Perspektivenwechsel - Cathleen Strunz - E-Book

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Cathleen Strunz

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Beschreibung

Was hat Bildung mit Homöostase zu tun? Was bringt uns die theoretische Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Viabilität? Warum bildet die Frage „Was ist der Mensch?“ den Ankerpunkt des Bildungsdiskurses? Ausgehend von einer qualitativ-empirischen Studie zum fächerübergreifenden Komplementärstudium an der Leuphana Universität Lüneburg führen diese und weitere Fragen zu einer veränderten Betrachtungsweise des wissenschaftlichen Anspruchs auf objektive Welterkenntnis. Durch die Zusammenführung interdisziplinärer Ansätze in eine Theorie komplementärer Bildung wird deutlich, was aus dieser systemtheoretischen Perspektive unter ganzheitlicher Bildung verstanden wird. Als kompensatorisches Korrektiv einer einseitig extravertierten Beobachtungshaltung des wissenschaftlichen Subjektes wird die Integration einer introvertierten Betrachtungsweise im Sinne C. G. Jungs vorgestellt. Das komplementäre Verhältnis dieser zwei Arten der Wahrnehmungsausrichtung ermöglichst die Hervorbringung unterschiedlich gearteter Welt- und Selbstverhältnisse. Dadurch vergrößert sich das uns zur Verfügung stehende Spektrum an Erkenntnis- und Handlungsmöglichkeiten, was uns zur Transformation unseres Verhaltens angesichts gesellschaftlicher Herausforderungen befähigt. Bildung wird auf diese Weise wieder als Bildung des ganzen Menschen gedacht – also als ein vielschichtiger dynamischer Prozess, in dem der Mensch sowohl als Subjekt-in-der-Sprache als auch als bedürfnisorientiertes Lebewesen in den Blick genommen wird. Der Fokus bleibt dabei nicht auf die Bildung des Individuums begrenzt. Vielmehr wird eine die Ontogenese der menschlichen Spezies umfassende Betrachtungsweise gewählt, wobei der Schwerpunkt auf der Entwicklung unseres Bewusstseins liegt.

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ibidem-Verlag, Stuttgart

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Komplementäre Bildung – Begriffliche Rahmung einer datenbasierten Theorie

1.1 Begriffliche Ordnungssysteme als Interpretationsrahmen der Analyse

1.2 Grounded Theory: Kodes, Kategorien und die Rolle des Beobachters

1.3 Erkenntnisbefähigung und die Bildung des wissenschaftlichen Selbst

1.4 Komplementäre Aspekte eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses

Kapitel 2: Erkenntnis und Viabilität – Bewertung aus neurobiologischer Perspektive

2.1 Beobachtung, Beschreibung und Bewertung von Verhalten

2.2 Bewusstsein und Geist: Der Selbst-Prozess der Bewusstwerdung

2.3 Homöostase: Wertregulation durch Bedürfnisse

Kapitel 3: Gegenstandsbilder des Komplementärstudiums – eine Analyse

3.1 Mannigfaltige Beobachtungen einer komplexen Situation

3.2 Grounded Theory: Datenbasierte Theorie- und Methodenentwicklung

3.3 Typische Einstellungen gegenüber dem Komplementärstudium

3.4 Schlüsseldichotomien und Studienmotive der vier Diskursfelder

Kapitel 4: Komplementäre Bildung – Kompensation einseitiger Welt- und Selbstverhältnisse

4.1 Dualität als Merkmal einer objekthaften Wirklichkeitsauffassung

4.2 Diskursdynamik: Widerstreit zwischen komplementären Einstellungen

4.3 Selbstkonzepte und Bildungsverständnis

4.4 Ganzheitliche Bildung der Beobachtungshaltung

Ausblick: Komplementäre Bildung – ein Konzept für das Leuphana College

Resümee

Schlusswort

Danksagung

Literaturverzeichnis

Abbildungsverzeichnis

Vorwort

Aufgrund der vielfältigen interdisziplinären Bezüge zu bildungswissenschaftlichen Fragestellungen ist eine an konventionellen Fächergrenzen orientierte Einordnung dieser Arbeit schwer möglich.

Von Interesse ist die Studie für all diejenigen, die angesichts eines spürbaren Transformationsbedarfs in allen gesellschaftlichen Bereichen über fächerübergreifende Bildung und angemessene Praktiken in institutionellen Bildungskontexten reflektieren wollen. Transformation ist nicht von ungefähr aktuell eines der Zauberwörter im Bildungskontext. Wir leben in einer Zeit der Umbrüche und es gilt herauszufinden, wie wir uns bestmöglich auf ein Leben in einer volatilen Welt einstellen können.

Je schneller sich scheinbar stabile Rahmenbedingungen ändern und bewährte Handlungsmuster an Wirkkraft verlieren, desto mehr sind wir darauf angewiesen, Strategien zu entwickeln, die es uns erlauben, viable1 – also dem (Über-)Leben dienliche – Entscheidungen zu treffen. Verhaltensveränderungen betreffen unsere Haltung gegenüber der Welt und gegenüber uns selbst, sowie die aus unserer Haltung resultierenden Handlungen. Die Diskussion der Frage, welche Bildung unserer Zeit angemessen ist, bedarf nicht nur der Klärung des zugrundeliegenden Bildungsverständnisses2, sondern genauso unserer Welt- und Selbstverhältnisse.

Auf die Frage nach einem angemessenen Lösungsansatz im Umgang mit der stetig wachsenden Komplexität unserer Welt, wird insbesondere Digital Literacy als neue zentrale Kulturtechnik propagiert. Digitalisierung und künstliche Intelligenz sind zu den Superthemen des aktuellen Bildungsdiskurses avanciert. Von Menschen entwickelte intelligente Maschinen sollen uns künftig abnehmen, was der menschliche Verstand nicht zu leisten vermag. Doch mit dem steigenden Grad an technischer Abhängigkeit geht nicht selten ein Gefühl der Überforderung einher, aus dem u.a. die Dystopie eines Kontrollverlustes an humanoide Roboter erwächst.

Konstruktivistische Ansätze gehen davon aus, dass Sprache unser Denken und Wissen formt, was Rückwirkungen des Diskurses auf unsere Erwartungshaltung an die Zukunft impliziert.Sprache wird dabei in Einklang mit Humboldts Sprachtheorie nicht abbildtheoretisch als Medium der Repräsentation betrachtet, sondern als konstitutives Medium der Hervorbringung von Gedanken und mentalen Welt- und Selbstbildern. Unter Bezugnahme auf Hans Christoph Kollers Definition transformatorischer Bildung (2018, 15f.) wird im Folgenden nach Bildungspraktiken gefragt, durch die gezielte Impulse zur Transformation sprachlich strukturierter Welt- und Selbstverhältnisse gesetzt werden können. Dies betrifft die wohl grundlegendste „Kulturtechnik“ der (sowohl bewussten als auch unbewussten) Hervorbringung von Imagines, also von subjektiven Gegenstandsbildern im Sinne C. G. Jungs.3

Die vorliegende Konzeption komplementärer Bildungspraktiken setzt bei den semantischen Beschreibungen an, die ein Mensch als Beobachter über sich und die Welt hervorbringt. Jedoch baut sie auf einer Theorie komplementärer Bildung auf, welche zwischen einer semantischen und einer systemischen Betrachtungsweise von Bildung unterscheidet.4 Durch diese Differenzierung wird die menschliche Doppelexistenz als Subjekt-in-der-Sprache und als Lebewesen betont. Daran schließt sich die Frage an, welche Bereiche menschlicher Existenz in den Blick genommen werden müssen, wenn – zumeist unter Berufung auf Humboldt – ein Anspruch auf ganzheitliche Bildung verfolgt wird. Auf diese Weise geraten verstärkt auch Verhaltensbereiche in den Blick, die größtenteils automatisch und unbewusst auf der systemischen Ebene innerhalb einer lebenden Einheit ablaufen und im Bildungsdiskurs bisher oft ausgespart bleiben.

Die Idee ganzheitlicher Bildung wird hier auf eine Weise adressiert, die (noch) ungewohnt erscheinen mag: Aus einer systemtheoretischen Perspektive wird der Mensch als ein sich in permanenter Veränderung befindlicher transpersonaler Organismus betrachtet.5 Eine solche die Ontogenese des Individuums und die Phylogenese der Gattung gleichermaßen einbeziehende Betrachtungsweise stellt eine sowohl in die Vergangenheit wie auch in die Zukunft gerichtete Perspektive auf das Entwicklungspotential der menschlichen Spezies dar. Auf diese Weise erscheint das Individuum als spezifische Ausdrucksform menschlicher Existenzmöglichkeiten, welches einerseits durch seine biologischen Voraussetzungen sowie durch individuelle und kollektive Erfahrungen geprägt ist. Andererseits gerät es als potentiell zukunftsoffene autopoietische Lebensform in den Blick.6

Die der Theorie komplementärer Bildung zugrunde liegende Idee von Ganzheitlichkeit bezieht sich darüber hinaus auf die menschliche Psyche als der Gesamtheit aus Bewusstem und Unbewusstem, sowohl in individueller als auch in kollektiver Hinsicht. Vor diesem Hintergrund sind ganzheitliche Bildungsangebote als Impulse zur Integration von Unbewusstem in unser Bewusstseinsfeld – und in diesem Sinne als Bewusstseinserweiterung – zu konzipieren. Um den hier skizzierten großen Bogen zu schlagen, bedarf es einer anthropologischen Reflexion, die idealerweise Erkenntnisse aus so verschiedenen Disziplinen wie der Neurobiologie mit ihren facettenreichen Subdisziplinen, der Psychologie, der Philosophie, den Geschichts-, Sprach-, Kultur- und Sozialwissenschaften sowie der Quantenphysik einbezieht.

