Perry Rhodan Neo 274: Alaskas Odyssee - Rüdiger Schäfer - E-Book + Hörbuch

Perry Rhodan Neo 274: Alaskas Odyssee E-Book und Hörbuch

Rüdiger Schäfer

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Beschreibung

Vor sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither ist die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen und hat fremde Welten besiedelt. Dann werden die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3 versetzt. Als Rhodan diesen Vorgang rückgängig machen will, verschlägt es ihn mit dem Raumschiff SOL 10.000 Jahre in die Vergangenheit. Nach seiner Heimkehr stellt er fest: Die Überschweren mit ihrem Anführer Leticron haben die Welten der Menschen sowie weitere Sternenreiche erobert. Beim Zeitsprung der SOL in die Zukunft hat ein Techniker namens Alaska Saedelaere die entscheidende Arbeit geleistet, ist aber in der Vergangenheit gestrandet. Sein Weg führt ihn durch das arkonidische Imperium, das in einen erbitterten Krieg verstrickt ist. Nach vielen Schicksalsschlägen erkennt Saedelaere seine kosmische Bestimmung – alles beginnt mit ALASKAS ODYSSEE ...

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Seitenzahl: 218

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Zeit:5 Std. 40 min

Sprecher:Axel Gottschick

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Band 274

Alaskas Odyssee

Rüdiger Schäfer

Cover

Vorspann

1. Rold Skov

2. Storkat

3. Warten auf den Tod

4. Gerettet

5. Ankunft

6. Abschied und Suche

7. Zwischenspiel auf Tuglan

8. Flucht ins Glück

9. Goldene Jahre

10. Jäger und Gejagte

11. Sturz in den Abgrund

12. Schicksalhaftes Wiedersehen

13. Metamorphose

14. Nebenwirkungen

15. Der Mann mit der Maske

16. Begegnung auf Aequestra

17. Vor dem großen Schlaf

18. Über Jahrtausende

Impressum

Vor sieben Jahrzehnten ist der Astronaut Perry Rhodan auf Außerirdische getroffen. Seither ist die Menschheit zu den Sternen aufgebrochen und hat fremde Welten besiedelt. Dann werden die Erde und der Mond in den fernen Kugelsternhaufen M 3 versetzt.

Als Rhodan diesen Vorgang rückgängig machen will, verschlägt es ihn mit dem Raumschiff SOL 10.000 Jahre in die Vergangenheit. Nach seiner Heimkehr stellt er fest: Die Überschweren mit ihrem Anführer Leticron haben die Welten der Menschen sowie weitere Sternenreiche erobert.

Beim Zeitsprung der SOL in die Zukunft hat ein Techniker namens Alaska Saedelaere die entscheidende Arbeit geleistet, ist aber in der Vergangenheit gestrandet. Sein Weg führt ihn durch das arkonidische Imperium, das in einen erbitterten Krieg verstrickt ist.

Nach vielen Schicksalsschlägen erkennt Saedelaere seine kosmische Bestimmung – alles beginnt mit ALASKAS ODYSSEE ...

1.

Rold Skov

Einen traurigen Mann erdulde ich,

aber kein trauriges Kind.

Jean Paul

(terranischer Schriftsteller, 1763–1825)

»Sei vorsichtig, Alaska«, mahnte Bente Saedelaere. »Der Boden ist ziemlich uneben. Wenn du ins Rutschen kommst, kannst du dir übel wehtun.«

»Ja, ja«, gab der Junge ungeduldig zurück, wurde jedoch nicht langsamer.

Saedelaere seufzte leise und beeilte sich, seinem Sohn zu folgen. Der stürmte in halsbrecherischem Tempo den Hügel hinab und hielt auf eine Ansammlung steinerner Stelen zu. Jeden Moment würde er aus dem Gleichgewicht geraten, stürzen und sich verletzen. Wenn sie Pech hatten, mussten sie ihren Ausflug sogar abbrechen, und natürlich würde ihm Alma die Hölle heißmachen, weil Bente nicht besser aufgepasst hatte.

Doch Alaska stürzte nicht. Er erreichte die Steinreihe, schwang sich mit erstaunlichem Geschick auf einen der gewaltigen Felsblöcke und riss triumphierend die Arme in die Luft.

