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Gut 4000 Jahre in der Zukunft … In der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Doch dann erreicht eine Fremde die Erde, die sich Shrell nennt und die Menschheit mit einer Erpressung konfrontiert. Sie fordert von Perry Rhodan, in die Agolei zu reisen. In diesem weit entfernten Sternenband soll er seinen ältesten Freund töten: Reginald Bull. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, erschafft sie an drei Stellen das Brennende Nichts – diese Anomalien werden die Erde und den Mond vernichten, falls Rhodan ihr nicht gehorcht. Cameron Rioz, ein junger Mann, hat als Einziger den Kontakt mit dem Brennenden Nichts überlebt und verfügt nun über eine Schattenhand. Sie verleiht ihm unheimliche Kräfte, über deren ganzes Ausmaß er sich selbst nicht klar ist. Aber verschiedene Machtgruppen interessieren sich für ihn: Er wird entführt und an einen unbekannten Ort verschleppt. Sein Weg führt nach TOTENSAND …
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Seitenzahl: 167
Veröffentlichungsjahr: 2025
Nr. 3325
Totensand
Sie ist eine Auftragsmörderin – und sie jagt die Schattenhand
Oliver Fröhlich
Cover
Vorspann
Die Hauptpersonen des Romans
Prolog: Dank für geleistete Dienste I
1. Gestörte Beziehungen
2. Wenn ihr wissen wollt ...
3. Ein unerlaubter Ausflug
4. Ein gemütliches Städtchen
5. Ein Strandspaziergang
6. Auftritt: Der Magier
Epilog: Dank für geleistete Dienste II
Fanszene
Leserkontaktseite
Impressum
PERRY RHODAN – die Serie
Gut 4000 Jahre in der Zukunft ... In der Mitte des 23. Jahrhunderts Neuer Galaktischer Zeitrechnung leben die Menschen in Frieden und Freiheit. Doch dann erreicht eine Fremde die Erde, die sich Shrell nennt und die Menschheit mit einer Erpressung konfrontiert.
Sie fordert von Perry Rhodan, in die Agolei zu reisen. In diesem weit entfernten Sternenband soll er seinen ältesten Freund töten: Reginald Bull. Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, erschafft sie an drei Stellen das Brennende Nichts – diese Anomalien werden die Erde und den Mond vernichten, falls Rhodan ihr nicht gehorcht.
Cameron Rioz, ein junger Mann, hat als Einziger den Kontakt mit dem Brennenden Nichts überlebt und verfügt nun über eine Schattenhand. Sie verleiht ihm unheimliche Kräfte, über deren ganzes Ausmaß er sich selbst nicht klar ist.
Aber verschiedene Machtgruppen interessieren sich für ihn: Er wird entführt und an einen unbekannten Ort verschleppt. Sein Weg führt nach TOTENSAND ...
Cameron Rioz – Der junge Mann ringt um seine Freiheit.
Jasper Cole – Der junge Mann steht am Scheideweg einer Freundschaft.
Dale Fortune – Der Agent mag keine Besprechungen.
Monkey – Der Oxtorner plant und steuert.
Cassandra
Prolog
Dank für geleistete Dienste I
Komm zur USO, mach die Welt zu einem sicheren Ort.
Immer wieder hallten diese Worte in Josseph Hanlons Gedächtnis nach. Gesprochen hatte sie sein Vater vor über dreißig Jahren.
Sein Vater ...
Joseph Hanlon hatte darauf bestanden, den Vornamen an seinen Sohn weiterzugeben, aus Gründen der Unterscheidbarkeit aber ein zweites »s« einzufügen. Keine Diskussion. Vom Familienoberhaupt beschlossen, verkündet und deshalb so umgesetzt.
So war er gewesen, der gute alte Joseph mit einem »s«. Positiv formuliert ein meinungs- und durchsetzungsstarker Mann, tatsächlich eher ein Despot, mit dem man prima auskam, solang man tat, was er sagte.