Auch wenn die vorliegende Arbeit einem so umfänglichen Anspruch nicht gerecht werden kann, vermag sie eine Idee davon vermitteln, wie das Unterfangen der Integration interdisziplinärer Erkenntnisse zu veränderten Sichtweisen auf Bildung als Bildungdes Menschen (wie es Humboldt 1793 formulierte7) führt. Es geht um eine Verbindung des geistes- und sozialwissenschaftlichen Diskurses mit naturwissenschaftlichen Perspektiven auf den Menschen als ein durch seine vegetativen Funktionen geprägtes Lebewesen und „Wissenssubjekt“. Hiermit wird ein Beitrag zur Überbrückung der kulturellen Kluft zwischen den Humanities und den Sciences geleistet. Auf diese Weise geraten auch Prozesse in den Blick, die automatisch und unterhalb der Bewusstseinsschwelle ablaufen, sich aber auf die Wirklichkeitsauffassung eines lebenden Systems ebenso auswirken wie seine bewussten Wahrnehmungen. Das Zusammenspiel dieser beiden Ebenen, die im Folgenden als semantische und systemische8Ebene adressiert werden, ist für die Frage nach angemessenen Bildungsimpulsen von besonderem Interesse.9

Aufgrund der zahlreichen erklärungsbedürftigen Konzepte aus verschiedenen Disziplinen ist das Sprechen über die vorliegende Theorie komplementärer Bildung überaus voraussetzungsvoll. Deshalb erlaube ich mir im Voraus ein semantisches Netz aufzuspannen, das den Lesern beim Einfangen der komplexen Bezüge helfen soll: Im Zentrum der Theorie komplementärer Bildung steht der Ich-Beobachter10. Die Ausrichtung seiner Wahrnehmung hat Einfluss auf seine Wirklichkeitsauffassung. Komplementäre Bildung zielt auf die Einübung eines bewussten Perspektivenwechsels, welcher der Kompensation einer einseitigen Beobachtungshaltung dient. In einer vom Anspruch wissenschaftlicher Objektivität stark geprägten Gesellschaft bedient die extravertierte Beobachtungshaltung die kulturell dominante Wirklichkeitsauffassung. Sie profitiert von der Reintegration der introvertierten Betrachtungsweise, die vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Bemühungen um objektive Welterkenntnis ins Abseits universitärer Bildungspraktiken geraten ist.

Durch die Gegenüberstellung von Extraversion und Introversion (bzw. Außenansicht und Innenansicht) sind zwei Bezugsgrößen benannt, mit denen ich mich im Anschluss an C. G. Jung und Hans-Peter Dürr auf grundlegend verschiedene Arten des In-der-Welt-Seins beziehe, und von denen ich behaupte, dass sie in einem komplementären Verhältnis zueinanderstehen. Dieses Verhältnis wird auf der Basis empirischer Untersuchungsergebnisse als systemische Polarität definiert, die einerseits auf ektoderme und endoderme Wahrnehmungsfunktionen zurückzuführen ist, andererseits auf menschliche Grundbedürfnisse, welche die Pole verschiedener Wertspektren bilden. Im Diskurs über fächerübergreifende Bildung spiegelt sich diese systemische Polarität auf der semantischen Ebene als eine binäre Argumentationsstruktur (Entweder-oder) und mündet in einen Widerstreit unterschiedlicher Diskursarten im Sinne Lyotards (1989).

Komplementarität wird im Anschluss an Jean Gebser als „sich ergänzende Polarität“ (1978, 299) definiert und in dem von Carl Friedrich von Weizsäcker (1990) formulierten Sinne als zirkuläre Komplementarität gedacht. Diesen Punkt gleich zu Beginn der Studie auszuführen halte ich für sinnvoll, da unsere Denk- und Wahrnehmungsweisen so stark auf binäre Konstruktionen ausgerichtet sind, dass zunächst der Unterschied zwischen Polarität und Dualität herauszustellen ist. Polarität sollte nicht auf das Verhältnis von zwei Bezugsgrößen reduziert werden. Die konsequente Beschreibung einer systemischen Poly-Polarität des Komplementären schützt vor einem Zurückfallen in die Dualität von Gegensatzpaaren. Komplementäres Denken, so die hier vertretene These, bietet einen Ausweg aus der Sackgasse, in welche das von Theodor W. Adorno kritisierte identitäre Denken führt und weist uns den Weg zu der von Jean Gebser beschriebenen integralen Bewusstseinsstruktur.

 

 

1Viabel steht im Sinne von „dem Leben dienlich“ für effektiv, nützlich, angemessen. Vgl. Kapitel 1.4 Komplementäre Aspekte eines ganzheitlichen Bildungsverständnisses.

2Eine solche Klärung setzt an bei der Frage, inwieweit durch (institutionelle) Bildungsangebote überhaupt Einfluss auf individuelle Bildungsprozesse genommen werden kann. Aus einer von mir geteilten neurowissenschaftlich-systemtheoretischen Perspektive verändert jede Aktivität des Organismus die Hirnstruktur und es gibt deshalb keinerlei Aktivitäten oder Handlungen, die nicht zugleich modifizierendes Denken sind (Lenzen 1997, 952).

3Jungs (1972, 27; 1995, 507) Definition des Begriffes Imago (Pl.: Imagines) verdeutlicht den erkenntnistheoretisch relevante Unterschied zwischen Objekt und durch Beobachtung hervorgebrachtes Objekt. Vgl. dazu Kapitel 1.4, Abschnitt Kognition und Emotion: Informationsverarbeitung im gleichen Modus

4Trotz einer skeptischen Position in Hinblick auf die Möglichkeit zur gezielten Einflussnahme auf sich selbst bildendende (autopoietische) System bin ich davon überzeugt, dass es sinnvoll ist, Impulse für Bildungsprozesse zu setzen. Jedoch müssen wir uns darüber im Klaren sein, dass diese von einem lebenden System auf seine ganz eigene Weise verarbeitet werden. Bildungsziele sind die von Vertreter*innen von Bildungsinstitutionen auf der semantischen Ebene als angemessen definierte Verhaltensweisen, die es im Bildungsprozess einzuüben gilt. Als Beobachter können wir Verhaltensänderungen (Transformationen) beschreiben und als Wirkung solcher Impulse interpretieren.

5 Unter System kann eine einzelne lebende Einheit verstanden werden, aber auch ein Zusammenschluss aus vielen solchen Einheiten zu einem übergeordneten System (Maturana und Varela 1987, 216–17).

6 Solange Komplexität und Unvorhersehbarkeit in erster Linie als Bedrohung betrachtet werden, für die wir maßgeschneiderte Lösungen in der Schublade haben sollten, werden wir uns in einer unsicheren Welt imaginieren. Auf diese Weise bleiben wir einem Lebensgefühl verhaftet, welches an den Überlebenskampf unserer Vorfahren erinnert, die in weit weniger komplexen, aber nicht weniger bedrohlichen Situationen klarkommen mussten. Ihre kollektiven Erfahrungen sind ebenso in uns eingeschrieben wie wir die grundlegende Organisationsform der menschlichen Spezies mit ihnen teilen. Dazu gehören auch Merkmale der menschlichen Bewusstseinsstruktur, die uns trotz einer überaus dynamischen Entwicklung unsere Wahrnehmungsweise und daraus resultierende Wirklichkeitsauffassungen noch immer grundlegend prägen.

7 Der Titel des 1793 verfassten Textes lautet „Theorie der Bildung des Menschen“ (Humboldt, 1986).

8 Die Formulierung „systemische Ebene“ ist bewusst unscharf gewählt, weil damit ein Lebensbegriff adressiert wird, der die unterschiedlichsten Stufen von Leben einschließt, sich also ganz explizit nicht auf biologische – auf den Körper bezogene – Vorgänge beschränken lässt, sondern darum bemüht ist, die Ganzheit der Psyche als die Summe aus Bewusstem und Unbewusstem im Sinne Jungs einzubeziehen und auch dem Überbewussten potentiell Raum bietet.

9 Aufgrund meiner Intention einer Zusammenführung interdisziplinärer Perspektiven wird der umfängliche Diskurs um das Wissenssubjekt, der in einer Diskussion über Bildung nicht unberücksichtigt bleiben darf, innerhalb dieser Arbeit tendenziell unterbelichtet. Da im Sinne Ludwig Hubers (1991) dennoch der Anspruch einer intentionalen Intervention auf den Bildungsprozess des wissenschaftlichen Subjektes verfolgt wird, werde ich die konzeptionell relevanten Schlussfolgerungen in einem Schlusswort noch einmal möglichst anwendungsorientiert zusammenfassen.

10Den Begriff „Beobachter“ verwende ich im generischen Maskulinum, ebenso andere im direkten Zusammenhang damit stehende Abstrakta wie z.B. Beobachtungstyp.

Einleitung

Ausgangspunkt dieser Untersuchung sind Beobachtungen, die ich seit 2008 als Koordinatorin fächerübergreifender Studienprogramme an verschiedenen deutschen Hochschulen gemacht habe.1 Als Programmkoordinatorin bin ich u.a. für die Qualitätssicherung und Weiterentwicklung zuständig und werde mit den Erwartungen, Wünschen und Kritikpunkten sämtlicher universitärer Statusgruppen konfrontiert. Bisher gelang es nicht, die Summe der heterogenen Verbesserungsvorschläge konzeptionell zu berücksichtigen und daraus ein Programmkonzept zu entwickeln, das alle Beteiligten wertschätzen. Denn die Vorstellungen darüber, was ein fächerübergreifender2 Studienbestandteil leisten soll, gehen nicht nur weit auseinander, sondern stehen häufig zueinander im Widerspruch.3

Auf diese heterogene Realität mit ihren vielfältigen Konzepten und Praktiken trifft die Idealvorstellung, wonach eine Verständigung über die Bedeutung und damit auch die Zielsetzung solcher Studienprogramme mithilfe sprachlicher Kategorien wie „Bildung“ und „fächerübergreifend“ möglich wäre. Die Irritation darüber, dass dies nicht im gewünschten Maße gelingt, wird aber selten zum Anlass genommen, um in einem gemeinsamen Klärungsprozess die semantischen Schichten dieser Begrifflichkeiten sorgsam abzuklopfen. Eine mangelnde Reflexion über die wirklichkeitsreduzierende Funktion kategorialer Objektbezeichnungen führt dazu, dass individuell wahrgenommene Phänomene mit den sie bezeichnenden Begriffen4 gleichgesetzt werden. Doch lassen sich – wie im ersten Kapital nach Lyotard (1989) näher ausgeführt – unterschiedliche Diskursarten, mit denen verschiedene Zwecke verfolgt werden, nicht ineinander übersetzen. So sprechen wir über „fächerübergreifende Bildung“ oder „Perspektivenwechsel“ etc., ohne uns bewusst zu machen, dass wir so unterschiedliche Sprachen sprechen wie nach dem Turmbau die Bewohner von Babel.

