Perry Rhodan 160: Die Spur der Kartanin (Silberband) - Kurt Mahr - E-Book

Perry Rhodan 160: Die Spur der Kartanin (Silberband) E-Book

Kurt Mahr

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Beschreibung

Vor fünfzehn Jahren haben Truppen aus den Galaxien der Mächtigkeitsballung Estartu die Welten der Milchstraße besetzt. Sie wollen ihren Bewohnern die Philosophie des Permanenten Konflikts vermitteln – nötigenfalls mit Gewalt. Die Gegenwehr der Menschen und ihrer Verbündeten ist aber stark.   Beispielsweise hat Julian Tifflor die Group Organic Independence ins Leben gerufen. Mit Mut und Entschlossenheit sowie neu entwickelten Technologien macht die Organisation den Eroberern das Leben schwer.   Zugleich setzen sich Galaktiker auf die Spur der mysteriösen Kartanin. Woher kommen diese katzenartigen Wesen, was sind ihre Pläne? Es zeigen sich Zusammenhänge zwischen den Aktivitäten der Kartanin in Estartu und in der Milchstraße ...

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Nr. 160

Die Spur der Kartanin

Cover

Klappentext

1. Das Wunder der Milchstraße

2. Nachwehen

3. Der Schrecken von Raumfort 185

4. Flucht ins Ungewisse

5. Kampf ohne Hoffnung

6. Willkommen bei der GOI

7. Die allgemeine Lage

8. Von Apas nach Aralon

9. Heiße Fracht nach Terra

10. Tinta Raegh reist nach Neuschwanstein

11. Im Weißen Schrein

12. Unternehmen Götterschrein

13. Gefährlicher Himalaja

14. Auf zum SOTHOM!

15. Perspektiven

16. Peregrin

17. Hölle SOTHOM

18. Neues aus Pinwheel

19. Die Spur der Kartanin

20. Die Kolonisten von Lao-Sinh

21. Die Nachfolgerin

22. Horchposten Pinwheel

23. Das Ende der Jagd

Nachwort

Zeittafel

Impressum

Vor fünfzehn Jahren haben Truppen aus den Galaxien der Mächtigkeitsballung Estartu die Welten der Milchstraße besetzt. Sie wollen ihren Bewohnern die Philosophie des Permanenten Konflikts vermitteln – nötigenfalls mit Gewalt. Die Gegenwehr der Menschen und ihrer Verbündeten ist aber stark.

Beispielsweise hat Julian Tifflor die Group Organic Independence ins Leben gerufen. Mit Mut und Entschlossenheit sowie neu entwickelten Technologien macht die Organisation den Eroberern das Leben schwer.

1. Das Wunder der Milchstraße

Mit leerem Blick sah er in das Gewimmel der Farben auf der großen Videofläche. Rotierende, explodierende Sterne, glühende Energiebahnen des intergalaktischen Vakuums tanzten, zuckten und waberten vor seinen Augen. Er erblickte das Universum aus der Sicht des Psi-Reisenden. Das Bild war lebendig und von atemberaubender Buntheit. Aber wenn man zweieinhalb Wochen lang nichts anderes sah, wurde es langweilig.

Bonifazio Slutch saß in einem Sessel aus Virensubstanz, die linke Hand auf die Lehne gestützt. Seine Haltung verriet innere Unruhe. Er fuhr sich mit der Rechten übers Kinn. Er hatte sich seit Tagen nicht mehr die Mühe gemacht, den Bartwuchs zu entfernen.

18 Tage war es her, seit er sich von Reginald Bull hatte breitschlagen lassen. Welcher Teufel hatte ihn geritten, die Leitung einer Expedition zu übernehmen, die einen Abgrund von 40 Millionen Lichtjahren überbrücken und am Ziel nach einem Mann suchen sollte, von dem man seit 13 Jahren nichts mehr gehört hatte?

Er versuchte, sich auszumalen, wo er jetzt wäre, wenn es den Augenblick geistiger Umnachtung nicht gegeben hätte. Wahrscheinlich an Bord der EXPLORER. Sie schipperte durch die Galaxis Absantha-Gom und suchte nach den Spuren der geheimnisvollen Lao-Sinh. Es wäre ein gemütliches Leben.

Stattdessen saß er im Kontrollraum der AVIGNON und wartete auf den Augenblick, in dem das estartische Wunder der Milchstraße vor ihm auftauchte. Das flinke Virenschiff hatte bereits 90 Prozent der Gesamtdistanz zurückgelegt. Vor 15 Jahren hatte Sotho Tyg Ian damit geprahlt, dass man sein Wunder bis ans Ende des Universums würde sehen können. Anhänger des Kriegerkults neigten zur Übertreibung. Aber es konnte nicht mehr lange dauern, bis Gume Shujaa, das Große Leuchtfeuer, die Faust des Kriegers, am psionischen Horizont auftauchte.

Er ließ die linke Hand von der Armlehne gleiten und sank in die Polster des Sessels zurück. Er sah sich um. Veeghr saß reglos vor seiner Konsole. Der Virotron klebte ihm auf dem Tellerkopf wie eine zu klein geratene Krone. Die Augen im rückwärtigen Teil des Schädels schienen Fazzy anzustarren. Aber Fazzy wusste, dass der Jülziish sich auf die Anzeigen vor ihm konzentrierte. Veeghr war der Mentor der AVIGNON, ein vorzüglicher Mentor. Es kostete ihn keine Mühe, das Schiff zu Höchstleistungen zu überreden.

Ein paar Meter abseits saß Megan Suhr. Fazzy Slutch konnte nur ihren aschblonden Schopf sehen, der in sanften Wellen über die Rückenlehne des Sessels fiel. Megan hatte sich schon seit Stunden nicht mehr gerührt. Wahrscheinlich war sie eingeschlafen. Für die Co-Mentorin gab es nichts zu tun, solange der Mentor das Steuer führte.

Megan. Fazzy versuchte, sie sich vorzustellen, wie sie in ihrem Sessel hing. Bei diesen Gedanken wurde ihm warm ums Herz. Ihr Gesicht war hübsch, aber auf eine schablonisierte Art und Weise. Schau, wer da redet, verspottete Fazzy sich selbst. An dir ist schließlich auch kein Adonis verloren gegangen. Aber Megan hatte Temperament und ein ziemlich flottes Mundwerk obendrein.

»Es wäre schön ...«, seufzte Fazzy. Eine Welle von Selbstmitleid schlug über ihm zusammen, als er darüber nachdachte, wie einsam sein Dasein war. An Bord der Virenschiffe ergaben sich Bindungen schnell und gingen ebenso schnell wieder auseinander. Bei alldem kam Bonifazio Slutch gewöhnlich ein wenig zu kurz. Er war klein, nicht einmal 1,70 Meter groß, und schmächtig. Was die Natur ihm in der Schulterbreite versagt hatte, hatte sie ihm bei der Dimensionierung der Nase umso großzügiger zugestanden, und sein Mund war ungewöhnlich breit.

Nein, Fazzy war kein Typ, um den sich die Frauen rissen. Er überwand die Enttäuschung, indem er Späße darüber riss. Er war ein Clown, der andere zum Lachen brachte. Aber tief drinnen war der großmäulige, schlagfertige, stets zu Scherzen aufgelegte Fazzy Slutch ein einsamer Mensch.

Die AVIGNON hatte eine Besatzung von 40 Personen. Davon waren 34 terranischer Herkunft. Vier stammten von den Kolonien Arkons, und zwei waren Jülziish. Fazzy hatte sich um die Liaisons, die sich unter der Besatzung herausbildeten, nie gekümmert. Aber Megan war, soweit er wusste, an niemand gebunden.

Die Sache wäre einen Versuch wert, dachte er.

»Seht her«, sagte Veeghr in diesem Augenblick. »Das Große Leuchtfeuer kommt in Sicht.«

Die AVIGNON hatte eine Vergrößerung des Bildes erzeugt, das sich in Flugrichtung bot. Die Milchstraße zeigte sich als mächtige, rotierende Spiralgalaxis mit deutlich ausgebildeten Armen. Die Farben der Spirale reichten von sattem, tiefem Blau im Zentrum über Grün, Gelb, Orange bis hin zu grellem Rot in den Spitzen der Arme. Das riesige Feuerrad drehte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Es brauchte nicht mehr als zwei Sekunden für eine volle Umdrehung. Der Psi-Raum hatte seine eigene Abbildungstechnik, Zeit und Raum hatten für ihn eine andere Bedeutung als im Standarduniversum. Zeitabläufe, die sich in Hunderten von Jahrmillionen abspielen, stellte er in wenigen Sekunden und Minuten dar.

»Wo?«, fragte Fazzy Slutch, nachdem sich seine Augen an den Farbenwirbel gewöhnt hatten.

»Dort, in der Mitte«, sagte Megan Suhr.

Fazzy sah es im gleichen Augenblick, und er war enttäuscht. Er hatte sich unter Sotho Tyg Ians kosmischem Leuchtfeuer mehr vorgestellt. Er erblickte einen leuchtenden Fleck im Zentrum der Milchstraße, der seine Farben noch rascher veränderte als das wirbelnde Feuerrad. Er schillerte in allen Farben des Spektrums, aber er war kaum mehr als ein breit gedrückter Punkt. Sein Durchmesser machte höchstens ein paar Prozent des Milchstraßendurchmessers aus.

»Das ist alles?«, sagte Fazzy.

