Petersburger Erzählungen - Nikolai Gogol - E-Book

Petersburger Erzählungen E-Book

Nikolái Gógol

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Beschreibung

Der Titel »Petersburger Erzählungen« besteht aus drei von Gogols Meisternovellen: »Der Newski Prospekt«, »Das Porträt« und »Der Mantel«. Drei ergreifende, vielschichtige Geschichten über Menschen und deren Schicksale - große Literatur und spannender Lesestoff.

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Seitenzahl: 262

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Nikolai Gogol

 

Petersburger Erzählungen

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Impressum

 

ISBN/EAN: 9783958706286

 

Rechtschreibung und Schreibweise des Originaltextes wurden behutsam angepasst.

 

Cover: Gemälde "The new Hermitage in St. Petersburg in the 19th century" von Joseph-Maria Charlemagne-Baudet (1824–1870)

 

Covergestaltung: nexx verlag gmbh, 2017

 

www.nexx-verlag.de

 

 

 

Der Newski Prospekt

Nichts Schöneres gibt es als den Newski Prospekt, in Petersburg einmal gewiss nicht – hier bedeutet er ganz einfach alles! Kein Glanz, den diese schönste Straße unserer Residenz entbehren müsste! Ich bin mir sicher, dass nicht einer von den bleichgesichtigen Beamten, die die Stadt bevölkern, den Newski Prospekt um alle Güter dieser Welt vertauschen möchte. Nicht Leute nur, die fünfundzwanzig Jahre zählen und im Besitz eines flotten Schnurrbartes und fabelhaft geschnittener Kleider sind, begeistern sich so lebhaft für den Newski Prospekt, nein, auch bejahrte Leute, deren Kinn schon weiße Stoppeln trägt und deren Kopf so blank ist wie ein silbernes Tablett. Und nun die Damen erst! Die Damen sind vom Newski Prospekt womöglich noch entzückter. Und wer ist nicht entzückt von ihm? Wenn man den Prospekt betritt, spürt man sogleich diesen gewissen Duft von frohem Müßiggang. Und bist du auch in dringenden und wichtigen Geschäften unterwegs, betrittst du ihn, hast du jegliches Geschäft vergessen. Das ist der einzige Ort der Stadt, den man nicht aufsucht, weil man muss, zu dem uns nicht nur die Notwendigkeit und das Geschäftsinteresse lenken, die doch sonst ganz Petersburg regieren. Und triffst du einen auf dem Newski Prospekt, dann sieht er nicht so egoistisch aus, wie wenn du ihm zum Beispiel in der Morskaja, der Gorochowaja, Meschtschanskaja oder auf dem Litejnij Prospekt begegnest, kurzum, in einer von den Straßen, wo die nackte Gier und Habsucht und der Kampf ums Dasein aus den Zügen jedes Menschen sprechen, der vorübergeht oder -fährt, sei es im eigenen Wagen, sei es in der Droschke. Und jedermann passiert den Newski Prospekt, die Hauptverkehrsader der Residenz. Hier dürfen Leute aus dem Wyborger und Petersburger Viertel überzeugt sein, ihren Freunden zu begegnen, die sie seit manchem Jahr nicht mehr gesehen haben, weil sie weit draußen an der Moskauer Chaussee und in der Sandberggegend wohnen. Und kein Adressbuch und kein Meldeamt kann besser Auskunft geben als der Newski Prospekt. Allmächtiger Newski Prospekt! Du einzig richtige Promenade der in dieser Hinsicht armen Residenz! Wie fein gekehrt sind deine Bürgersteige, und, du lieber Gott, wie