Der mangelnde Konsens über die Bedeutung und Zielsetzung fächerübergreifender Bildung wirft einmal mehr grundsätzlich die Frage danach auf, wie entsprechende Studienprogramme bzw. die darin zu ermöglichenden Lehr- und Lernprozesse zu gestalten sind. Um Antworten auf diese Frage zu finden, habe ich eine qualitative Analyse durchgeführt, die die empirische Grundlage für die vorliegende Theorie über komplementäre Bildung darstellt. Als Forschungsumfeld für diese Untersuchung wurde das Komplementärstudium am College der Leuphana Universität Lüneburg ausgewählt. Es steht exemplarisch für Studienprogramme, die am Ideal fächerübergreifender Bildung orientiert sind. Diese Auswahl wurde einerseits aus forschungspragmatischen Gründen5 getroffen, andererseits aufgrund des mit dem Komplementärstudium verfolgten Anspruchs, ein Studienelement wissenschaftlicher Bildung zu sein. Was von wem unter wissenschaftlicher Bildung verstanden wird, gehört in den zu klärenden Fragebereich, weshalb dieser Anspruch hier nur umschrieben werden kann. Im Gegensatz zu vielen anderen fächerübergreifenden Studienprogrammen an deutschen Universitäten enthält das Programm des Komplementärstudiums keine „wissenschaftsfernen“ Angebote, wie z.B. anwendungsorientierte Software- oder Sprachkurse. Das Komplementärstudium ist nicht auf ein breites Publikum, sondern allein auf die studentische Zielgruppe ausgerichtet und als verpflichtender Bestandteil des Bachelorstudiums nicht losgelöst vom Kontext des gesamten Studienmodells zu betrachten.

Das Bachelorstudium am Leuphana College, der so genannte Leuphana-Bachelor, setzt sich aus den Studienbestandteilen Major und Minor (Haupt- und Nebenfach), dem Leuphana-Semester und dem Komplementärstudium zusammen und umfasst 180 Credit-Points (CP). Neben zwei Fachmodulen belegen die Studienanfänger*innen aller Disziplinen im Leuphana-Semester drei fächerübergreifende Module, in denen sie an wissenschaftliches Denken und Arbeiten herangeführt werden. Das Komplementärstudium wird ab dem zweiten bis zum sechsten Semester parallel zu Major und Minor studiert. Hier können Studierende aus einem bis zu 140 Lehrveranstaltungen pro Semester umfassenden Angebot wählen, welches sich über 12 Module verteilt, von denen sechs verschiedene belegt werden müssen, was 30 CP entspricht.6 Die Module ergeben sich aus einer Matrix von vier Perspektiven und drei Herangehensweisen. Die Perspektiven repräsentieren die Wissenschaftsgebiete7 Geistes-, Sozial- und Naturwissenschaften sowie einen vierten Bereich, der als „Inter- und transdisziplinäre Wissenschaften“ ausgewiesen ist. Jede Perspektive ist in drei Herangehensweisen unterteilt, durch die der didaktische Schwerpunkt einer Lehrveranstaltung als medialitätsorientiert8, methodenorientiert oder praxisorientiert markiert wird.9

Die Beschränkung des Untersuchungsbereiches auf nur ein einzelnes fächerübergreifendes Studienprogramm findet ihre Begründung darin, dass der Forschungsfokus nicht auf der Vielfalt der Ausprägungsformen fächerübergreifender Bildungsangebote liegt, sondern auf der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen ein und desselben Phänomens. So lautet die Fragestellung, welche die qualitative Analyse mit der erarbeiteten Theorie verbindet: Wie wird ein fächerübergreifendes Bildungsangebot wahrgenommen und was liegt den Bewertungen dieses Phänomens zugrunde? Diese Frage beschränkt sich nicht auf die Offenlegung der Kriterien, welche die Beurteilenden zur Bewertung anlegen. Vielmehr weist sie über die Ebene der Wahrnehmungsinhalte hinaus, indem sie die Wahrnehmungsweise der Wahrnehmenden in den Blick nimmt. Damit gerät der Wahrnehmende und Beurteilende als Beobachter10selbst ins Zentrum der Betrachtungen.

Die Auseinandersetzung mit der Frage nach fächerübergreifender Bildung braucht als Fundament ein geklärtes Verständnis von Bildung. „Was ist Bildung?“ lautet der Titel einer von Heiner Hastedt (2012) herausgegebenen Textanthologie, in der er – an der klassischen Bildungsphilosophie orientiert – Bildung einleitend „vor allem als Selbstbildung und die möglichst harmonische Entwicklung der ganzen Person“ (2012, 7) definiert. Doch wenn Bildung vor allem Selbstbildung ist, stellt sich die Frage: „Was ist das Selbst?“

Im Zentrum der klassischen Bildungstheorie steht die Selbstbildung des Individuums. Das Ideal der Bildung, wie u.a. von Humboldt und Herder geprägt, beziehe sich – so Hastedt – auf die „Entwicklung der ganzen Person“ (2012, 11), die Steigerung der Individualität (die nicht als Gegensatz zu einer überindividuellen Verbindlichkeit zu denken sei), und beinhalte den Gedanken von Wachstum durch Entfremdungsüberwindung und als Ausgleich der anthropologischen Bedürftigkeit des Mängelwesens Mensch (2012, 11–14). Bildung als Selbstbildung wird von dem seine Möglichkeiten entwickelndem Individuum gedacht, das sich gegenüber der Welt öffnet und letztlich selbst darüber entscheidet, ob ihm die von außen kommenden Erfahrungen zum Bildungsanlass werden oder ohne Folgen bleiben (2012, 10). Das zentrale Merkmal der Selbstbildung ist Hastedt zufolge von „Bildung in speziellen Institutionen“ und der „Bildung der Menschheit“ zu unterscheiden (2012, 9–10). Mit dieser Unterscheidung wird die sich selbst bildende Person vom kollektiven Selbst der Menschheit geschieden, so als bezöge sich Selbst per Definition auf ein Individuum. Obwohl Hastedt betont, dass in den klassischen Bildungstheorien mit der Formulierung von der „ganzen Person“11 ein organizistisches Leitbild verfolgt wurde (2012, 11), argumentiert er:

Werden Bildungsinstitutionen zu Ausbildungsstätten, dann kann der Bildungsgedanke nur über Selbstbildung neu an Stärke gewinnen (will man die erkenntnistheoretisch mysteriöse Bildung der Menschheit als nicht greifbare Kollektivinstanz gar nicht ins Gespräch bringen). (2012, 10)

Die Herausforderungen unserer Zeit machen es meiner Ansicht nach jedoch erforderlich, die „Menschheit als nicht greifbare Kollektivinstanz“ in den Blick zu nehmen. Überdenkt man die Frage nach dem Selbst, eröffnet das Bildungsideal ganzheitlicher (Selbst-)Bildung, welches bis heute unser Verständnis von Bildung im Gegensatz zu einer Ausbildung prägt, neue Gestaltungsmöglichkeiten im Bildungskontext. Der Fokus der vorliegenden Untersuchung ist auf fächerübergreifende Studienprogramme an Universitäten gerichtet, die als Angebote wissenschaftlicher „Bildung in speziellen Institutionen“ (Hastedt 2012, 9) konzipiert sind.12

Institutionell verankerte Bildungsangebote spiegeln idealerweise einen kollektiven Konsens darüber, was unter Bildung verstanden wird. An den Konflikten über etablierte Studienpraktiken kann abgelesen werden, wo das kollektive Bildungsverständnis an die Grenzen der Konsensfähigkeit stößt. Die Grenze, welche ich als die entscheidende Konfliktlinie in der Auseinandersetzung um fächerübergreifende Bildung interpretiere, verläuft zwischen einem Selbstverständnis als äußerer und als innerer Persönlichkeit (Jung 1995, 500). Das Selbstverständnis als innerePersönlichkeit kann die Vorstellung der an einen Körper gebundenen, personalen Identität übersteigen und das Selbst als „kollektiven Menschen“ (Jung 1998, 94) imaginieren. Letztlich verweist diese Konfliktlinie auf die seit jeher mit Bildungsfragen eng verbundene Frage nach dem Menschen.

„Die Frage: Was ist der Mensch?, ebenso die Aufforderung, sich selbst zu erkennen, ist uralt“, lautet der erste Satz der 1965 erschienen Abhandlung Integrale Anthropologie und Kybernetik, in welcher sich der Psychologe Kurt Strunz vor einem systemtheoretischen Hintergrund für eine integrale philosophisch-anthropologische Bildung einsetzt. Mit seiner bereits im Untertitel formulierten Aufforderung „zur anthropologischen Besinnung auf zahlreichen Lehrgebieten“ regt er zu einer produktiven Skepsis gegenüber fachwissenschaftlich einseitigen Lösungen des anthropologischen Problems an (1965, 10).13Integral kann hier im Sinne der Integration zahlreicher Perspektiven auf den Menschen verstanden werden, auch wenn Strunz (1965, 10) explizit darauf hinweist, dass es nicht das Ziel sein kann, bei der Behandlung der anthropologischen Frage abgeschlossene Vollständigkeit erreichen zu wollen. Dies gelte insbesondere auch hinsichtlich der integrativen Aufgabe pädagogischer Arbeit, die er vor allem darin sieht, Studierende wie auch Experten dazu anzuregen, „ihr Fachwissen mit den Fragen und Antworten zu integrieren, die aus ganz anderenWissens- und Lebensgebieten stammen“ (1965, 10; Hervorh. i. O.).

