Perry Rhodan Neo 244: Iratio - Rüdiger Schäfer - E-Book

Perry Rhodan Neo 244: Iratio E-Book

Rüdiger Schäfer

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Beschreibung

Das Jahr 2090: Ein halbes Jahrhundert nachdem die Menschheit ins All aufgebrochen ist, bildet die Solare Union die Basis eines friedlich wachsenden Sternenreichs. Aber die Sicherheit der Menschen ist gefährdet: durch interne Konflikte und externe Gegner, zuletzt durch das mysteriöse Dunkelleben. Eigentlich hat Perry Rhodan gehofft, diese Gefahr gebannt zu haben. Doch überall dort, wo der skrupellose Iratio Hondro aktiv ist, bleibt das Dunkelleben eine Bedrohung. Welche Schicksalsschläge und Einflüsse haben Hondro zum erbitterten Widersacher von Perry Rhodan gemacht? Wie hat er die unheimlichen Kräfte erlangt, mit denen er sich ganze Planeten untertan machen kann? Während Hondro zum entscheidenden Schlag ausholt, der ihn zum Alleinherrscher der Menschheit machen soll, wirft der Plophoser einen Blick zurück auf sein Leben. Alles begann mit der Leidensgeschichte eines Jungen namens IRATIO ...

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Band 244

Iratio

Rüdiger Schäfer

Cover

Vorspann

Prolog

1. Quito, 2056

2. Quito

3. Quito

4. Quito, 2057

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

15. 2082

16.

17.

18.

19.

Epilog

Impressum

Das Jahr 2090: Ein halbes Jahrhundert nachdem die Menschheit ins All aufgebrochen ist, bildet die Solare Union die Basis eines friedlich wachsenden Sternenreichs. Aber die Sicherheit der Menschen ist gefährdet: durch interne Konflikte und externe Gegner, zuletzt durch das mysteriöse Dunkelleben.

Eigentlich hat Perry Rhodan gehofft, diese Gefahr gebannt zu haben. Doch überall dort, wo der skrupellose Iratio Hondro aktiv ist, bleibt das Dunkelleben eine Bedrohung. Welche Schicksalsschläge und Einflüsse haben Hondro zum erbitterten Widersacher von Perry Rhodan gemacht? Wie hat er die unheimlichen Kräfte erlangt, mit denen er sich ganze Planeten untertan machen kann?

Während Hondro zum entscheidenden Schlag ausholt, der ihn zum Alleinherrscher der Menschheit machen soll, wirft der Plophoser einen Blick zurück auf sein Leben. Alles begann mit der Leidensgeschichte eines Jungen namens IRATIO ...

Prolog

Die Flucht mit dem Dolphin war – wenngleich nur knapp – gelungen. Die Außenbeobachtungsholos in der engen Zentrale des Raumboots zeigten die langsam kleiner werdende Kugel von Olymp. Der im Weltraum bei der Freihandelswelt installierte Situationstransmitter befand sich gerade in einer seiner aktiven Phasen. Der rot glühende Reifen aus ionisiertem Helium-3 war selbst aus dieser Entfernung deutlich zu erkennen. Iratio Hondro hatte den Anblick des Ganglions, der hyperenergetischen Verlängerung des Transmitterhalbraumkanals, in den vergangenen Jahren schon oft am Himmel über Trade City bestaunt.

Nachdenklich hob er seine linke Hand und betrachtete den unförmigen Klumpen aus einer schwarzen, sirupartigen Substanz, der auf den ersten Blick wie ein primitiver Fäustling wirkte. Erst bei näherem Hinsehen fiel auf, dass sich der Klumpen bewegte. Lange, hauchzarte Fäden schoben sich wie Spinnweben über die leicht glänzende Oberfläche, unter der hin und wieder ein Stück rotes Fleisch zum Vorschein kam. Schmerzen hatte Iratio nicht. Er spürte nur ein sanftes, nicht unangenehmes Kribbeln, das seinen kompletten Arm erfasst hatte und bis in die Schulter reichte.

Ich regeneriere mich, sinnierte er. So wie bei einer Eidechse der Schwanz nachwächst, bildet sich bei mir eine neue Hand aus. Erstaunlich ...