»Du vergisst, dass wir uns der Milchstraße in steilem Winkel nähern«, meldete sich die AVIGNON zu Wort. »Unser Kurs schneidet die Hauptebene der Milchstraße unter fünfundsiebzig Grad. Wir kommen nahezu senkrecht von oben, wenn du es so ausdrücken möchtest. Du siehst das Leuchtfeuer in der Draufsicht.«

»Dreh das Bild«, verlangte Megan. »Wir wollen die Milchstraße von der Seite her sehen.«

Das Bild geriet in Bewegung. Die Milchstraße kippte zur Seite und kam erst wieder zum Stillstand, als sie zum flammenden, dünnen Strich geworden war, mit einer deutlichen Ausbuchtung in der Mitte. Da allerdings zeigte sich Sotho Tyg Ians estartisches Wunder in seiner vollen Größe. Weit ragte es aus der Hauptebene der Milchstraße empor: ein säulenförmiger Strunk mit einer Verdickung am oberen Ende. Nicht ganz ein Zehntel des Milchstraßendurchmessers betrug die Abmessung des Großen Leuchtfeuers. 8000 Lichtjahre hoch war es wohl.

»Wie eine Faust«, sagte Megan Suhr andächtig.

Fazzy kniff die Augen ein wenig zusammen und fixierte das Leuchtfeuer aus halb geschlossenen Lidern. Wahrhaftig, sie hatte recht! Der säulenförmige Strunk war ein Teil des emporgereckten Armes. Die Verdickung stellte eine geballte Faust dar.

»Gume Shujaa«, sagte Veeghr. »Die Faust des Kriegers.«

»Das Bild stellt noch etwas anderes dar, was für uns wesentlicher sein sollte«, erklärte die Stimme des Schiffes. »Kann es jemand sehen?«

Sie versuchten es; aber nach einer halben Minute gaben alle drei zu, dass sie nichts erkennen konnten.

»Dann vergrößere ich das Bild nochmals um einen Faktor fünf«, sagte das Schiff.

Die Videofläche wuchs und mit ihr die Darstellung der Milchstraße.

»Ich dämpfe alle nicht grünen Töne. So sollte es deutlich werden.«

Das grelle Bunt des Bildes schrumpfte zu einem Bruchteil seiner ursprünglichen Intensität. Nur die grünen Farben blieben unverändert erhalten. Die Fäden des psionischen Netzes, bisher hinter wirbelnden Rot-, Gelb- und Blautönen verborgen, traten deutlich hervor. Und noch etwas war zu sehen: Durch die Sternenmassen der Milchstraße woben sich ebenfalls Fäden, locker wie ein langer Strang Wolle, den jemand achtlos zwischen die Sterne hatte fallen lassen. Sie waren dünner als die Bahnen des psionischen Netzes und von matterem Grün.

Aber das war es nicht, was die AVIGNON ihren Zuschauern zeigen wollte. Megan entdeckte es als Erste. »Das Netz!«, rief sie. »Es ... es hört auf!«

Eine dünne Schicht undurchdringlicher Schwärze schien den Körper der Milchstraße zu umgeben. Sie zog sich an der dünnen, in der Mitte ausgebeulten Scheibe entlang wie eine Haut. An der Oberfläche der Haut endeten die Stränge des psionischen Netzes wie abgeschnitten. Die dünnen, blassen Fäden des Wollknäuels dagegen lagen unter der Haut.

Fazzy Slutch räusperte sich.

»Damit mussten wir rechnen, nicht wahr? Es war bekannt, dass Tyg Ian sein Wunder in erster Linie deswegen errichtete, weil er am psionischen Netz flicken wollte. Das ist der Grund, warum sich seit dem Jahr 432 kein Vironaut mehr in die Milchstraße gewagt hat.«

»Es mag sein, dass das so ist.« Veeghrs schrille, hohe Stimme und seine bedächtige Sprechweise bildeten einen eigentümlichen Gegensatz. »Aber für uns erhebt sich die Frage, wie wir diese ... tote Zone durchqueren.«

»Wie tief ist sie?«, fragte Megan.

»Im Durchschnitt fünfhundert Lichtjahre«, antwortete die Stimme des Schiffes.

Veeghr und Megan sahen Fazzy an. Seine Aufgabe war es, die Entscheidungen zu treffen. Die AVIGNON besaß zwei Triebwerkssysteme: den Enerpsi-Antrieb für den überlichtschnellen Flug entlang den Strängen des psionischen Netzes und das Gravo-Triebwerk für den maximal lichtschnellen Flug im Standarduniversum. Wer sich durch das Standarduniversum bewegte, unterlag den Einstein'schen Gesetzen. Der AVIGNON fiele es nicht schwer, eine Strecke von 500 Lichtjahren mithilfe des Gravo-Antriebs zurückzulegen, und für die Besatzung verginge während des Fluges nur ein mäßiger Betrag an Zeit – je nachdem, wie nah das Schiff der Lichtgeschwindigkeit kam. Aber draußen, auf den Uhren der Erde und aller anderen Planeten der Milchstraße, wären inzwischen 500 Jahre verstrichen.

So lange konnte Julian Tifflor auf die Nachricht von den Ereignissen auf Chanukah nicht warten.

»Es gibt nirgendwo eine Verbindung zwischen dem psionischen Netz und dem Innern der Milchstraße?«, fragte er hoffnungslos.

»Keine, die ich erkennen kann«, antwortete das Schiff.

»Was sind das für Wollfäden zwischen den Sternen?«

»Ich nehme an, dass es sich um die Stränge des künstlichen Psi-Netzes handelt, das der Sotho im Inneren der Milchstraße für seine eigenen Zwecke erschaffen hat. Erinnert euch, dass es auch in der Kalmenzone von Siom Som einen Ersatz für das psionische Netz gibt. Das sind die Feldlinien, die die Heraldischen Tore untereinander verbinden.«

»Sind die Stränge des Ersatznetzes für dich befahrbar?«, erkundigte sich Fazzy.

»Wahrscheinlich«, lautete die Antwort. »Ich müsste sie aus der Nähe untersuchen. Soweit ich feststellen kann, unterscheiden sie sich nur in der Frequenz von den Strängen des psionischen Netzes.«

»Julian Tifflor hat die Vironauten noch nicht aufgegeben«, sagte Fazzy und wunderte sich selbst über die Gewissheit, die er bei diesen Worten empfand. »Er weiß, dass der eine oder andere von uns in die Milchstraße zurückkehren wird. Virenschiffe brauchen ein psionisches Netz, um sich bewegen zu können. Stygians Wunder versperrt ihnen den Weg.«

Stygian – das war der Name, den Menschen terranischer Herkunft dem Sotho Tyg Ian gegeben hatten. Stygian: der aus der Unterwelt. Fazzy hatte die Arme auf dem Rücken verschränkt und ging mit kurzen Schritten auf und ab.

»Was wird Tifflor unter solchen Umständen tun?«, setzte er sein Selbstgespräch fort. »Er wird dafür sorgen, dass Vironauten trotz des Hindernisses in die Milchstraße einreisen können. Er hat schnelle Metagrav-Schiffe, auf die Gume Shujaa keine Wirkung ausübt. Aber ... er muss die Vironauten wissen lassen, wohin sie sich zu wenden haben.«

Er fuhr auf dem Absatz herum. Das laute Nachdenken hatte ein Resultat gezeitigt. Er hatte eine Idee. »Die Kugelsternhaufen!«, rief er. »Liegen sie inner- oder außerhalb der schwarzen Trennschicht?«

»Innerhalb, die meisten«, antwortete die Seele des Schiffes. »Nur diejenigen, die am weitesten von der Hauptebene der Milchstraße entfernt stehen, befinden sich außerhalb der Trennschicht.«

»Außer diesen gibt es Einzelsterne, die weit draußen im Halo stehen.« Fazzy Slutch erwärmte sich für seine Idee. »Einzelsterne mit Planeten. Irgendwo dort hat Julian Tifflor eine Station mit einem Sender eingerichtet, die uns mit Informationen versorgt. Wetten?«

Er war unmittelbar vor Megan stehen geblieben und hatte so rasch und unerwartet aufgeblickt, dass Megan, halb überrascht, halb erschrocken, einen Schritt zurücktrat. Fazzy grinste linkisch, Megan lächelte verwirrt.

»Nein, ich wette nicht«, sagte sie. »Ich glaube nämlich, dass du recht hast.«

Und Veeghr fügte hinzu: »So könnte es tatsächlich sein.«

Fazzy Slutch machte eine theatralische Geste in Richtung der Konsole des Mentors. »Dann lasst uns keine Zeit verlieren.«

Während der nächsten zwei Tage wuchs die Spannung stetig. Sicherlich war es kein starker Sender, sonst hätte Sotho Tyg Ian ihn längst angepeilt und vernichtet. Einen schwachen Sender mit begrenzter Reichweite musste man suchen. Wo würden die, die mit zurückkehrenden Vironauten rechneten, ihren Sender installieren?

Über diese Frage wurde stundenlang diskutiert. Viele waren der Ansicht, der Sender müsse sich in einem sternenarmen Gebiet befinden, in dem seine ohnehin geringe Leistung durch möglichst wenig Störungen beeinträchtigt wurde. Andere glaubten, der Wegweiser sei in der Nähe eines markanten Punktes aufgestellt worden, womöglich am Rand eines der großen Kugelsternhaufen. Zwar waren dort intensive Störquellen am Werk, jedoch würde von den heimkehrenden Vironauten niemand erwarten, dass sie den ganzen Halo nach einem Hinweis absuchten.

Die Seele des Schiffes befürwortete schließlich die letztere Meinung. Die AVIGNON legte das vorläufige Ziel fest: den Sternhaufen NGC 5024 im Sektor Coma Berenices.

Noch vor dem Abbruch des Informationsflusses um die Jahresmitte 432 war bekannt geworden, dass sich in der Milchstraße eine Widerstandsgruppe gegen die Herrschaft des neuen Sothos gebildet habe. Die Organisation nannte sich »Gruppe Organische Unabhängigkeit« oder »Group Organic Independence« und war unter dem Akronym GOI bekannt. Julian Tifflor hatte innerhalb dieser Organisation ein verantwortungsvolles Amt.

