Perry Rhodan Neo 191: Pilgerzug der Posbis - Oliver Plaschka - E-Book

Perry Rhodan Neo 191: Pilgerzug der Posbis E-Book

Oliver Plaschka

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Beschreibung

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das der Menschheit kosmische Wunder offenbart, sie aber auch häufig in höchste Gefahr bringt. 2058 sind die Menschen nach schwerer Zeit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und finden immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Nur vereint können sie den Bedrohungen aus den Tiefen des Alls trotzen. Nachdem Rhodan einen Angriff der sogenannten Bestien abgewehrt hat, haben diese sich in die Außenbereiche des Solsystems zurückgezogen. Aber noch haben die Gegner und vor allem ihr Befehlshaber ANDROS ihre unheilvollen Pläne nicht aufgegeben. Fieberhaft suchen Perry Rhodan und seine Gefährten nach Wegen, die Bestien endgültig zurückschlagen zu können. In dieser angespannten Lage tauchen fremde Raumschiffe beim Pluto auf – die Menschen treffen offenbar auf den mysteriösen PILGERZUG DER POSBIS ...

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Band 191

Pilgerzug der Posbis

Oliver Plaschka

Cover

Vorspann

Prolog

Teil I – Ankunft: 15. September 2058

1. Edwina Kerpen

2. Nathalies Tagebuch

3. Edwina Kerpen

4. Ras Tschubai

Teil II – Gedenken: 15.–16. September 2058

5. Belle McGraw

6. Perry Rhodan

7. Ras Tschubai

8. Reginald Bull

9. Die Posbis

10. Perry Rhodan

11. Reginald Bull

Teil III – Aufbruch: 16. September 2058

12. Belle McGraw

13. Eric Leyden

14. Perry Rhodan

15. Eric Leyden

Teil IV – Zwischen den Welten

16. Perry Rhodan, Sedna

17. Forschungsschiff AURORA

18. Belle McGraw, Mimas

19. Eric Leyden, Kuipergürtel

20. Perry Rhodan, Sedna

Impressum

PERRY RHODAN – die Serie

Im Jahr 2036 entdeckt der Astronaut Perry Rhodan auf dem Mond ein außerirdisches Raumschiff. Damit öffnet er den Weg zu den Sternen – ein Abenteuer, das der Menschheit kosmische Wunder offenbart, sie aber auch häufig in höchste Gefahr bringt.

2058 sind die Menschen nach schwerer Zeit mit dem Wiederaufbau ihrer Heimat beschäftigt und finden immer mehr zu einer Gemeinschaft zusammen. Nur vereint können sie den Bedrohungen aus den Tiefen des Alls trotzen.

Nachdem Rhodan einen Angriff der sogenannten Bestien abgewehrt hat, haben diese sich in die Außenbereiche des Solsystems zurückgezogen. Aber noch haben die Gegner und vor allem ihr Befehlshaber ANDROS ihre unheilvollen Pläne nicht aufgegeben.

Fieberhaft suchen Perry Rhodan und seine Gefährten nach Wegen, die Bestien endgültig zurückschlagen zu können. In dieser angespannten Lage tauchen fremde Raumschiffe beim Pluto auf – die Menschen treffen offenbar auf den mysteriösen PILGERZUG DER POSBIS ...

Prolog

Unrein, sagte die Stimme zu Molinari. Sie klang ein bisschen wie die Stimme seiner Großmutter, wenn diese in seiner Kindheit Anstoß an seinem Zimmer oder der Haushaltsführung seiner Mutter genommen hatte. Er wusste kaum, wer er eigentlich war in jenen Minuten, aber dieser eine Gedanke stand überdeutlich in seinem umnachteten Geist: Schmutz. Unrein. Überall Schmutz.

Ja, dachte Molinari beim Anblick der öligen Wände und versuchte, seinen Kopf zu klären, das war absolut richtig. Die TORTUGA war ein schmutziges Schiff. So voll. Eng. Wahrscheinlich war sie immer schon schmutzig gewesen ... Er massierte seine Schläfen, wollte sich auf die Mission konzentrieren.

Natürlich war die TORTUGA keine blitzende Jacht – Raumfahrzeuge in Privatbesitz waren nach wie vor die Ausnahme im Sonnensystem, denn Raumschiffe waren teuer, selbst die schmutzigen. Aber Dimitri Roganoff hatte seine Kanäle zur General Cosmic Company, und die GCC hatte Kanäle bis nach KE-MATLON, und ein altes Beiboot der Mehandor kostete auf diesen Kanälen nur etwa so viel wie ein Flugzeugträger und war damit für jemanden wie Roganoff leicht erschwinglich.

