, dass jemand über eine Gegensprechanlage zu ihm geredet hatte. Zweifellos gab es auch eine Sichtverbindung. Was werden die Menschen bei meinem Anblick tun?, fragte er sich bestürzt.

»Hallo!«, erklang die Stimme erneut. »Ist da einer?«

Hoffnung keimte in Ellert auf. Der da rief, konnte ihn offenbar nicht sehen. Entweder war die Kamera beschädigt oder irgendwann demontiert und nicht wieder ersetzt worden.

»Ja, ich bin da!«, gab Ellert laut zurück. »Öffne das Tor, damit ich nach draußen kann!«

Der Mann auf der anderen Seite fluchte leidenschaftlich. »Ich sehe dich nicht«, sagte er schließlich. »Während des technomanischen Effekts wurden hier viele Teile ausgebaut. Es gibt keinen Sichtkontakt nach drinnen.«

Ellert atmete hörbar auf. »Lass mich raus!«, verlangte er erneut.

»Wer bist du?« Die Stimme klang plötzlich misstrauisch. »Es ist unmöglich, dass sich ein Lebender im Mausoleum aufhält.«

Fast hätte Ellert geantwortet: »Ich bin Ernst Ellert!« Doch er biss sich gerade noch auf die Unterlippe. Mit dieser Auskunft würde er bestimmt nicht weit kommen.

»Ich bin einer der Männer, die hier einiges demontiert haben«, antwortete er vorsichtig. »Es gelang uns, das Tor zu öffnen, aber dann fiel es zu. Seither sitze ich fest.«

Daran, dass der Mann auf der anderen Seite lachte, erkannte Ellert seinen Fehler. »Ist es nicht egal, warum ich hier eingesperrt bin?«, rief er in wachsender Verzweiflung. »Ich will einfach nur zurück ans Licht.«

Wenigstens das schien den anderen zu beeindrucken. »Also gut«, kam die Antwort. »Eigentlich müsste ich die Liga benachrichtigen. Ich bezweifle nur, dass jemand für eine solche Bagatelle Zeit hat.«

Ellert wartete gespannt.

Endlich glitt das Tor auf. Licht fiel herein. Ellert stellte sich seitlich neben die Tür, damit der Mann draußen ihn nicht sofort sehen und das Tor wieder schließen konnte – denn das würde er versuchen, sobald er den wandelnden Leichnam sah.

Der Fremde streckte den Kopf herein und schaute sich um. Kaum entdeckte er Ellert, stöhnte er entsetzt. »Mein Gott!«, brachte er stockend hervor.

Da hatte Ellert sein Gegenüber schon gepackt und drückte ihn mit einem Dagorgriff zu Boden. Der Mann, er war nicht mehr der Jüngste, riss die Augen weit auf. Ob aus Schmerz oder vor Angst, blieb dahingestellt.

»Ich will nicht, dass dir was geschieht.« Ellert seufzte, ohne aber den Griff zu lockern. »Du brauchst dich nicht zu fürchten, mein Anblick ist auch kein Grund dafür, dass du den Verstand verlierst. Ich habe eine plausible Erklärung.«

Der Mann verdrehte die Augen.

»Ich werde dich kampfunfähig machen«, redete Ellert weiter. »Die Lähmung hält ungefähr einen Tag lang an, danach kannst du dich wieder bewegen, ohne dass Schäden zurückbleiben. Ich nehme an, du wirst dann Alarm auslösen wollen. Wende dich ans Hauptquartier der Hanse, dort wird dir bestätigt werden, dass du mit Ernst Ellert zusammengetroffen bist. Tut mir leid, mein Freund.«

Er drückte dem Mann einen Daumen hinters Ohr. Mittlerweile glaubte er, dass der Alte zu den Wächtern des Mausoleums gehörte. Der Körper erschlaffte. Ellert schleppte ihn nach unten und bettete ihn auf das Lager, auf dem sein Originalkörper jahrhundertelang geruht hatte.

Er zog den Mann aus. Dessen Kleidung war ihm zu groß, aber daran ließ sich nichts ändern. Das Hemd des Mannes wickelte er sich um den Kopf, denn auch sein Gesicht war entstellt. Er schuf zwei Augenschlitze, indem er den Stoff auseinanderriss.

Sehr vertrauenerweckend sah er nicht aus. Auf der Erde liefen jedoch genügend verrückte Gestalten herum, erst recht, seit die sieben Plagen über den Planeten hereingebrochen waren. Ellert hatte also gute Chancen, das Hauptquartier der Kosmischen Hanse zu erreichen und Kontakt mit Reginald Bull, Julian Tifflor oder anderen Verantwortlichen aufzunehmen.

Als er das Mausoleum endlich verließ, traf ihn die kühle Luft wie ein Schlag. Sein Körper war demnach nicht ganz unempfindlich geworden. Ellert schätzte, dass es früher Nachmittag war, doch das Licht der Kunstsonnen und das Leuchten des Grauen Korridors konnten täuschen.

Er schaute sich um. Unweit führte eine breite Allee in die Stadt. Er wunderte sich über die herrschende Ruhe. Nur wenige Menschen waren in der Nähe, zudem wirkten sie ziemlich lethargisch.

Ernst Ellert ging weiter. Erst allmählich spürte er, dass er keineswegs so gut vorankommen würde, wie er sich das erhoffte. Das lag aber nicht an dem Körper, der wider Erwarten noch gut funktionierte. Es lag an energetischen Phänomenen, die aus dem Nichts kamen und die gesamte Umgebung beeinflussten. Aufgrund seiner Erfahrung glaubte Ellert zu erkennen, dass Sextadimschockwellen die Erde trafen.

Er würde sich mühevoll einen Weg suchen müssen. Sein Vorhaben, Terra zu warnen, wurde ihm jedenfalls nicht einfach gemacht.

2.

Obwohl er seit Jahrhunderten in Terrania zu Hause war, hatte Reginald Bull den Eindruck, eine ihm fremde Stadt zu durchqueren. Er beobachtete Narwonwor, den bärtigen, kleinen Wissenschaftler, der neben ihm flog.

Narwonwor war sechzig Jahre alt. Seine Haare und seine Augen waren schwarz. Er hatte ein paar Tage nichts gegen seine Bartstoppeln getan, was zur Folge hatte, dass sein Gesicht schmutzig aussah. Hinter ihnen folgten Spezialisten und Wissenschaftler aus Narwonwors Team.

Sie alle kamen nur langsam voran. Vor einer halben Stunde war die Energieversorgung völlig zusammengebrochen. Auf den Straßen und Plätzen versammelten sich die Bürger Terranias, sie standen in Gruppen herum und diskutierten.

Seit ein paar Minuten gab es einen neuen und gefährlichen Effekt der technomanischen Plage. Die Igel emittierten schwache sechsdimensionale Schockwellen, und dieser Vorgang blieb nicht folgenlos. Bull, der über Sprechfunk mit dem HQ Hanse in Verbindung stand, erfuhr von Waringer, dass Positroniken durch die Schockwellen gestört wurden. Die Aussichten waren alles andere als rosig. Wenn nun auch die Rechenanlagen ausfielen und damit jede Überwachung, würde Terrania zum Tollhaus werden. Ohne Energie und Positroniken hatten die Menschen des Jahres 427 Neuer Galaktischer Zeitrechnung kaum eine vernünftige Chance.

Ab und zu überflogen sie einen der technomanischen Apparate. Bull sah, dass die Maschinen mittlerweile in den Spektralfarben des Grauen Korridors pulsierten. Kaum nachvollziehbar, dass Menschen diese Objekte zusammengebaut hatten.

»Das ist Teufelswerk!«, brummte Narwonwor.

Bull überlegte, ob sie schon in diesem Abschnitt landen und eine der Maschinen untersuchen sollten, doch er entschied sich dagegen. Er hatte sich einen der großen Igelpulks im Norden der Stadt ansehen wollen, dabei blieb es.

