Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nach Hirnschädigung - Angelika Thöne-Otto - E-Book

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nach Hirnschädigung E-Book

Angelika Thöne-Otto

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Beschreibung

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen treten häufig nach einer Schädigung oder Erkrankung des Gehirns auf. Die betroffenen Patienten reagieren schnell gereizt, können soziale Regeln schwer einhalten oder wirken apathisch und teilnahmslos. Durch dieses Verhalten bringen sie nicht nur Therapeuten an ihre Grenzen und beeinträchtigen den Rehabilitationsverlauf, sondern es führt auch häufig zum Auseinanderbrechen von Partnerschaften und sozialen Beziehungen und gefährdet die berufliche Teilhabe. Um Verständnis für das Verhalten der betroffenen Patienten zu schaffen, bietet dieses Buch eine begriffliche Einordnung und leitet aus den zugrunde liegenden neuronalen Mechanismen und neuropsychologischen Störungstheorien differenzierte Diagnostik- und Therapieempfehlungen ab. Es werden zunächst typische Verhaltensauffälligkeiten beschrieben und eine begriffliche Einordnung in fünf Verhaltenscluster (Verletzen sozialer Regeln, gestörtes Kommunikationsverhalten, mangelnde Empathie, Apathie und reduzierte Impulskontrolle) vorgeschlagen. Auf dieser Basis werden diagnostische Verfahren und Dokumentationshilfen vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt auf der Erläuterung der therapeutischen Methoden und Herangehensweisen, wobei Verhaltensmodifikation und Ressourcenorientierung in Hinblick auf die neuropsychologischen Besonderheiten angepasst werden. Typische therapeutische Strategien werden gezielt und pragmatisch für die wichtigsten Verhaltensstörungen erläutert und auf dem Hintergrund der wissenschaftlichen Evidenz beleuchtet. So gewinnen Neuropsychologen und andere Berufsgruppen, die in der neurologischen Rehabilitation oder in Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen tätig sind, ein besseres Verständnis für hirnorganisch bedingte Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen und verbessern ihre therapeutische Kompetenz im Umgang mit diesen Patienten.

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Angelika Thöne-Otto

Anne Schellhorn

Conny Wenz

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nach Hirnschädigung

Fortschritte der Neuropsychologie

Band 18

Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen nach Hirnschädigung

Dr. Angelika Thöne-Otto, Dipl.-Psych. Anne Schellhorn, Dipl.-Psych. Conny Wenz

Herausgeber der Reihe:

Dr. Angelika Thöne-Otto, Prof. Dr. Herta Flor, Prof. Dr. Siegfried Gauggel, Prof. Dr. Stefan Lautenbacher, Dr. Hendrik Niemann

Dr. phil. Angelika Thöne-Otto, geb. 1964. 1985–1991 Studium der Psychologie in Würzburg. 1995 Promotion an der Universität Bielefeld und University of Arizona. Langjährige Tätigkeit als Klinische Neuropsychologin und Psychologische Psychotherapeutin an der Tagesklinik für kognitive Neurologie am Universitätsklinikum Leipzig sowie am MPI für Kognitions- und Neurowissenschaften Leipzig. Forschungsschwerpunkte: Neuropsychologische Therapie von Gedächtnis- und Exekutivfunktionsstörungen und frühen Demenzerkrankungen, Chancen der Digitalisierung für die neuropsychologische Therapie.

Dipl.-Psych. Anne Schellhorn, geb. 1964. 1984–1991 Studium der Psychologie in Freiburg. Langjährige Tätigkeit als Neuropsychologin in der Klinik Bavaria Schaufling und München-Bogenhausen. Seit 2013 in eigener Praxis niedergelassen. Arbeitsschwerpunkte: Behandlung hirnorganisch bedingter Verhaltensstörungen, soziales Kompetenztraining für Menschen mit erworbener Hirnschädigung.

Dipl.-Psych. Conny Wenz, geb. 1962. 1982–1989 Studium der Psychologie in Freiburg. Langjährige Tätigkeit als Neuropsychologin in den Kliniken Rheinfelden (CH) und München-Bogenhausen. Seit 1997 in eigener Praxis niedergelassen. Arbeitsschwerpunkte: Neuropsychologische Therapie und Psychotherapie.

Wichtiger Hinweis: Der Verlag hat gemeinsam mit den Autoren bzw. den Herausgebern große Mühe darauf verwandt, dass alle in diesem Buch enthaltenen Informationen (Programme, Verfahren, Mengen, Dosierungen, Applikationen, Internetlinks etc.) entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abgedruckt oder in digitaler Form wiedergegeben wurden. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes und der digitalen Produkte können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren bzw. Herausgeber und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Geschützte Warennamen (Warenzeichen) werden nicht besonders kenntlich gemacht. Aus dem Fehlen eines solchen Hinweises kann also nicht geschlossen werden, dass es sich um einen freien Warennamen handelt.