Die Erinnerung an den Kampf gegen den Baphomet war noch frisch. Die Kreatur hatte ihn fasziniert. Wenn alles erst einmal vorbei war, wenn er seinen Plan vollendet hatte und die Menschheit unter seiner Herrschaft ihren rechtmäßigen Platz im Universum einnahm, würde er sich auch um Andromeda kümmern. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, diese großartigen Soldaten der Meister der Insel wiederzubeleben.

Wo die Hand in den Arm überging, sah Iratio bereits neu gebildete Haut. Sogar die winzigen Härchen, die dort früher gewachsen waren, waren schon wieder vorhanden. Zwei, höchstens drei Stunden noch – dann hatte er seine Hand zurück. Er bewegte probehalber das Gelenk; es fühlte sich noch etwas steif an, aber das würde sich geben.

Der Einsatz auf Olymp war nicht in allen Aspekten nach Wunsch verlaufen, aber seine wesentlichen Ziele hatte er erreicht. Nun konnte er ein wenig ausruhen. Nicht lange, aber lange genug, um Kräfte für den finalen Vorstoß zu sammeln. Die Köder waren ausgelegt. Alle Spielfiguren waren an ihren Positionen. Perry Rhodan und seine Freunde hatten nicht den Hauch einer Ahnung, was auf sie zukam.

Iratio atmete tief ein und wieder aus. In seinem Kopf flüsterten die unzähligen Gedankenstimmen der Menschen und Außerirdischen im Castorsystem. Er verzichtete darauf, sich auf einzelne davon zu konzentrieren, sie aus der Wolke herauszufiltern und sich von ihren kleinlichen Sorgen und Nöten, ihrer Selbstgefälligkeit und Unvernunft langweilen zu lassen. In der Masse waren sie erträglich. Einzeln brachten sie ihn aus der Fassung.

Individualität. Freiheit. Iratio lachte spöttisch. Diese Ideale, an die Perry Rhodan offenbar so fest und unverbrüchlich glaubte, existierten in Wahrheit gar nicht. Einzigartigkeit und Selbstbestimmung machten den Menschen Angst. Zumindest den allermeisten.

Menschen wollten geführt werden. Sie wollten Sicherheit, einen bescheidenen Wohlstand, ein planbares Leben ohne Unwägbarkeiten und Überraschungen. Wer ihnen das garantierte, dem leckten sie bereitwillig die Stiefel. All das Gefasel über geistige Entfaltung und kulturelles Wachstum war nichts als heiße Luft. Menschen waren dumm und bequem. Punkt.

Diese Erkenntnisse hatte Iratio keineswegs nur theoretisch verinnerlicht. Sie beruhten auf seiner Erfahrung und dem langjährigen Studium der menschlichen Natur. Wenn man über einen halbwegs funktionierenden Intellekt verfügte, konnte man zu gar keinen anderen Schlüssen gelangen.

Er drehte seine unförmige Hand hin und her. An ihrer Spitze konnte er bereits schmale Erhebungen erkennen, die sich zu Fingern ausbildeten. Ja, die menschliche Natur. Hybris und Nemesis zu gleichen Teilen, an der sich Wissenschaftler und Philosophen vergeblich abgearbeitet hatten. Nicht so er selbst, denn er hatte einen einzigartigen und ganz besonderen Zugang zum Thema.

Er war kein Wissenschaftler.

Er war kein Philosoph.

1.

Quito, 2056

Obwohl Iratio Hondro nur einen sehr leichten Schlaf hatte, wusste er im ersten Augenblick nicht, warum er aufgewacht war. Um ihn herrschte bedrückende Schwärze. Er wartete ein paar Sekunden, in denen er intensiv in die Stille lauschte. Nach und nach gewöhnten sich seine Augen an die Lichtverhältnisse, und erste Konturen schälten sich aus der Dunkelheit.

Der dünne Stoff der Vorhänge filterte das matte Orange der Straßenlaternen zu einem milchigen Schleier, der wie Nebel durch das kleine Zimmer kroch und die Welt seltsam unwirklich erscheinen ließ. Es musste bereits weit nach Mitternacht sein. In der Ferne waren hin und wieder Sirenen zu hören – und das leise Rauschen des Verkehrs auf der Avenida Diez de Agosto, das man irgendwann nicht mehr bewusst wahrnahm.