Schmutz, sagte die Stimme, drückte abermals wie eine schwarze, kalte Granitplatte auf seinen Kopf und trieb ihn voran. Unrein.

Sie hatte wirklich recht, dachte Molinari dumpf, während er auf wackligen Beinen den fleckigen Flur zu den Rettungskapseln betrat. Dort war der Druck ein wenig besser zu ertragen. Dimitri Roganoff war Abschaum – ultrareich, trotzdem Abschaum. Vor gut zwanzig Jahren hatte sich der Menschheit die Weite des Alls aufgetan. Für Männer wie Roganoff war es die Weite der interstellaren Märkte gewesen. Früher hatte es noch Grenzen gegeben, wie reich ein einzelner Mann werden konnte. Seit es möglich war, per Hyperfunk an den Börsen von Archetz und anderen Welten mitzuverdienen, gab es diese Grenzen nicht mehr. Die Gesetzgeber konnten gar nicht so schnell neue Regeln erlassen, wie Männer wie Roganoff Wege fanden, sich zu bereichern.

Du bist Dreck, sagte die Stimme. Ihr alle seid Dreck.

Stimmt, dachte Molinari, als er die erste Rettungskapsel erreichte. Er arbeitete für Roganoff, so wie jeder an Bord, also war er nicht besser als sein Arbeitgeber. Nur ärmer. Früher waren bloß seine Hände dreckig gewesen; da hatte er noch ehrliche Arbeit verrichtet. Mittlerweile wusste er kaum noch, wo der Dreck überall klebte. Er fühlte sich schlecht. Richtiggehend übel war ihm. Vielleicht würde es besser werden, wenn er den Dreck loswurde.

Weg mit dem Schmutz!, sagte die Stimme. Spül ihn fort!

Molinari aktivierte die Startsequenz der leeren Kapsel. Ein rotes Licht erstrahlte, und mit einem heftigen Ruck löste sich die Kapsel aus ihrer Verankerung. Dann zündete ihr Antrieb und schoss sie ins All hinaus.

Schon besser. Molinari konnte die Erleichterung fast spüren. Als hätte man die erste Last von einem alten, gebeugten Tier geschnitten. Jetzt die andere!

Saurer Geschmack stieg in seiner Kehle auf. Er ging rasch weiter zur zweiten Kapsel und wiederholte den Vorgang.

Ein Alarm gellte los. Molinari presste die Hände an die Ohren.

Der Schmutz!

Jemand oder etwas hatte ihn entdeckt. Jemand oder etwas wollte nicht hinweggespült werden ...

Der Alarm fräste sich in sein Gehirn und ließ sein Herz rasen. Einen Augenblick lang unterdrückte das Adrenalin sogar die Stimme, und Molinari wusste wieder, wer er war.

Paolo Molinari, Bordingenieur der TORTUGA auf einer mit privaten Mitteln finanzierten Expedition in den Kuipergürtel. Auf dem Zwergplaneten Sedna hatten sich geheimnisvolle Aliens versteckt, und eine oder mehrere Space-Disks mitsamt ihrer Ausrüstung waren dort abgestürzt. Natürlich alles Eigentum der Terranischen Flotte, aber eine reiche Beute ...

»Zentrale an Molinari«, hörte er die Stimme des Kapitäns über Funk. »Was treiben Sie dort unten? Die Positronik zeigt an, dass Sie die Rettungskapseln ...«

Der Dreck klammert sich an seine Existenz.

Der Moment der Klarheit war vorüber. Der saure Geschmack in Molinaris Kehle kehrte zurück. Übelkeit übermannte ihn, und gestützt an die Wand, beugte er sich vor und übergab sich.

Wieso mussten Raumschiffe und Menschen nur so schmutzig sein ...? Der Gedanke daran, wie sie mit irrwitzigen Geschwindigkeiten dahinrasten und ihren Schmutz überall verbreiteten, machte ihn krank ...

Zeit, sich um den Antrieb zu kümmern.

Er taumelte weiter.

Die Antriebssektion befand sich im Heck des kleinen Walzenschiffs. Er zwängte sich durch die engen Gänge, in denen entgegen jeder Vorschrift Werkzeug und Essensverpackungen auf dem Boden lagen, und ignorierte den Alarm und die zunehmend aufgebrachteren Rufe über Kom.