Daran wird deutlich, dass einer fachwissenschaftlichen Einseitigkeit mit dieser Konzeption Perspektivenvielfalt gegenübergestellt wird als einem nicht abschließbarem Prozess der Integration von Erfahrungen, welche sowohl aus anderen disziplinären wie auch aus lebensweltlichen Kontexten stammen. Unter dem Schlagwort integrale Bildung14 finden sich im Umfeld der Bildungs- und Erziehungswissenschaften in den letzten Jahren zunehmend Publikationen15, die sich auf Jean Gebser und seine Theorie vom integralen Bewusstsein beziehen.16 Einen expliziten Zusammenhang zwischen Gebsers Theorie und der Beziehung zwischen dem „Phänomen des Bewusstseins und einer damit verbundenen Geistes- oder sogar Haltungsschulung“ stellt Jürgen Elsholz (2013, 9) in Bildung und Bewusstsein her.

An die Bildungskonzeptionen der genannten Autoren wird hier insofern angeknüpft, als dass Bildung ebenfalls unter den Gesichtspunkten der Integration unterschiedlicher Perspektiven auf den Menschen und als eine Frage der Bewusstseinsentwicklung verhandelt wird. Die mit Elsholz (2013) angesprochene „Haltungsschulung“ wird als ganzheitliche Bildung der Beobachtungshaltung zum Inbegriff dessen, was ich als komplementäre Bildung bezeichne.17 Unter Haltung ist dabei die Haltung des Beobachters zu verstehen, die er sich selbst und der Welt gegenüber einnimmt. Durch die Bewusstmachung der eigenen Beobachtungshaltung und einer methodischen Reflexion der beobachtend hervorgebrachten Welt- und Selbstverhältnisse (Koller 2018) steuert komplementäre Bildung der mit Strunz (1965) angesprochenen Gefahr einer einseitigen Perspektive auf den Menschen entgegen. Im Rahmen der hier vorgestellten Konzeption komplementärer Bildung meint Perspektivenwechsel einen bewusst vorgenommenen Wechsel der Beobachtungshaltung zur Einübung komplementärer Welt- und Selbstverhältnisse im Studium. Dabei geht es wohlgemerkt um die Veränderung der Perspektive des Beobachters auf die Welt und sich selbst, nicht nur als Person, sondern auch als kollektives Wesen. Komplementär im Sinne von „sich ergänzender Polarität“ (Gebser 1978, 299) steht einerseits für das Verhältnis zwischen zwei unterschiedlich ausgerichteten Beobachtungseinstellungen (introvertiert vs. extravertiert, vgl. Kap. 4) und andererseits für die kompensatorische Dynamik (Jung 1995, 2–4) zwischen unterschiedlichen menschlichen Grundbedürfnissen.

Vor diesem theoretischen Hintergrund erfolgt die qualitative Analyse von Aussagen, die in Bezug auf das fächerübergreifende Studienprogramm Komplementärstudium am College der Leuphana Universität getroffen wurden. Diese Aussagen werden als sprachlich verfasste Beschreibungen eines Phänomens behandelt, welche ein Beobachter von einem wahrgenommenem Objekt hervorbringt, und im Anschluss an Maturana und Varela (1987, 223) als semantische Beschreibungen definiert. Um den erkenntnistheoretisch relevanten Unterschied zwischen Objekt und durch Beobachtung hervorgebrachtes Objekt zu verdeutlichen, nutze ich für letzteres die Bezeichnung Gegenstandsbild oder in Anlehnung an C. G. Jung (1972; 1995) den Begriff Imago (Pl.: Imagines).

In den semantischen Beschreibungen und den darin enthaltenen heterogenen Bewertungen des Komplementärstudiums spiegeln sich die Schwierigkeiten, die hinsichtlich der Frage nach der Gestaltung dieses fächerübergreifenden Studienprogramms auftreten. Die Meinungen über das Komplementärstudium gehen nicht nur unter den Studierenden weit auseinander. Auch von Vertreter*innen anderer universitärer Statusgruppen wird dieser Studienbestandteil sehr unterschiedlich bewertet. Der untersuchte Textkorpus enthält u.a. Aussagen von Professor*innen, internen und externen Lehrbeauftragten sowie Mitarbeiter*innen aus Bereichen der akademischen Verwaltung, u.a. den Studiendekanaten der Fakultäten, der Studienberatung, dem Qualitätsmanagement sowie der Marketingabteilung. Die Analyse der Gegenstandsbilder des Komplementärstudiums macht deutlich, dass im untersuchten Diskurs sehr unterschiedliche Konzepte von Bildung und Studium kursieren.

Der sich in diesem Datenmaterial abzeichnende Dissens wird als Widerstreit darüber interpretiert, welcher Zweck mit fächerübergreifenden Bildungsangeboten verfolgt werden sollte bzw. durch welche Praktiken die Erkenntnisfähigkeit Studierender gefördert werden kann. Die Analyse lässt im Ergebnis hinter dem monolithischen Bildungsbegriff vier unterschiedliche Konzepte von Erkenntnis hervortreten. Damit rückt Erkenntnis- und Urteilsfähigkeit als übergeordnetes Bildungsziel in den Blick. Der Argumentation von Maturana und Varela (1987, 35) folgend, wird Erkenntnis als eine durch den Beobachter getroffene Bewertung von Verhalten als angemessen bzw. effektiv aufgefasst. Aus der Bestimmung von Erkenntnisbefähigung als übergeordnetem Studienziel ergab sich die Leitfrage der Datenanalyse18, die lautet: Welche Praktiken bewertet ein Beobachter im Studienkontext als angemessen/effektiv und was empfindet er als störend/ineffizient?

Die eingangs aufgeworfene Frage nach dem Selbst im Kontext wissenschaftlicher Bildung wird von Daston und Galison (2007) als eine Frage der Habitualisierung spezifischer Verhaltensweisen in einem institutionellen Kontext thematisiert, die zur Herausbildung einer spezifischen, kollektiv geteilten Beobachtungshaltung führt. Am Beispiel von Objektivität verdeutlichen sie, wie sich die gezielte Einübung von Beobachtungspraktiken, die als wissenschaftlich gelten, auf das Selbstverhältnis des Beobachters auswirken. Anhand der von ihnen getroffenen Unterscheidung in Praktiken der Welterkenntnis und Selbst-Techniken (2007) kann gezeigt werden, wie sich diese Praktiken gegenseitig bedingen und auf das sich im Studium bildende wissenschaftliche Selbst auswirken. Vor diesem Hintergrund rückt die von Hastedt (2012, 9) als „Bildung in speziellen Institutionen“ von Selbstbildung unterschiedene Dimension von Bildung wie die Rückseite der Medaille wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Der Hochschulpädagoge Ludwig Huber19 (1991) äußert sich folgendermaßen zur sozialisierenden Rolle institutioneller Bildung:

Wenn – wie zumeist – ‚Bildung durch Wissenschaft‘ emphatisch gebraucht wird, um die Einforderung einer pädagogischen Verantwortung der Universität über das Treiben und Vermitteln von Wissenschaft hinaus abzuwehren, dann wird implizit (ohne diesen Begriff) auf einen selbständigen nicht intentional zu steuernden Prozeß der Sozialisation durch Wissenschaft gesetzt. Dieser findet zweifellos statt … (Huber 1991, 198)

Das durch Hubers Forschung wesentlich geprägte und beförderte hochschuldidaktische Format des „Forschenden Lernens“, mit dem er sich für eine „intentionale“ („hochschulpädagogische“) Intervention stark gemacht hat, steht in der Tradition Wilhelm von Humboldts. Huber (1991, 194) grenzt sich ab von einem Bildungsverständnis, das „an ein so oder so beschriebenes Quantum bestimmter Kenntnisse gebunden“ ist, indem er ausdrücklich darauf hinweist, dass mit der Formulierung „Bildung durch Wissenschaft“ (Wissenschaft wohlgemerkt im Singular) nur eine die Einzelwissenschaften durchdringende Fragestellung gemeint sein kann oder „auf der Seite des Subjekts, eine bestimmte Fragehaltung“, die sich als „Disposition der Erkenntnissuche“ geformt und bewährt hat. Die Haltung, welche die Universität als Bildungsinstitution fördern soll, versteht Huber unter Verweis auf Schleiermachers „Gelegentliche Gedanken über Universitäten im deutschen Sinn“ aus dem Jahr 1808 als „das Vermögen, selbst zu forschen, zu erfinden und darzustellen“ (zitiert in 1991, 194). Als einen möglichen Ort für die Bildung einer auf Selbstreflexivität (1991, 196) und zweckfreies Forschen (1991, 195,198) gerichteten Haltung, benennt Huber „fächerübergreifende Studien […] – ein neu zu konzipierendes, nicht traditionalistisches, sondern problemorientiertes und reflexives studium generale“ (1991, 199).20

An Huber anknüpfend frage ich, was die Entstehung einer wissenschaftlichen Haltung im Sinne von Bildung, „in der objektive Ansprüche des Kulturbereichs, hier der Wissenschaft, und subjektive der Person miteinander vermittelt sind“ (1991, 196), wahrscheinlicher macht. Als richtungsweisend für einen auf diese Frage zielenden Forschungsansatz benennt Huber (1991) zum einen drei Dimensionen der humboldtschen Forderung nach Selbstreflexion (Wissenschaft als Erkenntnismodus, Selbstreflexion des Subjekts, Reflexion auf das Allgemeinwohl): So wie Bildung nicht losgelöst vom Subjekt der Bildung (dem sich Bildenden) zu denken ist, könne Selbstbildung im humboldtschen Sinne nicht ohne Rückbezug auf den Begriff der Menschheit und deren „Ausbildung […] als ein Ganzes“ (Humboldt 1986, 32) erfolgen.21 Zum anderen betont Huber die Notwendigkeit der Berücksichtigung von Aspekten menschlicher Existenz, die auf die systemische Ebene verweisen, wie „kognitive Dissonanzen“, „Fragen der emotionalen Klärung der Persönlichkeitsentwicklung (z.B. Ambiguitätstoleranz) und der Habitusbildung“ (1991, 196). Hubers Überlegungen werden im Folgenden insofern berücksichtigt, als dass die Frage nach dem Menschen bzw. danach, was (und von wem) unter Selbst verstanden wird, als Orientierungspunkt bezüglich der Frage nach der Gestaltung fächerübergreifender Studienprogramme immer präsent bleibt.