»Erster!«, rief er begeistert. »Du hast verloren, Papa! Verloren!«

Bente lächelte. Als er Alaska erreicht hatte, ließ er den schweren Rucksack von den Schultern gleiten und betrachtete die lange Reihe von Steinquadern, die sich von einer Seite der Lichtung zur anderen zogen. Die meisten wiesen eine Kantenlänge von drei bis vier Metern auf. Viele waren mit Sternmoos, Thymian und Silberwurz bewachsen. Stumme Zeugen einer längst vergangenen Zeit.

»Komm da bitte runter, Alaska«, sagte er. »Diese Steinreihen wurden vor vielen Tausend Jahren von unseren Vorfahren errichtet. Wir wissen nicht genau, warum, aber vielleicht waren sie von großer kultureller Bedeutung. Möglicherweise ist das ein Friedhof, und du kletterst gerade auf einem Grabstein herum.«

»Echt?« Hastig rutschte der Junge von seiner erhöhten Position hinab und sprang ins weiche Gras. Es war später Nachmittag. Am Morgen hatte es geregnet, und die Sonne hielt sich nach wie vor hinter einer dichten, grauen Wolkendecke verborgen.

»Echt«, bestätigte Bente mit ernstem Blick, jedoch innerlich amüsiert. »Man vermutet, dass diese Strukturen mindestens sechstausend Jahre alt sind. Damals gab es weder Baumaschinen noch Antigravprojektoren. Was meinst du: Wie haben die Leute diese tonnenschweren Brocken wohl bewegt?«

Alaska legte den Kopf schief und zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, antwortete er. »Vielleicht waren sie so stark wie Ertruser. Oder Haluter ...«

Bente lachte. »Wohl kaum. Aber ich mag deine kreative Denkweise.«

Alaska sah ihn an und grinste. Bente Saedelaere grinste zurück. Dann schlug er seinem Sohn so kräftig auf den Rücken, dass er nach vorn taumelte und sich an dem Felsquader abfangen musste, um nicht doch noch hinzufallen. Sofort ging er wieder auf Abstand, als habe er sich die Finger an dem feucht glänzenden Stein verbrannt.

»Du brauchst keine Angst zu haben«, sagte Bente. »Wer auch immer diese Brocken einst hierhergeschleppt hat, kann dir nichts mehr tun.«

»Ich habe keine Angst!«, stieß Alaska energisch hervor.

»Natürlich nicht.« Bente lächelte erneut. »Tut mir leid.«

»Was machen wir jetzt, Papa?«

»Wir suchen nach einem geeigneten Platz für die Nacht, bauen unser Zelt auf und schlagen uns die Bäuche mit Mamas leckeren Frikadellen und Smørrebrød voll.«

Für einen Moment hellte sich Alaskas Miene auf. Dann sah er sich misstrauisch um. »Aber nicht hier!«

»Glaubst du etwa, dass die Toten unter ihren Steinblöcken hervorkriechen und auf die Jagd nach frischem Menschenfleisch gehen, sobald es dunkel wird?« Bente streckte die Arme nach vorn und tapste mit dem typisch schwankenden Gang eines Filmzombies auf den Jungen zu.

»Hör auf.« Alaska machte ein paar Schritte rückwärts und verzog das Gesicht. »Du bist schon wieder peinlich, Papa!« Wie Bente wusste, war peinlich das aktuelle Lieblingswort seines Sohns. Er benutzte es bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit.

»Du hast nun mal einen peinlichen Vater«, sagte er vergnügt, brach seine Laiendarstellung eines Untoten jedoch ab. »Leb damit!«

Minuten später waren sie wieder unterwegs. Bente hatte ein paar Aufnahmen mit seinem Tablet angefertigt, damit er seinen Studenten zu Hause etwas zeigen konnte. Die zum Gerät gehörende, separat einsetzbare Mini-Drohne lieferte gestochen scharfe 3-D-Luftbilder der Umgebung. Dieser Teil des Rold Skov, des größten zusammenhängenden Waldgebiets in Dänemark, beherbergte neben der Steinreihe, die sie gerade besichtigt hatten, noch drei weitere solcher Anordnungen, die allerdings kreisförmig aufgebaut waren und zwischen fünf und zehn Metern durchmaßen. Bente Saedelaere glaubte nicht ernsthaft, dass es sich dabei um Friedhöfe handelte. Vermutlich waren es eher Kultstätten gewesen, wo die damaligen Menschen ihre Götter verehrt und angebetet hatten.