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www.hogrefe.de

Satz: ARThür Grafik-Design & Kunst, Weimar

Format: EPUB

1. Auflage 2018

© 2018 Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, Göttingen

(E-Book-ISBN [PDF] 978-3-8409-2335-7; E-Book-ISBN [EPUB] 978-3-8444-2335-8)

ISBN 978-3-8017-2335-4

http://doi.org/10.1026/02335-000

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Anmerkung:

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Inhaltsverzeichnis

Einführung

1 Beschreibung der Störung und Begriffsdefinition

1.1 Beschreibung typischer Verhaltensauffälligkeiten nach Hirnschädigung

1.1.1 Verletzen sozialer Regeln

1.1.2 Gestörtes Kommunikationsverhalten

1.1.3 Mangelnde Empathie

1.1.4 Apathie

1.1.5 Reduzierte Impulskontrolle

1.2 Epidemiologie, Verlauf und Prognose

1.2.1 Epidemiologie

1.2.2 Verlauf und Prognose

2 Ätiologie

3 Neuropsychologische und Neurobiologische Grundlagen

3.1 Verletzen sozialer Regeln

3.2 Gestörtes Kommunikationsverhalten

3.3 Mangelnde Empathie

3.4 Apathie

3.5 Reduzierte Impulskontrolle

4 Diagnostik

4.1 Klassifikationssysteme

4.1.1 ICD-Klassifikation

4.1.2 DSM-5

4.2 Neuropsychologische Verfahren und Dokumentationshilfen

4.2.1 Anamnese

4.2.2 Verhaltensbeobachtung und Verhaltensanalyse

4.2.3 Verhaltensmessung

4.2.4 Fragebögen

4.2.5 Reaktions- und Entscheidungsaufgaben

4.3 Neuropsychologische Begutachtung

4.4 Differenzialdiagnose

4.4.1 Organisch bedingte Verhaltensstörung versus Anpassungsstörung

4.4.2 Apathie versus Depression

4.5 Von der Diagnostik zur Therapie

5 Therapie – Methoden und ihre Wirkungsweise

5.1 Therapiemethoden

5.1.1 Stimuluskontrolle

5.1.2 Kontingenzmanagement

5.1.3 Selbstmanagement

5.1.4 Kombinierte Verfahren

5.1.5 Angehörigen-/Bezugspersonenarbeit

5.2 Gestörtes Sozial- und Kommunikationsverhalten

5.2.1 Stimuluskontrolle

5.2.2 Kontingenzmanagement

5.2.3 Selbstmanagement

5.3 Mangelnde Empathie

5.3.1 Verhaltens- oder Situationsanalyse

5.3.2 Verhaltensprobe mit Perspektivwechsel

5.3.3 Kontingenzmanagement

5.4 Apathie

5.4.1 Therapiemethoden bei schwerer Antriebsstörung

5.4.2 Therapiemethoden bei leicht- bis mittelgradiger Antriebsstörung

5.4.3 Beratung von Angehörigen

5.5 Reduzierte Impulskontrolle

5.5.1 Stimuluskontrolle

5.5.2 Kontingenzmanagement durch Time-out

5.5.3 Selbstmanagement

5.6 Evidenz

6 Fallbeispiel

6.1 Anamnese

6.2 Befunde

6.3 Therapieziele

6.3.1 Kognitiv-edukative Ziele

6.3.2 Verhaltensziele

6.4 Stationäre Therapie

6.5 Ambulante Therapie

6.6 Fazit

7 Literatur

8 Glossar

|1|Einführung

In den letzten beiden Jahren habe ich meine Aufgaben als Geschäftsführer nicht mehr wahrnehmen können. Eigentlich habe ich nur noch im Büro gesessen, ohne zu arbeiten. Meine Frau hat mir zwar damals vorgeworfen, wie sehr ich mich verändert hätte, aber ich habe das selbst gar nicht gemerkt. Ich habe auch nur noch wenig gesprochen und hatte zu nichts mehr Lust. Ich wollte nur noch meine Ruhe haben. Zwischendurch bin ich regelrecht ausgerastet, habe meine Frau angeschrien und die Türen geknallt. Das kannte ich gar nicht von mir. Dann ging die Firma in die Insolvenz und ich habe es einfach geschehen lassen. Heute denke ich, wenn ich richtig gekämpft hätte, wäre alles nicht so schlimm gekommen.