Damit rückt die „menschliche Doppelexistenz“ (Köppl 2017, 81) ins Zentrum der theoretischen Betrachtungen: Der Mensch agiert sowohl als bewusstes Subjekt wie auch als Lebewesen, das bewusste und unbewusste Mechanismen zur Aufrechterhaltung seiner biologischen und sozialen Überlebensfunktionen nutzt. Beobachtung, im umfassenden Sinn von Wahrnehmung und Informationsverarbeitung, erfolgt nicht ausschließlich als bewusster Prozess. Im Gegenteil erhält sich das Lebewesen Mensch überwiegend durch unbewusst ablaufende Regulationsmechanismen am Leben, deren Funktion darin besteht, Werte in einem homöostatischen Bereich zu erhalten. Das Prinzip des Werterhalts wirkt nicht nur auf der – von mir als systemisch bezeichneten – Ebene der automatischen Homöostase. Auch in den Werturteilen, die wir auf der Verstandesebene treffen und als Meinungen äußern, spiegeln sich Bedürfnisse, die auf ein effektives Lebensmanagement auf einer soziokulturellen Ebene gerichtet sind.

Den engen Zusammenhang zwischen der Bedürfnissteuerung eines lebenden Systems und seinen Bewertungen verdeutlicht das Ergebnis der vorgenommenen Datenanalyse: Vier Grundbedürfnisse erweisen sich als die Schlüsselkategorien des untersuchten Diskurses. Entlang der methodischen Vorgehensweise der Grounded Theory wurde anhand des Datenmaterials ein Kodiersystem entwickelt22, das die systematische Einteilung in vier typische Diskurspositionen ermöglicht. Diese Diskurspositionen sind als typische Beobachtungshaltungen zu verstehen, die ein Beobachter gegenüber dem Komplementärstudium einnehmen kann. Jede Diskursposition versammelt typische Aussagen, deren Gemeinsamkeit in der Ausrichtung auf ein je spezifisches Bedürfnis liegt. Diese Bedürfnisse können in handlungsleitende Studienmotive übersetzt werden, aus denen sich ablesen lässt, was ein Beobachter als erkenntnisförderndes Verhalten (angemessene Studienpraxis) bewertet.

Zur Erklärung der Diskursdynamik wird die systemisch bedingte Polarität von Bedürfnissen herangezogen, aus der sich auf der semantischen Ebene ein Muster von vielfältigen dualistischen Gegensätzen ergibt. Die datenbasiert nachgewiesenen bipolaren Spannungsverhältnisse auf der Diskursebene werden im Anschluss an Hans-Peter Dürr (2016) und C. G. Jung (1972; 1995) als Ausdruck eines komplementären Verhältnisses zwischen zwei grundlegend verschiedenen Beobachtungshaltungen (extravertierte und introvertierte Einstellung) interpretiert.23 Eine mit dem Ziel der Welterkenntnis bewusst eingeübte wissenschaftliche Beobachtungshaltung kann zu einer habitualisierten extravertierten Einstellung führen, welche sowohl das Weltverhältnis als auch das Selbstverhältnis des Beobachters prägt.24

In einem Ausblick wird eine Konzeption für das Komplementärstudium am Leuphana College vorgestellt, in welche die dargestellten Überlegungen als konkrete Vorschläge zur Neugestaltung dieses fächerübergreifenden Studienprogramms eingeflossen sind. Die Aufgabe komplementärer Bildung sehe ich in der gezielten Anleitung zum Perspektivenwechsel als einer Selbst-Technik, die einer einseitigen Beobachtungshaltung entgegensteuert. Die Bewusstmachung der eigenen Beobachtungshaltung gegenüber spezifischen Gegenstandsbildern dient der Reflexion dadurch hervorgebrachter Welt- und Selbstverhältnisse und eröffnet Möglichkeiten für ihre Transformation.

1 Von 2008 bis 2011 war ich an der Bucerius Law School und der HafenCity-Universität in Hamburg tätig. Seit 2011 bin ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Koordinatorin an der Leuphana Universität in Lüneburg beschäftigt.

2 Bereits hinsichtlich der Frage, ob von fächerübergreifenden oder überfachlichen Studienprogrammendie Rede sein soll, besteht kein Konsens geschweige denn eine einheitliche Sprachregelung. Bezugnehmend auf Wilhelm von Humboldt und seine Unterscheidung in „die verschiedenen Fächer der menschlichen Erkenntnis“ (Humboldt 1986, 32), spreche ich von fächerübergreifender Bildung.

3Die Konfliktlinien verlaufen u.a. zwischen den administrativen Anforderungen im Zusammenhang mit der Modularisierung des Programms und organisatorischen Ansprüchen, welche die Wahlfreiheit auf inhaltlicher Ebene betreffen. Letzteres reicht u.a. in die Diskussion darüber hinein, ob Studierende gegen ihren Willen zur Belegung fachfremder Kurse verpflichtet werden können, und ob im Rahmen eines fächerübergreifenden Programms auch der Vermittlung von Fachinhalten Raum gewährt werden muss.

4 Es gibt verschiedene Möglichkeiten Begriff zu definieren. Im Folgenden wird darunter ein sprachlicher Ausdruck (Wort, Zeichen) verstanden, mit dem ein Beobachter einen bestimmten Vorstellungsinhalt bezeichnet. In der Grounded Theory werden Begriff und Konzept synonym zur Bezeichnung von „verallgemeinernden Sprachausdrücke[n] für spezifische empirische Phänomene“ verwendet. Die genannten Termini werden „auch als Sammelbezeichnung für ‚Kodes‘ und ‚Kategorien‘ angesehen“ (Breuer 2010, 74).

5Meine Doppelrolle als Forscherin und Akteurin im Feld wird hinsichtlich der diesbezüglichen epistemologischen und methodischen Voraussetzungen in Kapitel 3.1 reflektiert.

6 Im deutschlandweiten Vergleich weist es mit 30 von 180 Credit-Points eine sehr umfassende curriculare Verankerung auf.

7 Diese Einteilung orientiert sich an der Fachsystematik, wie sie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG 2021) verwendet.

8 Damit ist ein traditionell an der Arbeit mit Texten und sonstigen medialen Informationsquellen wie (bewegten) Bildern, Objekten, Artefakten etc. orientierter Zugang gemeint.

9 Die auf der Leuphana-Website (2021a) beschriebene Struktur ist das 2015 erzielte Ergebnis eines Aushandlungsprozesses, in den zahlreiche Akteure unterschiedlichster Statusgruppen eingebunden waren. Davor setzte sich das Komplementärstudium aus sechs Perspektiven zusammen, bei deren Benennung von einer Orientierung an Wissenschaftsgebieten und Disziplinen bewusst abgesehen worden war. Die Perspektivenbezeichnungen lauteten: Methoden & Modelle, Kunst & Ästhetik, Sprache & Kultur, Verstehen & Verändern, Projekte & Praxis sowie Natur & Technik.

10Der Begriff „Beobachter“ steht im generischen Maskulinum, da es sich um ein Abstraktum handelt, zugleich dient er der Anonymisierung der Aussagen im dritten Kapitel. Ebenso handhabe ich Abstrakta, die im direkten Zusammenhang mit Beobachter verwendet werden, wie z.B. der Wahrnehmende, der Beurteilende, der Erkennende sowie die Formulierung Beobachtungstyp, die für eine von Personen unabhängige und damit auch geschlechtsneutrale Klassifikation einer Haltung steht. Darüber hinaus wurde eine gendergerechte Schreibweise mit dem Gendersternchen (*) gewählt, dort, wo möglich, auch ein geschlechtsneutraler Plural. An einzelnen Stellen wurden Begriffe mit historischem Hintergrund („Wissenschaftler“) oder im Interesse der Leserlichkeit Komposita wie „Forscherpersönlichkeit“ nicht angepasst.

11 In seiner „Theorie der Bildung des Menschen“ spricht Wilhelm von Humboldt allerdings nicht von der ganzen Person, sondern dem „ganzen Wesen“ (1986, 34, 36), was als Indiz dafür gelten kann, dass Humboldt ‚Individuum‘ nicht mit ‚Person‘ gleichsetzt.

12 Die Frage, ob oder unter welchen Bedingungen Bildungsangebote dem Individuum tatsächlich zum Bildungsanlass werden können, wird vor einem systemtheoretischen Hintergrund unter der Fragestellung erörtert, was unter „Erkenntnis“ verstanden werden kann. In Anschluss an Maturana und Varela (1987, 35) wird eine Position vertreten, von der aus Erkenntnis als effektive Handlung definiert wird.