Darauf stützte sich die Hoffnung der Vironauten an Bord der AVIGNON. Was aber, wenn es die GOI nicht mehr gab? Der Gedanke, dass er dann seinen Auftrag nicht auszuführen brauche, weil es keinen Empfänger für den Bericht von Chanukah mehr gab, bedeutete für Fazzy Slutch keinen Trost. Er wollte seine Nachricht überbringen. Es musste noch Widerstand geben. Der Gedanke, dass Tyg Ian sich mittlerweile die ganze Milchstraße unterworfen haben könnte, war unerträglich.

Fazzy Slutch war kein Kämpfer. Er erreichte seine Ziele auf andere Weise: durch Reden, durch Handel, Bestechung, hier und da einen kleinen Schwindel, manchmal sogar einen ausgemachten Betrug. Er war mit den Vironauten ausgezogen, weil ihn das Abenteuer lockte.

Er hatte rasch begriffen, dass es in ESTARTU nicht so zuging, wie er es sich in seinen Träumen ausgemalt hatte. Er wollte den Ewigen Kriegern so rasch wie möglich den Rücken kehren. Er wollte nach Hause. Aber daheim – das musste so sein, wie er es in Erinnerung hatte. Kein Sotho, keine Upanishada, kein Kodex. Er wollte leben können, wie er wollte.

Das waren seine Wünsche. Und deswegen klammerte sich seine Seele an die Hoffnung, dass Julian Tifflor noch lebte, dass es die GOI noch gab und dass es dem Sotho demnächst an den Kragen gehen würde.

Die AVIGNON hatte Kurs auf NGC 5024 gesetzt. Die künstliche Schwerkraft an Bord erlaubte es, »oben« und »unten« zu definieren. Solange das Schiff sich parallel zur Hauptebene der Milchstraße bewegte, hatte man das Gefühl, »über« die wirbelnden Sternenmassen der Spiralarme hinwegzugleiten.

Dutzende von Monitoren tasteten die Spektren des Psi- und Hyperfunks ab. Die Orter spielten. Die optische Beobachtung, die während des Aufenthalts im Psi-Raum eine wichtigere Rolle spielte als im Standarduniversum, deckte den gesamten Raumwinkel ab.

Vor den wabernden Feldern des intergalaktischen Raumes zeichnete sich die Sternballung des Kugelsternhaufens wie eine irisierende Seifenblase ab. Mitunter sprangen glühende Fontänen aus dem Innern der Blase, schossen in die Weite des Halos hinaus und verblassten nach wenigen Sekunden. Die Sterne im Innern der Ballung waren in fortwährender Bewegung. Novae flammten in Augenblicken auf und sanken wieder in sich zusammen.

Jenseits des Sternhaufens reckte sich die Faust des Kriegers ins All. Aus der Nähe betrachtet – wenn man 35.000 Lichtjahre als Nähe bezeichnen wollte – bot sie einen imposanten Anblick.

Auf den Kanälen des Psi-Funks war es still, denn der »Golf«, die schwarze Trennschicht, verschluckte alles. Auf dem Hyperfunkband herrschte mäßiger Betrieb. Die Nachrichten, die der Hyperkom empfing, ließen sich in zwei Klassen einteilen: belanglose zu Schiffsbewegungen oder zur Intensität interstellarer Energiestürme und solche, die in amtlichem Ton von den Aktivitäten der Sotho-Regierung sprachen, zum Beispiel der Eröffnung einer neuen Upanishad.

Der Halo war still. Weder Psi- noch Hyperfunksignale kamen aus dem sternenarmen Raum, dessen lichtschwache, rötliche Sonnen so alt waren, dass sie sich noch an die ersten Jahrmilliarden des Universums erinnerten. Es gab Niederlassungen, Siedlungen, Kolonien der galaktischen Völker im Halo. Wenn sie noch existierten, verhielten sie sich still.

Auch in den Kugelsternhaufen, die entlang der Grenze zwischen Halo und Milchstraße schwebten, rührte sich nichts. M 3 glänzte einsam und verlassen unmittelbar unterhalb der finsteren Trennschicht. Nur Hyperfunkimpulse hätten von dorther kommen können; aber die Richtantenne empfing nur das stete Rauschen des kosmischen Hintergrundgeräuschs. Das wäre eine Idee, schoss es Fazzy durch den Sinn. Die Porleyter als Verbündete gegen den Sotho gewinnen! M 13 stand tiefer innerhalb des Raumes, den der schwarze Golf umschloss. Auch von dort kam kein einziges hyperenergetisches Signal. Die riesige Sternenmasse, die einst das Herz des arkonidischen Imperiums gebildet hatte, schwieg.

NGC 5024 stand knapp 64.000 Lichtjahre über der Hauptebene der Milchstraße, außerhalb der Trennschicht. Fazzy Slutch erinnerte sich nicht, jemals von einem Vorstoß der Menschheit oder eines anderen galaktischen Volkes in Richtung des Sternhaufens im Haar der Berenike gehört zu haben. Das wollte nicht viel besagen, denn Fazzys Geschichtskenntnisse waren dürftig. Aber selbst in den Archiven des Virenschiffs fand sich kein Hinweis.

Veeghr saß in seiner üblichen Haltung vor der Mentorkonsole: starr wie eine Statue. Er trug den Virotron und war ohne Zweifel in einer fortlaufenden Unterhaltung mit der Seele des Schiffes begriffen. Fazzy, der sich gern mit greif- und sichtbaren Dingen beschäftigte, war der Blue ein wenig unheimlich. Veeghr war ein Spezialist. Man hätte sagen können, er beherrschte das Schiff wie ein Virtuose sein Instrument.

Megan schlief diesmal nicht. Sie war mit ihren Geräten beschäftigt. Fazzy kam sich überflüssig vor. Er schob sich aus dem Sessel. Er würde sich ein wenig hinlegen und zu schlafen versuchen, nahm er sich vor. Er hatte noch keine zwei Schritte getan, da hörte er hinter sich Veeghrs schrille Stimme: »Signale! Wir empfangen Signale auf Hyperkom!«

Die Laute peitschten wie Schüsse durch die Stille der Zentrale: ... tack-tack-tack ... taaack ... taaack ... tack-tack ...

Ein Strudel knatternder und fauchender Geräusche unterbrach die Folge der Signaltöne. Eine halbe Sekunde später hatte das Kommunikationssystem die Lautstärke automatisch verringert. Die Störungen hielten eine Zeit lang an, dann waren die Signale wieder zu hören.

Fazzy erinnerte sich, dass Megan vor zwei Tagen gesagt hatte, sie würde sich nicht wundern, wenn der geheime Sender mit Morsecode arbeitete. Sie hatte recht gehabt. Es gab einen Sender, der ihnen den Weg wies.

»Kann man das entschlüsseln?«, fragte er.

Megan schüttelte den Kopf. »Im Augenblick noch nicht. Zu viele Störungen dazwischen. Ein terranischer Code ist es jedenfalls nicht.«

»Falls sich jemand für die Peilung interessiert«, meldete sich die AVIGNON, »der Ausgangspunkt der Signale liegt drei Viertel des Weges zwischen dem Sternhaufen und der Faust des Kriegers.«

»Entzifferung?«, fragte Megan.

»Ich arbeite daran«, antwortete das Schiff. »Es gibt mehr als eintausendfünfhundert Morsecodes in der Milchstraße, alte und neue. Die Störungen machen mir zu schaffen.«

»Wir gehen näher heran«, schlug Fazzy vor.

Er begegnete Veeghrs fragendem Blick. »Ich sehe keine andere Möglichkeit«, beantwortete Fazzy die unausgesprochene Frage. »Wenn uns keiner den Weg zeigt, kommen wir nicht in die Milchstraße. Wir müssen erfahren, was der Sender uns zu sagen hat.«

Veeghr fuhr mit der siebenfingrigen Hand über den Virotron, als wolle er den Sitz des Geräts prüfen. Den Auftrag, den er dem Schiff erteilte, hörte man nicht. Die AVIGNON änderte den Kurs.

Das Virenschiff hatte den Psi-Raum verlassen.

In der Tiefe dehnte sich der weißlich gelbe Lichterteppich der Milchstraße. Das Zentrum der mächtigen Sterneninsel, in Einzelsterne nicht mehr auflösbar, blähte sich wie eine Wolke hoch erhitzten, weißblau glühenden Gases. Irgendwo unter den leuchtenden Gasmassen saß das gigantische Black Hole, das den Kern der Milchstraße bildete. Die grelle Glut der Gaswolke spiegelte die gewaltigen Energien wider, die der Gigant unablässig von sich spie.

Wie eine weiße Wand ragte Tyg Ians kosmisches Leuchtfeuer vor der AVIGNON auf. Seit das Schiff den Psi-Raum verlassen hatte, wirkte des Sothos Denkmal längst nicht mehr so imposant wie zuvor. Es war ein großer weißer Klecks mitten im All, eine Scheibe von dreizehneinhalb Lichtjahren Durchmesser. Die Faust des Kriegers bestand aus psionischer Energie.

Die AVIGNON schwebte in halber Höhe des Leuchtfeuers, 4000 Lichtjahre über der Hauptebene der Milchstraße.

Die Suche nach dem Sender erwies sich als mühsam. Während die AVIGNON sich auf den ursprünglich angepeilten Punkt zubewegte, verstummten die Signale plötzlich. Als sie später wieder hörbar wurden, war ihr Ausgangsort ein anderer. Es lag auf der Hand, dass der Sender sich an Bord eines Fahrzeugs befinden musste, das mit hoher Geschwindigkeit den Raum in der Nähe des kosmischen Leuchtfeuers durchstreifte. Ein beweglicher Sender hatte es leichter, den Nachstellungen des Gegners zu entgehen; außerdem war er in der Lage, seine Signale über ein größeres Volumen abzustrahlen.