Es ist zu heiß. Zu schmutzig. Zu laut. Zu schnell.

Molinari öffnete das rostfleckige Schott und betrat das von flackernden Holos erhellte Halbdunkel der Antriebssektion. Sedna war Sperrgebiet. Um die Systemverteidigung nicht zu alarmieren, flog die TORTUGA derzeit nur mit Unterlichtgeschwindigkeit. Also reichte es, den Impulsantrieb zu desaktivieren. Als Bordingenieur hatte Molinari die nötige Autorisierung. Er brauchte nur manuell die Verbindung zur Zentrale zu kappen und den Antrieb in den Wartungsmodus zu versetzen.

Leg ihn still. Bring ihn zur Ruhe.

Er gab seinen Kode ein. Die Anzeigen des Kontrollpults wechselten zu einem dunklen Blau. Erst als das allgegenwärtige Dröhnen erstarb, das er schon kaum noch gehört hatte, bemerkte er, was für eine Pein es gewesen war, wie herrlich diese neue Stille war. Das Raumboot trieb nun antriebslos im All. Der Druck um seinen Kopf ließ abermals ein wenig nach – oder vielleicht spürte er ihn nur nicht mehr, war taub geworden unter dem drückenden Schmerz.

»Molinari! Was auch immer Sie da tun, ich befehle Ihnen ...«

Wie lange schrie der Kapitän schon auf ihn ein? Molinari riss sich den Stecker aus dem Ohr, wünschte, er könnte die komplette Funkanlage außer Betrieb nehmen.

Es ist immer noch zu schmutzig. Zu heiß.

Die Stimme klang nun nicht mehr wie seine Großmutter. Sie klang gieriger. Sie wusste genau, was sie wollte. Sie wollte absolute Ruhe, Ordnung, Kontrolle. Kalte Schönheit – Perfektion.

Er musste weiter. Musste die Ruhe, die Kälte, die Sauberkeit über das gesamte Schiff bringen. Wer sonst sollte es tun? Er war der Säuberer. Er war der Auserwählte.

Gerade wollte er die Antriebssektion verlassen, als das Schott ihm entgegenschlug und ein anderes Besatzungsmitglied sich ihm entgegenstellte. Es war Johansen. Groß, nach Schweiß stinkend, der dunkle Vollbart voller Dreck. Molinari hatte Johansen nie gemocht. Und nun hatte Johansen ihn verraten, sich auf die Seite des Schmutzes gestellt.

Molinari packte Johansen und schleuderte ihn gegen die Wand. Der größere Mann war sichtlich überrascht von der Schnelligkeit und Wucht des Angriffs. Ehe er wieder zu Sinnen kommen konnte, hatte Molinari sich einen schweren, keulenförmigen Feldleitungskalibrierer gegriffen und hieb ihn Johansen mit aller Gewalt auf den Kopf.

Gut. Das ist gut. Beende es! Räume auf!

Molinari aber schrie aus Leibeskräften – denn je länger er auf den reglosen Körper einprügelte, desto heißer wurde ihm, und desto mehr schmutziges Blut spritzte über die Wände, über das Schott, seine Hände, seine Brust, sein Gesicht. Der Schmutz war überall.

Es ist nötig. Nur so kannst du es beenden.

Molinari wünschte sich nichts sehnlicher, als dass es endete. Also schrie er weiter und schlug und schrie und schlug.

Als er wieder zu sich kam, stand er in einem Flur wie dem der Rettungskapseln, bloß auf der falschen Seite des Raumboots. Hinter ihm lagen die Mannschaftsquartiere. Er konnte sich nicht erinnern, jenseits der Mannschaftsquartiere je einen solchen Flur gesehen zu haben. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob die TORTUGA über zwei oder vier Fluchtvehikel verfügte. In jedem Fall waren beide Kapseln ausgeworfen – also taumelte er weiter.

Wie viel Zeit war vergangen? Was war geschehen? Undeutlich war er sich eines fernen Alarms und flackernder Lichter bewusst. Irgendwo fiel ein Schuss, doch der Sturm seiner gequälten Sinne wurde immer wilder, wie sollte er da sagen, was wirklich war und was nur Illusion? Selbst der Boden kippte unter seinen Füßen, als wäre er auf krummen Gelenken gelagert.