13 Wobei Strunz fachwissenschaftliche Auseinandersetzungen vor Augen hat, bei denen die Frage nach dem Menschen nur unter einem Teilaspekt erfolgt, „[…] dem exakt-naturwissenschaftlichen, dem biologischen, dem geisteswissenschaftlichen, dem soziologischen, dem theologischen. Solche Einseitigkeiten sind in den Fachdisziplinen nicht zu vermeiden, und sie sind, vom pädagogischen Sinn der Schularbeit und vom Bildungsauftrag der Universität aus gesehen, auch ungefährlich, sofern sich der Fachvertreter immer bewusst ist und […] darauf hinweist, daß seine Art, Menschen zu sehen, eben nur eine spezielle ist und dass die Verabsolutierung solche Erkenntnisse, sogar schon die allzu einseitige Akzentuierung seines Aspektes zu einer Verzerrung des Menschenbildes führt“ (1965, 17; Hervorh. C. S.).

14 Auch wenn hier an viele Konzepte angeknüpft wird, auf die sich auch die integrale Bewegung in ähnlicher Form bezieht, wird von der Verwendung des Terminus integral zur Bezeichnung der erarbeiteten Bildungskonzeption abgesehen.

15 Unter anderem eine von Daniela Michaelis herausgegebene Schriftenreihe zur Integralen Pädagogik (https://www.ibidem.eu/de/reihen/gesellschaft-politik/integrale-paedagogik.html) sowie Reinhard Fuhr/ Heinrich Dauber „Praxisentwicklung im Bildungsbereich – ein integraler Forschungsansatz“, 2004 und Internetforen, z.B. https://www.integralesforum.org/dabei-sein/integrale-initiativen-themen-und-projekte/4952-integrale-paedagogik (letzter Aufruf Juli 2021).

16 Zahlreiche dieser Arbeiten nehmen auch nur Bezug auf Ken Wilber, dem einflussreichsten zeitgenössischen Autor dieser Bewegung. Wilber hat seine Theorie jedoch u.a. auf Gebsers Ideen, insbesondere seine Konzeption einer integralen Bewusstseinsstruktur, aufgebaut. Auch wenn Wilber in wissenschaftlichen Fachkreisen umstritten ist, trägt er mit seinen Publikationen wesentlich zur Auseinandersetzung mit Fragen nach der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins im Kontext von Bildungsfragen und zur Integration theoretischer Ansätze unterschiedlichster Wissenschaftsgebiete – u.a. der Theorie von Gebser – bei.

17Das Konzept der Komplementarität spielt im Bildungsdiskurs bisher kaum eine Rolle. Eine explizite Bezugnahme erfährt es in einem Text von Jongebloed (2003), der trotz seines Verweises auf die Quantenphysik eine binäre Gegenüberstellung von Theorie vs. Praxis wählt, die sich mit der hier erarbeiteten Theorie als inkompatibel erwiesen hat.

18 Die analytische Leitfrage hat sich aus der Datenanalyse ergeben. Wie bei dem Fernsehquiz „Jeopardy!“ (M. Richards 1984) ging es im Prozess des Kodierens darum, die Frage zu finden, auf welche all die semantischen Beschreibungen der Beobachter Antworten darstellen. Erst vor dem Hintergrund der entsprechenden Theorien konnte die Frage in dieser Form formuliert und die gebildeten Kodes und Kategorien als unterschiedliche Antwort-Cluster darauf interpretiert werden.

19 Ludwig Huber hat dieses Forschungsprojekt bis zu seinem Tod im Jahr 2019 beratend unterstützt.

20 Huber schneidet in diesem Kontext auch die Frage an, ob ein solcher Ort, welcher Raum für Selbstreflexivität, Muße zum Nachdenken und Freiheit zum Erfinden (1991, 195) gewähren kann, in unserer Gesellschaft paradoxerweise zum obligatorischen Studienbestandteil gemacht werden muss, um einem solchen Freiraum seine Existenzberechtigung zu verleihen (1991, 199).

21 Denn die Aufgabe des Individuums sieht Humboldt darin, „dem Begrif der Menschheit in unsrer Person […] einen so grossen Inhalt, als möglich, zu verschaffen“ (1986, 34).

22 Unter Verwendung des speziell für die computergestützte qualitative Daten- und Textanalyse entwickelten Programms ATLAS.ti.

23 Die in Kapitel 3 dargestellte Datenanalyse bezieht sich nicht auf Individuen. Vielmehr wird Jungs (1972; 1995) theoretische Unterscheidung zwischen Extraversion und Introversion auf die erarbeiteten Diskurspositionen und damit auf typische Beobachtungshaltungen, die der einzelne Beobachter vorübergehend einnehmen kann, angewendet.

24 Damit ist nicht gemeint, dass Wissenschaftler*innen per se dem extravertierten Typus zuzurechnen sind. Jedoch korrespondiert die von Wissenschaftler*innen eingenommene Beobachtungshaltung mit einer extravertierten Einstellung, wenn sie im Zuge ihrer wissenschaftlichen Suche nach objektiver Welterkenntnis einseitig auf das Objekt fokussieren.

Kapitel 1: Komplementäre Bildung – Begriffliche Rahmung einer datenbasierten Theorie

Im Zentrum der Untersuchung stehen semantische Beschreibungen des fächerübergreifenden Komplementärstudiums am Leuphana College. Deshalb rückt gleich zu Beginn der Beobachter als „Lebewesen-in-der-Sprache“ in den Fokus. Im Anschluss an die biologisch begründete Erkenntnistheorie von Maturana und Varela (1987) wird das erkennende Tun des Beobachters als Hervorbringung von Realität verstanden, wobei betont wird, dass „alles menschliche Tun sich im In-der-Sprache-Sein abspielt“ (1987, 267). Realität steht dabei für subjektgebundene Konstrukte, welche durch ihre interpersonelle Abstimmung den Charakter des Realen, d.h. eine vom Beobachter unabhängige Existenz, bekommen (Ludewig 1987, 13–14). Erkenntnis wird als effektive Handlung definiert, „die es einem Lebewesen in einem bestimmten Milieu erlaubt, seine Existenz darin fortzusetzen, indem es dort seine Welt hervorbringt“ (Maturana und Varela 1987, 36). Damit wird die Identität von Erkennen und Handeln postuliert, was Konsequenzen hat in Hinsicht darauf, was unter Kognition1 verstanden wird, weil „[w]as immer wir in irgendeinem Bereich tun, sei es etwas Konkretes wie das Gehen oder etwas Abstraktes wie philosophische Reflexion, bezieht unseren gesamten Körper mit ein“ (Maturana und Varela 1987, 267). Der Mensch gerät dadurch in seiner Doppelexistenz als Lebewesen und als Subjekt in den Blick. Zur Differenzierung dieser beiden Betrachtungsebenen wird im Folgenden zwischen einer systemischen und einer semantischen Ebene unterschieden.

Vor dem damit vorausgesetzten Hintergrund erfolgt die Annäherung an das Komplementärstudium, indem die semantischen Beschreibungen als sprachlich strukturierte Verhältnisse eines Beobachters zu diesem Phänomen aufgefasst werden. Entsprechend geht es bei der Analyse der untersuchten Aussagen um die Offenlegung der zugrundeliegenden begrifflichen Ordnungssysteme, derer sich die Beobachter bedienen, um ihre Beobachterrealität hervorzubringen. Im Folgenden wird durch die Einführung des Bildungsbegriffs als einer den Begriffen Erkenntnis und Viabiliät übergeordneten Kategorie verdeutlicht, dass durch Beobachter vorgenommenen Bewertungen in einem komplexen Zusammenspiel der semantischen und der systemischen Ebene entstehen.

1.1 Begriffliche Ordnungssysteme als Interpretationsrahmen der Analyse

Um sich dem Themenbereich fächerübergreifender wissenschaftlicher Bildung zu nähern, empfiehlt es sich, zunächst danach zu fragen, was unter dem Referenzpunkt Bildung verstanden werden soll. Im Kontext der Bildungs- und Erziehungswissenschaften gibt es eine Vielzahl theoretischer Ansätze, die sich mit dieser Frage beschäftigen und zu unterschiedlichen Antworten kommen. Unter Verweis auf Ehrenspeck und Rustemeyer problematisiert Dieter Lenzen die „Unschärfe“ des Bildungsbegriffs, die dazu führt, dass er „begrifflich eine Differenz [fixiert], die mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt“ (1997, 950) werden kann. Lenzen zufolge begreift die Unbestimmtheitsdiagnose

Bildung als einen Begriff, wie er sich einem Beobachter darstellt, der, von außen kommend, die historisch-semantischen Facetten nicht nachvollzieht. Tut er das indessen, dann entpuppt sich der Bildungsbegriff weniger als indeterminiert denn als überdeterminiert. In ihm haben sich im historischen Verlauf zahlreiche semantische Elemente akkumuliert, von denen im konkreten Fall der Rede niemand weiß, ob sie überhaupt, ausnahmslos oder in welcher Selektion konnotiert werden. (1997, 951)

Durch die Separierung semantischer Schichten des Bildungsbegriffs2 versucht Lenzen unterschiedliche Bedeutungsebenen einzeln in den Blick zu bekommen. Auf dieser Basis will er prüfen, ob der Begriff der Selbstorganisation bzw. Autopoiesis3 oder Emergenz (SAE) als „Beschreibungsterminus für die Humanontogenese“ Chancen hat, den in seinen Augen für eine wissenschaftliche Verwendungsweise ungeeigneten Bildungsbegriff abzulösen (1997, 951). Lenzen arbeitet zunächst folgende vier Bildungsdimensionen ausführlich heraus: 1) Bildung als individueller Bestand, 2) Bildung als individuelles Vermögen, 3) Bildung als individueller Prozess und 4) Bildung als individuelle Selbstüberschreitung und als Höherbildung der Gattung (1997, 951–56). Diese vier Dimensionen können Lenzen zufolge alle durch den Alternativbegriff der Autopoiesis abgedeckt werden. Er weist aber auch darauf hin, dass der Bildungsbegriff mehr als diese vier Dimensionen umfasst und hinterfragt ganz gezielt „das Verständnis von Bildung als Aktivität bildender Institutionen oder Personen“ (Lenzen 1997, 956). In der Regel wird zwischen denjenigen unterschieden, deren Handeln darauf abzielt, andere zu bilden, und solchen, deren Handeln der eigenen Bildung dient. Lenzen zufolge, der sich insbesondere auf Niklas Luhmanns Soziologische Aufklärung Band 6 von 1995 bezieht, ist diese Unterscheidung aus neurowissenschaftlicher und systemtheoretischer Perspektive aber nicht haltbar, weil „jede Aktivität des Organismus eine Tätigkeit ist, die die Hirnstruktur verändert. Aktivitäten, Handlungen, die nicht zugleich modifizierendes Denken sind, gibt es gar nicht“ (Lenzen 1997, 952).