Einen Moment lang glaubte er, noch immer zu schlafen und einen besonders realistischen Traum zu haben, doch dann hörte er die wütende Stimme seines Vaters. Sie kam von unten aus dem winzigen Wohnzimmer und drang beinahe ungedämpft durch die dünnen Holzwände und -decken des Apartments bis zu ihm herauf.

»Zwing mich nicht, mich zu wiederholen, vaca maldita!« Es folgte ein dumpfes Klatschen, bei dem Iratio zusammenzuckte. Dann der spitze Schrei einer Frau.

»Hör auf zu flennen, pícara, und mach, was ich dir gesagt habe, verdammt!« Der Junge zog die Beine eng an den Körper und die Decke bis zum Kinn. Nein, er träumte nicht. Das war die Realität in einer Aufführung, wie er sie nicht zum ersten Mal erlebte. Vater spielte dabei stets die Hauptrolle. Lediglich die Nebenrollen wurden alle paar Wochen neu besetzt.

Iratio schloss die Augen, doch er wusste aus Erfahrung, dass er nun nicht mehr würde einschlafen können. Bewegungslos kauerte er auf der dünnen Matratze, während sich in seinem Kopf die Gedanken jagten.

Du wirst nicht aufstehen und nachschauen!, befahl er sich energisch. Diesmal nicht. Auf gar keinen Fall. Du weißt ganz genau, was da unten passiert. Und du weißt auch, dass er dich grün und blau schlägt, wenn er dich entdeckt!

Eine Träne löste sich aus seinem Augenwinkel und rollte ihm über die Wange bis zum Kinn. Sofort zwickte er sich mit aller Kraft in das weiche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand. Der Schmerz war brutal, aber er brachte ihn zur Besinnung. Hör auf zu flennen. Das sagte Vater auch immer zu Iratio. Vater hasste Schwächlinge. Und noch mehr hasste er es, wenn sich sein einziger Sohn wie ein Schwächling benahm.

Ohne es wirklich zu wollen, stand Iratio auf, und wie immer war es so, als würde ihn ein geheimnisvoller Marionettenspieler an unsichtbaren Schnüren lenken. Er war ihm hilflos ausgeliefert, musste sich den Zügen und Drehungen der dünnen Seile fügen, obwohl er wusste, dass sie ihn geradewegs ins Verderben führten.

Iratio fröstelte. Er trug lediglich ein dünnes T-Shirt und eine kurze Hose. Vater erlaubte nur selten, die Heizung anzustellen, denn das kostete Geld. Geld, das er für den Aguardiente brauchte, den er jeden Tag in sich hineinschüttete. Die von ihm bevorzugte Sorte des in ganz Ecuador beliebten Zuckerrohrschnapses war zwar billig, aber bei den Mengen, die er konsumierte, reichte die schmale Staatsrente dafür trotzdem nicht annähernd aus.

»Ja ...«, hörte er seinen Vater sagen. Seine Stimme klang nun deutlich weicher ... beinahe fröhlich. »So ... ist es gut ...«

Iratio spürte Gänsehaut an seinen Armen. Er hatte schon öfter gesehen, was dort unten geschah, auch wenn er es nicht vollständig verstand. Immerhin war Vater danach meistens in besserer Stimmung. Er trank dann häufig noch eine halbe Flasche Schnaps, bevor er auf dem fleckigen Sofa einschlief und den Rest der Nacht vor sich hin schnarchte.

Langsam, Stufe für Stufe, bewegte sich der Junge die Treppe hinab. Dabei achtete er sorgfältig darauf, die drei knarrenden Tritte im Mittelteil der Stiege zu meiden. Seine nackten Füße fühlten sich schon nach kurzer Zeit wie Eisklumpen an; sein Gesicht dagegen schien in Flammen zu stehen, und sein Herz klopfte so schnell und hart, dass er überzeugt war, die Schläge müssten wie Gewitterdonner durch die Dunkelheit dröhnen. Jeden Moment würde Vater sie hören.

Als Iratio das Ende der Treppe erreichte, duckte er sich. Die schmale Diele lag im Dämmerlicht der Wohnzimmerlampe, die lediglich aus einer staubigen Glühbirne an der Decke bestand. Aus der Küche drang ein milchiger Schimmer. Wahrscheinlich hatte Vater sich wie immer ein Bier geholt und dabei die Kühlschranktür nicht richtig geschlossen. Meistens gab der altersschwache Kompressor des Geräts nach ein paar Minuten einfach den Geist auf, und natürlich war am nächsten Morgen Iratio schuld daran, dass die wenigen Lebensmittel verdorben und – noch viel schlimmer – das Frühstücksbier warm war. Noch bevor er den Kompressor wieder zusammenflicken durfte, setzte es deshalb erst mal eine Tracht Prügel.