Auf ihrem Flug überquerten sie den Platz der Karawanen. Er war mit Menschen überfüllt. Jemand hielt eine Rede.

Narwonwor deutete nach unten. »Sehen wir nach?«

»Wozu?« Bull zuckte mit den Schultern. »Es ist immer das Gleiche. Irgendwer behauptet, die Menschen erlösen zu können. Eine Zeit lang laufen ihm viele arme Narren nach, bis sie merken, dass auch er nicht halten kann, was er verspricht.«

Bull wunderte sich, dass die Menschen noch so friedlich waren. Bevor er darüber nachdenken konnte, erreichte ihn ein Dringlichkeitsruf aus dem HQ Hanse. Deighton meldete sich. In dem kleinen Holo des Armbandgeräts sah er fast zufrieden aus.

»Geoffry meinte, du solltest das wissen, Bully. Die Blasen, die sich in Milliardenanzahl der Erde nähern, ähneln in ihrer Sextadimstrahlung dem Potenzialverdichter.«

»Dem was?«

»Hm«, machte Deighton enttäuscht. »Waringer und Tiff waren der Ansicht, du könntest eine Menge mit dem Begriff anfangen.«

Bull überlegte. Zu viel war in den letzten Wochen auf ihn eingestürmt, als dass er sofort eine Assoziation parat gehabt hätte. Endlich fiel es ihm ein: Potenzialverdichter – Meister der Insel – die Hohlwelt Horror!

»Verdammt!«, stieß er hervor. »Das ist hoffentlich nur ein Zufall. Sextadimstrahlen haben ihre eigenen Frequenzen. Schon möglich, dass die Kugeln auf die gleiche Weise strahlen wie ein Potenzialverdichter der MdI.«

»Wovon redest du?«, fragte Narwonwor.

Bull winkte ab. »Vergiss es einfach. Als wir einst nach Andromeda aufbrachen, stießen wir auf die Meister der Insel. Sie waren die gefährlichsten Gegner, mit denen wir bis dahin zu tun gehabt hatten. Sie stellten uns mehrere Fallen in der Hohlwelt Horror, darunter war dieser Potenzialverdichter, der alle möglichen Dinge extrem verkleinern konnte – auch Menschen.«

Narwonwor lachte. »Vielleicht können wir damit unsere Probleme verkleinern.«

»Was soll ich Geoffry sagen?«, drängte Deighton.

»Dass es ein Zufall ist«, gab Bull zurück.

»Wäre denn denkbar, dass Vishna eine ähnliche Waffe wie die MdI besitzt und sie gegen uns einsetzt?«

»Wie?«, fragte Bull entgeistert. »Wir haben die technomanischen Maschinen gebaut, und sie sind vermutlich unser Problem. Sie haben wohl eher mit den Energieblasen zu tun als irgendwelche Hinterlassenschaften der MdI.«

»Also gut«, meinte Deighton. »Es war nur ein Versuch, etwas Licht ins Dunkel zu bringen.«

»Wer hat die Ähnlichkeit zwischen dem Potenzialverdichter und den Energieblasen entdeckt?«

»NATHAN, bei der Analyse der Emissionswerte«, antwortete Deighton.

Damit war das Gespräch beendet. Die Gruppe mit Bull und Narwonwor an der Spitze flog noch einige Hundert Meter weit, dann wurden die Schockwellen so stark, dass sie die Flugaggregate beeinträchtigten. Alle mussten landen.

Bull schaute sich um. In dem Bereich hielten sich nur wenige Personen auf. Die meisten erkannten ihn, verhielten sich aber ruhig. Er wunderte sich darüber, denn während der letzten Wochen war er, sobald er sich in der Öffentlichkeit gezeigt hatte, mit Fragen nach dem Stand der Dinge geradezu bombardiert worden.

Rechter Hand erstreckte sich das Museum der frühen Kolonien, ein langer Bau mit einem Rundturm in der Mitte. Links gab es die Verwaltungsgebäude der Verkehrsbehörden. Am Ende des Museums lag eine technomanische Maschine unter ihrer Energieglocke. Es war kein Igel, sondern eine größere Apparatur.

»Der Pulk, den wir als Ziel haben, liegt am Ende der Straße«, sagte Bull zu seinen Begleitern. »Er wird von dem Brunnen des Chael verdeckt.«

Sonst spie der Brunnen um diese Tageszeit erhabene Fontänen. Ohne Energieversorgung war das ein Ding der Unmöglichkeit.

Bull lief los. Seine Begleiter folgten ihm. Hinter dem Brunnen schien es zu wetterleuchten. Ursache war die Ansammlung der technomanischen Apparate.

Sie hatten den Brunnen noch nicht erreicht, da trat zwischen den Basaltsäulen ein Mann hervor. Seine Augen waren auffällig schwarz. Er trug einen rauchig-trüben Overall.

Narwonwor blieb stehen.

»So einen Menschen hast du noch nie gesehen, nicht wahr?«, stellte Bull fest. »Gehört hast du aber bestimmt schon von ihm. Das ist Chthon!«

»Der Schatten?«

»Ja, der Schatten. Ich wunderte mich schon, warum er sich rarmacht.«

Narwonwor war ein sensibler Mann, er hörte die Zwischentöne in Bulls Worten. »Du sprichst von ihm nicht gerade wie von einem Freund, obwohl er uns schon oft gewarnt hat.«

»Solange ich nicht weiß, wer er wirklich ist und was er vorhat, traue ich ihm nicht«, sagte Bull entschieden. Jedes Mal, wenn er Chthon gegenüberstand, fühlte er ein merkwürdiges Brennen im Rücken. Seine Nackenhaare schienen sich dann regelrecht zu sträuben.

»Hallo!« Die Stimme des Schattens war nur mental zu vernehmen, aber Bull hätte schwören können, dass Chthon akustisch redete. »Ich warte schon auf euch.«

»Du wartest auf uns?« Bull runzelte die Stirn.

»Allein komme ich nicht an diese Geräte heran«, erklärte der Unheimliche. »Ihr werdet sehen, welch schrecklichen Effekt sie auf mich ausüben.«

Chthon verschwand zwischen den Basaltsäulen. Narwonwor und Bull wechselten einen schnellen Blick. Bull hatte längst entschieden, dem Schatten zu folgen. Er ahnte, dass er Zeuge eines seltsamen Ereignisses werden würde.

Narwonwors Mitarbeiter schoben die Antigravplattformen mit ihrer Ausrüstung auf den Brunnen zu. Hinter dem Brunnen erstreckte sich ein freier Platz. Bull sah die Igel dort stehen, eine Ansammlung von ungefähr zwanzig Stück. Alle strahlten in hellem Glanz und im selben Rhythmus.

Vor den Igeln stand Chthon. Der Schatten wuchs und schrumpfte mit den Impulsen der technomanischen Apparaturen.

»Das wollte ich euch zeigen!« Chthons Mentalstimme war vor Verzweiflung kaum zu verstehen. »Ich kann diesen Einfluss auf mich nicht verhindern.« Er wuchs auf das Doppelte seiner normalen Größe an und schrumpfte ebenso schnell wieder.

»Als hyperphysikalische Existenzform ist Chthon von den Impulsen besonders stark betroffen«, stellte Narwonwor wissenschaftlich nüchtern fest. »Ich verstehe nur nicht, weshalb er ihnen nicht ausweicht, wenn sie schon einen derart schrecklichen Einfluss auf ihn ausüben.«

»Ich muss so schnell wie möglich an eines der Objekte heran, um seine Funktionsweise zu erkunden«, erklärte Chthon. »Meine Kräfte lassen nach. In einigen Tagen werde ich mich auflösen, dann ist alles verloren.«

Bull rieb sich die Augen. Der Schatten schien sich auch in mehrdimensionalen Bereichen aufzuhalten. Kein Wunder, dass ihn die Pulsationen der technomanischen Objekte beeinträchtigten.