(62-jähriger Patient über die Zeit vor Diagnose eines 6 cm großen rechts-frontalen Meningeoms)

Hirnschädigungen gehen häufig mit Veränderungen des Verhaltens einher. Dabei handelt es sich oft um Veränderungen in der Wahrnehmung sozialer Situationen, der Motivation und des Antriebs, oder auch um Störungen der Impulskontrolle. Während manche Patienten1 kaum eine Handlung von sich aus beginnen, springen andere von einer Handlung zur nächsten oder tun das Nächstbeste, das ihnen in den Sinn kommt. Obwohl dies zunächst widersprüchlich erscheint, können reduzierter Antrieb und verminderte Impulskontrolle durchaus gemeinsam auftreten. Häufig gehen diese Veränderungen mit eingeschränkter Störungseinsicht einher. Auch das Kommunikationsverhalten kann verändert sein, so verstehen die Patienten z. B. nicht-verbale und subtile Signale sozialer Situationen nicht mehr, und es kommt zu sozialen Konflikten. In der Folge reagieren Patienten deshalb nicht selten mit vermehrter Reizbarkeit und Aggressivität. Die Angehörigen sind durch diese Veränderungen des Verhaltens oft mehr belastet als durch kognitive Störungen oder körperliche Beeinträchtigungen. Sie nehmen Verhaltensstörungen persönlich und es fällt ihnen schwer, die Veränderungen mit der Hirnschädigung in Zusammenhang zu bringen.

Die Verhaltensstörungen treten in der vertrauten Umgebung der Familie oft besonders gravierend zu Tage, während die Patienten in der „Öffentlichkeit“ durchaus sozial angemessen reagieren können. Da die Verhaltensstörungen |2|nicht so offensichtlich sind wie Störungen der Motorik oder der Kognition, werden sie leicht übersehen und in ihrer funktionellen Relevanz unterschätzt. Auch stehen in der Akutphase häufig andere Funktionseinschränkungen (z. B. Schmerzen) im Vordergrund. Erst in der postakuten Phase werden die Verhaltensstörungen dann offenkundig. Gerade die Veränderungen des Verhaltens sind es jedoch, die oft für das Scheitern einer beruflichen Wiedereingliederung oder das Auseinanderbrechen sozialer Beziehungen verantwortlich sind.

In diesem Band sollen Verhaltensstörungen nach einer Hirnschädigung näher beschrieben, funktionell-neuroanatomische Modelle zu ihrer Erklärung vorgestellt und die diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten erläutert werden.

Obwohl Änderungen des Verhaltens häufig im Kontext mit anderen psychischen Störungen wie Angst und Depression auftreten und auch wissenschaftlich untersucht werden, wird dieser Band sich auf die Änderungen des Verhaltens nach einer erworbenen Hirnschädigung oder -erkrankung konzentrieren. Neuropsychologische Veränderungen in Zusammenhang mit Depressionen werden an anderer Stelle in der Reihe Fortschritte der Neuropsychologie ausführlich vorgestellt (Beblo & Lautenbacher, 2006).

Charakteristisch für die meisten organisch bedingten Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen ist die eingeschränkte Krankheitswahrnehmung der Betroffenen. Man spricht auch von Anosognosie oder Unawareness. Vertiefende Ausführungen zu diesem Thema finden sich in dem Band „Störungen der Krankheitseinsicht“ (Gauggel, 2016) in der Reihe Fortschritte der Neuropsychologie.

Zu den für die Verhaltenssteuerung relevanten Störungen der Exekutivfunktionen gehören u. a. Handlungsplanung und Problemlösen, Handlungsüberwachung (Monitoring), Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität, Ideenproduktion und Interferenzabwehr. Sie sind ausführlich in dem Band „Störungen der Exekutivfunktionen“ (Müller, 2013) in der Reihe Fortschritte der Neuropsychologie dargestellt.

1

In diesem Buch sind alle Personen in der männlichen Form genannt. Dies dient einzig der besseren Lesbarkeit. Wir bitten unsere Leserinnen und Leser, diese Entscheidung zu tolerieren.