Er erreichte das Schott, hinter dem sich die Lebenserhaltungssysteme verbargen.

Es ist zu heiß.

Tatsächlich war er schweißgebadet. Sein ganzer Körper klebte vor Nässe. Der Ekel, den er vor sich selbst empfand, war unerträglich.

Wenn er die Lebenserhaltung desaktivieren könnte, wäre es besser. Dann wäre es kälter. Dann wäre es vorbei ...

Hinter dem Schott nahm er ein Wimmern wahr.

Molinari zischte. Er hätte den Feldleitungskalibrierer mitnehmen sollen. Doch er konnte nicht mehr umkehren. Er musste es beenden.

Er öffnete das Schott. Ein beißender Gestank stach ihm in die Nase. Etwas brannte und nur die Notbeleuchtung der Sektion funktionierte noch, er konnte in dem rauchverhangenen Zwielicht nichts erkennen.

Bring es zu Ende ...

Dann erspähte er sie: Decauville, die Kopilotin, die auf einem der wackligen Regulatorentürme saß wie ein Cowboy beim Rodeo auf einem Stier. Sie hatte sich die Haare bis auf ein einziges, unförmiges Büschel rasiert, und sie war blass und hatte blutunterlaufene Augen, sodass sie aussah wie eine Strahlenkranke. Mit der Rechten reckte sie einen Thermoschweißer wie eine Siegestrophäe empor.

Als sie ihn erblickte, stieß sie einen wilden, trällernden Schrei aus und sprang von dem Regulator. Molinari verstand erst gar nicht, was er sah. Er hatte mit Widerstand gerechnet, aber nicht ...

Meine Kinder. Reinigt das Schiff! Lasst die Kälte ein! Öffnet der Stille das Tor! Ergebt euch der reinen Perfektion!

»Hörst du sie auch?«, schrie Decauville mit sich überschlagender Stimme. Ihre geröteten Augen waren riesengroß vor Erregung. »Ich erfülle ihr Werk! Hörst du sie? Hörst du sie?«

Auf einmal fühlte Molinari sich schlaff und antriebslos, als hätte die aufgedrehte Pilotin alle Energie von ihm abgezogen. Er war nicht der Einzige. War nicht der Auserwählte. Sie hörte die Stimme ebenfalls – und sie hatte ganze Arbeit geleistet.

Er schaute sich um. Die Lebenserhaltungssysteme standen in Flammen. Schon fielen die ersten Regulatoren aus. Funken sprühten von einer Konsole wie Frühjahrsregen.

Das Werk war getan. Er wurde nicht mehr gebraucht.

Ergebt euch mir.

»Hörst du sie?«, schrie die Wahnsinnige ein letztes Mal.

Als Molinari keine Antwort gab, stieß sie ihm den Thermoschweißer in die Brust und betätigte den Zünder.

Unfassbarer Schmerz entflammte in seinem Leib. Halb bewusstlos taumelte er zurück, nur fort, zurück in den Flur. Er hörte noch Decauvilles schnelle Schritte, die sich entfernten, dann fiel auf einmal die künstliche Schwerkraft aus, und er begann zu schweben.

Mit zittrigen Fingern packte er einen Vorsprung und hielt sich fest; es war der Rahmen eines Glassit-Bullauges.

Ein letztes Seufzen fuhr durch den Gang. Die leise Symphonie der Pumpen, deren Zischen und Rauschen sonst die Räume erfüllte, erstarb. Schon schien es ihm, als wäre auch die Temperatur gefallen. Allein die fahle Notbeleuchtung verweigerte sich noch dem Unvermeidlichen.

Ein Knarren durchdrang das Raumfahrzeug, wie das Ächzen eines sehr alten Baumstamms im Sturm.

Molinari schloss die Augen.

Das ist das Ende. Die Reinheit. Die Perfektion.

Aus der Weite glaubte er, einen klaren Klang zu vernehmen, wie schwingender Kristall.

Er kam noch einmal zu sich, ehe es vorbei war. Seine Finger, mit denen er sich nach wie vor am Fenster festhielt, waren schon blau und ohne Gefühl. Die Schmerzen im Rest seines schwebenden Körpers waren gnadenvoll fern.

Er wandte den Kopf.

Teil I

Ankunft: 15. September 2058

1.