Was Fazzy an der Sache störte, war, dass die Jagd immer näher an die weiße Wand der Faust des Kriegers heranführte. Das schimmernde Gebilde war ihm unheimlich. Aber der Sender war unerbittlich. Er übertrug ein paar Minuten lang, schwieg eine halbe Stunde und fing von einem anderen Ort wieder an zu senden. Die AVIGNON folgte seinen Manövern getreulich. Der Code war inzwischen identifiziert worden. Es handelte sich um ein altes System der Aras, das mit langen und kurzen Tönen sowie langen und kurzen Pausen arbeitete und schwierig zu entziffern war. Erschwerend bei der Aufgabe der Dechiffrierung wirkte der Umstand, dass der Geräuschpegel nach wie vor hoch war. Die Mehrzahl der Signale ertrank im Knattern der Störgeräusche. Gume Shujaa, die Faust des Kriegers, strahlte auf sämtlichen Wellenlängen des hyperenergetischen Spektrums. Wenn es der AVIGNON gelang, sich dem Sender um ein paar Lichtjahre zu nähern, wurde der Vorteil sofort durch die verstärkte Streustrahlung des kosmischen Leuchtfeuers kompensiert.

Zwei Worte der Sendung hatte das Schiff bisher entziffern können. Der Text der Sendung war in Interkosmo gehalten, und die beiden Worte lauteten: ... ALLE VIRONAUTEN ... Man war also auf dem richtigen Weg.

Aber Fazzy Slutch ertappte sich immer öfter dabei, wie er die weiße Wand anstarrte, die das große Hologramm im Zentrum des Kontrollraums fast zur Hälfte ausfüllte. In Gedanken sah er eine mächtige Hand daraus hervorschießen und nach der AVIGNON greifen.

Nach den letzten Berechnungen musste das Schiff sich in unmittelbarer Nähe des Punktes befinden, von dem die letzte Serie von Morsesignalen ausgegangen war. Aber der Sender schwieg seit geraumer Zeit, und wenn er sich wieder meldete, würde er ohne Zweifel wiederum ein paar Dutzend Lichtjahre entfernt sein.

Es riss Fazzy Slutch in die Höhe, als plötzlich die stotternden Signale wieder erklangen, laut und deutlich, durch keinerlei Störung getrübt. Mit zwei hastigen Schritten stand er an Veeghrs Konsole, als könne er dort rascher erfahren, was der Sender zu ihnen sprach.

»Peilung«, sagte die AVIGNON. »Entfernung 1,3 Lichtjahre ...«

Fazzy verlor die Beherrschung. »Den Text!«, schrie er. »Den Text, rasch!«

»Wie du willst.« Die Stimme hörte sich tatsächlich so an, als sei das Schiff beleidigt. »AN ALLE VIRONAUTEN. DIE KÄMPFER GEGEN DEN TYRANNEN HEISSEN EUCH WILLKOMMEN. WIR HOFFEN, DASS IHR EUCH UNS ANSCHLIESSEN WERDET. DER KURS, DEM IHR ZU FOLGEN HABT ...«

In diesem Augenblick geschah es. Fazzys düstere Ahnung bewahrheitete sich. Er sah die Hand nicht kommen, die aus der weißen Wand des Leuchtfeuers hervorschoss. In Wirklichkeit war es gar keine Hand, sondern ein hyperenergetisches Feld. Und man konnte es nicht kommen sehen, weil es sich überlichtschnell bewegte.

Ein mächtiger Stoß fuhr durch das Virenschiff. Fazzy verlor den Halt. Er stürzte und schlitterte über den Boden, der auf einmal eine starke Schräglage hatte.

Schreie gellten aus dem Innern des Schiffes. Gegenstände der Einrichtung wurden aus ihren Halterungen gerissen und hin und her geschleudert. Fazzy richtete sich mühsam auf. Er klemmte im Winkel zwischen Wand und Fußboden, und der Boden ragte vor ihm auf wie ein steiler Berghang.

Das Hologramm in der Mitte des Kontrollraums flackerte wild. Die Sterne der Milchstraße tanzten einen feurigen Reigen, und die weiße Wand des Leuchtfeuers blähte sich auf, wölbte sich nach außen, bekam Risse, aus denen blauweiße Glut in den Raum schoss. Das Schiff ruckte und schlingerte. Fazzy spreizte die Beine, um sich Halt zu verschaffen. Er schob sich an der schrägen Wand entlang und kam bis zu dem offenen Schott, an dessen Rand er sich festhalten konnte.

Von irgendwoher drang eine Stimme an sein Ohr; über dem mörderischen Lärm konnte er sie kaum hören: »... Fahrzeug nicht mehr unter Kontrolle ... Beiboote nicht empfohlen ... extrem starker paramechanischer Sog ... Maßnahmen ...«

Er begriff, dass es die Stimme des Schiffes war, die er sprechen hörte. Aber wer konnte ihr jetzt noch zuhören?

Etwas Großes, Viereckiges schoss auf Fazzy zu. Er warf sich im letzten Augenblick zur Seite. Der Kasten fuhr durch das offene Schott und prallte mit donnerndem Krach gegen die Wand des Korridors. Die Wucht des Aufpralls zerriss ihn in Stücke, die wie schwere Geschosse nach allen Seiten davonspritzten.

Fazzy warf sich zu Boden und arbeitete sich den steilen Fußboden nach oben. Irgendwo inmitten des Durcheinanders war Megan. Er wollte ihr helfen. Er robbte ein paar Meter weit in die Höhe. Ein neuer Stoß fuhr durch das Schiff. Fazzy fühlte, wie ihm der Magen nach oben gepresst wurde. Die AVIGNON stellte sich auf den Kopf. Statt des steilen Hanges hatte er plötzlich einen Abgrund vor sich. Das Hologramm zeigte eine Fläche einheitlichen Graus – die AVIGNON hatte das Standarduniversum verlassen. Fazzy verlor den Halt, prallte gegen etwas Hartes.

Es wurde finster. Die Beleuchtung war ausgefallen. Unaufhörliches Donnern, Dröhnen, Krachen und Bersten stellte die Trommelfelle auf die Zerreißprobe. Fazzys tastende Hand bekam eine Kante zu fassen. Er zog sich daran in die Höhe. Das Schiff bockte. Etwas Weiches, Warmes prallte auf ihn. Er griff zu und hielt es fest.

»Megan ...?«

Er brüllte es, so laut er konnte, und doch war seine Stimme kaum zu hören. Zwei Hände krallten sich in seine Kombination. Dicht am Ohr hörte er Megans Stimme, spürte ihren Atem. »Fazzy ... was ist ...?«

Er musste einen sicheren Ort finden, hämmerte es in seinem Bewusstsein. Sie brauchten ein Versteck, in dem sie vor umherfliegenden Trümmerstücken sicher waren. Er fasste Megan um den Leib und zog sie mit sich. Allmählich gelang es ihm, sich zu orientieren. Die Kante, an der er sich in die Höhe gezogen hatte, gehörte zu Megans Konsole. Dort hinten irgendwo musste der Durchgang liegen, der in den kleinen Nebenraum führte ...

Die AVIGNON stürzte. Fazzy verlor den Boden unter den Füßen. Er war schwerelos. Aber immer noch hielt er Megan an sich gepresst. Er bewegte die Beine in der Hoffnung, irgendwo einen festen Punkt zu finden, an dem er sich abstoßen konnte. Er befand sich in rotierender Bewegung. Er musste die Drehung anhalten, oder er würde sich nie zurechtfinden.

So plötzlich, wie die Schwerkraft verschwunden war, kehrte sie zurück. Fazzy stürzte. Er spürte die Härte des Aufpralls. Unter dem Gewicht zweier Körper wurde ihm die Luft aus den Lungen gepresst. Etwas Hartes traf seinen Schädel.

2. Nachwehen

Er kam zu sich und wusste im ersten Augenblick nicht, wo er war. Er lag auf etwas Weichem, und über sich hatte er eine mattschimmernde, lichtblaue Fläche, die von innen heraus zu leuchten schien.

Ein Gesicht erschien in seinem Blickfeld. Weiches Haar, das einen angenehmen Duft ausströmte, streichelte ihm die Wangen. Er spürte Lippen auf den seinen.

Megan!

Ein Tropfen fiel ihm auf die Nase und erzeugte einen unwiderstehlichen Juckreiz. Er hob die Arme und schob die Frau mit dem duftenden Haar von sich weg. Er richtete sich halb auf und nieste so heftig, dass es sich wie eine Explosion anhörte. Die Erschütterung schmerzte ihn. Der Schmerz brachte die Erinnerung zurück.

Megan saß am Rand seiner Liege. Tränen rannen ihr übers Gesicht. Das wunderte ihn. Warum weinte sie? Er blieb in halb aufgerichteter Haltung sitzen und grinste Megan an. Das Verziehen des Mundes schmerzte.

»Was ist los, Megan?«, fragte er.

Der Klang seiner Stimme überraschte ihn. Die Worte kamen heraus, als wären sie über eine Raspel gezogen. Das Sprechen tat im Rachen weh.

Megan wischte sich die Tränen aus den Augen. Er sah ihr an, dass es sie Mühe kostete, Haltung zu bewahren.

»Die AVIGNON hat die Katastrophe überstanden«, sagte sie. »Die Faust des Kriegers hat uns durch eine Art Strudel ins Innere der Milchstraße gerissen. Wir haben zwei Tote und sechs Schwerverletzte unter der Besatzung. Einer von den sechs bist du. Es ist ein Wunder, sagen die Mediker, dass du noch lebst.«

»Oh, ich lebe«, sagte er leichthin. »Ich fühle mich wie neu.«

Um seine Behauptung zu unterstreichen, hob er beide Arme und reckte sie in die Höhe. Die Schmerzen waren erträglich.

»Als die Schwerkraft wieder einsetzte«, sagte Megan, »betrug sie über fünf Gravos. Du hieltest mich fest. Wir stürzten so, dass ich auf dir zu liegen kam. Und als ob das nicht schlimm genug wäre, riss sich im selben Augenblick Veeghrs Konsole los und traf dich von der Seite her.«

»Aaagh«, machte Fazzy. »Jetzt weiß ich, warum mir alles wehtut.«

Ihre Augen wurden feucht. »Fazzy«, sagte sie, und ihre Stimme zitterte ein wenig, »wenn du nicht gewesen wärest, gäbe es mich jetzt nicht mehr.«

Er war einen Augenblick lang verwirrt. Dann begriff er. Er hatte Megans Sturz abgefangen. Er erinnerte sich, mit welcher Wucht ihm die Luft aus den Lungen gepresst worden war.