viele Füße hinterlassen ihre Spur darauf! Hier trappt der abgemusterte Soldat mit plumpen schmutzigen Stiefeln, deren Wucht schier den Granit zersprengt; hier huscht der winzige, hauchleichte Schuh der jungen Maid, die ihren Kopf nach jedem eleganten Ladenfenster wendet, wie sich die Sonnenblume stets zum Licht dreht; hier klirrt der Säbel des von großen Hoffnungen erfüllten Fähnrichs und ritzt scharfe Kratzer ins Trottoir – hier führt ein jeder seine Kraft spazieren oder seine Schwäche, die deswegen ja nicht weniger Eindruck machen muss. Und wie geschwind und wie phantastisch wechseln hier die Bilder an einem einzigen Tag! Wie groß die Zahl der Wandlungen in kurzen vierundzwanzig Stunden! Beginnen wir mit jener frühen Zeit des Morgens, da Petersburg nach heißem, frischgebackenem Brote riecht und von betagten Weibern in zerlumpten Kleidern wimmelt, die ihre Plätze vor den Kirchentüren zu erreichen trachten und heftige Attacken auf das Mitleid der Passanten machen. Um diese Stunde ist kein Leben auf dem Newski Prospekt. Die ehrenfesten Kaufleute und ihre Ladendiener schlafen noch in ihren Nachthemden aus holländischer Leinwand oder seifen sich die schönen, glatten Backen ab oder sitzen auch beim ersten Frühstück. Hungrige Bettler lungern vor den Kaffeehäusern; ein sehr verschlafener Ganymed, der gestern Abend, flink wie eine Fliege, mit den Schokoladentassen das Lokal durchflitzte, erscheint, den Besen in der Hand und ohne Schlips, und steckt den armen Teufeln altbackene Pasteten und kümmerliche Kuchenreste zu. Werktätiges Volk eilt durch die Straßen, und zuweilen kreuzt den Prospekt ein Zug von Arbeitern in hohen Stiefeln, so bespritzt mit Kalk, dass selbst der Katherinen-Kanal, der für sein reines Wasser doch bekannt ist, kaum genügen würde, sie zu säubern. Um diese Zeit ist es für Damen wenig ratsam, auszugehen, denn unser Volk bedient sich gern so derber Redensarten, wie sie die Damen höchstwahrscheinlich nicht einmal in unsern Schauspielhäusern von der Bühne hören. Zuweilen trottet ein verschlafener Beamter, der auf dem Weg in die Kanzlei den Prospekt passieren muss, mit seiner Mappe unterm Arm vorüber. Man kann entschieden sagen, dass um die Zeit, das heißt vor zwölf Uhr mittags, der Prospekt für jeden nur ein Mittel und für niemand einen Zweck bedeutet – er füllt sich immer mehr mit Menschen an, von denen aber keiner etwas anderes als seine Arbeit, seine Sorgen und Enttäuschungen im Kopf hat, von denen keiner an die Straße denkt, durch die er geht. Der Arbeiter spricht bloß von einem Silberzehner oder sieben Groschen Kupfer, die alten Männer und die alten Weiber fuchteln mit den Händen und reden laut mit ihrem Bruder Innerlich, wobei sie sich sehr lebhaft zu gebärden pflegen; doch niemand hört darauf, und niemand lacht darüber als allenfalls die buntbejackten kleinen Jungen, die, leere Milchkannen und frisch besohlte Stiefel in den Händen, schnell den Prospekt hinunterrennen. Um diese Zeit kannst du dich kleiden, wie du magst, du kannst – stell dir das vor – statt eines Hutes eine Mütze auf dem Kopf tragen, der Kragen kann dir viel zu weit aus der Krawatte schlüpfen, kein Mensch wird es auch nur bemerken.