Alaska war bereits in den Wald eingedrungen, der an dieser Stelle hauptsächlich aus uralten Rold-Buchen bestand. Die mächtigen Bäume standen dicht an dicht und bildeten mit ihren ausladenden Kronen ein Dach, welches das ohnehin kaum vorhandene Sonnenlicht filterte.

»Leg die Stirnlampe an, und schalt sie ein, Junge!«, rief Bente seinem Sohn zu. Vor ihm flammte ein Lichtpunkt auf, der hektisch hin und her tanzte – für Bentes Geschmack merklich zu weit entfernt. »Und bleib in meiner Nähe! Das meine ich ernst!«

Alaska war schon immer ein lebhaftes Kind gewesen. Kaum hatte er laufen gelernt, hatte er bereits ausgiebig von dieser neuen Fähigkeit Gebrauch gemacht. Die Frage »Wo ist Alaska?« war im Hause Saedelaere lange Jahre wohl die mit Abstand am meisten gestellte gewesen. Und der Grund dafür war stets, dass der Junge sich wieder mal unbemerkt aus dem Staub gemacht hatte.

Eine gute Stunde später fanden Vater und Sohn eine geeignete Stelle in der Nähe eines schmalen Wasserlaufs. Die Bäume standen dort nicht ganz so eng beieinander. Durch mehrere Lücken im Blattwerk konnten sie den grauen Himmel erkennen. Das letzte Licht des Tages fiel auf von Laub bedeckten Untergrund.

»Ich kümmere mich um das Zelt.« Bente schaltete die große Campinglampe ein. »Du sammelst Holz. Und nimm nur das, was du am Boden findest, klar? Es wird nichts abgebrochen oder abgeschnitten.«

»Ich weiß.« Alaska klang nicht besonders begeistert. »Die Natur hat uns nichts getan, also brauchen wir sie auch nicht zu verletzen.«

»Na bitte«, zeigte sich Bente Saedelaere zufrieden. »Ab und an hörst du mir also doch zu. Und bleib in der Nähe!«

»Du wiederholst dich, Papa«, gab Alaska zurück und stapfte davon.

Bente sah ihm noch ein paar Sekunden lang nach, dann zog er die Stangen und Planen des Kuppelzelts aus dem Rucksack. Es war mehr als fünfzig Jahre alt und hielt dem Vergleich mit neuartigen, sich selbst entfaltenden Modellen aus federleichten Kunststoffen und mit integriertem Klimaaggregat nicht mal im Ansatz stand. Aber es war das Zelt, mit dem Bente schon mit seinem Vater die Wälder Dänemarks erkundet hatte.

Er lehnte die moderne Technik nicht ab. Allerdings war er der Meinung, dass man durch ihren allzu bedenkenlosen Gebrauch die Verbindung zu seinen Ursprüngen verlor. Die Natur wurde so zu einem Störfaktor, den man bekämpfte und immer weiter zurückdrängte. Vor vierzig Jahren hatte die Erde deshalb kurz vor dem ökologischen Kollaps gestanden, und wenn Perry Rhodan 2036 nicht die Arkoniden auf dem Mond getroffen und ihre überlegene Technologie vereinnahmt hätte, würde es nun womöglich keine Menschheit mehr geben – oder zumindest keine Zivilisation.

Fünf Minuten später rollte er die letzte Nylonplane über das Zeltskelett aus Fiberglas. Er trat zurück und betrachtete sein Werk zufrieden. Als er in seinem Rücken Schritte hörte, drehte er sich um und sah seinen Sohn, der schnaufend und mit einer stattlichen Zahl von Ästen und Zweigen in den Armen auf ihn zukam.

»Gut gemacht«, lobte er. »Möchtest du das Feuer anzünden?«

»Darf ich?«, fragte Alaska.

»Na klar. Du hast schließlich auch das Holz gesammelt. Wir werden es vorher allerdings ein wenig trocknen müssen ...«

Die Nacht brach schnell herein. Sie saßen am Feuer, wärmten die Frikadellen, die Alma ihnen eingepackt hatte, an langen Ästen über den Flammen und aßen die reich belegten Butterbrote dazu.