Er dachte wieder an den Potenzialverdichter. Bestand zwischen den Kugeln, die aus dem Weltraum kamen, und den Maschinen überall auf Terra ein Zusammenhang? Chthon wuchs und schrumpfte abwechselnd. Konnte dieser Prozess ebenso auf manifeste Körper übergreifen – auf Menschen?

Tifflor meldete sich. »Es wäre besser, du würdest auf der Stelle umkehren, Bully!«, rief der Erste Terraner aufgeregt. »Die Erde wird mittlerweile von stärkeren Sextadimschocks getroffen. Das Raum-Zeit-Gefüge in unserem Sektor droht in die Instabilität abzugleiten.«

»Wir bekommen schon kleine Kostproben davon«, kommentierte Bull grimmig. »Was soll ich ausgerechnet zu dem Zeitpunkt im Hauptquartier? Wir müssen möglichst schnell viele Fragen beantworten. Das können wir nur, wenn wir an Ort und Stelle Untersuchungen durchführen. Übrigens: Chthon ist wieder da. Er leidet unter den mehrdimensionalen Schocks und verändert unablässig seine Größe.«

Ein nachdenklicher Zug erschien in Tifflors Gesicht. »Ob wir Chthon richtig einschätzen? Womöglich arrangiert er für uns nur ein Schauspiel und ist in Wahrheit ein Agent Vishnas.«

Das entsprach dem Verdacht, den Bull schon geraume Zeit wälzte.

»Ob es klug wäre, gegen ihn vorzugehen?«, fragte Tifflor.

Bull gab sich einen Ruck. So einfach durften sie es sich keinesfalls machen. Ohnehin bezweifelte er, dass es möglich sein würde, den vierdimensionalen Schatten gefangen zu nehmen.

»Im Zweifelsfall für den Angeklagten!«, zitierte er. »Das sollte auch in Extremsituationen Gültigkeit haben. Wenn wir unsere moralischen Prinzipien über Bord werfen – was unterscheidet uns dann von Vishna?«

»Ich muss das Gespräch beenden«, sagte Tifflor. »Es gilt, einige Milliarden Menschen zu beruhigen.«

»Ich habe nicht den Eindruck, dass sie besonders aufgeregt sind«, meinte Bull. Die Gelassenheit der Menschen seit einigen Stunden war erstaunlich. »Ob es daran liegt, dass sie schon nicht mehr verstehen, was geschieht? Die tödliche Gefahr hat diesmal keine Gestalt und keinen Namen.«

Darauf wusste nicht einmal Tifflor eine Antwort. Er beendete das Gespräch.

Inzwischen transportierten Narwonwors Spezialisten ihre Ausrüstung in die Nähe eines der Igel. Es handelte sich um ein acht Meter durchmessendes Gebilde. Unter dem Schutzschirm war der Kern des Apparats deutlich zu sehen. Er bestand aus zahlreichen zusammengeschweißten Metallschalen mit angeflanschten stachelförmigen Auswüchsen.

Es ist eine groteske Maschine, scheinbar ohne Sinn und Zweck, dachte Bull.

»Wir müssen versuchen, eines der Objekte zu knacken und zu zerlegen«, erläuterte Narwonwor das geplante Vorgehen. »Dabei hoffen wir eine Spur zu finden. Alle Messgeräte sind aktiviert.«

Bull erklärte sich damit einverstanden. Einen Teil der Ausrüstung hätte er nicht einmal bedienen können, so fremd waren ihm die Gegenstände. In mancher Beziehung war er eben ein Fossil aus dem zwanzigsten Jahrhundert.

Die Erinnerung stimmte ihn wehmütig, er dachte an Perry Rhodan und die alten Zeiten. Erst Chthons Geisterstimme unterbrach seine nostalgischen Überlegungen. »Wir haben einen Verbündeten bekommen!«, verkündete das Geschöpf im Nebelwams.

»Wir können jede Hilfe brauchen«, bestätigte Bull. »Wer ist es?«

»Ein Gespenst!«

»Ein Gespenst? Was soll das heißen?«

Chthon schwieg. Er hatte sich von den technomanischen Objekten zurückgezogen und schien völlig erschöpft zu sein, denn er rührte sich kaum.

Der Graue Korridor wetterleuchtete stärker als je zuvor, und der mentale Ton, der bislang jede neue Plage angekündigt hatte, schien diesmal nicht verstummen zu wollen.

Das Gespenst, kein anderer als Ernst Ellert, bewegte sich in einer Art Zickzackkurs auf das Hanse-Hauptquartier zu. Ellert hatte gelernt, den Barrieren aus dem Weg zu gehen, die durch die Sextadimschocks entstanden. Gegen die Energien selbst schien er eine gewisse Immunität zu besitzen.

Ab und zu war er gezwungen, Menschen auszuweichen, die sich auf den Straßen versammelten. Die unheimliche Ruhe der Bürger störte ihn. Irgendetwas stimmte nicht. Nach anfänglichen Unruhen und panikartigen Ausbrüchen nun dies.

Ellert wurde von neuen Visionen heimgesucht. Er ignorierte sie so gut es ging, denn sie lenkten ihn ab und ließen ihn die Richtung verlieren. Eine dieser Visionen kehrte jedoch hartnäckig zurück. Sie zeigte ihm eine Erde, die sich immer wieder teilte, als würde sie in Milliarden identischer Duplikate zerfallen.

Was mochte diese Szene bedeuten?

Sie musste wichtig sein, andernfalls wäre sie nicht so oft wiedergekehrt.

Vishnas Drohung fiel ihm ein, die Erde »in Scheiben schneiden« zu wollen. Bestand da ein Zusammenhang?

Ellert stieß mit jemandem zusammen, weil er die letzten Schritte in Gedanken versunken war. Der Mann, den er fast umgerannt hätte, starrte ihn an, als sei er eine Erscheinung. Sofort griff Ellert sich an den Kopf. Der Turban war verrutscht. Hastig brachte er das wieder in Ordnung, sodass sein schreckliches Gesicht verborgen blieb, und eilte weiter.

Hinter ihm wurden Stimmen laut. Sie riefen ihm hinterher. Der Mann, mit dem er zusammengeprallt war, machte die Umstehenden auf ihn aufmerksam.

Ellert bog in eine Seitenstraße ein und verbarg sich vorübergehend in einem leer stehenden Geschäft. Die meisten Räume waren verlassen. Niemand dachte in der momentanen Situation daran, Waren oder Dienstleistungen anzubieten. Ohne die öffentlichen Versorgungsstellen wären die Menschen in noch größere Not geraten, als sie es ohnehin schon waren.

Ellert wartete, bis er sicher sein konnte, dass sich niemand in seiner Nähe aufhielt oder ihm gar folgte. Er vergewisserte sich erneut, dass seine Maskerade richtig saß, dann eilte er weiter.

Im Außenbezirk des ehemaligen Imperium-Alpha wurde er von einer Patrouille gestellt. Sie bestand aus drei bewaffneten Männern, einer Frau und zwei Robotern. Anführerin der Gruppe schien die Frau zu sein, obwohl sie nervös und gereizt wirkte. Ziemlich ungepflegt war sie außerdem, was ein deutliches Licht auf ihre seelische Verfassung warf.

»Ich wette, der Kerl ist ein Plünderer«, sagte einer der Männer.

»Sei still, Mose!«, verwies ihn die Frau. Sie wandte sich an Ellert: »Du befindest dich im Sperrbezirk. Wir müssen dich überprüfen und zurückschicken.«

»Ich habe keine Ausweise bei mir, nicht einmal eine ID-Karte«, bekannte er. »Und zurück will ich auch nicht, sondern mit Bull, Tifflor oder Deighton sprechen.«

Einen Augenblick war die Frau verblüfft. Dann griff sie nach seinem Turban. Ellert wich ebenso schnell einen Schritt zurück, sodass sie ihn nicht zu fassen bekam.