Er überlegte kurz, ob er hinüberhuschen und die Kühlschranktür schließen sollte, entschied sich jedoch dagegen. Um in die Küche zu gelangen, musste er die gesamte Breite der Diele durchqueren. Die Gefahr, dass er dabei entdeckt wurde, war viel zu groß – und die Schläge, die er für unerlaubtes Herumstreunen in der Nacht zu erwarten hatte, würden weitaus schlimmer ausfallen als die sonst übliche Bestrafung.

Warum schleichst du dann überhaupt hier herum, fracasado?, fragte eine lästige Stimme in seinem Verstand. Warum legst du dich nicht wieder ins Bett und wartest, bis er eingeschlafen ist?

Iratio wusste es nicht. Vorsichtig schob er den Kopf um den Pfosten des Treppengeländers und spähte in Richtung Wohnzimmer. Links des bogenförmigen Durchgangs konnte er den fleckigen Polstersessel sehen. Das riesige Sitzmöbel war der Lieblingsplatz seines Vaters und an zahllosen Stellen mit Isolierband geflickt, um das Herausquellen der Füllung zu verhindern. Daneben stand ein schlichter Holztisch, beinahe vollständig mit Bier- und Schnapsflaschen bedeckt; die meisten davon leer. Der uralte Trividwürfel war von Iratios Position aus nicht zu erkennen. Lediglich das Flackern an den Wänden verriet, dass er eingeschaltet war. Der Ton war so leise, dass Iratio ihn nur als dumpfes Murmeln vernahm.

Vater saß breitbeinig auf dem Sofa. Die muskulösen Arme ruhten auf der Rückenlehne. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt und die Augen geschlossen. Über sein rotes Gesicht mit dem ungepflegten Fünftagebart spielte ein seliges Lächeln. Sein Atem ging schwer und keuchend.

Vor ihm kniete eine Frau, die Iratio nicht kannte. Vater brachte immer mal wieder Frauen mit, die er, sofern er sich überhaupt zu einer Vorstellung herabließ, als »Freundinnen« bezeichnete. Keine davon blieb länger als ein paar Tage. Und keine von ihnen kam jemals wieder.

Die aktuelle Besucherin hatte lange, schwarze Haare, die ihr bis weit über die Schultern fielen. Sie trug ein dünnes Hemdchen mit schmalen Trägern. Einer davon war ihr über die Schulter gerutscht und bewegte sich nun im Takt ihrer rhythmischen Bewegungen den Arm entlang. Erst ein kleines Stück nach oben, dann wieder ein kleines Stück nach unten. Hoch ... runter ... hoch ... runter ...

Die Frau war schrecklich mager. Ihre Arme, die sie links und rechts auf Vaters Oberschenkel gelegt hatte, bestanden nur aus Haut und Knochen. Iratio hockte einfach da und beobachtete. Natürlich wusste er, was da vor sich ging; schließlich war er schon sieben Jahre alt. Er verstand nur nicht, warum Erwachsene so etwas Seltsames machten. Wenn man genauer darüber nachdachte, war es eigentlich furchtbar komisch, vor allem am Ende, wenn Vater grunzte wie ein Hausschwein und heftig nach Luft schnappte. Sofern ihm sein Leben lieb war, durfte Iratio trotzdem nicht lachen.

Wenige Minuten später war alles vorbei. Die dürre Frau erhob sich, griff nach einer noch zu einem guten Drittel gefüllten Schnapsflasche und schüttete sich deren Inhalt in den Mund, als wäre er Wasser. Vaters Kopf ruckte nach oben. Iratio erstarrte. Er kannte das Funkeln in den Augen des Manns nur zu gut. Im nächsten Moment war Vater schon aufgesprungen, das Gesicht vor kochender Wut verzerrt.