Er war enttäuscht. Als Megan ihn küsste, hatte er sich – obwohl er kaum verstand, was um ihn herum vorging – am Ziel seiner Träume gefühlt. Aber sie hatte ihn nicht aus Zuneigung geküsst, sondern aus Dankbarkeit. »Oh, red nicht davon«, wehrte er ab. »Wenn ich dich nicht mit mir gezogen hätte, wärst du vermutlich erst gar nicht in Gefahr gekommen.«

Sie schien zu spüren, wie er innerlich abrückte. »Nein, so war es nicht.« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Als du mich auffingst ...«

Er griff nach ihrer Hand.

»Jetzt nicht, Megan, bitte«, fiel er ihr ins Wort. »Ich freue mich, dass du wohlauf bist, und mich werden sie wohl auch bald aus dem Bett lassen. Erzähl mir über die wichtigen Dinge. Wo sind wir? In welcher Verfassung ist das Schiff? Was hat Veeghr vor?«

Megan wandte den Kopf, sodass Fazzy Slutch ihr Gesicht nicht sehen konnte. Als sie sich wieder zu ihm drehte, war die letzte Spur der Tränen verschwunden. Sie wirkte gefasst und berichtete in sachlichem Ton.

Fazzy Slutch aber war infolge seines Fehlschlusses weiter vom Ziel seiner Träume entfernt als je zuvor.

»Die Schäden sind beträchtlich«, sagte die Stimme der AVIGNON. »Aber alle Defekte, die sich auf den Betrieb des Schiffes hätten auswirken können, sind bereits behoben. Es wird euch eine Zeit lang an der gewohnten Bequemlichkeit mangeln. Nach meiner Schätzung dauert es noch zwei Wochen, bis der letzte Schaden repariert ist. Ich wiederhole jedoch: Einsatzbereit sind wir schon jetzt.«

Fazzy Slutch hatte es sich in seinem gewohnten Sessel so bequem wie möglich gemacht. Die Medoroboter hatten ihn nicht gehen lassen wollen. Daraufhin war er rabiat geworden, bis die Seele des Schiffes selbst hatte eingreifen müssen. Er war entlassen worden mit der Auflage, sich körperlich zu schonen. Es zwickte und stach ihn noch immer an allen möglichen Stellen; aber die Wunden waren eindeutig auf dem Weg der Heilung.

Seit dem Unglück waren zweieinhalb Tage vergangen. Der Kalender zeigte den 18. Januar 446. Ein rundes Dutzend Besatzungsmitglieder hatte sich im Kontrollraum eingefunden, um an der Lagebesprechung teilzunehmen. Die Stimmung war ernst. Zwei Vironauten hatten die Begegnung mit Gume Shujaa mit dem Leben bezahlt: eine Terranerin und ein Arkonide.

»Wo sind wir jetzt?«, fragte Fazzy.

»Zwanzigtausend Lichtjahre nordwestlich des Milchstraßenzentrums«, antwortete das Schiff. »Wir materialisierten in unmittelbarer Nähe des Zentrums. Ich habe es auf mich selbst genommen, das Schiff eine gewisse Strecke abseits zu manövrieren.«

»Das Stygische Netz ist also befahrbar?«, fragte Fazzy.

Ein paar fragende Blicke trafen ihn. Der Name war ihm eingefallen, während er im Krankenbett lag. Sie nannten den neuen Sotho Stygian. Warum sollte das Netz, das er erschaffen hatte, nicht seinen Namen tragen?

»Wenn du das Ersatznetz im Innern der Milchstraße damit meinst«, antwortete das Schiff, »ja. Es war nur eine geringfügige Anpassung der Astrogationsmechanismen erforderlich.«

»Der Flug verlief ohne Zwischenfall?«

»Ohne Zwischenfall. Eine außergewöhnliche Beobachtung gab es indes. Während des Aufenthalts im Stygischen Psi-Raum wurden des Öfteren Serien psionischer Funkimpulse registriert. Die Impulsserien sind unentzifferbar. Sie scheinen keinen Informationsgehalt zu besitzen. Ich entschloss mich, sie nicht zu beachten.«

Fazzy stutzte. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn die Signale hätten entschlüsselt und ihre Bedeutung erkannt werden können. Aber wenn die AVIGNON sich darum vergebens bemüht hatte, würde auch niemand anderes Erfolg haben.

Er sah sich um. Niemand sprach. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet. Man wartete, dass er eine Entscheidung traf!

»Wie kam es zu dem Unfall?«, fragte er.

»Das ist unklar«, antwortete die Seele des Schiffes. »Ich bin nicht einmal sicher, dass es sich um einen Unfall handelt. Das Schiff geriet in einen paramechanischen Sog, der es ins Innere des Leuchtfeuers zerrte. Das Leuchtfeuer besteht aus psionischer Energie. Es steht mit dem Stygischen Netz in Verbindung. Das Schiff wurde ins Innere der Milchstraße gesaugt und in einen Strang des Stygischen Netzes ausgespien. Die Belastungen, die das Schiff dabei auf mechanischer Ebene zu ertragen hatte, überstiegen die höchstzulässigen Sollbelastungen um zeitweise tausend Prozent.«

»Mit anderen Worten ...«

»Wir wären um ein Haar draufgegangen«, sagte das Schiff.

»Es besteht also eine Verbindung zwischen dem psionischen und dem Stygischen Netz?«

»In Form des Leuchtfeuers, ja. Aber wer auf diesem Weg in die Milchstraße vorstoßen will, sei rechtzeitig gewarnt. Ich jedenfalls würde diese Tortur nicht noch einmal über mich ergehen lassen.«

»Du bist nicht sicher, dass es ein Unfall war«, erinnerte sich Fazzy. »Wie meinst du das?«

»Es könnte sein, dass der Sender, dem wir folgten, in Wirklichkeit von den Kräften des Sothos installiert wurde«, antwortete die AVIGNON. »Julian Tifflor und die GOI sind nicht die Einzigen, die von den Vironauten in ESTARTU wissen. Stygian könnte sich doch vorgenommen haben, die zurückkehrenden Virenschiffe in eine Falle zu locken, nicht wahr? Er hat sich ausgerechnet, dass der Strudel, in den wir gerieten, einem jeden Fahrzeug den Garaus machen würde, selbst einem Virenschiff.«

»Aber es gibt keine näheren Anhaltspunkte, dass die Sache sich so verhält?«, erkundigte sich Fazzy.

»Keine. Ebenso gut kann es sich um einen echten Sender gehandelt haben, und die paramechanische Eruption des Leuchtfeuers ereignete sich rein zufällig zu dem Zeitpunkt, als wir in ihrem Einflussbereich waren.«

Fazzys Unbehagen wuchs. Wenn es die Kräfte des Sothos gewesen waren, die die AVIGNON in den paramechanischen Sog des Leuchtfeuers gelockt hatten, würden sie sich vergewissern, ob dem Schiff auch tatsächlich das widerfahren war, was sie ihm zugedacht hatten: völlige Vernichtung. Wenn sie feststellten, dass die AVIGNON einigermaßen ungeschoren davongekommen war ...

»Nachrichten«, sagte Fazzy. »Was hört man an Nachrichten ringsum?«

»Nichts Außergewöhnliches«, antwortete das Schiff. »Die Psi-Kanäle sind voll von amtlichen Meldungen der Sotho-Regierung. Auf Hyperfunk empfange ich weiterhin nur Belangloses.«

Es war Fazzy klar, dass er eine Wahl zwischen zwei Möglichkeiten des weiteren Vorgehens zu treffen hatte. Er konnte auf Informationssuche gehen, indem er Terra anflog und sich dort umhörte. Wenn die GOI noch aktiv war, würde man auf der Erde davon wissen. Oder er konnte sich passiv verhalten und darauf warten, dass sich aus den Sendungen, die das Schiff empfing, ein brauchbarer Hinweis ergab. Die letztere Vorgehensweise war offenbar die sicherere, und auf Sicherheit kam es Fazzy in erster Linie an. Die AVIGNON würde sich einen Standort suchen müssen, der in der Nähe des galaktischen Geschehens, aber außerhalb der eigentlichen Einflusszone des Gegners lag.

Im Jahr 432 hatte die große Nation der Jülziish dem neuen Sotho noch hartnäckig Widerstand geleistet. Es mochte sein, dass es Stygian noch nicht gelungen war, sich die Blues zu unterwerfen. In diesem Fall wäre es am günstigsten, einen Unterschlupf im Bereich der Eastside zu finden. Aus den Nachrichten, die die AVIGNON empfing, ging nicht hervor, wie die politische Lage im Ostsektor war.

Die Sache war einen Versuch wert.

Fazzy sah auf. Vor ihm stand Veeghr, der Mentor. Er hatte den Kopf leicht nach vorn geneigt und sah Fazzy aus nachdenklichen Augen an.

»Es geht nach Hause, Veeghr«, sagte Fazzy und stand auf. »Setz Kurs auf Verth.«

Die Reise ging langsam vonstatten. Das Stygische Netz war verworren und vielfach verknotet. Veeghr gab sich Mühe, die AVIGNON zu größerer Geschwindigkeit zu bewegen, aber das Schiff blieb störrisch.