»Halt!«, rief er. »Ich bin Ernst Ellert. Bestimmt habt ihr schon von mir gehört.«

»Befand Ellert sich nicht im Coolafe-Körper?«, fragte einer der Männer.

Sie hatten alle drei ihre Waffen auf ihn gerichtet, ein sicheres Zeichen dafür, wie sehr sie ihm misstrauten.

»Merg Coolafe gehört der Vergangenheit an«, beteuerte er. »Ich habe einen anderen Körper. Lasst mich ins Hauptquartier! Ich muss die Verantwortlichen vor der neuen Plage warnen.«

»Nehmt ihm das Ding ab!«, befahl die Frau. »Was bist du? Ein Elefantenmensch?«

»Schlimmer«, versetzte Ellert so ruhig wie möglich. »Es ist besser, wenn ihr mich nicht anschaut, das bekommt euch nicht.«

Die Frau reagierte mit einer heftig abwehrenden Geste. »So kommen wir nicht weiter, Fremder. Entweder, du nimmst den Turban ab, damit wir dich sehen können, oder wir schleppen dich zum nächsten Stützpunkt. Dort wird man dir dann gehörig auf den Nerv fühlen.«

Den vier Menschen wäre er vielleicht entkommen; gegen die beiden Roboter hatte er keine Chance. Ellert griff sich an den Kopf und fing an, das Hemd abzuwickeln. Als sein skelettiertes Gesicht freigelegt war, schrie die Frau entsetzt auf.

»Ein Androide!«, stöhnte einer der Männer. »Oder eine Kreatur Vishnas!«

Auch das noch, dachte Ellert.

Ein Wächter schoss. Der Thermostrahl fauchte über Ellert hinweg. Er lief los; hinter ihm stritten sich die Männer. Dann folgen ihm die festen Schritte der Roboter. Ein Paralyseschuss traf ihn, doch gleich darauf bereitete eine neue Schockwelle der Jagd ein Ende. Wie aus dem Nichts heraus entstand sie. Die Wächter standen plötzlich wie versteinert, die n-dimensionale Energie ließ ihre Körper zucken. Die Roboter drehten sich im Kreis. Allein Ellert blieb wegen seiner Immunität gegen die entarteten Energien aktiv und konnte fliehen.

Der Zufall hatte ihn geholfen zu entkommen, aber schon bei der nächsten Wache konnte das Glück ihn im Stich lassen.

Was sollte er tun? Kein Mensch würde akzeptieren, dass er Ernst Ellert war. Er hatte nichts, mit dem er sich ausweisen konnte. Außerdem sah er aus wie das Grauen in Person. Verzweiflung erfasste ihn. Warum hatte ES ihn zur Erde geschickt, wenn er hier keine Fortschritte erzielen konnte?

Gemessen am Aussehen des Grauen Korridors und all dem anderen, das Ellert erlebte, musste die siebte Plage bereits eingetroffen sein.

Einsteins Tränen!

Es würden die letzten sein, die auf der Erde jemals vergossen wurden, wenn kein Wunder geschah. Und es waren besondere Tränen – für jeden Menschen eine.

Ellert fühlte sich wie benommen. Vor ihm war eine der öffentlichen Interkomstellen, er lief darauf zu. Das Gerät war aktiviert, der Monitor zeigte das Symbol der LFT. Ellert erneuerte seine Maske nicht. Eilig trat er in den Erfassungsbereich.

»Ich bin Ernst Ellert. Benachrichtigt jemanden im Hauptquartier, der mich identifizieren kann!«

Es war ein Versuch. Die Chance, dass er gelang, stand eins zu neunundneunzig. Doch er war ein Gesandter von ES, das ließ ihn hoffen.

Nach einer Weile erschien das Gesicht eines sehr jungen und blassen Mannes auf dem Schirm. Er zitterte merklich und seine Stimme bebte, aber er kämpfte unverdrossen um Fassung.

»Mein Gott!«, ächzte er. »Wer oder was bist du?«

»Das sagte ich schon: Ernst Ellert.«

»Kannst du deine Behauptung beweisen?«

Ellert bleckte die Zähne. Es musste grausig aussehen, aber es verfehlte die erhoffte Wirkung nicht. Der Junge würgte, hastig wendete er sich ab.

»Ich gebe einem Vorgesetzten Bescheid!«, verstand Ellert gerade noch, dann musste er wieder warten.

Sein nächster Gesprächspartner war ein Mann um die hundert. Er wirkte jovial, aber zugleich desinteressiert. Ellert sah ihm an, dass er viel zu tun hatte und eindeutig überlastet war. Der Mann schien ihn nicht einmal richtig wahrzunehmen.

»Was ist das für eine Nummer?« Die Frage klang so uninspiriert, als gelte sie generell jedem Anrufer. »Wo trittst du auf?«

»Nur auf der Weltbühne«, versicherte Ellert. »Ich muss mit einem der Verantwortlichen sprechen.«

»Deighton ... Er ist gerade drüben im E-Raum. Ich bin nicht sicher, ob ich ihn holen kann.«

»Doch!«, drängte Ellert. »Das kannst du.«

Eine Zeit lang verbrachte er zwischen Hoffen und Bangen vor dem Interkom. Endlich entstand auf dem Monitor neue Bewegung. Erwartungsvoll blickte er auf.

Zugleich traf ihn etwas in den Rücken. Es war ein dumpfer Druck, von dem aus sich schnell Eiseskälte wie ein Krampf durch den Körper ausbreitete. Ellert sank in die Knie. Paralyse!, schoss es ihm durch den Kopf. Die verdammte Patrouille hatte ihn wieder aufgespürt.

Schritte klangen hinter ihm auf, und ein Mann sagte triumphierend: »Er ist es, dieser komische Androide!«

Galbraith Deighton erschien in dem Moment auf dem Schirm. Der Sicherheitschef der Kosmischen Hanse blickte auf ihn herab. Mit schwerer Zunge und schier übermenschlicher Anstrengung sagte Ellert: »Ich komme von ES. Die siebte Plage ... Einsteins Tränen ... müssen etwas unternehmen.«

Deighton stöhnte.

»Das ist Ellert – der Originalkörper!«, hörte Ernst Ellert ihn sagen.

Die Männer der Patrouille zerrten ihn auf die Beine. Die Frau trat vor den Interkom. »Wir haben ihn erwischt, als er herumspionierte. Ein komischer Vogel. Sieht aus wie sein eigener Tod.«

»Rührt ihn nicht an!«, schrie Deighton. »Ich komme!«

Ellert gab der Bewusstlosigkeit nach. Er war wieder zu Hause. Aber sein Zuhause war eine Welt, die unterzugehen drohte – aufgeteilt in Milliarden winziger Fragmente: Einsteins Tränen!

Vishnas Terror verfolgte ihn bis in die Tiefen der erlösenden Ohnmacht.

Als er zu sich kam, fühlte er die angenehme Kühle frischer Leinentücher. Er lag in einem weißen Bett, hatte einen Pyjama an und spürte ein Gefühl, das er fast vergessen hatte: Hunger. Der Raum war klein, doch sehr behaglich eingerichtet. Es gab keine Spiegel und keine spiegelnden Gegenstände.

Wie rücksichtsvoll!, dachte Ellert sarkastisch.

Er hob die Pyjamajacke, tastete über sein Gesicht, zog die Hosenbeine hoch. Ernst Ellert, der Leichnam – nichts hatte sich daran geändert.

Ein Medoroboter verließ lautlos den Raum. Gleich darauf kamen zwei Männer herein: Julian Tifflor und Reginald Bull.

»Ernst, du also bist das Gespenst, von dem Chthon sprach!«, sagte Bull erschüttert.

Ellert sprudelte alles auf einmal hervor. Er erkannte nur langsam, dass die Freunde ihn so kaum verstehen würden. Beharrlich zwang er sich zur Ruhe.