Bildung wird nicht als Einfluss der Umwelt auf das System verstanden und Lernen nicht als „Übernahme“ einer Instruktion aus der Umwelt begriffen (Lenzen 1997, 956–57). Vielmehr stellen „Erziehung und Unterricht als Umweltphänomene Perturbationen dar […], aus denen das kognitive System selegiert“ (1997, 956). Demzufolge bildet sich nicht nur im Bildungskontext jeder beteiligte Akteur (selbst), sondern grundsätzlich jedes Individuum, bei jeder beliebigen anderen Aktivität, die wir nicht Bildung nennen (1997, 952). Pädagogische Praktiken (nicht aber Bildung in einem die Dimension der Selbstbildung umfassenden Sinne) werden aus systemtheoretischer Perspektive auf die gleiche Stufe mit allen anderen Umweltreizen gestellt.

Die Verwendung des Begriffs „Bildung“ in seiner „Funktion einer normativen Leitkategorie zur Begründung und Zielbestimmung pädagogischen Handelns“ (Koller 2018, 10) wurde auch vor dem Hintergrund der „von Heinrich Roth propagierten realistischen Wendung der Pädagogik zu einer modernen Sozialwissenschaft seit den 1960er Jahren“ zunehmend infrage gestellt und wiederholt durch andere Termini zu ersetzen versucht. Unter Verweis auf die Diskussion darüber, inwiefern es angezeigt sei, den klassischen Bildungsbegriff zu ersetzen oder ob er jenen unverzichtbaren „Ort darstellt, an dem über Legitimation, Zielsetzung und Kritik pädagogischen Handelns methodisch reflektiert gestritten werden kann und soll“ greift Hans Christoph Koller weitere relevante Fragen auf:

ob (bzw. inwieweit) […] [die] um 1800 entwickelte klassische Fassung des Bildungsbegriffes auch heute noch als Orientierungskategorie für bildungstheoretische Überlegungen brauchbar ist oder ob dafür nicht eine gründliche Revision erforderlich wäre [und ] […] ob bzw. inwieweit die philosophische, begrifflich-(re)konstruktive Auseinandersetzung mit dem Bildungsbegriff geeignet ist, Verbindungen zur empirischen Forschung tatsächlicher Bildungsprozesse herzustellen. (Koller 2018, 10)

Vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen im Rahmen der vorliegenden Untersuchung kann ich alle diese Fragen bejahen, wobei ich die vermeintliche Gegenposition berücksichtigt wissen will. Konkret heißt dies, dass mir eine Haltung angemessen scheint, die sowohl die Orientierung am klassischen Bildungsbegriff als auch seine gründliche Revision befürwortet. Darüber hinaus setze ich auf die zusätzliche (nicht alternative!) Verwendung weiterer Termini zur Differenzierung des Container-Wortes Bildung (Lenzen 1997, 549).

Statt der u.a. von Lenzen (1997) propagierten Abschaffung des Bildungsbegriffs empfiehlt sich m. E. ein Weg, bei dem am Bildungsbegriff festgehalten werden kann4, gleichzeitig aber eine terminologische Differenzierung eingeführt wird, die – wie von Maturana und Varela (1987, 149) im Sinne einer „logischen Buchhaltung“ vorgeschlagen – eine Gruppierung in zwei getrennte Fragebereiche ermöglicht. Dabei wird zwischen einer semantischen und einer systemischen Betrachtungsweise differenziert (systemisch aufgrund der ihr zugrundeliegenden systemtheoretischen Grundannahmen). Auf diese Weise wird zwischen Bildung als Verhaltensbewertung durch einen Beobachtenden und Bildung als autopoietischer Entwicklungsdynamik eines lebenden Systems unterschieden. Letzteres korrespondiert mit bildungstheoretischen Positionen, die dem Konstruktivismus zugerechnet werden.

Durch die Verwendung des gleichen Begriffs (Bildung) für einen inneren Prozess, der permanent und größtenteils ohne unsere bewusste, willentliche Entscheidung abläuft, und den durch einen Beobachter „observierten“ Entwicklungsprozess ergeben sich leicht unbemerkte semantische Diskrepanzen, die im Diskurs zu Missverständnissen führen. Entsprechend geht es mir darum zu verdeutlichen, wie eng die beiden Ebenen miteinander verwoben sind und welche Wirkmechanismen zwischen ihnen bestehen. Um die Differenz sichtbar zu machen, gleichzeitig aber die Gemeinsamkeit zu betonen, verwende ich den Bildungsbegriff wie eine Klammer für das komplexe Zusammenspiel beider Ebenen. So wird er zu einem übergeordneten Gefäß (Kategorie), das andere Konzepte (Kodes und Subkategorien) in sich aufnehmen kann.5

Bevor dies inhaltlich weiter ausgeführt und die gewählten Subkategorien des Bildungsbegriffs eingeführt werden, erfolgt eine epistemologische und methodische Reflexion, warum diese Vorgehensweise sinnvoll ist. Auf diese Weise soll verdeutlicht werden, wie die hier vorgestellte Theorie datenbasiert aus den Ergebnissen der empirischen Analyse entwickelt wurde und in welcher Beziehung sie zu der im Rahmen der Datenanalyse gewählten methodischen Vorgehensweise steht.

Die Funktion begrifflicher Ordnungen für das denkende Bewusstsein ist sowohl für die Interpretation der Ergebnisse datenbasierter Studien als auch für die damit einhergehende selbstkritische Reflexion des Forschungsprozesses von zentraler Bedeutung. Die Methode der Grounded Theory fordert Forschende zu einer intensiven Auseinandersetzung mit der Bildung begrifflicher Kategorien, deren Legitimationsgrundlage sowie einer diesbezüglichen Selbstreflexion auf. Empirisches Datenmaterial enthält Beobachtungen erster Ordnung, die im Prozess des Kodierens (re-)konstruiert werden. Mit dem Ziel, diese erste Ordnung zu erklären, erzeugen Forschende eine Beobachtung zweiter Ordnung. Dabei handelt es sich um ein übergeordnetes Begriffssystem, das als Interpretationsschema dazu dient, die Analyseergebnisse in einen größeren theoretischen Kontext (im vorliegenden Fall die Frage nach Bildung) einzuordnen.

1.2 Grounded Theory: Kodes, Kategorien und die Rolle des Beobachters

Die Grounded Theory ist keine einheitliche Methode, sondern vielmehr eine epistemologisch offene Methodologie (GTM). Sie wurde von Barney Glaser und Anselm Strauss im Rahmen ihrer Studie Awareness of Dying (1965) entwickelt und in The Discovery of Grounded Theory (1967) als qualitative Forschungsmethode erstmalig dargestellt. Heute gilt sie als die weitverbreitetste Methode der qualitativen Sozialforschung (Reichertz und Wilz 2016, 48). Aufgrund ihrer strukturellen Offenheit besteht jedoch die Gefahr, dass Forschende ihre epistemologischen Fundierungen und methodologischen Grundannahmen nicht ausreichend reflektieren und sich vorrangig auf die datenorientierte Analyse fokussieren (Reichertz und Wilz 2016, 48). Demnach ist zunächst eine epistemologische und methodische Verortung im Feld der unterschiedlichen Grounded-Theory-Ansätze angezeigt.

Die Relevanz einer solchen Positionierung verdeutlicht ein kurzer Blick in die Geschichte der Grounded Theory, die durch sehr unterschiedliche epistemologische Standpunkte geprägt ist. Bereits die beiden „Urväter“ Strauss und Glaser unterscheiden sich diesbezüglich stark voneinander. Barney Glaser wird als positivistischer Vertreter eingestuft, wohingegen der spätere Strauss(Strauss und Corbin 1996) dem interpretativen Paradigma nähersteht, auch wenn diese Variante noch immer positivistische Anklänge hat.

Als verbindendes Merkmal aller Grounded-Theory-Ansätze kann die Zielsetzung benannt werden, durch den detaillierten Vergleich empirischer Daten ein charakteristisches Muster zu erkennen. Dazu werden z.B. verschriftlichte Aussagen oder filmisch dokumentierte Interaktionen miteinander verglichen und nach dem Prinzip der Ähnlichkeit6 so gruppiert, dass der jeweils fokussierte Aspekt der Gemeinsamkeit über die Zuordnung zu Kodes, Subkategorien und Kategorien bottom-up immer stärker abstrahiert wird.

Mit Kodieren wird im Kontext der Grounded Theory die Zuordnung von bestimmten empirisch beobachtbaren Phänomenen zu einem „kategorial-theoretischen Vokabular“ verstanden (Breuer 2010, 69). Bei der Beschreibung von Phänomenen und Ereignissen stellt sich das Problem der sprachlichen bzw. symbolischen Fassung: Bestimmte Charakteristika des beobachteten Phänomens werden eingeschlossen, andere aus der Beschreibung ausgeschlossen, weshalb es in Hinblick auf die Bildung von Kodes und Kategorien sinnvoll ist, von einer Modellierung des Objekts zu sprechen (2010, 12). Durch das Vergleichen mit ähnlichen und kontrastierenden Fällen erfolgt im Prozess des Kodierens eine verdichtende Modellierung, durch die immer abstraktere Konzepte (Kategorien und Subkategorien) gebildete werden (2010, 53). Am Ende dieses Prozesses, in dessen Rahmen eine datenbasierte Theorie entwickelt wird, stehen eine oder mehrere so genannte „Schlüsselkategorien“.