»Hab Geduld«, hieß die Antwort. »Ich muss mich hier erst zurechtfinden.«

Die AVIGNON tauchte des Öfteren aus dem Psi-Raum auf, um sich zu orientieren. Ihre Instrumente waren unablässig an der Arbeit und zeichneten eine Karte des Stygischen Netzes, soweit es von der Flugbahn des Virenschiffs aus vermessen werden konnte. Dabei wurde allmählich offenbar, dass das Netz längst nicht so willkürlich angelegt war, wie es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Das Stygische Netz war ein künstliches Gebilde, und Sotho Tyg Ian hatte dafür Sorge getragen, dass die psionischen Energiestränge so verliefen, wie er sie brauchte. Zentren der galaktischen Aktivitäten waren mühelos daran zu erkennen, dass sich in ihrer Nähe die Netzstränge ballten und massive Knoten bildeten. Anhand der Karte erkannte man die Gebiete, in denen der neue Sotho Fuß gefasst hatte, aber auch die, die sich seinem Zugriff noch entzogen. Jenseits des Milchstraßenzentrums, in Richtung Eastside, wurde das Stygische Netz dünner, die Zahl der Energiestränge geringer. Die Hauptwelten der großen Blues-Nation lagen abseits der psionischen Verkehrswege.

Fazzys Genesung machte Fortschritte. Der zweitägige Aufenthalt in der Krankenzelle hatte ihn hungrig gemacht. Öfter als gewohnt fand man ihn in der Automatiknische neben seinem Quartier, wo er sich eine Mahlzeit herrichtete. Meist allerdings waren die Dinge, die die Automatik zubereitete, nicht nach seinem Geschmack. Der Mechanismus, der die handfesten Speisen präparierte, hatte unter dem Unfall gelitten und war noch nicht repariert. Auch der vierte Imbiss an diesem Tag erregte sein Missfallen. Verwünschungen murmelnd, starrte er das Spiegelei-Surrogat an, das sich immer mehr ins Grünliche verfärbte.

Er wurde in seinen missmutigen Überlegungen unterbrochen, als über Interkom eine Melodie ertönte – oder eher der Anfang einer solchen. Es waren insgesamt sechs Töne. Die Tonfolge wurde mehrmals wiederholt, und Fazzy, inzwischen aufmerksam geworden, summte leise mit: Prim – Terz, Prim – Quart, Prim – Quint ... und wieder von vorne.

»Was ist das?«, fragte er laut.

»Gefällt es dir?«, antwortete Megans Stimme.

»Hört sich nicht schlecht an«, sagte Fazzy. »Wie geht's weiter?«

»Es geht nicht weiter. Das ist die psionische Impulsserie, von der das Schiff sprach. Unentzifferbar und ohne Informationsgehalt. Wir empfangen sie seit Neuestem wieder und haben sie in akustische Signale übersetzt.«

»Was haben sie zu bedeuten?«

»Das ist die Preisfrage«, sagte Megan.

»Lässt sich der Sender anpeilen?«

»Nein. Die Impulse hören sich an wie ein Echo, das im Innern des psionischen Strangs hin und her reflektiert wird.«

»Hm«, machte Fazzy. »Was hältst du davon?«

»Es macht mir Angst«, sagte Megan.

»Warum?«, fragte er.

»Ich denke mir, es könnte irgendein Code sein, auf den wir reagieren müssen«, sagte Megan.

Fazzy fühlte das Unbehagen wieder in sich aufsteigen. Sie wussten verdammt wenig über die Bedingungen, die in der Milchstraße herrschten. Er kam sich hilflos vor. Aber er durfte es nicht zeigen.

»Wie lange noch, bis wir endgültig auftauchen?«, fragte er.

»Vier Stunden.«

»Die werden wir noch überstehen müssen«, sagte er. So tiefsinnig die Worte auch gemeint sein mochten, für Megan Suhr waren sie kein Trost.

Fazzy hatte kaum zu Ende gesprochen, da gellte der Alarm.

Mehr als 2000 Einheiten hatte die AVIGNON gezählt: Halbkugelschiffe, wie sie von den Leibgardisten der Ewigen Krieger eingesetzt wurden, und ein elfahdisches Kugelsegmentschiff. Sie rasten eine der Energiebahnen des Stygischen Netzes entlang. Die Bahn kreuzte sich mit dem Strang, in dem die AVIGNON sich befand. Deswegen hatte das Schiff Alarm gegeben.

Der Augenblick der ersten Panik war vorüber. Die Streitmacht des Sothos hatte es nicht auf das Virenschiff abgesehen. Dazu wäre das Aufgebot zu groß gewesen. Allerdings musste man annehmen, dass die AVIGNON bemerkt worden war.

Die Kriegerflotte hatte den Kreuzungspunkt der beiden Netzbahnen weit vor dem Virenschiff passiert und war Augenblicke später in der Tiefe des Stygischen Netzes verschwunden. Ihr Kurs wies in die Eastside. Was hatte es zu bedeuten, dass Tyg Ian ausgerechnet jetzt einen starken Verband in die Region der Jülziish schickte? Stand die große Offensive bevor? Auf Dauer konnte es sich Stygian nicht leisten, dass ein weiter Bereich der Milchstraße sich seiner Herrschaft widersetzte. Sotho Tyg Ian betrachtete alle Völker dieser Galaxis als seine Untertanen.

Fazzy Slutch war in den Kontrollraum geeilt, kaum dass er den ersten Sirenenton gehört hatte. Auf der Karte verfolgte er den Verlauf der Energiebahn, die die gegnerische Flotte eingeschlagen hatte. Ein greller, weißblau leuchtender Fleck markierte die Position der Sonne Verth. Die Energiebahn führte in einem Abstand von 800 Lichtjahren daran vorbei. Es gab keine andere Bahn, die Verth näherkam als diese. Hatte das etwas zu bedeuten?

Die AVIGNON näherte sich dem Kreuzungspunkt, hinter dem die Sotho-Schiffe verschwunden waren. Sie schien gemächlich dahinzugleiten, dabei bewegte sie sich, wenn man ihre Fahrt an den Karten des Standarduniversums maß, 30 Millionen Mal schneller als das Licht. Das Hologramm zeigte das Gewimmel der Sterne auf der galaktischen Eastside in den charakteristischen glühenden Farben des Psi-Raums. Das Bild, das sich dem Raumfahrer im Stygischen Netz bot, unterschied sich nicht wesentlich von dem im psionischen Netz. Die Stränge wirkten blasser, sie leuchteten in einem fahlen Grün. Hinter der AVIGNON strahlte in allen Farben des Spektrums Stygians großes Denkmal: die Faust des Kriegers.

Fazzy fuhr auf, als er das Geräusch hörte. Es klang wie ein tiefer, hallender Gongschlag. Ein zweiter folgte ihm, ein dritter ... Dong – ding – dong ... Sechs Töne insgesamt. Prim – Terz, Prim – Quart, Prim – Quint. Er wusste nicht, wie ihm geschah. Er hatte dieselbe Tonfolge schon einmal gehört, ohne dass sie ihn sonderlich beeindruckt hatte. Aber jetzt zitterte er. Die Melodie des Todes, schoss es ihm durch den Kopf.

Die Sequenz der Töne wiederholte sich, diesmal schneller. Dong – ding, dong – ding, dong – ding. Veeghr sah zu ihm herüber. Er schien verwundert.

»Es sind die psionischen Impulse ...«, begann er.

»Ich weiß, was es ist«, fuhr Fazzy ihn scharf an. »Weiß denn immer noch keiner, was die Töne bedeuten?«

»Es sind nicht wirklich Töne«, sagte Megan behutsam. »Wir interpretieren sie nur so. Wenn du willst, kann ich sie abschalten.«

Mit einer fahrigen Handbewegung winkte er ab. »Nein, lass nur ...«

Sie hatten keine Ahnung! Sie spürten nicht, was auf sie zukam. Er war der Einzige, der die Drohung empfand. Dong – ding ... Noch schneller jetzt. Die Töne hallten in Fazzys Bewusstsein, und mit jedem Ton spürte er deutlicher, wie das Verhängnis ihnen entgegenraste.

»Auftauchen!«, schrie er. »Sofort auftauchen!«

Veeghr zögerte eine Sekunde. Fazzys Verhalten erschien ihm irrational. Er war nicht sicher, ob er die Anweisung befolgen solle. Noch bevor er seinen Entschluss gefasst hatte, meldete sich die AVIGNON selbst.

»Auftauchen ist unmöglich«, sagte die Stimme des Schiffes. »Die psionischen Steuerströme werden überlagert von einem fremden Einfluss ...«

Ein kurzer, scharfer Ruck fuhr durch das Schiff. Das Hologramm flackerte. Die bunte Glut des Psi-Raums erlosch. An ihre Stelle trat der kalte, weiße Glanz der Sterne des Standarduniversums.

Fazzy Slutch stand starr. Die Lippen zuckten; aber er brachte kein einziges Wort hervor. Gerade hatte ihm die AVIGNON versichert, ein Auftauchen sei unmöglich, und nun ... Mit verständnislosem Blick suchte er das Bild ab. Tausende von Sternen glänzten in ruhigem, klarem Licht. Das Schiff hatte den Psi-Raum verlassen.

»Was ... was ist?«, krächzte er.

»Das Auftauchmanöver wurde nicht von uns ausgelöst«, sagte die Stimme des Schiffes. »Wir sind zum gezwungen worden. Vorsicht! Es befinden sich unbekannte Fahrzeuge in der Nähe.«

Man sah sie nicht. Zu vollkommen war die Finsternis des Alls, als dass ein Raumschiff auf einer normaloptischen Darstellung hätte in Erscheinung treten können.

Die AVIGNON baute eine zweite Videofläche auf und projizierte die Daten, die der Orter lieferte. Sechs Reflexe waren zu sehen, fünf von normaler Intensität und ein greller, der von einem Objekt überdurchschnittlicher Größe herrühren musste.

Das infernalische Klingen der Sechstonsequenz war verstummt. Fazzy bemerkte es erst jetzt. Megan hat recht gehabt, dachte er. Es war ein Signal, auf das wir hätten antworten müssen.