Edwina Kerpen

Die Space-Disk verließ den Planetenschatten und gewann an Höhe, bis Pluto und sein Primärmond unter ihr im Sonnenschein glänzten: pastell- und erdfarbene Flächen aus Stickstoff-, Methan- und Wassereis, gespickt mit vereinzelten Kryogeysiren und alten Eisvulkanen.

Vieles an diesem Bild stimmte nicht: Pluto war kein richtiger Planet, Charon nach Meinung mancher Astronomen kein richtiger Mond, und die nötige Schwerkraft und Lichtverstärkung, um auf beide hinabzublicken und dabei sogar Farbunterschiede wahrzunehmen, wurden von der Space-Disk gestellt.

Edwina Kerpen war das egal, denn sie hatte ihren ersten freien Tag seit einem ganzen Monat. PUMA war für umfangreiche Wartungs- und Optimierungsarbeiten in den Testmodus versetzt, niemand außer den Positronikspezialisten hatte etwas zu tun. Und wie immer, wenn Kerpen dienstfrei hatte, arbeitete sie.

Ihre Arbeit – ihr Leben! – war die Pluto-Multiortungsanlage PUMA, Akronym für Pluto Ultrasensoric Multilocating Array, deren Wissenschaftliche Leiterin sie seit über sieben Jahren war. PUMA war eine der effektivsten Ortungsanlagen des Solsystems. Das Großinstrument hatte nicht lange nach Indienststellung die ersten Gravitationswellen der anrückenden Sitarakh angemessen. Selbst während der Evakuierung der Erde hatten die Menschen an diesem Ort weitergeforscht, und inzwischen war die Installation noch wesentlich effektiver. Ihr Herzstück waren die beiden positronisch erweiterten LIGOS: Laser-Interferometer-Gravitationswellen-Observatorien.

In ihnen wurden Laserstrahlen von hoher Leistung zunächst geteilt und am Ende wieder zusammengeführt – und zwar so, dass beide Teilstrahlen einander im Normalfall genau auslöschten. Wurden die Strahlstrecken jedoch von einer Gravitationswelle durchlaufen, verursachte dies eine Verzerrung der Raum-Zeit und somit eine Phasenverschiebung der Laser-Teilstrahlen samt messbarer Interferenzwirkung. Es war ein einfacher Aufbau, den Physiker im Prinzip bereits im neunzehnten Jahrhundert benutzt hatten, um die blühenden Phantasien von einem Äther, der das Weltall durchflutete, durch wissenschaftlichen Gegenbeweis zu begraben. Natürlich waren die Interferometer seither mehrere Größenordnungen empfindlicher geworden.

Früher hatte man die benötigte Lauflänge des Laserlichts vor allem durch ein vielfaches Hin- und Herspiegeln erreicht. Nun verbanden die Interferometer mehrere Welten: Weil Charon und Pluto mit ihrer doppelt gebundenen Rotation einander immer dieselben Seiten zuwandten, sandten die auf ihren Oberflächen installierten PUMA-Anlagen ihre Laserstrahlen von vornherein fast achtzehntausend Kilometer weit, ehe sie auf einen Spiegel trafen.

Kerpen goss sich einen heißen Früchtetee ein und presste einen ordentlichen Schuss Honig aus der Tube dazu. Dann wählte sie eine Titelliste aus ihrem persönlichen Verzeichnis aus und ließ sich zu den ersten Gitarrenklängen eines alten Johnny-Cash-Songs zurücksinken.

Sie genoss diese privaten Ausflüge mit der Disk. Offiziell dienten sie dazu, das Observatorium zu inspizieren und bei den Außenposten auf den Kleinmonden Versorgungsgüter abzuwerfen. Inoffiziell liebte Kerpen einfach die Stille, die Einsamkeit am Rand des Systems, wo die heimatliche Sonne nur ein heller Stern unter vielen war. Noch vor wenigen Jahrzehnten waren die Kalten Welten, wie die verschwundenen Issgeran sie genannt hatten, den Menschen unerreichbar fern gewesen. Mittlerweile konnte Kerpen die Wunder des äußeren Solsystems aus der behaglichen Wärme unter ihrer Panzerplastkuppel bestaunen.

Dennoch bekam sie regelmäßig eine Gänsehaut, wenn einer dieser allesamt nach Gefilden und Wesen der Unterwelt benannten Himmelskörper unter ihr hinwegrollte. Dank arkonidischer Technik und den uralten Hinterlassenschaften ihrer Vorfahren flog die Menschheit sogar schon bis in weit entfernte Sterneninseln ... Für Edwina Kerpen indes gab es keinen phantastischeren Ort im Universum als den Kuipergürtel, beim fremdartig schönen Pluto-Charon-Doppelsystem, um die Weite und Wunder des Weltraums zu spüren.