In einem ersten Schritt, dem so genannten offenen Kodieren, geht es um die Benennung7 von Phänomenen, wodurch die Aufmerksamkeit auf Ähnlichkeiten, Unterschiede und teilweise auch schon auf mögliche Beziehungen zwischen den einzelnen Phänomenen gerichtet wird. Um in diesem Prozess nicht vorschnell auf begrifflich etablierte Ordnungskategorien zurückzufallen, sind die Kodes und Kategorien möglichst eng am jeweiligen Datenmaterial zu entwickeln.8

Eine Theorie auf der Grundlage von Daten zu generieren, heißt, dass die meisten Hypothesen und Konzepte nicht nur aus den Daten stammen, sondern im Laufe der Forschung systematisch mit Bezug auf die Daten ausgearbeitet werden. […] Der Ursprung einer Idee oder gar eines Modells muss nicht in den Daten liegen. [...] Doch die Generierung von Theorie aus solchen ‚Einsichten‘ heraus muss in Beziehung zu den Daten gebracht werden – ansonsten besteht die Gefahr, dass Theorie und empirische Welt nicht zueinander finden. (Glaser und Strauss 2005, 15–16)

In einem nächsten Schritt werden die textnahen Kodes zu Kategorien gebündelt, mit denen Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen empirischen Ereignisgruppen auf einem höheren Abstraktionsniveau behauptet werden.9 In die Kategorienbildung fließen unweigerlich Präkonzepte ein. Bei so genannten Theory-driven-Analysen, welche top-down konstruiert werden, ist dies offenkundig.10Data-driven-Analysen, zu denen Grounded-Theory-Ansätzegerechnet werden, gehen bei der Bildung von Kategorien bottom-up vor. Daraus erwächst die Redewendung vom Emergieren der Kodes und Kategorien aus den Daten.11

Doch was genau wird unter „emergieren“ verstanden? Eine positivistische Sichtweise geht davon aus, dass das Muster, welches durch die Analyse sichtbar gemacht wird, in den Daten selbst enthalten ist. Dieses Muster, so die Behauptung, existiert unabhängig von den Forschenden in den Daten und wird von diesen nur „freigelegt“. Aus einer sozial-konstruktivistischen Perspektive ist „emergieren“ als ein (Re-)Konstruieren kollektiver Denk- und Handlungsmuster im Prozess der Datenanalyse zu deuten. Die kategorialen Ordnungsstrukturen, nach denen Forschende im ungeordneten empirischen Datenmaterial suchen, spiegeln demzufolge das Wissen über Zusammenhänge, welches Mitglieder einer Gesellschaft in einem historischen Zeitfenster vor einem gemeinsamen Erfahrungshintergrund teilen. Der forschende Beobachter muss dazu in der Lage sein, begriffliche Ordnungssysteme als soziokulturelle Konventionen wahrzunehmen, welche die Grundlage für Kommunikation bilden. Er kann in ihnen soziokulturell geteilte Konzepte oder auch neurobiologisch begründete Wahrnehmungsmuster erkennen. Es braucht Zeit, sich von gewohnten Ordnungssystematiken zu lösen und andere Beziehungsmuster in den Blick zu bekommen, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass das Kodieren als iterativer Prozess beschrieben wird.12

Für jegliche Rekonstruktion von Kategorien sind wissende Beobachter erforderlich. Damit erübrigt sich m. E. auch die z.B. von Richards und Richards getroffene Unterscheidung zwischen so genannten factual codes (insb. soziodemografische Daten) und referential codes (1996, 83). Anders ausgedrückt: ohne Beobachter keine Kategorie. Zwar können unterschiedliche Beobachter die gleiche Ordnung (re-)konstruieren, doch ist diese nie unabhängig von einem Wissen, dass sie als Angehörige einer wie auch immer gearteten Beobachtergemeinschaft teilen. In jedem Akt der Kategorisierung stecken stille Prämissen, denn bei der Rekonstruktion von Mustern geht es letztlich um die Benennung von wahrgenommenen Ähnlichkeiten mithilfe von Begriffen. Diese müssen – wenn auch nicht bereits etabliert – so doch für andere ausreichend anschlussfähig sein, damit das beobachtete Muster kommuniziert werden kann. Forschende, die ihre Theorie in Sprache fassen wollen, können sich also nicht von sämtlichen Präkonzepten freimachen, wenn sie beobachtete Phänomene beschreiben.

Man kann eine Datenanalyse ohne die Auseinandersetzung mit solchen Fragen betreiben, jedoch muss man dann akzeptieren, dass offenbleibt, woher das zur Strukturierung der Daten angelegte Kategoriensystem seine Legitimität bezieht. Insbesondere eine sozialkonstruktivistische Sichtweise, die eingesteht, dass sie keine Wahrheit, sondern soziale Wirklichkeiten offenlegt, steht in der Verantwortung zur Reflexion ihres kategorialen Grundgerüsts und der darin enthaltenen Prämissen. Die Kategorien, mithilfe derer wir Informationen ordnen und dadurch Wissen (re-)produzieren, treten in der Regel nicht isoliert auf, sondern als Kategoriensysteme, die eine hierarchische oder kausale Ordnung aufweisen. In Bezug auf hierarchische Kategoriensysteme behaupten Richards und Richards:

If it is a well-designed structure all the links are of a general-to-specific kind, and in any given case of a parent it should be clear from inspection what the exact relationship is: kind to instances, thing to parts, concept to examples, etc. (1996, 87; Hervorh. C. S.)

„Clear from inspection“ impliziert, dass man nicht weiter über die Beziehung nachzudenken braucht, da sie vermeintlich offensichtlich und für alle am Diskurs Beteiligten verständlich ist.13 Doch gerade die Verknüpfungslogik zwischen den Kodes und Kategorien und die sich daraus ergebende Diskursdynamik sind die Elemente, aus welchen der Erklärungsansatz für eine neue Theorie gewonnen wird. Durch die gezielte Entfremdung von einer scheinbar „natürlichen“ Verknüpfungslogik werden idealerweise bislang verdeckte Beziehungsmuster freigelegt. Gleichzeitig stellen die stark abstrahierten Schlüsselkategorien eine Art Scharnier dar zwischen den eng an den Daten formulierten Kodes und einer kommunikativ anschlussfähigen Theorie. Der Prozess des Kodierens endet, wenn eine Hypothese über die Beziehungsstruktur zwischen den Schlüsselkategorien empirisch ausreichend belegt werden kann. In diesem Fall spricht man von theoretischer Sättigung. Das freigelegte Muster ist Ausgangspunkt für die Entwicklung einer datenbasierten Theorie bzw. eines Erklärungsansatzes.14

Die hier vorgestellte Theorie basiert auf den Schlüsselkategorien der vorliegenden Datenanalyse. Bei den vier Schlüsselkategorien handelt es sich um menschliche Grundbedürfnisse. Deren Beziehung untereinander enthält eine Hypothese, die zentraler Baustein des datenbasierten Erklärungsansatzes ist: Auf der semantischen Ebene spiegelt sich die Beziehungsdynamik, die zwischen den Grundbedürfnissen auf systemischer Ebene besteht. Damit diese Hypothese in den Kontext der Frage nach Bildung eingeordnet werden kann, werden die vier Schlüsselkategorien bereits vor der ausführlichen Darstellung ihrer Generierung in Kapitel 3 eingeführt. Dies dient ihrer Einordnung in das für die Interpretation des Diskurses erarbeitete begriffliche Ordnungssystem. Dem stelle ich noch eine Reflexion über Erkenntnis als Entwicklungsziel eines Studiums voran, da die vier Grundbedürfnisse als Subkategorien eines Erkenntnisbegriffs angesehen werden, der im Anschluss an Maturana und Varela als „operationale Effektivität im Existenzbereich des Lebewesens“ (1987, 35) definiert wird.

1.3 Erkenntnisbefähigung und die Bildung des wissenschaftlichen Selbst

Als fächerübergreifendes Studienprogramm steht das Komplementärstudium im Kontext wissenschaftlicher Bildung. Die thematisierte Unschärfe des Bildungsbegriffs steht der Klärung der Frage, was das Spezifikum fächerübergreifender Studienangebote sein soll, erschwerend im Weg. Zur Unterscheidung von Ausbildung als einer vornehmlich auf die Weitergabe von Wissensbeständen und die Einübung spezifischer Handlungsweisen zielenden Praxis, wird Bildung – zumeist unter Berufung auf Wilhelm von Humboldt – als ein selbstgesteuerter Prozess verstanden, der auf eine umfassende bzw. ganzheitliche Entwicklung der Person abzielt (Hastedt 2012, 7–11). Deshalb wird im Zusammenhang mit diesem Bildungsideal auch die Formulierung von der „ganzheitlichen Bildung“ verwendet. An Universitäten weltweit wird versucht, dieses Ideal einer ganzheitlichen Bildung in konkrete Studienkonzepte zu übersetzen. Auch das Komplementärstudium am Leuphana College basiert auf der konzeptionellen Annahme, dass der mit einem Studium angestrebte ganzheitliche Bildungsprozess15 durch die fächerübergreifende Auseinandersetzung gefördert wird.

Erkenntnis als Entwicklungsziel fächerübergreifender Studienangebote?

In der Diskussion um das Komplementärstudium steht diese Prämisse zur Debatte. Die Diskussion wird dabei auf zwei Ebenen geführt: Auf der ersten Ebene geht es um die Frage, ob das konkrete Studienprogramm dem Ideal fächerübergreifender Bildung gerecht wird. Auf der Ebene darunter liegt die Diskussion darüber, was überhaupt unter fächerübergreifender wissenschaftlicher Bildung verstanden werden soll und ob diese wirklich dazu geeignet ist, den Entwicklungsprozess Studierender in gewünschter Weise zu fördern.16