Komm zur USO, mach die Welt zu einem sicheren Ort.
Er hatte nie erklärt, welche Welt er damit meinte. Terra? Das Solsystem? Das Galaktikum? Oder seine eigene kleine Mikrowelt eines längst überholten Familienbilds mit ihm als Alleinherrscher? Nein, Unsinn, was sollte Letzteres mit der USO zu tun haben? Nicht dass sein Vater auf derlei Spitzfindigkeiten Wert gelegt hätte.
Was es auch gewesen sein mochte: Er hatte sich geirrt, in jeder nur denkbaren Beziehung.
Josseph Hanlon saß im Komfortsessel seines Quartiers in Deringhouse Station und starrte seit Minuten auf das Holodisplay seiner Privatpositronik, genauer gesagt auf die letzte Nachricht, die er damit versendet hatte.
Ihm kamen Zweifel. Hatte er das Richtige getan?
Gewiss, bei seiner Unterhaltung mit dem Fremden vor beinahe einem Jahr hatte sich alles schlüssig, ja, zwingend angehört. Hanlon hatte in einer Bar in Terrania gesessen und versucht, das Chaos mit Alkohol wegzuspülen. Allein, mit einem Glas Burning Void in der Hand und lärmenden Gedanken im Kopf, umgeben von schummriger Beleuchtung und leiser, melancholischer Musik.
»Keine Katastrophe ist schlimm genug«, hatte der Mann gesagt, der plötzlich neben dem winzigen Tischchen in der Nische gestanden hatte, »dass ein findiger Barkeeper nicht einen Drink danach benennen würde.«
Hanlon hatte aufgeblickt. Es hatten sich nur wenige Gäste in das Etablissement verirrt, an dessen Namen er sich längst nicht mehr erinnern konnte. Die Bar war nur eine von vielen gewesen, durch die er damals gezogen war.
»Lass mich in Ruhe!«, hatte er zu dem Fremden in der lässigen Alltagskleidung gesagt. Bis auf eine Strähne, die ihm über das linke Auge hing, waren dessen blonde Haare kurz geschoren gewesen. »Ich habe keine Lust auf eine Unterhaltung mit jemandem, den ich nicht kenne.«
»Ich heiße Clynt. Und ich kann verstehen, dass du allein sein willst. Tut mir leid, was mit deinem Vater passiert ist.«
»Du ... Was? Woher weißt du von meinem Vater?«
Clynt zog einen Stuhl vom unbesetzten Nachbartisch heran und nahm unaufgefordert Platz. »Er war USO-Agent, nicht wahr? Einer von denen, die nach dem Start der ELDA-RON vom Atlan Space Port zufällig vor Ort waren und deshalb zum Evakuierungsteam gehörten. Das Brennende Nichts hat ihn verschluckt. Wie gesagt, es tut mir leid.«
»Danke, aber das ist unnötig. Er war kein allzu liebenswürdiger Mensch.«
»Du hast ihn gehasst. Ich weiß. Dennoch war er dein Vater.«
»Was soll das? Wer bist du? Woher weißt du das alles?«
Clynt hatte auf das Glas mit der tiefschwarzen Flüssigkeit gezeigt. »Burning Void. In einer alten terranischen Sprache bedeutet das Brennendes Nichts. So sind wir, nicht wahr? Es geschieht etwas Fürchterliches, zahlreiche Menschen verlieren ihr Leben, wir sind schockiert, beinahe wie gelähmt, doch es dauert nicht lange, da rappeln wir uns auf, putzen den Staub von der Kleidung und machen einfach weiter. Und um zu zeigen, wie gut wir mit allem umgehen können, was uns das Schicksal vor die Füße wirft, benennen wir sogar einen Drink danach.«
»Das wusste ich nicht«, hatte Hanlon zugegeben. »Ich hab nur das Getränk mit dem meisten Alkohol bestellt.«
»Gibt es in diesem Laden keinen Vurguzz? Na, egal. Du willst wissen, woher ich meine Informationen habe, Josseph? Wir haben dich beobachtet.«
»Meinen Namen kennst du also auch.«
»Und seine extravagante Schreibweise.«
»Wer ist wir? Was wisst ihr noch? Was wollt ihr von mir?«
»Wie kommst du darauf, dass wir etwas von dir wollen?«
»Wieso sonst hättet ihr mich beobachtet?«
»Du hast recht. Also gut, wir wissen, dass du der USO angehörst, wie übrigens auch einige andere von uns. Wir wissen, dass dich dein Vater mit seiner bevormundenden Art in die Organisation gedrängt hat, obwohl dir etwas anderes vorschwebte. Musiker, nicht wahr? Du beherrschst das Zyrrbophon, die P-Klarinette und auch klassische Instrumente wie das ferronische Wargazza und Klavier.