Seine rechte Faust schoss nach vorn und traf die Frau mit voller Wucht am Kopf. Ihr schmächtiger Körper wurde nach hinten geschleudert. Sie schrie, stieß gegen den Tisch, kam ins Straucheln und stürzte zu Boden – gemeinsam mit mindestens der Hälfte der dort stehenden Flaschen, die mit lautem Klirren zu Bruch gingen. Vater stieß ein Brüllen aus, das kaum noch etwas Menschliches an sich hatte. Er war zwar ein großer und schwerer Mann mit einem nicht unbeträchtlichen Bauch, doch wenn er wollte, konnte er ziemlich schnell sein. Noch bevor die Frau sich wieder aufgerappelt hatte, war er bereits über ihr, packte sie an den Haaren und riss sie brutal auf die Beine. Ihr kurzzeitiges Kreischen brach sofort ab, als sie einen zweiten Schlag direkt in den Magen kassierte.

»Perra estúpida!«, herrschte Vater sie an. »Das war die letzte Flasche! Hab ich dir etwa erlaubt, mir meinen Stoff wegzusaufen? Na los: Antworte mir, wenn ich dich etwas frage!«

Die Frau versuchte hektisch, von ihrem Peiniger wegzukommen, rutschte jedoch auf dem Teppich aus Glassplittern, Bier- und Schnapsresten aus. Außerdem steckten ihre Füße in Schuhen mit furchtbar hohen Absätzen, was ihre Fluchtbemühungen zusätzlich erschwerte. Zuerst glaubte Iratio, dass sie sich – wie die meisten von Vaters »Freundinnen« – die Zehennägel rot lackiert hatte. Dann sah er genauer hin und begriff, dass sie sich an den Scherben verletzt hatte und blutete.

»Por amor de Dios!«, stieß der bullige Mann hervor. Er hatte die Hand noch immer in die Haare der Frau verkrallt und zog sie nun dicht zu sie heran. Als er weitersprach, versprühte er einen Regen aus Speicheltröpfchen, die im schwachen Licht des Trivids wie winzige Perlen glänzten. »Wer glaubst du eigentlich, dass du bist? Ich werde dich lehren, einem hart arbeitenden Mann seinen letzten Schnaps zu stehlen ...«

Erst da bemerkte Iratio, dass die Frau noch immer die Flasche in der rechten Hand hielt, aus der sie kurz zuvor getrunken hatte. Oder zumindest das, was noch von ihr übrig war, denn in dem ganzen Durcheinander war auch dieses Gefäß zerbrochen und bestand nur noch aus ein paar spitzen Scherben und dem Flaschenhals, den die Finger der Frau so fest umkrampften, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten. Als Vater ausholte, um ein weiteres Mal zuzuschlagen, stieß sie zu.

Iratio biss sich mit aller Kraft in die Faust, als die scharfen Glassplitter Vaters Wange zerfetzten. Plötzlich war überall Blut. Es tropfte aus Vaters Gesicht, lief an seinem Kinn und Hals herab und besudelte das ehemals weiße Unterhemd.

Diesmal brüllte Vater nicht. Er schnaufte nur. Dann griff er mit der freien Hand hinter seinen Rücken, und im nächsten Moment blitzte sein Ausbeinmesser auf, ein Andenken an die Zeit, als er noch im Schlachthof gearbeitet hatte. Iratio wusste, dass die kurze, sanft gebogene Klinge rasiermesserscharf war. Vaters Lippen verzogen sich zu einem grausamen Lächeln.

Die Frau hatte die zerbrochene Flasche fallen lassen. Vermutlich hatte sie gar nicht mit Absicht, sondern rein instinktiv gehandelt, hatte sich lediglich vor einem weiteren brutalen Schlag ihres Peinigers schützen wollen. Nun wirkte sie wie gelähmt. Ihre Augen waren glasig und weit aufgerissen.

»Das wirst du bereuen, coño«, drohte Vater zischend und strich ihr mit dem Messer über die bleiche Haut des Halses. Mit einer kaum wahrnehmbaren Bewegung durchtrennte er den Träger des inzwischen ebenfalls blutbefleckten Hemds und entblößte dadurch ihre rechte Brust. »Ich werde dich ganz langsam ...«

»Nein!«, schrie Iratio.