Sie wusste, dass sie unter ihren Kollegen einen Ruf als zwar kompetente, aber humorlose Hyperphysikerin besaß. Das störte sie nicht – es konnte nicht jeder so ein schräger Vogel wie Eric Leyden sein. Oder Ephraim Oxley! Tatsächlich wirkten die meisten fähigen Köpfe, mit denen sie in den vergangenen Jahren zu tun gehabt hatte, grundlos exzentrisch auf sie. Vielleicht fehlte ihnen einfach ein Ausgleich?

Sie wärmte ihre Hände am Tee, schloss die Augen und hörte eine Weile Johnny Cash.

Die Positronik weckte sie aus ihren Tagträumen. »Anflug auf Styx«, meldete sie.

Styx war der innerste und kleinste der vier Monde, die das Doppelgebilde Pluto-Charon umkreisten. Styx, Nix, Kerberos und Hydra unterstützten die LIGOS: Die sogenannten Ligaturen waren Messanlagen, die auf arkonidischer und thetisischer Technik basierten und die Leistungsfähigkeit der Multiortungsanlage weiter erhöhten. Zwar waren die kleinen Monde alles andere als Einseitendreher – insbesondere Hydra, der äußerste, torkelte seine Umlaufbahn entlang, als hätte seine vielköpfige Namenspatronin einen über den Durst getrunken, sodass nun jeder Kopf in eine andere Richtung strebte. Doch für die Berechnung der hyperphysikalischen Ableitungen von Gravitationswellen spielte das keine Rolle.

»PERSEPHONE an Styxstation!«, rief Kerpen den Außenposten, drehte vorsorglich die Musik leiser und stellte den Tee aus dem Erfassungsbereich der Kamera. Dann strich sie sich ihre lange Mähne hinter die Ohren zurück und fixierte misstrauisch die Kamera. »Doolittle, sind Sie wach?«

Ein Lämpchen ging an, und das teiltransparente Hologramm eines bärtigen Männergesichts entstand über dem Projektor der Funkeinheit. Die aufgedunsenen Wangen kündeten von einem längeren Aufenthalt in Schwerelosigkeit.

»Wenn das nicht die gute Fee ist«, nuschelte er mit vollem Mund und leckte einen Löffel ab. »Werde ich etwa erlöst?«

»Ihr Dienst geht noch zweiundsiebzig Stunden«, erinnerte sie ihn kühl, denn sie glaubte nicht an Scherze unter Mitarbeitern.

Vielleicht hatte es im Studium angefangen, vielleicht bei ihrem kurzen Gastspiel bei der ESA – aber es war ihre bewährte Strategie, alles Private am Arbeitsplatz zu vermeiden. Einige ihrer Kolleginnen hatten versucht, sich die Sympathie insbesondere der männlichen Kollegen durch eine Vielzahl vertrackter Strategien zu sichern. Einigen hatte man vielleicht auch nicht die Wahl gelassen. Kerpen hatte immer nur ihre Arbeit gemacht – und manchmal war sie selbst überrascht, wohin sie das geführt hatte.

Im Gegensatz zu Leuten wie Doolittle sah sie es durchaus als Auszeichnung an, den erdfernsten Arbeitsplatz zu haben, den es gab. Zwar flog sie nicht wie gewisse andere Physiker mit riesigen Raumschiffen durch die Galaxis – dafür hatte sie feste Schlafenszeiten, geriet deutlich seltener in Raumschlachten und genoss die Aussicht, mit ihrer Rente noch etwas anfangen zu können.

Doolittle tat sich eindeutig schwerer damit, die Sonnenseiten seines Jobs wahrzunehmen. Die Ligaturstationen waren erst seit Kurzem bemannt und würden es auf Dauer auch nicht bleiben – gerade Styx war ein Brocken von nur wenigen Kilometern Durchmesser, auf dem Doolittle wie auf einer einsamen Insel festsaß. Aber an Tagen wie diesen, wenn das ganze Observatorium neu kalibriert wurde, war selbst ein Mann wie er besser als ein Roboter.