 

Um zwölf Uhr okkupiert den Newski Prospekt die Schar der Hofmeister aus allen Ländern mit ihren Zöglingen, die zierliche batistene Kragen tragen. Die Jones aus England und die Cocq aus Frankreich wandeln Arm in Arm mit ihren Schutzbefohlenen dahin und machen ihnen, pflichtbewusst und gründlich, wie sie sind, geziemend klar, dass Ladenschilder an den Häusern dazu dienen, kundzumachen, was für Waren in dem betreffenden Geschäft zu haben sind. Die Gouvernanten, bleiche Misses und rotbackige Slawinnen, lustwandeln gravitätisch hinter ihren leichtfüßigen, zappeligen kleinen Schülerinnen und rufen ihnen zu, sie möchten ihre linke Schulter etwas höher nehmen und sich freundlichst gerade halten. Kurz, zu dieser Zeit ist unser Newski Prospekt der reinste Pädagogen Prospekt. Wenn aber dann die zweite Stunde naht, verringert sich die Zahl der Gouvernanten, Hofmeister und Kinder, das junge Volk wird allmählich ganz verdrängt von seinen zärtlichen Erzeugern, die da Arm in Arm mit ihren in den mannigfachsten Farben schillernden, nervösen Gattinnen einherstolzieren. Später gesellen sich zu ihnen all die Leute, die daheim noch irgendwelche äußerst wichtigen Pflichten zu erfüllen hatten, als da sind: mit ihrem Arzt vom Wetter und dem kleinen Pickel sprechen, der ihnen an der Nase aufgesprungen ist, sich nach dem Wohlsein ihrer Pferde sowie ihrer selbstverständlich hochbegabten Sprösslinge erkundigen, den heutigen Theaterzettel lesen und in der Zeitung nach den angekommenen und abgereisten Fremden sehen, Tee oder Kaffee trinken und so weiter. Des Weiteren erscheinen um die Zeit die Staatsbeamten, die unter allen wohl das beste Los gezogen haben; ich meine: die Beamten zu besonderer Verwendung. Ferner erblickt man hier Beamte aus dem Außenministerium, die sich bekanntlich der feudalsten Umgangsformen rühmen dürfen. Gott, was es für schöne Ämter und Posten gibt! Wie muss solch eine Tätigkeit den Geist erheben und ergötzen! Aber, oh weh, ich stehe leider nicht im Staatsdienst und bin darum des großen Glücks beraubt, die schmelzende Behandlung hoher Vorgesetzten zu genießen. Und alles, was uns jetzt auf dem Prospekt begegnet, ist überströmt von Vornehmheit: Herren in langen Überröcken, mit den Händen in den Taschen, Damen in rosa, weißen und blassblauen Atlasmänteln und mit schicken Hüten. Wir sehen einzigartige Favoris (Anm.: schmaler, knapp bis ans Kinn reichender Backenbart), die mit erstaunlicher, nie dagewesener Kunst hinter die Halsbinde gesteckt sind, samtweiche, atlasblanke Favoris, so schwarz wie Breitschwanz oder Kohle, letzteres freilich leider nur bei Herren aus dem Außenministerium. Beamten anderer Behörden hat Gottes Wille schwarze Favoris versagt; sie müssen sich, so schwer es ihnen fällt, mit rötlichen behelfen. Wir sehen hier Schnurrbärte von der wunderbarsten Art, die keine Feder schildert und kein Pinsel malt; Schnurrbärte, denen sicherlich die bessere Hälfte des Lebens ihrer Inhaber gehört und die sich Tag und Nacht der treuesten Pflege zu erfreuen haben; Schnurrbärte, die mit den wohlriechendsten Essenzen übergossen, die mit den feinsten, seltensten Pomaden eingefettet und zur Nacht in allerkostbarstes Velinpapier gewickelt werden; Schnurrbärte, denen ihre Besitzer die rührendste Anhänglichkeit bezeigen und die den Neid jedes Begegnenden erwecken müssen. Hier, auf dem Newski Prospekt, wird unser Blick geblendet durch Zehntausende von Hüten, Damenkleidern, leichten, bunten Schals, denen gar oft zwei volle Tage lang die Neigung ihrer Trägerinnen treu bleibt. Ist es doch, als löse sich auf einmal eine ganze Flut leuchtender Schmetterlinge von der Erde und gaukle, einer bunten Wolke gleich, über dem schwarzen Käfervolk der Männer durch die Luft. Hier sehen wir so schlanke Taillen, wie wir sie in unsere kühnsten Träumen nie gesehen haben, Taillen, nicht viel dicker als ein Flaschenhals, so fein und zart, dass