Besser wird es nicht mehr, dachte Bente, und ihm wurde ein bisschen wehmütig ums Herz. Wie schnell doch die Zeit verging! Wie viele solcher Ausflüge konnte er wohl noch mit Alaska unternehmen? Zwei? Drei? In ein paar Jahren würde der Junge ohne Frage andere Interessen haben. Schnelle Gleiter, Simulatorspiele – und natürlich Mädchen. Dann würde eine Expedition in die Wälder Dänemarks an der Seite seines Vaters kein Abenteuer mehr sein, sondern ein lästiges Übel, das man bestenfalls aus Gefälligkeit oder Rücksicht erduldete.

»Papa?« Alaska hatte den Kopf in den Nacken gelegt und starrte zum Himmel hinauf.

Das Feuer war heruntergebrannt und die Wolkendecke aufgerissen. Über ihnen funkelte ein beeindruckender Sternenhimmel, ein Anblick, den man in der Stadt niemals zu sehen bekam.

»Ja?«, gab Bente zurück.

»Warum sind du und Mama niemals da raufgeflogen?« Er deutete mit der rechten Hand nach oben.

Bente Saedelaere überlegte ein paar Sekunden lang. »Es bestand keine Notwendigkeit«, sagte er dann. »Wir waren immer glücklich. Und das genau dort, wo wir waren. Verstehst du das?«

Fast eine Minute verstrich, in der Alaska den Kopf nicht senkte. »Ich glaube nicht, Papa«, brach er schließlich das Schweigen. »Ich bin auch glücklich. Aber eines Tages ... Eines Tages will ich zu den Sternen fliegen!«

*

Alaska Saedelaere erwachte mitten in der Nacht und musste dringend aufs Klo. Vorsichtig, um seinen Vater nicht zu wecken, schälte er sich aus dem Schlafsack. Er schlüpfte in seine Hose, zog Strümpfe und Schuhe an und tastete nach seinem Anorak. Handschuhe und Mütze hatte er in die Taschen der dicken Jacke gesteckt.

Bente Saedelaere brummte unwillig und wälzte sich von einer Seite auf die andere. Alaska erstarrte in der Bewegung. Zehn Sekunden später setzte das leise Schnarchen seines Vaters wieder ein.

Der Junge öffnete den Reißverschluss des Zelts; das Geräusch klang unnatürlich laut.

Der Wald empfing ihn mit Dunkelheit und Kälte. Im Aschehaufen des Lagerfeuers glommen ein paar letzte Holzreste in mattem Orange. Über ihm rauschten die vom Wind gepeitschten Baumkronen. Alaska legte das elastische Band der Stirnlampe an und schaltete sie ein. Der scharf gebündelte Strahl tauchte ein kleines Stück des Walds in beinahe grelles Licht. Dafür erschien der Rest der Umgebung umso finsterer.

Er justierte die Lampe, reduzierte ihre Leistung und stellte den winzigen Drehregler auf breiteste Streuung. Er lauschte in die Nacht hinein. Von seinem Vater wusste er, dass es im Rold Skov eine Menge Tiere gab: Hirsche, Rehe, Dachse, Füchse. Allerdings waren sie ungefährlich, wenn man sie in Ruhe ließ, und die meisten nahmen Reißaus, wenn man sich ihnen näherte.

Da und dort knackte es, als würden dünne Zweige brechen. Manchmal raschelte es auch im Laub. Wahrscheinlich Mäuse, Eichhörnchen oder Igel, die durchs Unterholz huschten.

Nun mach schon!, feuerte er sich an. Wie lange willst du noch hier rumstehen? Er musste wirklich dringend; es tat schon richtig weh.

Bleib in der Nähe, hörte er die Stimme seines Vaters in seinem Kopf. Er warf einen letzten Blick auf das Zelt und die fast erloschene Feuerstelle.

Dann ging er los. Langsam. Schritt für Schritt, die Ohren gespitzt und bereit, jederzeit und auf der Stelle umzukehren. Er dachte an Emil, seinen besten Freund. Alaska hatte Papa gefragt, ob Emil sie auf ihrem Campingausflug begleiten dürfe, und Bente hatte nichts dagegen gehabt. Dafür aber Emils Vater, der Alaska aus irgendeinem Grund nicht leiden konnte. Zumindest glaubte Alaska das.

Mit Emil an seiner Seite wäre er sogar ohne Furcht durch den düsteren Wald gegangen. Sein Freund war ziemlich dick, aber unglaublich stark. Selbst Noah und Malthe, die beiden größten und lautesten Jungen in seiner Klasse, trauten sich nicht mehr, Emil wegen seines Gewichts zu hänseln. Sie hatten es einmal versucht und sich dabei blutige Nasen geholt.