Nichts davon hilft dir im Dienst der USO.
Weder bringst du die körperlichen Voraussetzungen für einen USO-Spezialisten noch die geistigen für einen QuinTech mit. Und das meine ich keineswegs beleidigend. Stattdessen bist du in der Verwaltung gelandet, kümmerst dich um Schichtpläne, Urlaubsanträge, sonstige Personalangelegenheiten und Nachschub. Ein Leben voller Langeweile. Von wegen Komm zur USO und mach die Welt zu einem sicheren Ort. Ja, auch das wissen wir. Soll ich mehr erzählen oder reicht dir das, um zu begreifen, wie gut wir dich kennen?«
»Ich glaube, das reicht.«
»Dein Vater hat dich angelogen.«
»Inwiefern?«
»Die USO macht die Welt nicht zu einem sicheren Ort. Wie sollte sie auch, solang an ihrer Spitze ein Unsterblicher steht, dem jede Menschlichkeit fehlt? Atlan Village, Luna, Neu Atlantis – überall dort wächst das Brennende Nichts. Es hat Tausende von Menschenleben gekostet. Tut mir leid, aber das entspricht nicht meiner Definition einer sicheren Welt. Und was tun die Terraner? Sie verabscheuen Shrell, arrangieren sich mit der Situation und verlassen sich darauf, dass andere Unsterbliche alles in Ordnung bringen werden. Dabei sind die doch an allem schuld.«
»Wie meinst du das?«
»Ist das nicht offensichtlich? Hast du die Regierungserklärung vor einigen Wochen etwa nicht gehört? Shrell verlangt von Perry Rhodan, dass er Reginald Bull tötet. Erst dann würde sie das Brennende Nichts löschen. Anscheinend hat also der eine Unsterbliche ihren Unmut erregt, und deshalb will sie den anderen zu einem Mord zwingen. Und dafür geht sie über die Leichen unschuldiger Menschen, die mit alldem nichts zu tun haben, die Rhodan und Bull bestenfalls aus dem Trivid oder aus Geschichtsholos kennen.
Es ist der Klüngel der Unsterblichen, der die Terraner, das Solsystem, die Menschheit immer wieder in Schwierigkeiten bringt. Wer willst du sein, Josseph Hanlon? Was willst du sein? Einer von denen, die ihren Burning Void schlürfen und sich darauf verlassen, dass alles wieder gut wird? Oder einer von denen, die aktiv etwas dafür tun? Ein Rädchen im Getriebe oder ein Maschinist?«
Obwohl Hanlon an diesem Abend in die Bar gegangen war, um sich allein zu betrinken, hatte er den Burning Void nicht angerührt und war stattdessen auf Ingwerlimonade umgestiegen. Er hatte sich mit Clynt unterhalten, stundenlang und intensiv – und sich schließlich bereit erklärt, das Netzwerk, für das Clynt arbeitete, mit Informationen zu versorgen.