wir bei der Begegnung achtungsvoll beiseite weichen, aus lauter Angst davor, sie etwa mit dem Ellenbogen unsanft zu berühren; ja, unser Herz erbebt und zittert in der Furcht, wir könnten schon durch einen unbesonnenen Atemzug solch wunderherrliches Erzeugnis der Natur und Kunst zerbrechen. Und was für Damenärmel erst uns auf dem Newski Prospekt begegnen! Diese Pracht! Sie gleichen fast zwei Luftballons, als müsste sich so eine Dame ganz von selber in die Luft erheben, wenn sie von ihrem Mann nicht festgehalten würde. Ist es denn nicht genauso leicht und lieblich, eine Dame aufzuheben, wie einen Becher voll Champagner an den Mund zu führen? Und nirgends in der Welt verneigen sich die Leute beim Zusammentreffen mit so ungezwungener Eleganz wie auf dem Newski Prospekt. Hier finden wir ein einzigartiges Lächeln – ach, ein Lächeln, das jedes Kunstwerk übertrifft. Bald ist es so, dass du den Kopf betroffen hängen lässt und dich viel kleiner dünkst als der geringste Grashalm, und bald so, dass du dir höher vorkommst als der Turm des Admiralitätsgebäudes und du über ihn hinaus bis in die Wolken ragst. Hier triffst du Leute, die mit seltener Vornehmheit und edlem Selbstgefühl vom Wetter oder von Konzerten reden. Hier triffst du Charaktere und Erscheinungen in überwältigender Fülle. Allmächtiger! Welch sonderbare Charaktere begegnen dir auf dem Prospekt! Es gibt da eine Menge Leute, die dir bei der Begegnung sicher auf die Stiefel schauen und, kaum dass sie an dir vorüber sind, sich umdrehen und die Schöße deines Fracks besichtigen. Ich habe bis zum heutigen Tag noch nicht herausgebracht, was sie damit bezwecken mögen. Im Anfang wollte ich sie schon für Schuster halten, aber davon ist gar keine Rede: sie sind zum größten Teil Beamte der verschiedensten Kanzleien, die es für gewöhnlich meisterhaft verstehen, Berichte einer Staatsbehörde an die andere abzufassen; zum andern Teil sind es auch Herren, welche ihre Zeit vorwiegend dem Flanieren und dem Zeitungslesen in den Kaffeehäusern widmen – kurz, es sind lauter feine, ehrenwerte Leute. Um diese wunderbare Stunde zwischen zwei und drei Uhr nachmittags, wo man den Newski Prospekt schlechtweg »die Hauptstadt in Bewegung« nennen kann, ist hier die große Ausstellung des Allerschönsten, was Menschengeist erschaffen hat. Der eine zeigt seinen stutzerhaften Mantel mit dem feinsten Biberkragen, der zweite seine edle Griechennase, der dritte hat ganz fabelhafte Favoris, die vierte ein paar hübsche Augen sowie einen wunderbaren Hut, der fünfte einen Ring mit einem Talisman am wohlgepflegten kleinen Finger, die sechste einen winzigen Fuß in einem staunenswerten Schuh, der siebte eine bezaubernde Krawatte, der achte einen Schnurrbart, der Bewunderung erweckt. Da aber schlägt es drei, und das heißt: Schluss der Ausstellung; die Menge lichtet sich ... Um drei Uhr gibt es wiederum ein neues Bild. Auf einmal wird es Frühling auf dem Newski Prospekt – er wird ganz grün vor lauter Uniformfräcken: denn die Bürozeit der Beamten ist zu Ende. Die Titularräte, die Hofräte, und was es sonst für Räte gibt, treibt ein gewaltiger Hunger, ihre Schritte zu beschleunigen. Doch was Kollegienregistrator und Regierungs- oder Kollegiensekretär heißt, eilt, soweit es jung ist, noch die Zeit zu nützen, und promeniert auf dem Prospekt mit einer Air, als hätte es beileibe nicht sechs Stunden lang auf der Kanzlei geschuftet. Die älteren Kollegiensekretäre, die Titular- und Hofräte hingegen gehen schnell und mit gesenktem Kopf dahin, es reizt sie nicht, die Leute auf der Straße zu betrachten; sie stecken halbwegs noch in ihrer Tätigkeit. Ihr Hirn ist voller Wirrwarr und beherbergt ein Archiv von angefangener und nicht abgeschlossener Arbeit; sie sehen eine ganze Weile noch statt der Schaufenster und Ladenschilder nichts als Aktenbündel und das rundliche Gesicht des Herrn Kanzleidirektors vor sich schweben.