»Du bist in Sicherheit«, beruhigte ihn der untersetzte rothaarige Bull. Tifflor nickte zustimmend. »Erzähl uns am besten der Reihe nach, was du herausgefunden hast.«

Ellert hatte keinen Hang zu dramatischen Auftritten, war eher ein sachlicher, nüchtern denkender Mensch. Aber alles, was sich in ihm aufgestaut hatte, entlud sich in einem Schluchzen.

»Es geht dem Ende zu«, sagte er und ballte die Hände zu Fäusten.

Tifflor legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. Auch Bull kam näher an das Bett heran.

»Hast du einen Wunsch, Ernst?«

»Vielleicht einen Kaffee«, bat er, nachdem er kurz nachgedacht hatte. »Heiß und schwarz.«

Bull sprach kurz in sein Kombiarmband. »Wird sofort erledigt.« Lächelnd fuhr sich der potenziell Unsterbliche über sein Haar.

»Sind die Blasen schon auf der Erde angelangt?«, fragte Ellert.

Die beiden Freunde verstanden sofort, was er meinte. Sie schüttelten den Kopf. Ellert atmete erleichtert auf. Vielleicht war noch nicht alles zu spät.

Ein junger Mann kam herein. Er reichte Bull einen Becher mit dampfendem Inhalt. Bull roch kurz daran und zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Fast ein Wunder«, stellte er fest. »Es ist Kaffee.«

Ellert streckte bebend die Hand aus, aber Bull trank bereits einen kräftigen Schluck.

»He!«, protestierte Ellert. »Das ist meiner.«

»Ich weiß gar nicht, wie du die heiße Brühe schlucken willst«, widersprach Bull. »Ich sage dir, Ernst, Gespenster brauchen keinen Kaffee, doch mir rettet er vielleicht das Leben. Wie du siehst, zeigen die Menschen in Zeiten wie diesen ihr wahres Gesicht – ich zum Beispiel bin ein reiner Egoist.«

Tifflor machte ein nicht misszuverstehendes Zeichen zur Stirn. »Manchmal spinnt unser Dicker«, stellte er fest.

Und dann berichtete Ernst Ellert.

»Es gelang mir, den Grauen Korridor zu verlassen«, sagte er und lehnte sich entspannt zurück. »Später, wenn irgendwann Zeit dazu sein sollte, werde ich euch von dem Raum zwischen den Dimensionen und von den Karzitanen erzählen. Jetzt ist das unwichtig. Ich erreichte EDEN II. Fragt mich nicht, wo das war, wahrscheinlich lässt sich der Ort nicht mit Koordinaten beschreiben. Jedenfalls bekam ich Kontakt mit Harno, der mir auf seinem Körper in einigen Visionen zeigte, was sich auf der Erde abspielt. Anfangs verstand ich nichts davon, nun sehe ich schon etwas klarer.«

Er unterbrach sich, denn durch die Wand schwebte ein graues Wesen in den Raum, ein überdurchschnittlich großer Mann mit pechschwarzen Augen – eigentlich nur ein Schatten.

»Chthon!«, sagte Bull. »Er hat mich ins HQ Hanse begleitet. Lass dich durch ihn nicht stören, Ernst. Wir hoffen, dass euer beider Wissen uns weiterhelfen wird.«

»Deine Ankunft wurde mir über größere Entfernung signalisiert«, ließ Chthon seine mentale Stimme hören. »Das spricht für deine starke Ausstrahlung. Du bist ein interessantes Wesen, Ernst Ellert.«

Ellert betrachtete den Schatten gründlich. Da war einer, dem es nichts auszumachen schien, wie er aussah. Seltsam, er hätte nie gedacht, dass ihm ein Schatten sympathisch sein könnte. Aber vielleicht besaß Chthon mehr Seele als ein manifester Mensch. Ellert wünschte, er hätte mehr über diesen Fremdling gewusst.

Er wandte sich wieder an seine terranischen Freunde. »Ich versuche, meine Visionen von EDEN II prägnant zu schildern«, versprach er. »Die siebte Plage befindet sich schon im ersten Stadium. Der technomanische Effekt diente der Vorbereitung dieses alles entscheidenden Angriffs. Jeder auf Terra wurde im Verlauf des Vishna-Fiebers auf biovirulente Weise umprogrammiert. Das dürfte in mancherlei Hinsicht schlimme Folgen haben. Euch wird schon aufgefallen sein, dass die Menschen nicht mehr besonders heftig reagieren, und vermutlich bemerkt ihr sogar an euch selbst Anzeichen einer immer stärkeren Müdigkeit.«

»Stimmt!«, rief Bull verblüfft. »Ich werde gleichgültiger. Du hast dafür eine Erklärung?«

»Es hängt mit den herandriftenden Blasen zusammen, die ich Einsteins Tränen nenne«, antwortete Ellert bedächtig. »Ihre entartete Energie und die Ausstrahlung der technomanischen Apparaturen verändern jeden auf der Erde. Aber sogar das ist nur die Vorbereitung für Vishnas eigentlichen großen Schlag. Wir müssen unter allen Umständen verhindern, dass die leuchtenden Kugeln die Erdoberfläche erreichen.«

»Diese Milliarden Energieobjekte?« Bull wurde ernst. »Wir haben schon Versuche gemacht, an sie heranzukommen – alle sind gescheitert. Es sieht beinah so aus, als wären die Kugeln unangreifbar.«

Ellert richtete sich halb auf und breitete die Arme aus. »Egal, wie viele Opfer es kostet – Einsteins Tränen müssen aufgehalten werden!«, rief er beschwörend.

Tifflor beugte sich über ihn und drückte ihn sanft auf die Kissen zurück. Ellert atmete schwer. In seinem Bewusstsein vermischten sich Realität und Visionen. Wahrscheinlich war ihm anzusehen, wie sehr er unter seinem Wissen litt.

»Was weißt du über diese Kugeln?«, fragte Bull.

»Ziel der siebten Plage ist die biopsychische Vernetzung der Menschheit mit dem Virenimperium«, brachte er hervor. Schweiß perlte auf seiner verunstalteten Stirn. Er zitterte.

»Das ist unmöglich!«, rief Tifflor aus. »Ich könnte es mir nicht einmal vorstellen.«

In ihren Bewusstseinen meldete sich die mentale Stimme des vierdimensionalen Schattens. Chthon mischte sich mit Entschiedenheit ein: »Ernst Ellert spricht die Wahrheit. Wenn die Vernetzung gelingt, wird nicht nur die Identität aller auf Terra ausgelöscht werden, indem sie zu einem willigen Werkzeug in Vishnas Händen degenerieren. Ein Virenimperium mit einer integrierten Menschheit stellt zudem eine schreckliche Gefahr für die Kosmokraten dar.«

Bull und Tifflor wechselten einen bestürzten Blick.

»So weit ist es also schon?« Bull schüttelte sich. »Ich habe zwar keine Ahnung, wie die Vernetzung durchgeführt werden soll, aber wir müssen das unter allen Umständen verhindern. Ernst, hast du Hinweise von ES erhalten, was zu tun ist?«

»Ich weiß nur, dass Einsteins Tränen nie die Erde erreichen dürfen.«

Bull drehte sich zu dem ersten Terraner um. »Was hältst du davon?« Seine Stimme klang verändert, härter.

Tifflor wischte sich über die Stirn. Er starrte ins Leere und antwortete nicht.

Ellert schwang sich aus dem Bett. Seine skelettierten Arme griffen nach Tifflor. Er schüttelte den Ersten Terraner heftig an den Schultern. »Was ist mit euch?«, schrie er. »Warum seid ihr plötzlich so apathisch?«

Tifflor schien nicht zu verstehen, was er von ihm wollte. Auch Bull stand teilnahmslos da.

»Was geschieht hier?« Ellert schaute Chthon geradezu flehend an.