Aber Emil war nicht da. Nur er allein. Und die Angst. Wer wusste schon, was im Rold Skov alles lauerte? Alaska kannte hierüber viele gruselige Geschichten aus dem »Human Community Mesh«. Dieses sogar interstellare Daten- und Kommunikationsnetz hatte das alte irdische Evernet inzwischen weitgehend abgelöst. Doch auch im Jahr 2069 gab es nach wie vor Orte auf der Erde, wo Monster lebten.

Das ist weit genug, dachte er und blieb stehen. Vor ihm ragte der graue Stamm einer riesigen Rold-Buche auf. Ihre schartige Rinde schimmerte. Alaska drehte sich einmal langsam im Kreis und öffnete dann seine Hose. Das kurz darauf ertönende Plätschern hatte etwas Beruhigendes – und die Erleichterung, die ihn dabei durchströmte, vertrieb die Furcht zumindest für den Augenblick.

Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis er fertig war. Er wippte ein paarmal in den Knien und musste unwillkürlich grinsen, weil er sich daran erinnerte, was Emil bei solchen Gelegenheiten immer sagte. Da hilft kein Schütteln und kein Klopfen – stets in die Hose geht der letzte Tropfen.

Alaska drehte sich um und machte sich auf den Rückweg. Wie spät mochte es wohl sein? Vielleicht zwei oder drei Uhr. Die Sonne würde erst in ein paar Stunden aufgehen. Obwohl er für sein Geschäft höchstens zehn Minuten gebraucht hatte, spürte er bereits, wie die Kälte durch den Anorak drang. Er freute sich darauf, zurück ins Zelt zu kommen und wieder in seinen warmen Schlafsack kriechen zu können.

Das Gelände fiel leicht ab. Das war seltsam, denn er hatte auf dem Hinweg keine Steigung wahrgenommen. Er blieb kurz stehen, doch eine Orientierung war unmöglich; die Bäume sahen alle gleich aus.

Bleib bloß locker, ermahnte er sich. Du bist nur geradeaus gegangen. Wenn du also auf geradem Weg die Gegenrichtung einschlägst, kann gar nichts passieren.

Er ging weiter. Sein Atem kam stoßweise und kondensierte zu weißen Wölkchen, die sich schnell wieder verflüchtigten. Kondensation hatten sie gerade in der Schule durchgenommen. Das, was er da sah, war das gasförmige Wasser in seiner warmen Atemluft, das die kalte Umgebung nicht vollständig aufnehmen konnte und das sich deshalb zu mikroskopisch kleinen Tröpfchen verflüssigte und sichtbar wurde. Dieses Prinzip machte man sich zum Beispiel in Dampfkraftwerken zunutze. Da Alaska sich – zum Leidwesen seines Vaters – mehr für Technik als für Geschichte interessierte, hatte er viel darüber gelesen.

Diese Gedanken lenkten ihn ein bisschen ab, aber die Angst wurde dennoch mit jedem Schritt größer. Fünf Minuten später konnte er es nicht länger leugnen: Er hatte sich verlaufen!

Wie um alles in der Welt hatte das passieren können? Eigentlich war es praktisch unmöglich, sich auf der Erde zu verirren – vor allem, wenn man sein Komband am Handgelenk trug. Alaska betastete seinen nackten linken Unterarm. Wie meistens hatte er das Gerät vor dem Schlafengehen abgelegt.

Ruhig bleiben!, dachte er. Das war in so einer Situation das Allerwichtigste. So hatte es ihm sein Vater zumindest eingeschärft. Wenn du in einem Wald nicht mehr weißt, wo du bist, suche nach Wegmarkierungen an Bäumen, nach großen Forstwegen, denen du folgen kannst, nach Strommasten, die meist zurück in die Zivilisation führen. Vielleicht sind Auto- und Motorengeräusche zu hören, Kirchenglocken, im besten Fall sogar Stimmen. Aussichtspunkte oder Hochsitze kannst du nutzen, um zu schauen, ob du andere Zeichen der Zivilisation ausmachen kannst.

Alaska blieb einmal mehr stehen und lauschte angestrengt. Das Zelt konnte unmöglich weiter als ein paar Hundert Meter entfernt sein. Vielleicht stieß er durch Zufall auf den schmalen Wasserlauf und konnte mit dessen Hilfe zurückfinden. Aber Hoffnung allein half ihm im Moment nicht weiter. Da die Furcht seinen Stolz längst besiegt hatte, begann er laut zu rufen.