»Wir wollen nichts mit ihnen zu tun haben«, sagte er. »Wir machen uns aus dem Staub.«

»Das geht nicht«, antwortete die AVIGNON. »Das Enerpsi-Triebwerk ist lahmgelegt. Der Gravo-Antrieb funktioniert; aber ich glaube nicht, dass wir denen dort drüben damit davonlaufen könnten.«

Fazzy fröstelte. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Wer waren die dort draußen, die es fertigbrachten, den Antrieb eines Virenschiffs lahmzulegen?

»Raumfort 185 an fremdes Fahrzeug.« Fazzy schrak zusammen, als die fremde Stimme unvermittelt aufdröhnte. »Ihr habt ohne Berechtigung den Weg des Kriegers benutzt. Identifiziert euch.«

»Raumschiff AVIGNON«, antwortete die Stimme des Schiffes ohne Zögern. »In Privatbesitz. Eigentümer Bonifazio Slutch. Herkunft Tucuman, Ziel Salwen.«

Fazzy war nicht sicher, ob es Welten dieses Namens überhaupt gab. Das Schiff hatte die Initiative ergriffen, und das war gut so.

»Ich habe weder von Tucuman noch von Salwen je gehört«, sagte der Fremde. »Es mag sein, dass du die Wahrheit sprichst. Aber im Namen des erleuchteten Sothos muss ich die Sache untersuchen. Du kommst an Bord.«

Fazzy glaubte zu spüren, wie eine kalte Hand nach seinem Herzen griff. Er suchte verzweifelt nach einem Ausweg. An Flucht war nicht zu denken. Einen Feuerwechsel mit fünf regulär ausgestatteten Schiffen der Sotho-Garde hätte die AVIGNON noch auf sich genommen. Aber im Hintergrund, drei Lichtsekunden entfernt, schwebte das Raumfort. Das Bild der Orterdaten zeigte fünf Raumschiffe unbekannter Bauart und einen riesigen Würfel von mehr als 1000 Metern Kantenlänge, dessen Außenflächen mit zahlreichen Unebenheiten versehen waren. Es fiel nicht schwer, sich auszumalen, mit welch mörderischer Feuerkraft das Fort ausgestattet sein musste.

Die Lage war aussichtslos. Von den Truppen des Sothos war keine Zurückhaltung zu erwarten. Wenn die AVIGNON Widerstand leistete, würden sie das Feuer eröffnen. Den Geschützen des Forts war selbst das sonst so gut wie undurchdringliche Schirmfeld des Virenschiffs nicht gewachsen.

Die Seele der AVIGNON nahm ihm die Worte aus dem Mund. »Wir gehen unter Protest auf dein Verlangen ein. Aber wir werden uns beim Sotho selbst über dein Verhalten beschweren.«

»Dein Geschwätz beleidigt meine Intelligenz«, kam die Antwort. »Beschwer dich, bei wem du willst. Ich stehe hier im Auftrag des erleuchteten Sothos und kraft seiner Vollmacht.«

Die AVIGNON setzte sich in Bewegung. Mit mäßiger Beschleunigung glitt sie auf den mächtigen Würfel des Raumforts zu.

Wie gebannt ruhte Fazzy Slutchs Blick auf der riesigen grauen Wand, die sich unmittelbar vor der AVIGNON erhob. Aus der Ferne mochte das Raumfort einem Würfel gleichen. In der Nähe verlor das Auge die Übersicht. Kuppeln und Türme, Quader, Zylinder und Kegel ragten aus der metallenen Oberfläche hervor, manche bis zu einer Länge von mehreren Hundert Metern. Es herrschte ein Durcheinander, wie es nur eine auf reine Zweckmäßigkeit bedachte Architektur zuwege brachte.

Dem Eindruck brutaler Macht konnte sich die Seele nicht entziehen. Fazzy sah das mächtige Schleusenschott in die Bildmitte rücken und näher kommen. Es erschien ihm wie der glühende Schlund eines gefräßigen Ungeheuers. Die AVIGNON wurde von zweien der fünf Schiffe flankiert. Es waren kleine, flinke Fahrzeuge, anscheinend für Operationen in unmittelbarer Nähe des Raumforts gedacht.

Die Vironauten waren über die Lage informiert. Fazzy Slutch hatte sich vergewissert, dass das Antiserum sich noch in seinem Versteck befand und dass das Versteck von keinem Unbefugten gefunden werden konnte, es sei denn, der Zufall käme ihm zu Hilfe. Das Serum war von Irmina Kotschistowa auf Sabhal, der Heimatbasis der Gänger des Netzes, produziert worden. Reginald Bull hatte einen Teil erhalten und etwas davon der AVIGNON mitgegeben. Das Versteck enthielt annähernd drei Kilogramm des kostbaren Stoffes. Außerdem trug jedes Besatzungsmitglied zwei Fünfgrammampullen bei sich. Das Antiserum bot Schutz gegen die halluzinogene und süchtig machende Wirkung des Kodexgases, dessen die Sothos und Ewigen Krieger sich bedienten, um ihre Untergebenen gefügig zu machen.

Die AVIGNON glitt durch das Schott in eine weite, hell erleuchtete Hangarhalle. Die Schleuse schloss sich hinter ihr. Der Hangar wurde mit atembarer Luft geflutet. Ein zweites Schott öffnete sich im Vordergrund.

Die Stimme, die sie schon einmal gehört hatten, meldete sich und sagte: »Langsame Fahrt vorwärts. Landet auf der markierten Stelle.«

Sanft trieb das Virenschiff durch die Öffnung. Der hintere Teil des Hangars war noch größer als der eigentliche Schleusenraum. Im Hintergrund waren die Mündungen breiter Korridore und Fahrwege zu erkennen, die ins Innere des Forts führten. Roboter unterschiedlicher Form und Funktion schwebten vor der rückwärtigen Wand des Hangars.

Der Landeplatz war mit grellen Leuchtmarkierungen versehen. Die AVIGNON setzte mit einem leisen Ruck auf.

Die Stimme des Unbekannten war von Neuem zu hören: »Steigt aus. Die Roboter nehmen euch in Empfang. Leistet keinen Widerstand. Jeder Versuch, das Fahrzeug für die Selbstzerstörung zu präparieren, wird streng geahndet.«

Fazzy sah sich um. Draußen auf dem Korridor drängten sich Männer und Frauen in Richtung des Ausstiegs. Stumm, nur mit einem Nicken, forderte Fazzy Megan und Veeghr auf, sich ihnen anzuschließen. Er selbst blieb noch eine Weile stehen.

»Wünsch uns Glück«, sagte er. »Ich weiß nicht, was auf uns zukommt.«

»Glück allein«, antwortete die Seele des Schiffes, »wird dir nicht viel helfen. Du brauchst einen wachen Verstand und eine scharfe Beobachtungsgabe. Beides wünsche ich dir. Euch allen.«

Fazzy trat auf den Gang hinaus. Weiter vorne verschwanden die letzten Besatzungsmitglieder, unter ihnen Megan und Veeghr, in der Schleuse. Er schritt hinter ihnen drein. Er fühlte einen beklemmenden Druck. Er war nicht sicher, ob er die AVIGNON noch einmal sehen würde.

Das Wesen hinter der schimmernden Energiebarriere war ein Terraner. Er trug eine Shant-Kombination, hatte also eine Upanishad besucht. Er war hochgewachsen, an die zwei Meter groß, und von sportlicher, durchtrainierter Statur. Sein blondes Haar war kurz geschnitten. Er musterte Fazzy Slutch aus kalten Augen, deren Farbe ein fast unnatürliches Blau war.

Die Barriere zog sich quer durch den kahlen Raum. Sie war durchsichtig und auch schalldurchlässig. Er trug als einzige Waffe einen Paralysator. Er war sicher, dass er damit nichts hätte ausrichten können.

Dennoch schwebten vor der Barriere, einer rechts, einer links, zwei halbkugelförmige Roboter. Sie sahen harmlos genug aus; aber Fazzy war überzeugt, dass sie sich augenblicklich in Feuer speiende Waffensysteme verwandeln würden, sobald er eine einzige falsche Bewegung machte.

»Ich bin Rasmer Dunn«, sagte der Mann. Er hatte eine hohe, rasselnde Stimme, die nicht zu seinem Äußeren passte. Er sprach Sothalk, während die Stimme, die an Bord der AVIGNON zu hören gewesen war, Interkosmo gesprochen hatte. »Ich bin Kodexberater im Dienst des erleuchteten Sothos. Nenn deinen Namen.«

Fazzy wartete zwei Sekunden, als müsse er sich vergewissern, dass der andere auch wirklich zu Ende gesprochen hätte. Dann sagte er auf Interkosmo: »Ich verstehe kein Wort.«

Ein höhnisches Lächeln erschien auf dem Gesicht des Blonden.

»Also gut, wie du willst«, sagte er auf Interkosmo. »Man wird beizeiten in Erfahrung bringen, ob dir die Sprache der Krieger tatsächlich fremd ist. Wie heißt du?«

»Bonifazio Slutch.«

»Aha. Du bist der Eigentümer des Schiffes?«

»Ja.«

»Woher hast du es?«

»Gekauft.«

»Von wem?«

»An seinen Namen erinnere ich mich nicht mehr. Nur noch an den Preis.«

Der Preis schien Rasmer Dunn nicht zu interessieren. Er sah Fazzy von oben herab an und sagte: »Leg alles ab, was du bei dir trägst.«

Mit dieser Aufforderung hatte Fazzy längst gerechnet. Aber er war nicht willens, ihr ohne Widerspruch Folge zu leisten.

»Warum?«, fragte er. »Was ich an mir trage, gehört mir. Ich will wissen ...«

Es entging ihm, wie der Blonde sich mit den Robotern verständigte. Worte jedenfalls wurden nicht gewechselt. Einer der Roboter summte, und im selben Augenblick traf Fazzy ein Schlag, der sämtliche Muskeln außer Betrieb setzte. Er sank in sich zusammen und stürzte hart zu Boden. Der Schock dauerte nur eine Sekunde, nicht länger.