»Verstärkte Sextadimschockwellen«, entgegnete der Schatten. »Wer in solche Felder gerät, wird lethargisch. Alle biovirulent Erkrankten werden davon betroffen sein.«

»Alle?«, wiederholte Ellert ungläubig.

Chthon trat durch das Bett hindurch, als existiere es überhaupt nicht. »Soweit ich informiert bin, gibt es auf Terra nur zwei Immune«, sagte er. »Du, Ernst Ellert, und ich.«

Ellert schrie auf. Er stürmte aus dem kleinen Krankenzimmer auf den Gang hinaus. Niemand hielt sich dort auf.

»Zu Hilfe!«, schrie er außer sich. »Bull und Tifflor sind in Gefahr! Ist niemand in der Nähe, der helfen könnte?«

Weil er keine Antwort erhielt, riss er die nächste Tür auf. Er blickte in einen Arbeitsraum. An langen Tischen mit unterschiedlichen Apparaturen saßen Frauen und Männer. Sie hatten ihre Tätigkeit eingestellt und rührten sich nicht. Dass Ellert einfach eindrang, schien sie ebenso wenig zu berühren wie sein grausiges Aussehen.

Er kletterte auf einen Tisch und klatschte in die Hände. »Zuhören!«, rief er schrill. »Alle zuhören!«

Keiner bewegte sich; die Menschen schauten nicht einmal auf.

Chthon kam durch die Wand. In seinen dunklen Augen spiegelte sich unendliche Trauer. »Sie hören dich, aber sie reagieren nicht«, teilte er mit.

»Und warum nicht?«

»Sie sind krank, genau wie Bull und Tifflor, wie alle auf der Erde.«

»Das kann nicht sein!« Ellert sprang vom Tisch zurück auf den Boden und warf sich regelrecht gegen den nächsten Interkom. »Ich muss mit Galbraith reden oder mit Geoffry! Einer muss in diesem Tollhaus noch zuhören und handeln können.«

Chthon glitt an eines der großen Fenster. »Schau hinaus!«, verlangte er.

Ellert trat langsam näher. Er zögerte. Dann blickte er auf die breite Allee hinab. Hunderte Menschen standen dort unten – sie bewegten sich nicht und starrten ins Leere.

Sein Mund war wie ausgetrocknet. Er wollte seinen Kummer hinausschreien, brachte aber keinen Ton über die Lippen. Er wankte zum Interkom zurück. Die Anlage war auf Notstrom geschaltet, weil die Energieversorgung kaum mehr funktionierte.

Er schaltete auf Sendung. »Hier spricht Ernst Ellert, der Teletemporarier! Ich gebe Hanse-Alarm. Wer immer mich hört, soll sich melden.«

»Niemand wird sich melden«, prophezeite Chthon.

»Einsteins Tränen!« Ellert bebte geradezu. »Wer soll sie nun noch aufhalten?«

»Schau dich um!«, empfahl ihm das Wesen im Nebelwams. »Die Auswahl ist nicht sonderlich groß. Ein vierdimensionaler Schatten und ein wandelnder Leichnam, das ist alles, was Terra aufzubieten hat.«

Ellert ließ sich auf einen Stuhl sinken, legte die Arme auf den Tisch und vergrub den Kopf zwischen ihnen. Er schluchzte leise. In seiner Vorstellung entstand eine apokalyptische Szene: Milliarden leuchtender Kugeln sanken auf die Erde herab, und überall standen die Menschen und blickten ihnen tatenlos entgegen.

3.

Bradley von Xanthen, der Kommandant der RAKAL WOOLVER, war ein Mann, der mehrere Dinge gleichzeitig tun konnte, ohne auch nur eines davon zu vernachlässigen.

Momentan beobachtete er die Kontrollen – in der Hoffnung, dass wie durch ein Wunder die verschwundene Erde auftauchen könnte – und behielt zudem Taurec im Auge. Der Gesandte der Kosmokraten wanderte unruhig durch die Zentrale des Schiffes. Vor einer halben Stunde war Taurec schon im Begriff gewesen, die RAKAL WOOLVER an Bord seiner SYZZEL zu verlassen, doch gemeinsam mit einigen Besatzungsmitgliedern hatte von Xanthen ihm das ausgeredet.

Nicht einmal mit seinem genial konstruierten Flugkörper, der SYZZEL, konnte Taurec die Erde finden. So viel stand fest.

Etwas ging in Taurec vor. Es hing vermutlich mit der geheimnisvollen Wesenheit zusammen, von der der Einäugige, wie er sich selbst bezeichnete, oft andeutungsweise gesprochen hatte, ohne genau zu verraten, wen er eigentlich meinte.

Bradley von Xanthen war sicher, dass Taurec nur dieser geheimnisvollen Wesenheit wegen den Flug der RAKAL WOOLVER von M 82 zurück in die Milchstraße mitgemacht hatte. Für Taurec schien viel davon abzuhängen, dass er mit dem Unbekannten zusammentraf. Mitunter wirkte er wie jemand, der seine Seele an den Teufel verloren hatte und nun mit allen Mitteln versuchte, sie zurückzubekommen.

Dieser Vergleich ließ von Xanthen lachen. Taurec wurde auf ihn aufmerksam und hielt in seiner steten Wanderung inne.

»Amüsierst du dich über mich?«, fragte er schroff.

Der Kommandant wurde sofort wieder ernst. »Tut mir leid. Wir sind alle ein bisschen nervös und gereizt. Die erfolglose Suche nach der Erde trägt daran die Schuld.«

»Ich bin genauso erfolglos«, brummte der Abgesandte der Kosmokraten. »Der, den ich suche, befindet sich in großer Gefahr – das spüre ich deutlich.«

Von Xanthen entschloss sich zu einem weiteren Versuch, Taurec einige Informationen zu entlocken. »Du musst ein inniges Verhältnis mit diesem Unbekannten haben, wenn du deutliche Signale empfindest.«

Taurec blickte ihn misstrauisch an, sagte aber nichts. Nach einiger Zeit nahm er seine Wanderung wieder auf.

»Warum geben wir eigentlich nicht auf?«, erkundigte sich ein Ortungstechniker. »Meinst du nicht auch, Bradley, dass wir lang genug auf der Suche waren? Wir sollten umkehren und versuchen, die Galaktische Flotte wieder zu erreichen. Perry Rhodan muss über alles informiert werden.«

Obwohl von Xanthen schon mit ähnlichen Gedanken gespielt hatte, winkte er ab. So schnell würde er gewiss nicht aufgeben. Seine Intuition sagte ihm, dass sich bald einiges ereignen würde. Wenn das Wesen, dem Taurec folgte, in Gefahr schwebte, galt das womöglich ebenso für die Erde und die Menschheit.

Hilflos zu sein und nicht eingreifen zu können, obwohl er vielleicht dringend gebraucht wurde – der Gedanke zermürbte von Xanthen. Auch die Besatzung wurde stetig unruhiger. Als Kommandant konnte er alle mit Routinearbeiten beschäftigen, am Nachdenken würde er damit niemanden hindern.

»Taurec!«, rief er. »Vielleicht war es ein Fehler, dass wir dich aufgehalten haben. Zumindest ein probeweiser Ausflug mit der SYZZEL sollte möglich sein.«

»Ihr dürft mich sofort ausschleusen.« Taurec sprühte geradezu vor Tatendrang. »Ich schaue mich in der näheren Umgebung um.«

»Nähere Umgebung? Das heißt im Klartext?«

»Ein Radius von hundert Lichtjahren. Kein Problem für mein Fahrzeug.«

Im Grunde genommen hatte von Xanthen keinen Einfluss darauf, wie weit Taurec sich entfernte. Der Gesandte der Kosmokraten war ein freier Mann; er konnte kommen und gehen, wie es ihm beliebte, wenn er sich auch an die Bordordnung halten musste. Andererseits fürchtete von Xanthen, den Einäugigen zu verlieren, denn er ahnte, dass nur Taurec ihn auf Terras Spur bringen konnte.