Das war nicht zuletzt ein Akt der Auflehnung gegen seinen toten Vater. Dessen war er sich stets bewusst gewesen. Und was hatte er schon für Geheimnisse zu verraten? Dass auf Quinto-Center, dessen Position er selbst nicht kannte, das Desinfektionsmittel knapp wurde? Dass der Krankenstand der QuinTechs seit dem Zünden des Brennenden Nichts um 3,4 Prozent zurückgegangen war?
Mittlerweile war ein Jahr vergangen, in dem er seiner Kontaktperson Cassandra über eine verschlüsselte Verbindung Belanglosigkeiten mitgeteilt hatte.
Cassandra. Ein Allerweltsname. Und Hanlon wusste nicht einmal, ob es sich dabei tatsächlich um eine Frau handelte, geschweige denn, ob sie Terranerin, Ferronin oder Siganesin war.
Seine letzte Nachricht war ebenfalls an Cassandra gegangen – und diesmal hatte sie mehr enthalten als Nichtigkeiten. Was daran lag, dass man Hanlon von der Verwaltung in den aktiven Dienst versetzt hatte, nachdem der Wyconder Bonnifer und Cameron Rioz aus der Anomalie zurückgekehrt waren. Selbstverständlich zählte Hanlon weiterhin nicht als Spezialist oder QuinTech, aber immerhin hatte man ihn zum offiziellen USO-Beobachter in Deringhouse Station ernannt. Das bedeutete eine höhere Geheimhaltungsstufe und Zugang zu brisanteren Informationen.
»Verhaftung von Cameron Rioz und Bonnifer steht bevor«, verriet Hanlons letzte Indiskretion. »Rioz derzeit nicht auf Luna. Zugriff vermutlich vor seiner Rückkehr.«
Wieder und wieder las er die Worte. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit, dass sie zu Rioz' Verschleppung führen würden. Und das hatten sie doch, oder? Einen so großen Zufall konnte es nicht geben, dass jemand Agenten des Terranischen Liga-Dienstes und der USO diesen Rioz vor der Nase wegschnappte, als die gerade zugreifen wollten.
Kidnapping. Ein Verbrechen. Und Hanlon hatte mit seinen Informationen dafür gesorgt, dass es begangen werden konnte.
Wollte er die Rebellion gegen seinen Vater so weit gehen lassen? Oder legte er unterschiedliche Maßstäbe an? Die Weitergabe von Geheimdienstinformationen war schließlich nicht gerade legal.
Ein Tonsignal kündigte einen Besucher an.
Hanlon schloss das Holodisplay. Ehe er bei der Quartierspositronik nachfragen konnte, wer vor der Tür stand, öffnete sie sich, ohne dass er den Befehl dazu gegeben hätte.
Eine Frau trat ein, die er noch nie gesehen hatte. Ihre Hose und die Jacke strahlten in so grellem Weiß, dass es beinahe blendete. Offenbar eine Ärztin oder Pflegerin aus der Medostation. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen, aber die Fünfzig hatte sie gewiss überschritten. Die glänzend schwarzen Locken fielen ihr bis auf die Schultern.
Sie lächelte ihn freundlich an. »Josseph Hanlon?«, fragte sie.
Die Tür schloss sich hinter ihr.
»Was ... wer bist du? Ich habe keine medizinische Unterstützung angefordert. Hast du dich im Zimmer geirrt?«
Ihm wurde die Unsinnigkeit seiner Frage schnell bewusst. Sie hatte ihn mit Namen angesprochen. Sie hatte die technische Möglichkeit, seine Tür zu öffnen. Keinesfalls hatte sie sich im Zimmer geirrt.