Während die lästige Stimme in seinem Verstand ihn einen Narren schalt, sprang Iratio aus der Deckung und rannte auf seinen Vater zu. Ebenso wie er nicht hätte erklären können, warum er überhaupt sein Bett verlassen hatte und nach unten gekommen war, konnte er diesmal nicht sagen, was ihn zum Eingreifen veranlasste. Niemals zuvor in seinem Leben hatte er solche Furcht empfunden. In seinem Innern fochten nackte Panik und absolute Klarheit einen erbarmungslosen Kampf miteinander aus, einen Kampf, bei dem es nur Verlierer geben würde. Wenn Vater der Frau etwas Schlimmes antat, wenn er seiner Wut nachgab, sie womöglich sogar umbrachte, verlor Iratio sein Zuhause. Ein erbärmliches, dreckstarrendes und niederdrückendes Zuhause, sicher, aber das einzige Zuhause, das er kannte.

»Qué diablos ...?« Das überraschende Auftauchen des Jungen schien den gereizten Mann tatsächlich für ein paar Sekunden zu beruhigen. Die Hand mit dem Messer sank herab. Er ließ den Haarschopf seines Opfers los, das wie leblos zu Boden sackte und hysterisch zu schluchzen begann.

Vater sah furchtbar aus. Die Wunde in seinem Gesicht blutete noch immer, doch das kümmerte ihn offenbar nicht. Die Verblüffung, die seinen Jähzorn ein paar Atemzüge lang im Zaum gehalten hatte, verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Und diesmal projizierte er die neu erwachte Wut auf seinen Sohn.

Iratio verspürte einen scharfen Schmerz, als er das Wohnzimmer betrat und sich einige der überall verteilten Scherben in die weiche Haut seiner Fußsohlen bohrten. Zeit, hierüber nachzudenken, bekam er jedoch nicht. Die riesige Pranke seines Vaters packte ihn am linken Arm und schleuderte ihn zur Seite. Ein hässliches Knacken ertönte, als wäre jemand im Wald auf einen Ast getreten. Iratio prallte gegen die am Boden kauernde Frau. Der Schmerz im Arm war mörderisch, aber kein Laut entrang sich seiner Kehle.

Hör auf zu flennen, hörte er die lästige Stimme in seinem Kopf. Diesmal hatte sie den Tonfall seines Vaters. Wenn Iratio weinte, würde das Vaters Zorn nur noch verstärken.

»Verschwinde!«, flüsterte Iratio der Frau zu. »Los, hau ab, oder er bringt dich um ...«

Für einen kurzen Moment schien die Zeit stillzustehen, und Iratio konnte das von Tränen, Rotz und verlaufenem Lidschatten verschmierte Gesicht der Frau betrachten. Sie war jung, viel zu jung für das, womit sie ihr Geld verdiente, doch ihre Augen gehörten einer Greisin. Ihre Lippen zitterten. Anscheinend wollte sie etwas sagen, überlegte es sich dann jedoch anders, sprang auf und rannte davon. Iratio sah noch, wie sie das Wohnzimmer verließ, die Diele entlanghetzte und die Apartmenttür aufriss. Dann war sein Vater heran und griff wieder zu.

Diesmal konnte der Junge ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. Sein Arm musste gebrochen sein; es fühlte sich an, als würde Iratio von einem unglaublich heißen Feuer sehr langsam verzehrt werden.

»Tut es weh, pequeña mierda?«, fragte Vater höhnisch. Sein nach Schnaps und Knoblauch stinkender Atem ließ Iratio würgen. Aber Iratio bettelte nicht, denn er wusste, dass das alles nur schlimmer machen würde.

»Du sollst mich doch nicht wütend machen ...« Iratio spürte, wie sich ihm eine Hand des Manns um den Hals legte. Er bekam kaum noch Luft, strampelte verzweifelt mit Armen und Beinen, doch gegen die Kraft des erwachsenen Manns kam er nicht an. Dann sah er das Messer vor Vaters grinsendem Gesicht. »Wenn ich wütend bin, tue ich Dinge, die ich nicht tun will«, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wann begreifst du das endlich, imbécil?«

Als die Klinge in seine Wange drang, spürte der Junge nur eine seltsame Kälte. Der Schmerz in seinem Arm überstrahlte alles, doch die Angst, die das Messer auslöste, verlieh ihm auf einmal Kräfte, von denen er niemals geglaubt hätte, dass sie in ihm steckten. Irgendwie schaffte es Iratio, seine rechte Faust zu befreien. Und er schlug zu. Mit aller Kraft. Genau dorthin, wo die Frau seinen Vater vor wenigen Minuten mit der Flasche erwischt hatte.