 

Von vier Uhr an verödet der Prospekt aufs Neue, und schwerlich lässt sich dort noch ein Beamter blicken. Nur hier und da huscht ein Laufmädchen mit dem Korb am Arm aus einem Laden, oder es kommt, in einen schlechten Friesmantel gehüllt, das unglückliche Opfer irgendeines Amtsvorstands daher oder ein zugereister Sonderling, der nicht nach Zeit und Stunde fragt; vielleicht auch eine lange, dürre Miss aus England, den Arbeitsbeutel und ein Buch in ihren Händen; zuweilen auch ein Tagelöhner mit dünnem Bart, ein echter Russe in halbtuchenem Rock, dessen Taille hoch oben an den Schulterblättern sitzt, ein Mensch, der nie recht weiß, wovon er morgen leben wird, und an dem einfach alles schlottert, der Rücken und die Arme und die Beine und der Kopf, wenn er so dürftig und bescheiden seine Straße zieht; und höchstens etwa noch ein kleiner Handwerksmann – sonst triffst du um diese Stunde niemand auf dem Prospekt.

 

Doch senkt sich dann die Dämmerung auf die Häuser und die Straßen und steigt der Nachtwächter, in seine Bastmatte gewickelt, auf die Leiter und zündet die Laternen an, und lugen aus den niederen Ladenfenstern keck die Kupferstiche, die sich bei Tage nicht zu zeigen wagten, dann wird der Newski Prospekt belebt und wimmelt wieder von Passanten. Dann naht geheimnisreich die Stunde, da das Lampenlicht jedwedem Ding etwas Verführerisches, Wunderbares leiht. Und uns begegnen in der Mehrzahl junge Männer, meistens Junggesellen, in wattierten Paletots und dicken Mänteln. Es ist, als strebe um diese Stunde jeder nur nach einem Ziel oder nach etwas Ähnlichem wie einem Ziel – es liegt ein Hauch verwegenen Leichtsinns in der Luft. Die Schritte all der Leute wechseln zwischen Hast und Stocken; die Schatten gleiten langgezogen an den Mauern hin und übers Pflaster und streifen mit den Köpfen fast die Polizeibrücke. Die jüngeren Kollegienregistratoren, Regierungs- und Kollegiensekretäre flanieren ohne Ende auf und ab, indes die älteren Kollegiensekretäre, die Titular- und Hofräte daheim in ihren Stuben sitzen, entweder weil sie Ehekrüppel sind oder weil ihre deutsche Köchin, die mit ihnen haust, so ausgezeichnet kocht. Hier trifft man auch die alten würdigen Herren wieder, die man des Nachmittags um zwei Uhr so gewichtig und mit so staunenswerter Vornehmheit auf dem Prospekt lustwandeln sah. Jetzt rennen sie genauso wie die jungen Sekretäre, um irgendeiner »Dame« ins Gesicht zu sehen, die ihnen schon von weitem aufgefallen ist. Die dick mit roter Schminke übertünchten vollen Wangen und geschwellten Lippen dieser Damen sind die Wonne all der Bummler, ganz besonders aber der Kommis, der Handwerker und Handelsleute, die in deutschen Röcken rudelweise und für gewöhnlich Arm in Arm daher spazieren.

 

»Halt!« rief um diese Zeit der Leutnant Pirogow und zog den jungen Mann in Frack und Mantel, welcher mit ihm ging, erregt am Ärmel. »Hast du das Weib gesehen?«

 

»Natürlich; wundervoll; schön wie die Bianca Peruginos.«

 

»Ja, welche meinst du denn?«

 

»Wen sonst als sie? Die mit dem dunkeln Haar ... Und diese Augen! Himmel, was für Augen! Und die Haltung, diese Linie, die Gesichtsform, wundervoll!«

 

»Ach was, ich sprech' doch von der Blonden, da hinter ihr, die eben auf die andere Seite ging. Und warum steigst du der Brünetten denn nicht nach, wenn sie dir so gefällt?«

 

»Was glaubst du denn!« erwiderte der junge Mann im Frack und wurde rot. »Als ob sie so ein Frauenzimmer wäre, wie sie am Abend auf dem Prospekt flanieren! Das ist doch eine feine Dame«, fuhr er mit einem Seufzer fort, »allein der Mantel kostet gut und gerne achtzig Rubel.«

 

»Du Unschuldslamm!« schrie Pirogow und stieß ihn mit Gewalt nach jener Richtung, wo des schönen Mädchens bunter Mantel wehte. »Marsch, vorwärts, dummer Kerl, sonst hast du sie verpasst. Und ich, ich steig' der Blonden nach.«

 

Die Freunde trennten sich.

 

›Euch Weiber kennen wir!‹ so dachte selbstzufrieden und mit sieghaft sicherem Lächeln Pirogow, fest überzeugt, dass es nicht eine Schöne gebe, die ihm widerstehen könnte.

 