»Es freut mich, dich endlich persönlich kennenzulernen«, sagte sie. »Es ist mir ein Anliegen, mich bei dir für deine Dienste zu bedanken.«
»Ich verstehe nicht.«
Sie deutete auf die Arbeitsstation, deren Display vor zwei Minuten ein verräterisches Holo gezeigt hatte. »Wir kennen uns bisher nur auf diesem Weg. Ich bin Cassandra.«
Hanlon riss die Augen auf. »Du bist ... Was tust du hier? Ist es nicht riskant, in mein Quartier zu kommen? Oder überhaupt in die Station?«
Sie winkte ab. »Ach was. Ich habe die technischen Mittel, meine Ankunft, meine Abreise und alles dazwischen aus den Speichern zu löschen. Niemand wird wissen, dass ich hier war.«
»Aber wenn dich jemand gesehen hat?«
»Dann kennt er noch lange nicht mein Gesicht. Oder glaubst du, ich würde mich unmaskiert in aller Öffentlichkeit ums Geschäft kümmern?«
»Das Geschäft?«
»In diesem Fall: das Verwischen von Spuren. Dass wir Rioz entführt haben, weist so deutlich auf eine undichte Stelle hin, dass niemand mit einem Hauch Verantwortungsbewusstsein das ignorieren kann. Vermutlich laufen die Untersuchungen bereits. Und es wäre sehr unangenehm, wenn man etwas fände.«
»Du hast recht. Ich werde die Kommunikationsprotokolle aus meiner Arbeitsstation löschen.«
»Das ist sehr umsichtig, aber nicht nötig.«
»Wieso nicht?«
»Weil ich das tun werde. Noch einmal: Ich danke dir sehr für deine Dienste. Doch nun werden sie nicht mehr benötigt.«
Ehe Hanlon den Sinn dieser Sätze begriff, zog Cassandra einen Strahler unter der weißen Jacke hervor, der keinem glich, den Hanlon je gesehen hatte. Er hob die Hände, als könnte er damit irgendetwas aufhalten, dann erklang ein leises Knistern.
Im nächsten Augenblick spürte er eine Hitzewelle durch seinen Körper spülen, als stünden sämtliche Innereien in Flammen.
Im übernächsten Augenblick spürte er gar nichts mehr.
1.
Gestörte Beziehungen
Wie tief das Loch ist, in das du stürzt, weißt du erst, wenn du unten aufschlägst.
Obwohl sich Jasper Cole in einer behaglich eingerichteten Kabine aufhielt, kannte er die Tiefe seines persönlichen Abgrunds bisher nicht. Denn das Gefühl, zu fallen, hielt ihn weiterhin gefangen.
Aber er stürzte nicht einfach nur. Jemand hatte ihn gestoßen. Zwei Jemande, um genau zu sein. Zwei der Menschen, die ihm neben seiner Schwester Jade am meisten bedeuteten. Sein Vater – und Cameron Rioz.
Manchmal hatte das Karma einen skurrilen Sinn für Humor. Da hatte ihn Cam vor einigen Jahren, noch bevor sie einander kannten, vor einem buchstäblichen tiefen Fall bewahrt und ihm so das Leben gerettet, ohne es zu wissen, und nun hatte er ihn eigenhändig von der Kante gestoßen, wenngleich diesmal nur sprichwörtlich.
Karma war ein Arschloch.
Jasper ging in der Kabine auf und ab. Er achtete nicht auf die geschwungene, eierschalenfarbene Couch, auf die Essecke mit den vier gemütlich aussehenden Sesseln oder auf das runde Bett mit Vibrations- und Antigravfunktion. Wenn er selbst nur in Bewegung bliebe, kämen irgendwann vielleicht seine Gedanken zur Ruhe.
Aber das taten sie nicht. Sie plapperten auf ihn ein, drehten sich im Kreis, wiederholten schreckliche Wahrheiten in Endlosschleife.
Der Kanon seines Grübelkarussells bestand aus:
Ich kann meinem Vater nicht mehr trauen.
Cam ist ein Mörder.
Die behaglich eingerichtete Kabine ist in Wirklichkeit nur eine bessere Gefängniszelle.
In den ersten Stunden seiner erzwungenen räumlichen Einschränkung hatte zu dem Reigen noch gehört: Ich wäre beinahe gestorben. Ich wäre auf diesem verdammten sich selbst zerstörenden Schiff beinahe gestorben!