Vater zuckte zurück, als hätte ihn eine Pistolenkugel getroffen. Sein Heulen zeugte von Überraschung, Wut und Schmerz zugleich. Iratio biss die Zähne zusammen und kämpfte sich auf die Beine. Sein Körper fühlte sich an, als müsste er jeden Moment zerplatzen wie ein zu weit aufgeblasener Luftballon. Er stolperte aus dem Zimmer in die Diele. Kurz bevor er das Haus verließ, drehte er sich noch einmal um. Sein Vater hockte auf dem Boden neben seinem Sessel und hielt sich stöhnend die blutende Wange.

»Hör auf zu flennen!«, schrie Iratio Hondro ihm halb lachend, halb weinend entgegen.

2.

Quito

Diesmal war Iratio Hondro sicher, dass er träumte. Er stand an einer steil abfallenden Küste. Links und rechts türmten sich graue Felsen zu einem zerklüfteten Wall auf, der den heranbrandenden Wogen eines mächtigen Ozeans seit Jahrtausenden trotzte. Brecher um Brecher krachte gegen den vom Wasser geschliffenen Stein und erzeugte jedes Mal eine meterhohe Wolke aus Gischt, die ein heftiger Sturm bis hinauf über die Klippen trug.

Iratio schmeckte das Salz auf seiner Zunge. Dann entdeckte er die Frau. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und gefährlich nah am Abgrund. Ihr dunkles Haar wurde vom Wind in alle Richtungen geweht. Es sah aus wie ein fremdartiges Lebewesen mit unzähligen dünnen Armen, das sich verzweifelt an sie klammerte und sich auf ihrem Kopf zu halten versuchte.

Der Junge streckte die Hand aus. Er wollte die Frau warnen, ihr zurufen, dass sie zurücktreten müsse, bevor sie von einer der starken Böen erfasst und über die Felskante geblasen würde. Doch der Sturm riss ihm die Worte von den Lippen. Vielleicht sprach er sie auch gar nicht wirklich aus, denn seine Ohren vernahmen nur das Heulen und Fauchen des Unwetters, das mit jeder Sekunde schlimmer zu werden schien.

Die Frau streckte die Arme zur Seite, als wollte sie ein Paar Flügel spreizen und sich in die Luft erheben. Ihr langes, weißes Kleid flatterte wie eine Fahne. Iratio musste etwas tun, aber er konnte sich nicht bewegen, sosehr er es auch wollte. Als die Frau den Kopf drehte und den Blick auf ihn richtete, erkannte er sie. Vor ihm, auf der sturmumtosten Klippe, stand ... seine Mutter. Er hatte sie nie kennengelernt, denn sie war nach der Rückkehr der Memeterarche AVEDANA-NAU zur Erde gestorben – zusammen mit einigen Zehntausend anderen, die die lange Reise und den biologischen Tiefschlaf aus diversen Gründen nicht überlebt hatten. Alles, was Iratio von ihr geblieben war, waren ein paar Holoaufnahmen.

»Mamá ...«, rief er gegen den Wind an.

Doch sie ignorierte ihn und drehte ihm wieder den Rücken zu. Ein oder zwei Sekunden verstrichen in quälender Langsamkeit. Dann kippte die Frau wie in Zeitlupe nach vorn. Für einen kurzen Moment war Iratio von der irrigen Hoffnung erfüllt, dass sie tatsächlich fliegen könnte, dass sie davonschweben, eine kurze Runde drehen und neben ihm landen würde, um ihn in die Arme zu schließen. Doch natürlich geschah das nicht.

Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich der Junge endlich in Bewegung setzen konnte. Seine Augen suchten die Felslandschaft ab, die von einem blassen Mond nur unzureichend erhellt wurde. Die Frau war verschwunden, als hätte es sie nie gegeben.

Du bist schuld!, brüllte die lästige Stimme in ihm so laut, dass sein Kopf zu zerspringen drohte. Du hättest sie aufhalten können und hast nichts getan. Sie ist wegen dir gestorben!

»Nein ...« Das Wort tropfte zäh und widerwillig aus seinem Mund, während sich der Regen mit seinen Tränen vermischte. »Nein ... ich ... Ich war doch noch ein Kind ...«

Er erwachte mit einem Schrei, fuhr hoch ... und spürte eine Hand auf seiner heißen Stirn, die ihn niederdrückte.