Der junge Mann im Frack ging zaghaften und unentschlossenen Schrittes auf das andere Trottoir, wo weit vor ihm der bunte Mantel wehte. Wenn sich die Schöne auf den Lichtkreis einer der Laternen zu bewegte, gewann der Mantel immer grelleren Glanz, um dann, wenn sie sich wieder von dem Licht entfernte, für eine Weile ganz in Dunkelheit zu sinken. Ihm schlug das Herz, und unwillkürlich schritt er schneller aus. Er wagte es sich gar nicht vorzustellen, dass ihn die Schöne, die da eilig vor ihm herschritt, überhaupt beachten könnte, geschweige denn, dass er dem hässlichen Gedanken Raum gab, der ihm von seinem Freund, dem Leutnant, eingeblasen war. Er wollte nur ihr Haus erkunden, wollte wissen, wo das wundervolle Wesen wohne, das scheinbar geradewegs vom Himmel auf den Newski Prospekt herabgeflogen war und sicher wieder in ein unbekanntes Land entfliegen würde. Er lief mit solcher Hast, dass er in einem fort gesetzte Herren mit ergrauten Favoris vom Bürgersteig hinunterstieß. Der junge Mann gehörte einer Menschenklasse an, die sich bei uns zulande etwas seltsam ausnimmt und die von unsern Petersburger Bürgern so gewaltig absticht wie eine Traumgestalt, die uns im Schlaf erscheint, von unserer Tageswelt der harten Wirklichkeiten. Und sein Beruf war eine Seltenheit in dieser Stadt, wo jeder Mensch entweder Staatsbeamter oder Kaufmann oder deutscher Handwerksmeister ist. Denn er war Künstler. Ist das nicht ein sonderbares Ding, ein Petersburger Künstler? Ein Künstler in dem Land des Schneegestöbers, ein Künstler in dem Land der Finnen, wo alles feucht und flach und eben, alles blass und grau und neblig ist! Nein, unsere Künstler haben wenig Ähnlichkeit mit denen in Italien, die stolz und feurig sind, so wie Italien und sein Himmel selbst. Im Gegenteil, es sind meist brave, sanfte, schüchterne und sorglose Gesellen, sie lieben ihre Kunst voll stiller Wärme, sie trinken Tee in ihrer kleinen Bude mit den wenigen Freunden, die sie haben, sie unterhalten sich bescheiden über ihren Lieblingsgegenstand und denken nicht einmal an Überfluss. So einer holt sich Tag für Tag ein altes Bettelweib ins Haus und zwingt es, sechs geschlagene Stunden still zu sitzen, während er das bekümmert stumpfsinnige Gesicht der Alten auf die Leinwand zaubert Oder er malt ein Interieur: sein eigenes Zimmer, in dem lauter künstlerischer Rumpelkram herumliegt, gipserne Gliedmaßen, die kaffeebraun vor Staub und Alter sind, zerbrochene Staffeleien, eine aufs Gesicht gefallene Palette, einen Freund, der die Gitarre zupft, mit Ölfarbe bekleckste Wände und durchs offene Fenster sieht man fern die blasse Newa und wohl ein paar arme Fischer in grellroten Hemden. Die Bilder dieser Künstler zeigen meist ein graues, trübes Kolorit, des Nordens unverwischbares Gepräge. Trotzdem sind sie mit lebhaftem Genuss und Eifer bei der Arbeit. Oft haben sie ein ehrliches Talent. Und wenn einmal die frische Luft Italiens sie umwehte, würden ihre Gaben sich wahrscheinlich kühn und breit und hell entfalten, einer Stubenpflanze gleich, die man ins Freie trägt. Sie sind gewöhnlich äußerst schüchtern von Natur: ein Stern und ein geflochtenes Schulterstück verwirren sie so sehr, dass sie den Preis für ihre Bilder gleich heruntersetzen. Sie haben manchmal eine Schwäche für das Elegante, doch ihre Eleganz wirkt unvermittelt und ein bisschen künstlich aufgepfropft. So tragen sie etwa zu einem feinen Frack einen zerrissenen Mantel oder zu einer teuren Samtweste einen mit Ölfarbe befleckten Rock, genauso, wie man wohl auf einer angefangenen Landschaft, die sie malen, kopfunter eine Nymphe prangen sieht: sie haben eben keine andre Leinwand da und überpinseln darum flott ein Werk von früher, das sie einst mit gleicher Hingabe geschaffen hatten. Ein solcher Künstler sieht dir nie gerade ins Gesicht, und sieht er dich auch an, tut er's matt und unbestimmt; nein, das ist nicht der Habichtsblick des Seelenforschers und nicht der Falkenblick des Reiteroffiziers. Das kommt daher, weil solch ein Maler zugleich mit deinen Zügen die Züge eines gipsgegossenen Herkules in seinem Atelier vor Augen hat, oder er sieht ein Bild von sich, das er in Zukunft malen will. Deswegen gibt er oft verdrehte Antworten