»Zweiundsiebzig Stunden«, murmelte er schwer und tauchte seinen Löffel in eine Bohnendose. Eine Bohne wollte sich davonmachen, kam aber nicht weit. Nur ein kleines Stückchen fand Zuflucht in seinem Bart. »Na dann habe ich ja noch ausreichend Zeit für eine Dusche.«

Kerpen ging nicht darauf ein, aber innerlich verzog sie das Gesicht. Schwerelosigkeit führte ohnehin bei vielen Menschen zu Blähungen. Eine Hülsenfruchtdiät war da nicht sonderlich hilfreich – selbst wenn der Geruchssinn bei Nullgravitation ebenfalls nachließ.

»Wie kommen Sie mit den Arbeiten voran?«, erkundigte sie sich.

»Was soll das werden, Kerpen? Small Talk? Haben Sie nicht eigentlich gerade frei?«

»Wollen Sie Ihren Proviant oder nicht?«

Doolittle grinste. »War das nun eine Erpressung oder etwa ein Scherz?«

»Es war der Versuch, meinem Besuch bei Ihnen den Anschein von Nützlichkeit zu verleihen.«

Die Bemerkung war weniger unfreundlich gemeint, als sie klang. Jedes Jahr beantragten sie Gelder für einen automatischen Fährdienst zwischen den kleineren Monden und ein angepasstes Liftsystem für Pluto und Charon – doch vergebens. Also flogen ihre Mitarbeiter stattdessen weiterhin persönlich von Station zu Station. Dass zumindest ihr das sogar Spaß machte, brauchte Doolittle ja nicht zu wissen.

Sein Grinsen verbreiterte sich. Einen irritierenden Moment lang fragte sie sich, ob er die Einsamkeit trotz seiner müden Sprüche und schlechten Manieren insgeheim nicht ebenso genoss wie sie.

»Kein Grund für irgendeinen Anschein«, erwiderte er. »Keine Arbeit ist nützlicher als unsere! Wenn Sie sehen könnten, was für Fortschritte ich bei den Grundlagen des schwerelosen Dosenturmbaus gemacht habe ... Ach, was rede ich, überzeugen Sie sich selbst!«

Er griff mit beiden Händen nach der Holokamera und zerrte daran herum, bis Kerpen im Hintergrund die Hinterlassenschaften seiner letzten zehn oder zwölf Mahlzeiten zu sehen glaubte.

Es reichte. »Doolittle!«, ermahnte sie ihn streng. »Die Rekalibrierung der Ligatur?«

»Gut, gut.« Ihre befehlsgewohnte, tiefe Stimme verfehlte nicht ihre Wirkung. Doolittle wischte sich den Bart und mühte sich um einen sachlichen Bericht. »Alle Tests sind abgeschlossen, und die Alphareihe funktioniert reibungslos. Stabile Ergebnisse im Bereich von 22,7 Terahertz. Die neuen Tasterblöcke haben sich auch gut integriert, wobei die arkonidische Positronikschnittstelle leider darauf besteht, alles in Millitontas statt in Sekunden zu takten. Auf den Betabändern müsste man die Störsignale noch etwas runterregulieren ...«

»Müsste man?«, hakte Kerpen nach.

»Werde ich. Morgen«, präzisierte Doolittle. »Wir sind aber auch so schon bei 117 Prozent vom Sollwert. Solange wir die nächsten Stunden nicht gerade von einem Asteroiden getroffen werden, läuft die Ligatur stabil.«

»Das klingt doch gut. Gibt es Neuigkeiten von unseren vierarmigen Freunden?«

Doolittles Grinsen gefror. »Nicht seit dem Besuch bei Sedna vor zwei Wochen.«

»Gut«, sagte Kerpen abermals, obgleich das Wort einen schalen Geschmack in ihrem Mund hinterließ. Denn nichts an dem Umstand, dass sich nach wie vor Bestien am Rand des Sonnensystems versteckt hielten, war gut – ganz gleich, wie man es drehte und wendete.

Seit Perry Rhodan die Monstren vor einem halben Jahr mit einem Panikschub vertrieben hatte, versteckten sie sich in der Oortschen Wolke. Noch gab es keine Anzeichen, dass sie einen neuerlichen Vorstoß wagten, aber allein die gelegentlichen Sichtungen, die Kerpen und ihr Team zur Erde übermittelten, sorgten für eine gespannte Grundnervosität bei der Raumflotte. Dann hatte man vorletzte Woche eins der Kugelschiffe des Gegners über dem Zwergplaneten Sedna angemessen – nur einen Katzensprung vom Pluto entfernt.