Darüber war er inzwischen hinweg, denn das entscheidende Wort in diesem Satz lautete beinahe.
Vielleicht war er auch nicht darüber hinweg, sondern hatte den Gedanken bloß verdrängt – und würde in vielen kommenden Nächten schweißgebadet aus einem Albtraum erwachen, in dem er mit Cam und dem Ingenieur Norm Kennel durch ein untergehendes Schiff rannte und diesmal den rettenden Transmitter nicht rechtzeitig erreichte.
Zum schätzungsweise gazillionsten Mal kam er am Getränke- und Essensspender vorbei, ignorierte ihn wie die Male zuvor ...
Was ergibt eigentlich eine Gazillion minus eins?
... und setzte seine Runde fort. Egal aus welchem robusten Material dieses Raumschiff bestand, wenn er so weitermachte, würde er früher oder später Spurrinnen in den Boden laufen.
Das Interkom seiner Kabine gab einen Signalton von sich. Instinktiv sah Jasper zur Holomeldung, die neben dem Terminal schwebte, obwohl er wusste, wer ihn zu erreichen versuchte. Derselbe, der alle paar Minuten anrief: Cam.
Wollte Jasper ihn überhaupt noch Cam nennen? Drückte diese Kurzform nicht eine Vertrautheit aus, die inzwischen in Trümmern lag?
Jasper lehnte den Anruf ab. Ihm war nicht nach einer lockeren Plauderei mit einem Mörder. Oder danach, sich Entschuldigungen und Rechtfertigungen anzuhören. Gab es die überhaupt?
Er öffnete das Holomenü mit den Einstellungen, um Camerons Kennung im Interkom zu blockieren. Rasch wischte er sich durch die Funktionen – und brachte es dann doch nicht über sich.
Wieder sah er Camerons Gesicht vor sich, den niedergeschmetterten Ausdruck darin, die Augen, die im Schmerz schwammen.
»Ich habe sie umgebracht, Jazz«, hatte er auf dem Korridor gesagt, der ihre Kabinen voneinander trennte. »Ja, Bonnifer hat mich beschwatzt, und was auf dem Ylanten-Konstrukt passiert ist, war ein Unfall. Aber Binas Tod – das war meine Entscheidung. Ohne Bonnifers Einfluss. Das war kein Unfall, kein Fremdeinwirken. Das war ich. Ich, der Mörder.«
Da hatte es auch nichts genützt, dass Cameron sofort nachgeschoben hatte, wie sehr er es bereute und dass ihn die Schuldgefühle zerfraßen. Ohne nachzudenken, hatte sich Jasper umgedreht und war in seine Kabine gegangen. Er hatte den – ehemaligen? – Freund stehen lassen, in einer Situation, in der jener ihn am dringendsten gebraucht hätte.
Aber es ging nicht. Er war nicht bereit gewesen, einen Mörder anzuhören, und war es immer noch nicht. Würde es vielleicht nie sein.
Jasper verstand, dass Cameron reden wollte. Ihm ging es nicht anders. Doch er hatte niemanden. Wem sollte er sich emotional anvertrauen, wenn selbst Freunde und Familie ihm alles nur vorspielten?
Er dachte an Jade. Seine Schwester pflegte seit jeher ein gespaltenes Verhältnis zu ihrem Vater, weil der für Wylon Hypertech arbeitete, einen milliardenschweren Rüstungskonzern, zu dessen Kunden – zumindest nach Jades Lesart – Mörder und Terroristen gehörten.
Jasper hatte dieser einseitigen Sichtweise stets widersprochen. Inzwischen fragte er sich, ob Jade nicht von Anfang an recht gehabt hatte.