»Ruhig, mein Kleiner«, sagte eine raue, jedoch eindeutig weibliche Stimme. »Dich hat es ziemlich heftig erwischt. Aber keine Sorge. Du bist jung und stark. Das kriegen wir wieder hin.«

Iratio ließ sich zurücksinken. Er blinzelte, weil er seine Umgebung nur verschwommen erkennen konnte. Erst nach und nach klärte sich sein Blick.

Er lag in einer Art Zelt, das mit einer Unzahl von Dingen vollgestopft war. Stapel aus Folienzeitungen, zerschlissene Decken und Tücher, Eimer und Kisten mit undefinierbaren Inhalten und eine Menge Kram, den die meisten Menschen auf den ersten und häufig auch auf den zweiten Blick als Unrat bezeichnet hätten.

Iratios Lager bestand aus einer zerschlissenen Matratze, die – dem Rascheln bei jeder Bewegung nach zu urteilen – mit Zeitungsfolien ausgepolstert war. Sein Kopf ruhte auf einem ebenfalls mit Zeitungen gefüllten Sack aus grobem Leinen, der einmal Kaffeebohnen enthalten hatte. Es roch nach heißer Suppe; überhaupt herrschte im Innern des Zelts eine wohlige Wärme.

»Wo ... Wo bin ich?«, stellte der Junge die naheliegendste Frage.

Die unbekannte Frau an seiner Seite lachte leise. »La Floresta«, antwortete sie dann. »In der Nähe der Neuen Universität. Von hier haben uns die Oficiales bisher noch nicht vertrieben. Zumindest nicht aus den Randgebieten.«

La Floresta? Iratios Verstand kam nur schwerfällig in Gang. Das war das Künstlerviertel von Quito. Eine ehemalige Touristenhochburg, die sich in den vergangenen Jahrzehnten mehr und mehr zu einem Sammelbecken für Aussteiger, Maler, Musiker, Artisten und alle Sorten von Leuten entwickelt hatte, die kreativ, weltoffen und modern waren oder sich zumindest dafür hielten. Die meisten hatten mindestens ein halbes Dutzend gescheiterter Karrieren auf allen möglichen Gebieten hinter sich und fanden in dem Areal, das von alten Häusern mit bunten Fassadenbildern und unzähligen kleinen Läden und Galerien dominiert wurde, eine billige Bleibe und die Zeit, sich neu zu orientieren. In diese Gegend hatten sich irgendwann auch die Desamparados verirrt, die Obdachlosen der Stadt, nachdem man sie nach und nach aus den hellen und citynahen Bezirken verscheucht hatte. Zu ihnen gehörte wohl auch die Frau.

Als sich Iratio diesmal – deutlich vorsichtiger – aufrichtete, hielt ihn seine Gastgeberin nicht zurück. Er stützte sich auf die Ellbogen und musterte die ältere Frau, die neben ihm hockte und ihn mit einem verhärmt wirkenden Gesicht anlächelte. Sie trug ein Potpourri aus Röcken, Pullovern, Jacken und Schals, das sie etwa doppelt so beleibt aussehen ließ, wie sie tatsächlich war. Ihre grauen Haare steckten größtenteils unter einer verblichenen Schirmmütze mit dem Logo von El Nacional, einer beliebten Fußballmannschaft aus Ecuadors Hauptstadt.

»Ich habe dich halb bewusstlos und beinahe erfroren in einem Hauseingang in der Rafael Leon gefunden. Lass mich raten: Du bist von zu Hause weggelaufen, stimmt's?«

Iratio nickte. Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber auf jeden Fall nicht gelogen.

Die Frau schlug die dünne Decke zurück, die sie über ihn gelegt hatte. Erst da bemerkte der Junge, dass sein gebrochener Arm mit einer schmalen Kunststoffleiste geschient war. Instinktiv fuhr er sich mit der Rechten an die Wange, wo ihn Vater mit dem Messer verletzt hatte, und ertastete einen dicken Verband. Der Schnitt war tief gewesen und hatte stark geblutet. Wahrscheinlich war er der Grund, warum er schließlich umgekippt war. An die letzten Minuten vor seiner Ohnmacht konnte er sich nur noch sehr verschwommen erinnern.

»Wer war das?«, wollte die alte Frau wissen und deutete auf seine Blessuren. »Dein Vater?«