Dies bewies, dass die Bestien nicht bloß weiterhin in der Gegend waren, sie wagten sich langsam, aber sicher auch wieder näher ins System herein und interessierten sich ausgerechnet für jenen Himmelskörper, bei dem sich Anfang des Jahres 2058 ein Transfernexus gebildet hatte – eine Schwachstelle im Raum-Zeit-Gefüge, wo die Barriere, welche diese und die fremde Dimension der Crea voneinander trennte, besonders dünn geworden war und zu reißen drohte. Die Pluto-Multiortungsanlage wurde wieder einmal ein wichtiger Baustein der Systemverteidigung. Eine frühzeitige Entdeckung von Bestienaktivitäten mochte im Zweifel über Tod und Leben entscheiden.

Deshalb war eine außerplanmäßige Rekalibrierung nötig geworden – die Spezifikationen zur gewünschten Effizienzsteigerung stammten direkt aus Terrania. Die kurze Ausfallzeit behagte Kerpen zwar nicht, es ließ sich aber nicht ändern. Nach dem Neustart würde ihnen nicht mal mehr das Husten eines Bestienflohs entgehen.

»Gut«, sagte sie ein drittes Mal. »Ich werfe Ihnen jetzt Ihr Paket ab.«

»Besten Dank«, antwortete Doolittle. »Und Grüße an die Kollegen auf Nix. Wer hat da gerade Dienst? Wissen Sie, Kerpen – wenn man so allein hier draußen sitzt, nur mit ein paar Dosen Bohnen zur Gesellschaft, vergisst man manchmal fast, dass ...«

»Bis bald, Doolittle.« Sie kappte die Verbindung und Doolittles holografischer Kopf platzte wie eine Seifenblase. Kopfschüttelnd klinkte sie das kleine Paket aus, das von einem Minicomputer und ein paar Steuerdüsen sicher ins Ziel gebracht werden würde, und setzte Kurs auf Nix.

Ihre Gedanken, während sie abwesend nach ihrem Tee griff und die Musik wieder lauter drehte, galten der unfasslichen Weite vor ihrer Panzerplastkuppel.

Was ging dort draußen vor?

Sedna umkreiste die Sonne auf einer extrem elliptischen Umlaufbahn. Seinen sonnennächsten Punkt würde der Zwergplanet in knapp zwanzig Jahren erreichen: gut achtzig Astronomische Einheiten – zwölf Milliarden Kilometer – waren immer noch etwa doppelt so weit von der Sonne entfernt wie Pluto. Zum sonnenfernsten Punkt trug es Sedna fast tausend AE aus dem Sonnensystem heraus. Verglichen mit der Distanz bis zur hunderttausend AE entfernten Oortschen Wolke – fast der halbe Weg bis nach Alpha Centauri! – lag das trotzdem noch praktisch auf ihrer Türschwelle.

Nein, beschloss Edwina Kerpen abermals, nichts an der Gegenwart der Bestien da draußen war gut. Und das trübte ihr die Stimmung an diesem sonst so herrlichen Tag im Schatten von Pluto; schlimmer noch, es trübte ihr die Freude an ihrer Arbeit, die eigentlich einmal in der ungestörten Erforschung von Gravitationswellen und der Natur der Raum-Zeit und des Universums bestanden hatte.

Sie beschleunigte die Space-Disk im Takte der Musik und sandte den Bestien im Geiste ein paar Verwünschungen zu, bei denen selbst Johnny Cash hellhörig geworden wäre.

Dann schwenkte sie in einen engen Orbit um den grob fünfzig Kilometer großen Nix ein und funkte ihre Grußbotschaft zur Station.

2.

Nathalies Tagebuch

9. September 2058

Liebe Ansa,

mein Name ist Nathalie Rhodan da Zoltral, und ich bin acht Jahre alt. Neun in vierundachtzig Tagen. Aber das weißt du ja, denn ich habe dich ausgedacht. János schlug das vor – János ist mein Trainer. Er will, dass ich diese Briefe schreibe, weil ich gesagt habe, dass ich kein Tagebuch führe, weil ich das doof finde. Ich brauche kein Tagebuch, denn ich weiß ja, was passiert ist, und muss es nicht aufschreiben. Also hat er gesagt, ich soll es jemand anderem aufschreiben. Ich habe gefragt, wem, und er hat gesagt, denk dir was aus. Also hab ich dich ausgedacht.