»Steh wieder auf und tu, wie ich dich heiße«, sagte der Blonde.

Fazzy raffte sich auf. Er griff mit beiden Händen in die Taschen seiner Montur und begann, sie auszuräumen.

»Nicht so umständlich«, fuhr Rasmer Dunn ihn an. »Alles, was du bei dir trägst, habe ich gesagt. Der Anzug gehört auch dazu.«

Fazzy starrte ihn ungläubig an.

»Ausziehen!«, schrie der Blonde, dem allmählich die Geduld ausging.

»Aber ich kann doch nicht ...«

Ein zweites Mal summte der Roboter; ein zweites Mal ging Fazzy zu Boden. Diesmal war der Schock von längerer Dauer. Es schmerzte in den Gelenken, als er sich in die Höhe stemmte.

»Du vergeudest meine Zeit«, sagte Rasmer Dunn ärgerlich. »Wenn du dich weiterhin störrisch verhältst, überlasse ich es den Robotern, meine Befehle auszuführen.«

Fazzy sah ein, dass weiteres Widerstreben ihm nichts einbrachte. Er zog die Kombination aus. Aber Rasmer Dunn war damit noch nicht zufrieden.

»Den Rest auch«, verlangte er.

Eine Minute später stand Bonifazio »Fazzy« Slutch nackt vor dem blonden Hünen. Seine Kleider lagen in einem unordentlichen Haufen auf dem Boden, und in einer der Taschen steckten zwei Fünfgrammampullen mit Antiserum.

»Ich habe alles getan, was du verlangtest«, sagte Fazzy. »Jetzt hätte ich eine Frage ...«

»Der Einzige, der hier Fragen stellt, bin ich«, wies Rasmer Dunn ihn zurecht. »Du wirst hier vorläufig nicht mehr gebraucht.«

Eine herrische Handbewegung setzte den zweiten Roboter in Bewegung. Er glitt auf Fazzy zu und ein Leuchten breitete sich von ihm aus. Es bildete einen zwei Meter hohen, kuppelförmigen Lichthof. Das Licht hüllte Fazzy ein. Er schrie auf, als eine unsichtbare Kraft nach ihm packte. Für den winzigen Bruchteil einer Sekunde spürte er den schwachen Entzerrungsschmerz, wie ihn der Durchgang durch einen Transmitter verursacht. Es wurde dunkel und sofort wieder hell. Er spürte Kälte auf der Haut. Rasmer Dunn, die beiden Roboter und die Energieschranke waren verschwunden. Er befand sich in einem schmalen, länglichen Raum, dessen einzige Einrichtung aus zwei Pritschen bestand. Die Decke leuchtete in weißem Licht. Es war so hell, dass es Fazzy in den Augen schmerzte.

Der Raum war zwei Meter breit und fünf Meter lang. Die Pritschen standen parallel entlang den Längswänden, mit nur einem 40 Zentimeter breiten Gang zwischen ihnen. Eine Tür war nirgendwo zu sehen. Die Luft roch frisch, aber sie war empfindlich kühl.

Fazzy fühlte sich müde und zerschlagen. Er ließ sich auf eine der Pritschen fallen, verschränkte die Arme unter dem Kopf und schloss die Augen.

3. Der Schrecken von Raumfort 185

Er fuhr auf, als er ein Geräusch hörte. Vor ihm stand Veeghr, nackt wie er.

»Das erklärt, warum hier zwei Pritschen stehen«, sagte Fazzy. »Wir sollen uns den Komfort dieser Unterkunft teilen.«

Ein pfeifendes, zischendes Geräusch kam aus dem Mund des Blues, ein Laut der Verzweiflung, wie Fazzy wusste. »Sie werden uns nicht wieder freilassen!«, stieß Veeghr hervor.

»Ich dachte mir schon, dass sie das nicht vorhätten«, sagte Fazzy. »Aber lass mich fragen: Woher weißt du das?«

»Von dem terranischen Unge...«

Fazzy hob blitzartig die Hand, und Veeghr schwieg sofort.

»Zuerst, mein Freund«, sagte Fazzy, »solltest du dir überlegen, warum sie uns zu zweit hier unterbringen. Haben sie Angst, dass uns die Einsamkeit den Verstand verwirrt? Sind sie besorgt um unser seelisches Wohlergehen?«

Verwirrung malte sich in Veeghrs Zügen. Schließlich aber schien er zu begreifen. Sein Blick glitt die kahlen Wände entlang.

»Richtig«, sagte Fazzy. »Sie erwarten, dass wir miteinander sprechen. Sie hören jedes Wort. Deswegen tun wir gut daran, unnötige Schimpfworte zu vermeiden.«

Es war Fazzy Slutch gleichgültig, mit welchen Namen Veeghr den blonden Terraner belegte. Aber der Jülziish musste gewarnt werden, bevor er Dinge ausplauderte, von denen der Gegner nichts zu erfahren brauchte.

»Ich danke dir«, sagte Veeghr. »Vor dem Terraner fürchte ich mich. Ich möchte mir seinen Zorn nicht zuziehen.«

»Was hat er gesagt?«, wollte Fazzy wissen.

»Er sprach davon, dass die gesamte Eastside zum Sperrgebiet erklärt worden sei. Der erleuchtete Sotho plane ein größeres Unternehmen im Jülziish-Sektor. Deswegen sei unser Vergehen besonders schwerwiegend.«

Fazzy Slutch gingen viele Dinge auf einmal durch den Kopf. Tyg Ian plante ein Großunternehmen in der Eastside. Eine Offensive? Er erinnerte sich an die mehr als 2000 Raumschiffe, die sie von der AVIGNON aus gesichtet hatten. War das ein Teil des Unternehmens?

»Rasmer Dunn war das, mit dem du sprachst, nicht wahr?«

»Ja, so nannte er sich.«

»Für mich hatte er kaum ein Wort übrig«, sagte Fazzy. »Warum war er dir gegenüber so mitteilsam?«

Veeghr schlenkerte den dünnen Hals hin und her, sodass der schüsselförmige Kopf heftig ins Pendeln geriet. »Ich weiß es nicht.«

Aber Fazzy hatte eine Idee. Die Blues waren offenbar die einzige größere Gruppe, die Tyg Ian Widerstand leistete. Er schickte sich an, diesen zu brechen. Es war denkbar, dass seine Strategie eine fünfte Kolonne vorsah, eine Truppe Sotho-treuer Jülziish, die die Kommandostrukturen der Gataser, der Apasos, der Tentra und wie sie alle sonst noch heißen mochten, infiltrierten und von innen her aufweichten. Je mehr Blues der Sotho auf seiner Seite hatte, desto leichter würde es Stygian fallen, sein Vorhaben zu verwirklichen. Blues wurden also mit Samthandschuhen angefasst.

Fazzy dachte darüber nach, ob man daraus etwas machen könne. Die ursprüngliche Resignation war gewichen. Er hatte nicht die Absicht, seine Laufbahn in den Kerkern der Raumstation zu beenden.

Sie hatten kein Empfinden für den Ablauf der Zeit. Das grelle Licht leuchtete stetig. Es war kühl. Sechzehn Grad, schätzte Fazzy. Veeghr litt unter der niedrigen Temperatur noch weitaus mehr als er. Gatas war eine warme Welt. Sie hielten sich durch Gymnastik warm. Mitunter streckten sie sich auf den Pritschen aus und schliefen. Wie lange es auch immer sein mochte, es war nie lange genug. Die Kälte weckte sie auf.

Sie vertrieben sich die Zeit, indem sie eine Methode der lautlosen Verständigung entwickelten. Die Basis war der alte terranische Morsecode, der seit Jahrtausenden in Gebrauch war. Sie übertrugen die Zeichen, indem sie einander an den Händen fassten und die Finger drückten. Um die Verwechslung von kurzen und langen Signalen zu vermeiden, wählten sie verschiedene Finger für die Übertragung. Sie entwickelten Kürzel und Sondersignale. So zum Beispiel bedeutete eine geballte Faust die AVIGNON, zwei geballte Fäuste bezeichneten das Raumfort, und eine gespreizte Hand hieß so viel wie »die Besatzung des Forts«. Für Rasmer Dunn entwickelte Fazzy ein besonderes Zeichen: Er bog Daumen und Zeigefinger zu einem Kreis und presste die übrigen Finger der Hand eng an den Zeigefinger.

Es gab keine Möglichkeit, denen, die sie beobachteten, zu verheimlichen, dass sie sich miteinander verständigten. Aber was sie sprachen, blieb den Beobachtern verborgen.

Fazzy Slutch entwickelte schließlich ein Fieber. Der Körper wehrte sich gegen die Unterkühlung und mobilisierte seine Reserven, um die Temperatur zu erhöhen. Fazzy lag geraume Zeit im Delirium. Er phantasierte und litt unter albtraumhaften Visionen. Schließlich beruhigte er sich wieder. Er war in Schweiß gebadet, was ihn die Kälte noch intensiver fühlen ließ. Trotz seiner Schwäche machte er eine Reihe von Übungen, um das Sinken der Körpertemperatur zu verlangsamen.

Nur eine winzige Hoffnung hielt Fazzy aufrecht. Das Raumfort hatte die AVIGNON nicht aufgebracht, um ihre Besatzung sich langsam zu Tode frieren zu lassen. Irgendetwas hatten Rasmer Dunn und seinesgleichen mit den Gefangenen vor.

Er fragte sich, wie es Megan Suhr ergehen mochte. War sie auch in eine kalte Zelle gesperrt worden? Hatte sie genug Widerstandskraft, um diese Tortur zu ertragen? Wie kam ihr Temperament mit der Eintönigkeit des Eingesperrtseins zurecht? Die Sorge um Megan grub sich in seine Seele.

Die aufgestaute Verzweiflung brach sich Bahn. Er warf den Kopf in den Nacken und schrie, was die Lungen hergaben. »Ihr verdammten Schinder! Wollt ihr uns hier krepieren lassen?«