1 Beschreibung der Störung und Begriffsdefinition

Verhaltensstörungen nach einer Hirnschädigung treten sowohl in der Akut- und Postakutphase als auch nach Abschluss der Rehabilitation auf. Sie können unmittelbare Folgen der Hirnschädigung sein oder dysfunktionale Reaktionen |3|auf die durch die Hirnschädigung eingetretenen Veränderungen darstellen. Häufig handelt es sich um eine Mischung aus beiden Phänomenen. So kann z. B. die Frustration, selbst einfachste Handlungen nicht mehr ohne Unterstützung durchführen zu können, zu einem verminderten Selbstwertgefühl führen, mit der Folge, dass Patienten auf kleinste Kritik unangemessen emotional und aggressiv reagieren. Gleichzeitig kann die Hirnschädigung eine Änderung der Impulskontrolle bewirken, sodass der Impuls, den Ärger zu äußern, nicht sozial-adäquat modifiziert werden kann. Verhaltensauffälligkeiten zeigen sich in sehr unterschiedlichen Formen und werden auch in der begrifflichen Definition und nosologischen Entität in der Literatur sehr unterschiedlich benutzt (z. B. Kim et al., 2007). Arnould et al. (2016) fordern daher, dass multidimensionale Ansätze entwickelt werden müssten, um der Komplexität von Verhaltensstörungen nach einer Hirnschädigung gerecht zu werden.

Häufige Begriffe im Kontext von Verhaltensstörungen nach Hirnschädigung

Organische Persönlichkeitsstörung

Organische Wesensänderung

Frontalhirnsyndrom

Organische Pseudopsychopathie

Neurokognitive Störung mit begleitender Verhaltensstörung

Neurobehaviorale Störungen

Posttraumatische Aggressivität

Apathie

Um dieser begrifflichen Unklarheit und Vielfalt zu entkommen wird im ersten Abschnitt eine Terminologie eingeführt, die vor allem für die im Rahmen dieses Bandes dargestellten therapeutischen Empfehlungen von Bedeutung ist.

Für eine operationalisierte klassifikatorische Diagnosestellung als hirnorganisch bedingte Verhaltensstörung in den klinischen Klassifikationssystemen der ICD-10 bzw. des DSM-5 siehe Kapitel 4.1 (Diagnostik, Klassifikationssysteme).

1.1 Beschreibung typischer Verhaltensauffälligkeiten nach Hirnschädigung

Wir schlagen eine deskriptive Einteilung der Verhaltensauffälligkeiten in fünf Cluster vor (siehe Wenz & Karlbauer, 2002).

Wenn man hirnorganisch bedingte Verhaltensauffälligkeiten als Punkte in einer dreidimensionalen Matrix darstellen würde, so würden fünf Punkte|4|wolken oder Cluster mit charakteristischen Verhaltensauffälligkeiten entstehen, die eine hohe Ähnlichkeit haben. Die Ähnlichkeit der Verhaltensauffälligkeiten innerhalb eines der fünf Cluster erklärt sich durch das gemeinsame Konzept, weshalb genau das Verhalten als auffällig charakterisiert wird, sodass sich hieraus eine Heuristik für das therapeutische Handeln ergibt.

Es treten ebenfalls Verhaltensauffälligkeiten auf, die zwei oder mehr Clustern zuzuordnen sind. Scheinbar gegensätzliche Störungen wie eine Antriebsminderung und eine reduzierte Impulskontrolle können bei derselben Person vorkommen. So kann beispielsweise der antriebsgeminderte Patient, wenn er geduscht, abgetrocknet und angezogen wird, plötzlich beginnen, um sich zu schlagen.

Anhand der beobachtbaren und in der Fremdanamnese erfragten Verhaltensauffälligkeiten kann eine Zuordnung zu den fünf Clustern erfolgen, die in Abbildung 1 dargestellt sind.

Abbildung 1: Cluster von Verhaltensauffälligkeiten als Heuristik für therapeutisches Handeln (Erläuterungen s. Text)

Gerade bei Patienten mit verschiedenen dysfunktionalen Verhaltensweisen erleichtert und vereinfacht diese Clustereinteilung die Therapieplanung. Für den Therapieprozess kann ein Schweregrad der Verhaltensstörung abgebildet werden, da es Patienten gibt, die nur in einem Cluster auffällig sind, und das vielleicht sogar nur in einem bestimmten Lebensbereich. Andererseits gibt es Patienten, die in mehreren oder allen Clustern gleichzeitig Auffälligkeiten zeigen. Anhand der sich anschließenden Verhaltensanalyse kann dann |5|in der Therapieplanung festgelegt werden, mit welcher Verhaltensstörung die Therapie beginnen sollte.

Diese Einteilung von Verhaltensauffälligkeiten in Cluster dient vor allem der Therapieplanung. Die Zugehörigkeit einer Verhaltensauffälligkeit zu einem Cluster ist nicht gleichbedeutend mit der Diagnose einer Verhaltensstörung, da die Cluster keine diagnostische Kategorie darstellen. Für die notwendige Diagnostik eignet sich nur eine operationalisierte Kategorisierung, wie sie in der ICD-10 oder dem DSM-5 stattfindet.