»Hej? Hej? Far? Kan du høre mig?«

Spontan war er ins Dänische gewechselt. In vielen Mitgliedsländern der Terranischen Union sprach man inzwischen die Weltsprache Englisch, doch Bente Saedelaere war äußerst traditionsbewusst und hatte darauf bestanden, dass sein Sohn neben dem Interkosmo als gängige Zweitsprache auch das Idiom seiner Vorfahren lernte; ein Wunsch, den Alaska aufgrund der allgegenwärtigen Translatoren für sinnlos hielt. Gefügt hatte er sich trotzdem.

Keine Antwort. Nur das Rauschen, Knistern, Rascheln und Knacken des Walds. Was sollte er tun? Am besten war es wohl, wenn er an Ort und Stelle blieb bis es hell wurde. Sobald sein Vater bemerkte, dass Alaska verschwunden war, würde er die Mini-Drohne seines Tablets losschicken. Die würde Alaska binnen weniger Minuten aufspüren. Und bis dahin ...

Er fror inzwischen jämmerlich. Sich einfach nur hinzusetzen und zu warten, kam deshalb nicht infrage. Er musste sich bewegen. Also zog er die Mütze tief ins Gesicht und fing an, im Kreis um eine der riesigen Buchen zu gehen. Die Stirnlampe ließ er brennen. Ihre Energiezelle reichte selbst bei höchster Leistung noch für mindestens acht Stunden. Bis dahin stand längst die Sonne am Himmel.

Wie kann man nur so dämlich sein?, rügte er sich, während er zitternd durch das knöcheltiefe Laub stapfte. Die Wut half ein wenig gegen die Angst und die Kälte. Sich beim Pinkelngehen verlaufen. Das war so was von ... peinlich! Wenn Emil das erfuhr, würde er ihn damit mindestens bis zum Abschlussball aufziehen. Alaska würde seinen Vater zu absolutem Stillschweigen verpflichten und ihn schwören lassen, diese Episode selbst Mama zu verschweigen. Außerdem würde er ...

Der Schatten huschte am Rand seines Sichtfelds vorbei. Er fuhr herum, doch da war bereits nichts mehr. Dennoch war er sicher, etwas gesehen zu haben. Eine Gestalt!

»Papa?«, fragte er zögernd. Rauschen. Knistern. Rascheln. Knacken. Sonst nichts. Wenn das wirklich sein Vater gewesen war, würde er doch nicht schweigen, oder?

In diesem Moment sah er den Schatten erneut – und diesmal bestand kein Zweifel mehr. Da stand jemand. Die dunkle Silhouette zeichnete sich schwach, aber klar sichtbar zwischen zwei Baumstämmen ab. Sie wirkte schlank und hatte eine ausgeprägte Taille. Eine Frau? Dann bewegte die Gestalt den Kopf und wandte ihm ihr Gesicht zu.

2.

Storkat

Wir verstehen das Leben nicht.

Wie sollen wir dann das Wesen des Todes erfassen?

Konfuzius

(terranischer Philosoph, 551–479 v. Chr.)

Später wusste Alaska Saedelaere nicht mehr zu sagen, wie lange er ziellos durch den Wald gestolpert war. Er war mehrmals gestürzt und hatte sich dabei ein paar blutige Schrammen geholt, doch den Schmerz spürte er nicht. Zu frisch war der Eindruck der beiden silbern schimmernden, leicht schräg stehenden Augen, mit denen ihn das Monster so plötzlich und direkt angestarrt hatte.

Der Schädel der fremden Kreatur hatte nichts Menschliches an sich gehabt. Im Streulicht der Stirnlampe hatte Alaska so etwas wie Fell erkannt. Dazu spitze Ohren und ausladende Wangenknochen wie bei Raubkatzen. Mehr hatte es nicht gebraucht.

Irgendwann zwang ihn das Seitenstechen zum Innehalten. Er stützte sich an einem Baum ab und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. Dann schaltete er die Stirnlampe aus. Mit dem Ding machte er sich nur zur leichten, weil schon von Weitem sichtbaren Beute für das schreckliche Katzenwesen. Er versuchte sich zu erinnern, ob er jemals etwas über Raubkatzen im Rold Skov gelesen hatte, kam aber zu keinem eindeutigen Ergebnis.