»Wenn du etwas findest, verlasse ich mich darauf, dass du uns unterrichtest, bevor du auf eigene Faust etwas unternimmst!«

»Das verspreche ich!«, sagte Taurec und verließ die Zentrale.

Wenige Minuten danach fiel ein länglicher silberner Tropfen aus einem Hangar der RAKAL WOOLVER. Es war die SYZZEL. Das röhrenförmige Raumschiff sah unscheinbar aus, von Xanthen wusste jedoch, dass es ein mächtigeres Instrument war als die gewaltige RAKAL WOOLVER.

Die SYZZEL verschwand, ohne dass Taurec sich noch einmal gemeldet hätte.

Er hatte kein bestimmtes Ziel. Taurec war einfach nur erleichtert darüber, dass er endlich etwas unternehmen konnte. Die Untätigkeit war für ihn schlimmer gewesen als alles andere. In der Zentrale der RAKAL WOOLVER zu warten und dabei die Nähe des Anderen zu spüren, war fast mehr, als er ertragen konnte.

Wir müssen zusammenfinden!, schoss es ihm durch den Kopf, kaum dass er wieder an den Anderen dachte. Nur dann kann ich meine Macht vollständig ausspielen – und das wird nötig sein.

In den ersten Minuten nach der Ausschleusung flog er einfach ziellos in den Weltraum hinaus. Dann erst ging er sorgfältiger vor, plante und ortete, obwohl er wenig Hoffnung hatte, Konkretes zu finden.

Nachdem das terranische Schiff verschwunden war, konzentrierte er sich auf eventuell in der Nähe stehende Objekte. In den letzten Tagen hatte die RAKAL WOOLVER wiederholt Kontakt mit Schiffen der Kosmischen Hanse und der GAVÖK gehabt, die ebenso erfolglos nach Terra suchten.

Taurec hätte gern mit jemandem über sein Problem gesprochen. Er befürchtete aber, dass niemand ihn verstehen würde. Vielleicht würde man ihn sogar für verrückt erklären.

Wie sollte er den Terranern auch begreiflich machen, dass er auf der Jagd nach sich selbst war?

»Ellert!« Der Ruf hallte durch den langen Korridor.

Ernst Ellert blieb wie angewurzelt stehen. Sein Blick streifte Chthon, der neben ihm schwebte und offenbar wachsende Schwierigkeiten hatte, seine Proportionen zu stabilisieren. Er hatte Ellert erklärt, dass er von dessen Immunität gegen die Schockwellen profitierte. Deshalb hielt er sich nun so nahe wie möglich bei ihm.

»Ich habe dich nicht gerufen«, kommentierte der Schatten. »Die Stimme kam aus den wenigen Lautsprecherfeldern, die noch mit Energie versorgt werden.«

Lautsprecher!, erkannte Ellert verwundert. Das bedeutete, dass jemand von außerhalb nach ihm rief, womöglich sogar von außerhalb der Erde. Von Bord eines Raumschiffs?

Er konnte es sich nur schwer vorstellen. Und falls sich tatsächlich ein Schiff im Raum befand, woher wusste die Besatzung, dass Ernst Ellert in seinem verwesten Originalkörper durchs HQ Hanse irrte?

Ist es vielleicht eine Falle?, überlegte er. Hatte Vishna herausgefunden, dass es einen Immunen gab, den sie unschädlich machen musste, bevor die siebte Plage mit voller Wucht über die Erde hereinbrach?

Auch diese Möglichkeit erschien ihm wenig glaubhaft. Vishna würde wegen eines einzelnen Gegners kaum viel Aufhebens machen. Vermutlich wusste sie nichts von seiner Anwesenheit im HQ Hanse.

»Ellert ...!«

Wieder dieser Ruf.

Ellert drang nacheinander in mehrere Räume ein und suchte nach einem funktionsfähigen Interkomanschluss. Endlich fand er ein größeres Terminal der Verwaltung.

»Hier spricht Ellert!«, meldete er sich. »Ich höre dich. Wer ruft nach mir?«

Auf dem Holoschirm erschien kein menschliches Gesicht, sondern ein Symbol. Es war ihm wohlvertraut: NATHANS Logo! Die Inpotronik auf Luna funktionierte also weiterhin. Sie wusste, dass er als einziger Mensch auf der Erde in der Lage war, einen Funkspruch entgegenzunehmen.

»Die Energieversorgung ist nahezu vollständig zusammengebrochen«, berichtete NATHAN. »Ich kann nichts dagegen tun, außer dass ich einige Notaggregate in Betrieb halte. Schuld an diesem Zustand sind die technomanischen Apparaturen, die sämtliche Energie abziehen und damit Schockwellen erzeugen.«

»Ich weiß.« Ellert nickte. »Wie sieht es auf dem Mond aus?«

»Alle Menschen, die hier lebten und arbeiteten, sind über Transmitterverbindungen zur Erde zurückgekehrt.«

Ellert unterdrückte eine Verwünschung. Er hatte darauf gehofft, von den Menschen auf Luna Unterstützung zu erhalten. Auch sie waren also Opfer des technomanischen Effekts geworden. Ihre biovirulente Programmierung hatte sie zur Erde getrieben, damit sie ebenfalls Vishnas Plänen zum Opfer fielen.

»Du hättest sie aufhalten und damit vielleicht retten können«, warf er der Inpotronik vor.

»Im Gegenteil«, versetzte NATHAN. »Ich musste sie ziehen lassen, damit sie mir nicht gefährlich werden. Nun erst habe ich die Möglichkeit, mich hermetisch abzuriegeln und auf eine Gelegenheit zu warten, bis ich gegen Vishna vorgehen kann.«

Ein einsamer Riesencomputer unter einem Schutzschirm auf dem Mond war also sein Verbündeter. Ein grotesker Gedanke, fand Ellert. Andererseits verfügte NATHAN über Kapazitäten, die er vielleicht nutzen konnte.

»Derzeit kann ich nicht viel tun«, fuhr NATHAN fort. »Ich halte eine Nottransmitterverbindung zur Erde aufrecht, damit du fliehen kannst, sobald du keinen anderen Ausweg siehst.«

»Ich muss versuchen, Einsteins Tränen zu bekämpfen«, erwiderte Ellert.

»Ja, ich weiß.«

»Hast du Vorschläge? Kannst du uns helfen?«

»Um euch zu helfen, müssten die Anlagen auf Terra erreichbar sein. Ohne Energie sind sie für mich nutzlos.«

Also ein schwacher Verbündeter, wie Ellert befürchtet hatte.

NATHAN sagte: »Ich habe alle Daten ausgewertet. Chthon und du, ihr könnt nichts gegen die Energieblasen unternehmen. Ihr brauchtet dazu eine riesige Raumflotte mit den modernsten Waffen. Selbst dann wäre ein Erfolg fragwürdig.«

»Trotzdem«, beharrte Ellert. »Wir müssen etwas tun.«

»Dessen bin ich mir bewusst.« NATHAN kannte die menschliche Psyche, zweifellos verstand er sie auch.

»Wir werden sporadisch Kontakt aufnehmen«, schlug Ellert vor. »Jetzt haben Chthon und ich es eilig.«

»Einverstanden«, stimmte NATHAN zu, dann brach die Verbindung ab.

Ellert drehte sich zu dem hinter ihm stehenden Schatten um. »Du hast alles gehört?«

»Ja«, antwortete Chthon. »NATHAN hat recht – wir können nichts tun. Einsteins Tränen werden die Erde überschwemmen.«

Auf dem Weg zu den Dachlandeplätzen des Hauptquartiers kamen Ellert und Chthon an vielen Räumen vorbei, in denen sie die Menschen sehen konnten, die hier gearbeitet hatten. Überall bot sich ihnen das gleiche Bild: Männer und Frauen rührten sich nicht und schienen an nichts Interesse zu haben.