Verhaltensauffälligkeiten nach Hirnschädigung gehen häufig mit mangelnder Störungseinsicht und Störungen exekutiver Funktionen einher. Auf diese Aspekte wird in diesem Band unter den therapeutischen Hinweisen eingegangen. Ausführliche Darstellungen finden sich im Band „Störungen der Krankheitseinsicht“ von Gauggel (2016) bzw. „Störungen der Exekutivfunktionen“ von Müller (2013) in der Reihe Fortschritte der Neuropsychologie.

Im Folgenden werden die einzelnen Cluster dargestellt.

1.1.1 Verletzen sozialer Regeln

Abbildung 2: Verletzen sozialer Regeln

Soziale Regeln modulieren unser Verhalten, denn sie sorgen für

eine Anpassung an die soziale Situation und den kulturellen Kontext,

eine Anpassung an den sozialen Status des Interaktionspartners,

eine Regelung sozialer Nähe oder Distanz und

einen Bedürfnisaufschub.

Soziale Regeln legen fest, wie wir unser Verhalten an eine bestimmte soziale Situation anpassen. Sie sind kultur- und schichtspezifisch. Soziale Regeln wer|6|den in der Erziehung verbalisiert, sie werden zu unausgesprochenen Erwartungen an das Verhalten.

Aufgrund von sozialen Regeln passen wir unser Verhalten an den sozialen Status des Gegenübers an. So sind die Umgangsformen gegenüber Autoritätspersonen, Vorgesetzten, Kunden oder Personen des öffentlichen Interesses wesentlich strenger als gegenüber Familienmitgliedern, Freunden oder Vereinskollegen.

Gleiches gilt für die Einhaltung von sozialen Distanzen, wie sie in der räumlichen Nähe zum anderen, in der Länge des Blickkontaktes oder in der Intimität einer Berührung stecken. Auch hier gibt es unterschiedliche soziale Distanzen je nach Kulturkreis und entsprechend der sozialen Rolle des Interaktionspartners.

Des Weiteren bestimmen soziale Regeln, wie der Einzelne mit seinen Bedürfnissen umzugehen hat. Dies betrifft sowohl primäre Bedürfnisse wie Essen, Schlaf oder Sexualität, als auch sekundäre Bedürfnisse wie soziale Bindung oder Autonomie. Auch wenn jeder das Recht und den Drang hat, sich für die Erfüllung seiner Bedürfnisse einzusetzen, muss die Bedürfnisbefriedigung an die jeweilige Situation sowie an die Bedürfnisse anderer Personen angepasst werden.

Ein Teil der Patienten mit Verhaltensauffälligkeiten nach Hirnschädigung zeigt keine oder eine deutlich zu geringe Modulation des Verhaltens durch soziale Regeln, es gelingt ihnen nicht, die richtige soziale Distanz einzuhalten und sie fallen durch fehlenden Bedürfnisaufschub auf. Dabei können die Patienten die sozialen Regeln, gegen die sie verstoßen, häufig durchaus formulieren. Diese haben aber ihre verhaltenssteuernde Wirkung verloren („Knowing-Doing-Dissociation“) (Müller, 2013).

Darüber hinaus gibt es Patienten, die schon vor der Hirnschädigung in ihrem Verhalten auffällig waren und bei denen es durch die Hirnverletzung zu einer Akzentuierung der Verhaltensprobleme kommt.

1.1.2 Gestörtes Kommunikationsverhalten

Zwar zeigen Patienten mit Persönlichkeits- und Verhaltensauffälligkeiten meist keine aphasischen Symptome, das Kommunikationsverhalten ist jedoch trotzdem auffällig (s. auch Band „Kognitive Kommunikationsstörungen“, Büttner & Glindemann, in Vorb., in der Reihe Fortschritte der Neuropsychologie).

Bei einer Kognitiven Kommunikationsstörung kommt es z. B. zu Weitschweifigkeit, zahlreichen redundanten Äußerungen, unzureichenden Sprecherwechseln (Turn-Taking) und für den Gesprächspartner schwer nachvollzieh|7|baren Gedankensprüngen, das eigentliche Thema des Diskurses wird häufig völlig verlassen. Ebenso kann die Störung durch einsilbiges Kommunikationsverhalten gekennzeichnet sein, es treten viele Perseverationen auf und die Rede ist inhaltsarm (Glindemann & von Cramon, 1995).