Alaska entdeckte ein nahes Gebüsch, kroch darunter und hielt die Luft an. Hatte das Monster seine Spur verloren? Wenn ja, brachte ihm das nicht sonderlich viel. Durch seine kopflose Flucht war er noch tiefer in den Wald geraten. Damit waren die Chancen, seinen Vater und das Zelt vielleicht doch wiederzufinden, praktisch auf null gesunken.

Die Kälte war nun allgegenwärtig. Seine Hände fühlten sich wie zwei Eisblöcke an, obwohl sie in Handschuhen steckten. Dennoch wagte er nicht, das Gebüsch zu verlassen. Was, wenn die Katzenfrau nur darauf wartete? Was, wenn sie ganz in der Nähe lauerte und die Umgebung beobachtete? Mit ihren Katzenaugen konnte sie bestimmt auch im Dunkeln sehen.

Storkat!

War da nicht dieser Artikel auf einem der lokalen Nachrichtenportale gewesen? In den vergangenen Jahrzehnten waren im Rold Skov immer wieder einheimische Wanderer und Touristen verschwunden. Ihre Leichen hatte man nie gefunden. Die Behörden gingen davon aus, dass sie sich verlaufen hatten und von Tieren gefressen worden waren. Allerdings gab es auch Berichte, dass sich dort Luchse angesiedelt hätten. Dank der arkonidischen Technologie hatte sich die Natur in vielen Regionen der Erde nach und nach erholt. Viele, teilweise sogar als ausgestorben gegoltene Tierarten waren in ihre früheren Lebensräume zurückgekehrt und erneut heimisch geworden.

Storkat – die große Katze. Hatte er es damit zu tun? Aber die Gestalt, die er gesehen hatte, war aufrecht gegangen wie ein Mensch. Er wusste natürlich, dass es auf fremden Planeten Lebewesen gab, die sich von den Menschen unterschieden. Sie hatten zwar einen humanoiden Körper mit Armen und Beinen, sahen aber sonst ganz anders aus. Die Topsider zum Beispiel mit ihren Echsenschädeln. Oder die Blues mit ihren Tellerköpfen. Er hatte auch Bilder von den Gurrads gesehen, die Perry Rhodan einst in der Zwerggalaxis Sagittarius getroffen hatte. Ihre Köpfe erinnerten an terranische Löwen, und die Katzenfrau hatte eine entfernte Ähnlichkeit mit ihnen. Trotzdem glaubte Alaska nicht, dass er es mit einer Gurrad zu tun hatte.

Schon nach wenigen Minuten – oder waren bereits Stunden vergangen? – zitterte er am ganzen Körper. Seine Zähne schlugen heftig aufeinander, er presste die Lippen zusammen. Schließlich hielt er die Kälte nicht mehr aus. Es raschelte furchtbar laut, als er aus dem Gebüsch kroch und sich aufrichtete.

Die Schwärze war einem milchigen Grau gewichen. Noch verbarg sich die Sonne hinter einem unsichtbaren Horizont, doch sie schickte bereits ihre ersten zaghaften Boten voraus.

Ich werde erfrieren, dachte er und lief abermals los.

Bäume, nichts als Bäume. Dazwischen immer wieder moosbedeckte Haufen aus Totholz, wild wuchernde Efeu- und Rankengewächse sowie Unmengen halb verfaultes Laub. Vereinzelt trat blanker Felsboden zutage, der aus Kalkstein bestand und mit dafür verantwortlich war, dass die örtliche Vegetation so üppig gedieh. Im Rold Skov wurde zudem keine Forstwirtschaft betrieben. Man ließ den Wald einfach in Ruhe. Wer ihn betreten wollte, musste sich anmelden, und die Verwaltung achtete sorgsam darauf, dass die festgelegten Besucherzahlen nicht überschritten wurden.

Alaska spürte seine Füße nicht mehr. Auch die Finger in den Handschuhen waren taub, und zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er nicht bis zum Morgen durchhalten würde.

Vielleicht kann ich ein Feuer machen, dachte er verzweifelt. In irgendeiner der historischen Dokumentationen, die er sich dank seines Vaters oft ansehen musste, hatten Menschen durch das Aufeinanderschlagen von Steinen und das Aneinanderreiben von Holzstöcken Flammen entfacht. Aber schon nach den ersten zaghaften Versuchen gab Alaska wieder auf. Er fand nicht mal trockenes Brennmaterial. Der zwischen den Bäumen aufgezogene Nebel hatte alles mit einem dünnen Wasserfilm überzogen.