Sollte er mit ihr sprechen? Aber was würde er ihr erzählen? Dass Cameron Rioz ein Mörder war? Dass Dad Jasper eingespannt hatte, angeblich um Cam zu retten, tatsächlich aber, um ihn zu entführen? Nein, nicht eingespannt. Ausgenutzt! Als willfähriges Werkzeug eingesetzt.
Sollte er ihr erzählen, dass es Pa nie um die Freundschaft zwischen Jasper und Cameron gegangen war, sondern nur darum, über sie an die Schattenhand heranzukommen? Weil er diese wie ein Körperteil geformte Schwärze verstehen wollte, egal um welchen Preis? Dass Dad zu diesem Zweck Experimente an Cam hatte anstellen lassen? Experimente, um Himmels willen, als wäre der ehemalige Trividder eine Laborratte oder irgendein Ding und nicht ein Mensch.
Und Mörder.
Ja, das alles könnte er Jade erzählen. Vielleicht würde sie ihm sogar glauben, vermutlich aber nicht. Denn die Wahrheit dürfte weit über das hinausgehen, was sie Dad zutraute. Sollte sie ihm glauben, konnte sich Jasper ihre Reaktion allerdings ausmalen.
»Was genau überrascht dich daran?«, würde sie ihn fragen.
Und er ... na ja, im Moment fühlte sich seine Sarkasmusplantage zu abgeerntet an, um eine entsprechende Antwort parat zu haben. Außerdem: Vermutlich glaubte sie ihm eben nicht, bezeichnete ihn womöglich als Lügner. Er wusste nicht, ob er die Kraft für so ein Gespräch aufbringen konnte.
Besser, er rief sie nicht an.
Aber er musste mit jemandem sprechen, musste jemanden anschreien, falls es sich als nötig erweisen sollte – und gerade fühlte es sich an, als würde es das.
Abrupt blieb Jasper stehen. Nur sein rechter Fuß tippte unablässig auf den Boden.
Schluss mit der Grübelei.
Er war damals nicht gefallen. Er würde es auch diesmal nicht tun. Nicht von einem Wohnturm, nicht in ein Loch, überhaupt nicht.
Und wer würde sich besser eignen, um ihn ein bisschen anzuschreien, als Dad?
Dazu musste er aber erst einmal seinem Gefängnis entkommen.
*
Jasper ging zur Kabinentür und betätigte den Öffnungssensor. Es geschah das, was auch die drei Mal zuvor geschehen war, als er es versucht hatte: nichts. Die Tür blieb erwartungsgemäß geschlossen.
Stattdessen erschien ein Holo oberhalb des Sensors, dessen Text Jasper ebenfalls kannte.
Entriegelung nur mit gültiger Kennung möglich.
Als er zum ersten Mal festgestellt hatte, dass er eingesperrt war, hatte er über Interkom sofort Pa angerufen.
»Aus Sicherheitsgründen bitte ich dich, in deinem Quartier zu bleiben«, hatte der gesagt.
»Du hast die Tür verriegeln lassen! Nach meiner Definition ist das keine Bitte, sondern ... Stubenarrest. Für wie alt hältst du mich? Sechs?«
»Vor allem halte ich dich für meinen Sohn, den ich schon eine ganze Weile kenne und von dem ich weiß, dass er in einer Bitte nur eine unverbindliche Handlungsempfehlung sieht.«
»Hast du dieses Krachen und Splittern gerade gehört? Das war mein brechendes Herz.«
»Das heilt wieder.«
»Was für Sicherheitsgründe sollen das sein?«
»Du bist auf einem dir unbekannten, sehr großen Raumschiff.«
»Du fürchtest, ich könnte mich verlaufen? Ernsthaft?«
»Ernsthaft. Und nun entschuldige mich bitte, ich muss zu einer Besprechung.«
Die beiden folgenden Male hatte Jasper den Sensor nur ausprobiert, um zu sehen, ob sein Vater die Verriegelung hatte aufheben lassen. Ob er ihm ein bisschen Vertrauen entgegenbrachte. Offenbar war das nicht der Fall.