und redet ganz zerstreut daher; merkt er dann selbst, wie ihm in seinem Kopf die Dinge durcheinanderlaufen, wird er noch verlegener. Ein solcher Künstler war auch der von uns beschriebene junge Mann, der Maler Piskarjow, ein schüchterner, verlegener Mensch, dem aber doch im Herzen Funken eines ehrlichen Gefühls glommen, bereit, im rechten Augenblick zur Flamme aufzuschlagen. Heimlich vor Angst erzitternd, eilte er dem Mädchen nach, das ihn mit solcher Allgewalt bezaubert hatte, und staunte selber über seine Dreistigkeit. Die Fremde, die all seine Sinne, sein Gefühl, sein Denken an sich bannte, wendete auf einmal ihren Kopf und sah ihn an. Oh Himmel, diese götterschönen Züge! Die blendendweiße, edle Stirn war eingerahmt von prächtigem Haar, so schwarz wie Ebenholz. Es wellte sich in wundervollen Locken; ein paar von ihnen stahlen sich unter ihrem Hut hervor und gaukelten auf ihre Wangen nieder, die von der Abendkälte fein und frisch gerötet waren. Ihr fest geschlossener Mund schien ihm umspielt von einem Schwarm holder Phantasien. Erinnerungen an die schöne Kinderzeit, an froh entrückte Träumereien bei dem stillen Licht der Lampe – das alles einte sich zu lichter Harmonie und leuchtete von diesem reinen Mund. Sie sah sich zu dem Maler um, und unter diesem Blick erzitterte sein Herz; sie blickte unwillig; der Zorn darüber, dass er ihr so frech zu folgen wagte, sprach aus ihren Zügen; doch in dem schönen Antlitz war sogar der Zorn bezaubernd. Von Scham und Schüchternheit gezwungen, hemmte unser Maler seinen Schritt und senkte seine Lider. Doch konnte er die Göttin aus den Augen lassen, ohne jene heilige Stätte zu erkunden, an der sie ihren irdischen Wohnsitz aufgeschlagen hatte? Solche Gedanken gingen unserm jungen Träumer durch den Kopf, und er beschloss, die Schöne weiterzuverfolgen. Damit sie dieses aber nicht bemerke, blieb er in größerer Entfernung hinter ihr zurück und schaute scheinbar harmlos interessiert nach rechts und links und las die Inschriften der Ladenschilder, wobei er freilich keinen Schritt der Fremden unbeachtet ließ. Und allmählich wurden die Passanten spärlicher, die Straßen stiller. Die Schöne wendete den Kopf. Es wollte Piskarjow bedenken, als kräusele ein leises Lächeln ihren Mund. Ein Zittern packte ihn, er traute seinen eigenen Augen nicht. Nein, nein, es war nur die Laterne, deren trügerisches Licht ihm dieses Lächeln ihres holden Mundes vorgespiegelt hatte; seine eigenen Träume narrten ihn. Aber der Atem stockte ihm im Hals, ein sonderbares Beben fasste ihn, seine Gefühle brannten lichterloh, und er sah alles wie durch einen Nebel. Das Trottoir glitt unter ihm dahin, die Wagen mit den schnellen Trabern schienen still zu stehen, die Brücke dehnte sich ins grenzenlose, und ihre Joche barsten auseinander, ein Haus stand auf dem Kopf, das Dach nach unten, ein Wächterhäuschen sauste ihm entgegen, die Hellebarde eines Polizisten und die goldenen Buchstaben auf einem Ladenschild, nebst einer Schere, die darauf gemalt war, blitzten dicht vor seinen Wimpern. Und alles das hatte nur ein Blick bewirkt, die flüchtige Wendung eines hübschen Köpfchens. Er hörte, sah und spürte nichts, er folgte nur der leichten Spur der schönen kleinen Füße und mühte sich, das Tempo seiner eigenen Schritte zu verringern, die nach dem Taktschlag seines Herzens immer schneller wurden. Zuweilen fasste ihn ein Zweifel, ob sie ihn in Wirklichkeit so freundlich angesehen hätte; dann blieb er einen Augenblick betroffen stehen. Jedoch das Klopfen seines Herzens und die übermächtige Gewalt seiner entfesselten Gefühle beflügelten von neuem seinen Schritt. Und eh er sich's versah, erhob sich plötzlich vor seinem Blick ein hohes Haus mit vier erhellten Fensterreihen, er rannte an das eiserne Geländer vor der Haustür. Die Schöne lief die Treppe hinauf, sie sah sich um, sie legte einen Finger auf den Mund und winkte ihm, dass er ihr folgen möge. Ihm zitterten die Knie; seine Gedanken und Gefühle brannten; gleich einem Blitz schlug die Freude unerträglich scharf in seine Seele. Nein, das war kein Traum mehr! Lieber Gott, so viel Glück in einer flüchtigen Sekunde! Ein wunderreiches Leben, eingepresst in zwei vergängliche Minuten!