Die Katzenfrau stand so plötzlich vor ihm, als sei sie aus dem Boden gewachsen. Diesmal gab es keinen Zweifel mehr: Es handelte sich eindeutig um eine Frau. Die dreieckigen, an den Spitzen leicht gerundeten Ohren standen aufrecht. Unter der rosafarbenen Nase vibrierten lange Schnurrhaare, und die Augen muteten an wie schwarze Ellipsen, die auf runden Seen aus Silber schwammen.

Alaska war wie gelähmt. Alles in ihm schrie danach, davonzurennen, doch er konnte sich einfach nicht bewegen. Selbst dann nicht, als die Katzenfrau den Mund öffnete und zwei Reihen nadelspitzer Zähne offenbarte.

»Sekat ni tom varibaar!«, sagte sie. Es waren Wörter, auch wenn Alaska sie nicht verstand. Sie waren mit niederschwelligen Schnurrlauten durchsetzt, aber eindeutig als Bestandteile einer Sprache identifizierbar.

Er wollte antworten, etwas sagen, doch ebenso wie seine Glieder war offenbar auch seine Zunge paralysiert. Er konnte nur dastehen und die Fremde anstarren.

Nun erst fiel ihm auf, dass die Storkat eine Art Overall mit zahlreichen Riemen und Taschen trug. Der graue Stoff schimmerte silbrig – wie ihre Augen. Die Füße steckten in schwarzen Stiefeln, die bis über die Knie reichten.

»Tega ni ogatam«, sagte die Katzenfrau und ging in die Hocke. Sie streckte Alaska beide Hände entgegen. Sie hatten jeweils fünf fellbedeckte Finger, an deren Enden er die Spitzen eingefahrener Krallen erkannte.

Der Junge zögerte. Was wollte die Storkat von ihm? Wenn sie ihn hätte töten wollen, hätte sie das längst tun können. Aber daran glaubte Alaska nicht mehr. Die Fremde vor ihm war kein Monster, das im Wald lebte und unschuldige Wanderer umbrachte, um sie zu fressen. Monster trugen keine Kleidung und redeten in einer fremden Sprache. Aber was war sie dann? Ein Produkt seiner Phantasie? Ja, das klang plausibel. Er hatte Angst und war halb erfroren. Vielleicht war er längst unter irgendeinem Baum eingeschlafen. Und nun saugte die Kälte die letzten Reste seiner Lebensenergie aus ihm heraus, und er träumte wirres Zeug.

»Bist du wirklich da?«, fragte er leise.

»Ni hara tom varibaar«, antwortete die Storkat.

Alaska machte einen Schritt auf die Katzenfrau zu. Und dann noch einen. Sie legte ihre Arme um ihn und zog ihn eng an sich. Sofort spürte er die wohlige Wärme ihres Körpers ... die streichelnde Hand in seinen Haaren.

»Tura me«, hörte er ihre schnurrende Stimme dicht neben dem rechten Ohr. »Tura ni kama.«

Alaska schloss die Augen und schlang seinerseits die Arme um die Fremde. Sie hob ihn auf. Mühelos, als wöge er nur ein paar Kilogramm. Sie bettete seinen Kopf auf ihre Schulter und strich ihm beruhigend über den Rücken. Das Zittern hörte auf. Die Kälte floh. Tränen liefen über Alaskas Wangen. Wenn das der Tod war, war er bereit.

Er erwachte von lautem Hundegebell. Es dauerte lange Sekunden, bis er begriff, wo er war. Er lag auf einem provisorischen Lager aus trockenem Laub. Am Fuß einer riesigen Rold-Buche. Ihm war warm, und er fühlte sich wohl.

»Alaska!«

Der Schrei seines Vaters ließ ihn zusammenzucken. Er sprang auf, blickte in die Richtung, von wo der Ruf gekommen war. Bente Saedelaere kam mit weiten Sätzen auf ihn zu, packte ihn und drückte ihn so fest an sich, dass er keine Luft mehr bekam.

»Mein Gott, Junge!«, rief sein Vater in einer Mischung aus Lachen und Weinen. »Wo hast du denn nur gesteckt? Wir haben den ganzen Wald nach dir abgesucht ...«