Was würde mit ihnen geschehen?, fragte sich Ellert. Bestand nicht die Gefahr, dass sie alle zugrunde gingen, wenn sich längere Zeit niemand ihrer annahm? Wer würde diese Leute mit Nahrung versorgen, wer sich um ihre hygienischen Bedürfnisse kümmern?

Wie sollte die von Vishna geplante Vernetzung der Menschheit mit dem Virenimperium vonstattengehen?

Er versuchte angestrengt, sich die letzten Szenen in Erinnerung zu rufen, die Harno ihm gezeigt hatte. Sie hätten ihm Antworten auf seine Fragen geben können, doch er entsann sich nicht.

Auch auf dem Dach hielten sich Menschen auf. Sie waren apathisch. Die Vorstellung, dass es auf dem ganzen Planeten so aussah, ließ nacktes Entsetzen in Ellert aufsteigen.

»Was hast du vor?«, erkundigte sich Chthon.

Ellerts Blick wanderte über den Landeplatz. »Wir suchen uns eine Space-Jet oder ein anderes Kleinstraumschiff, das ich fliegen kann. Damit machen wir einen Abstecher in den Weltraum.«

»Du willst die Kugeln angreifen?«

»Was sollen wir sonst tun?«

»So ist es«, bestätigte Chthon. »Nur vergiss nicht, dass die Kugeln über die gleichen Schutzschirme verfügen wie die technomanischen Apparate. Narwonwors Team konnte trotz hervorragender Ausrüstung keinen dieser Schirme knacken.«

»Vielleicht haben sie nicht alles versucht.« Ellert deutete auf eine Kleinst-Space-Jet. »Dort drüben, Chthon, die Maschine nehmen wir.«

Sie erreichten den Flugkörper. Ellert schwang sich durch die offene Schleuse auf den Pilotensitz. Chthon betrat den Diskus einfach durch die stählerne Hülle. So verblüffend diese Fähigkeit auch war, so sehr verdeutlichte sie Chthons Schwäche: Er konnte keinen unmittelbaren Einfluss auf Materie nehmen.

Ellert beobachtete den Schatten voller Sorge. Er hatte den Eindruck, dass Chthon durchsichtiger wurde, das Nebelwams schien sich kaum merklich aufzulösen. Der Aufenthalt auf Terra war für den Schatten seit einigen Tagen gefährlich.

Die transparente Kuppel der Jet erlaubte den direkten Blick nach draußen. Der Himmel leuchtete in den Farben des Grauen Korridors, der nie zuvor so intensiv gestrahlt hatte. Die Kunstsonnen verblassten dagegen.

»Hältst du nach den Kugeln Ausschau?«, fragte Chthon.

»Es ist ein schrecklicher Gedanke, dass sie bald über uns erscheinen werden.« Ellert prüfte die Kontrollen und schloss das Schott. Die Space-Jet gehörte einem Hanse-Spezialisten und war deshalb besonders ausgerüstet. Sogar Bordwaffen zählten zum Equipment, wie er erleichtert feststellte.

Ellert startete und flog einige Hundert Meter hoch über die Stadt hinweg. Terrania machte einen ausgestorbenen Eindruck, die größte Geisterstadt, die er jemals gesehen hatte. Er schauderte bei dem Gedanken daran, welche Szenen sich in naher Zukunft abspielen würden.

»Es hat keinen Sinn, nur spazieren zu fliegen«, sagte er. »Ich lasse die Jet steigen, für einen besseren Überblick.«

Augenblicke später deutete Chthon nach unten. »Sieh nur!«, meldete er sich bestürzt.

Ellert hätte fast die Kontrolle über die Maschine verloren. Die Jet machte ein paar ruckartige Sprünge, dann verharrte sie, vom Antigrav in der Schwebe gehalten.

Tief unten belebten sich Straßen und Plätze. Aus den Gebäuden strömten die Einwohner der Stadt zu Tausenden und versammelten sich im Freien.

»Der Bann ist gebrochen!«, jubelte Ellert. »Sie haben ihren Gleichmut abgelegt und sind endlich wieder aktiv.«

Chthon reagierte nicht, er wirkte sehr nachdenklich. Auch Ellerts anfängliche Erleichterung ließ nach, kaum dass er über das Verhalten der Menschen nachdachte. Wenn die Opfer der siebten Plage tatsächlich wieder Herr ihrer Sinne geworden wären, hätten sie sich anders verhalten.

Zweifellos hätten sie die unterbrochenen Arbeiten wieder aufgenommen. Davon konnte aber keine Rede sein. Alle blieben, sobald sie die Gebäude verlassen hatten, einfach stehen und blickten in den Himmel.

Es sah aus, als erwarteten sie ein besonderes Ereignis.

In Ellerts Kehle bildete sich ein Kloß. Chthon war eher als er in der Lage, der Wahrheit ins Auge zu sehen und sie auszusprechen.

»Sie warten auf die Kugeln«, stellte der Schatten fest.

Sie waren etwa dreihundert Kilometer weit geflogen und hatten dabei beobachtet. Überall warteten Menschen und Angehörige anderer Völker, die noch auf Terra weilten.

Ellert war froh, dass er zu hoch flog, um die Gesichter sehen zu können. Er konnte sich den stumpfsinnigen Ausdruck einfältiger Erwartung darin nur zu gut vorstellen.

Schließlich ließ er den kleinen Diskus wieder absinken.

»Was hast du vor?«, fragte Chthon. »Wolltest du nicht in den Weltraum?«

»Ich muss erst sicher sein, dass unsere Einschätzung der Lage richtig ist. Auch wenn die Bestätigung extrem bitter sein sollte.«

Ellert flog mit hoher Beschleunigung zum HQ Hanse zurück. Tausende Menschen waren auch dort ins Freie gekommen.

»Ich sehe Reginald Bull – und Waringer!«, rief Ellert nach einer Weile. »Ich lande und versuche, Kontakt mit ihnen aufzunehmen.«

»Wenn du es für richtig hältst ...«

Ellert suchte nach einer geeigneten Stelle und setzte die Jet hart auf. Er hatte schon bessere Landungen hinter sich, aber er war auch nie so angespannt gewesen.

Nur wenige Meter entfernt standen die ersten Menschen. Sie hatten den landenden Diskus überhaupt nicht beachtet.

»Warte hier!«, sagte Ellert.

Chthon protestierte nicht dagegen, dass er allein gehen wollte. Einmal mehr bewies der Schatten sein Einfühlungsvermögen. Er verstand, dass Ellert niemanden bei sich haben wollte – vor allem keinen Nichtmenschlichen.

Ellert stieg aus und ging auf den ersten Mann zu. Es war fast noch ein Junge, der das Emblem der Kosmischen Hanse auf seiner Weste trug. Allerdings reagierte er in keiner Weise.

Ellert bahnte sich einen Weg zu dem Bereich, in dem er Bull und Waringer gesehen hatte. Er fand beide wenig später zwischen Hanse-Spezialisten und Mitarbeitern der LFT. Geoffry Abel Waringer machte einen ernsten und würdevollen Eindruck, als bereitete er sich auf einen großen Moment vor. Um Bulls Lippen lag ein durchaus zufriedenes Lächeln, das die Furchen der Erschöpfung in seinem Gesicht milderte.

»Bully«, sagte Ellert beschwörend und fasste den Aktivatorträger bei der Hand. »Ich bin's, Ernst Ellert. Wenn du mich ein wenig dabei unterstützt, könnte ich Geoffry und dich auf den Mond bringen. NATHAN bietet uns Sicherheit.«

Wenn Bull ihn überhaupt hörte, dann verstand er den Sinn des Gesagten nicht. Ellert verlor für einen Augenblick die Fassung und versetzte ihm einen Tritt ans Schienbein. »Du armer Trottel!«, schrie er. »Merkt denn keiner, was hier gespielt wird? Ihr seid alle verloren, wenn ihr nicht endlich reagiert.«