 

Doch war das nicht trotzdem ein Traum? Er hätte doch um einen Himmelsblick der schönen Göttin freudig alle Jahre seines Lebens hingegeben; sich ihrer Wohnung nur zu nähern, deuchte ihn das höchste Glück. War es denn möglich, dass sie ihm so freundliche Beachtung schenkte? Er sprang die Treppe voller Hast hinauf. Er hegte keinen irdischen Gedanken, und nicht die Flamme niederer Leidenschaft durchglühte ihn – nein, er war rein und makellos in diesem Augenblick, ein keuscher Jüngling, ganz erfüllt vom dunkeln Drang wunschentbundner Seelenliebe. Und was in einem schon verdorbenen Menschen freche Hoffnungen entfesselt hätte, erfüllte seinen Sinn noch mehr mit Andacht. Das Vertrauen, das ihm dieses schwache schöne Menschenkind erwies, zwang ihm das heilige Gelübde strenger ritterlicher Selbstzucht ab, das heilige Gelübde, alles, was sie nur von ihm verlangen mochte, sklavisch zu erfüllen. Oh, wären ihre Forderungen nur recht schwer und beinah über Menschenkraft, er wollte sich nur umso mächtiger zusammenraffen, um jedes Hindernis zu überwinden. Es war, daran ließ sich nicht zweifeln, ein geheimes und sehr wichtiges Ereignis, das die Fremde ihm vertrauen wollte; es müssten große, schwere Dienste sein, die sie von ihm verlangen würde – nun gut, er spürte wohl den Willen und die Kraft, alles für sie zu tun.

 

Die Treppe lief in Krümmungen empor, und seine hastigen Gedanken folgten jeder Wendung, die die Schöne machte. »Pst, leise, leise!« tönte eine Stimme, süß wie Harfenklang, und ließ ihn wiederum in allen Fibern beben. Ganz oben in der Dunkelheit des vierten Stockwerks klopfte die Fremde an; die Tür ging auf, und beide traten ein. Ein ziemlich hübsches Frauenzimmer empfing sie mit der Kerze in der Hand, doch sah sie Piskarjow so frech zweideutig an, dass er die Augen unwillkürlich niederschlug. Sie traten in ein Zimmer, wo drei weibliche Gestalten saßen, jede ganz für sich in einer Ecke. Von den dreien legte eine Karten, um die Zukunft zu befragen; die zweite saß vor dem Klavier und spielte mit zwei Fingern auf höchst primitive Weise eine abgedroschene Polonäse, und die dritte saß vor einem Spiegel, kämmte ihr langes Haar und ließ sich durch den Eintritt eines fremden Herrn darin nicht stören. Hässliche Unordnung, wie man sie sonst wohl höchstens auf der Bude eines liederlichen Junggesellen findet, herrschte überall. Die übrigens recht eleganten Möbel lagen voller Staub, und Spinngewebe überzogen den stuckierten Deckensims; durch die halboffene Tür des Nebenzimmers leuchteten der Sporn am Absatz eines hohen Stiefels und der rote Aufschlag einer Uniform; eine brutale Männerstimme und das ordinäre Lachen eines Weibes klangen ungeniert herüber.

 

Großer Gott, wo war er hier! Er wollte es im Anfang gar nicht glauben und schaute all die Dinge, die sich in dem Raum befanden, näher an. Aber die nackten Wände und die vorhanglosen Fenster gaben keine Kunde von dem Walten einer ordentlichen Hausfrau. Verlebt und müde waren die Gesichter dieser traurigen Geschöpfe, und eines von den Frauenzimmern saß direkt vor seiner Nase und sah ihn mit demselben ruhigen Stumpfsinn an, mit dem man einen Fleck auf einem fremden Kleid betrachtet. Dies alles sagte ihm, dass er in eins der widerwärtigen Asyle geraten war, worin das traurige, aus eitler Talmibildung und der Übervölkerung der Residenz geborene Laster seine Heimstatt aufgeschlagen hat – eins der Asyle, wo der Mensch in seinem Wahn alles, was rein und heilig dieses Leben schmückt, mit tempelschänderischer Faust erwürgt und roh verlacht und wo das Weib, der Schöpfung Zier und Krone, sich in ein sonderbar zweideutiges Geschöpf verwandelt, wo es zugleich mit seiner Herzensreinheit seine Weiblichkeit verliert und sich die schlechten Sitten und die Frechheit des männlichen Geschlechts zu eigen macht und aufhört, jenes schwache, reizende und über uns soweit erhabene Geschöpf zu sein. Der Maler musterte die Schöne von den Füßen bis zum Kopf, ungläubig, als ob er sich erst noch überzeugen müsste, dass sie in der Tat dieselbe war, die ihn auf dem Prospekt bezaubert und gezwungen hatte, ihr zu folgen. Doch sie stand vor ihm, schön wie je; ihr Haar war immer noch entzückend, und die Augen deuchten ihn noch immer himmlisch. Sie war so jung; sie zählte schwerlich mehr als siebzehn Jahre. Er sah, sie konnte sich dem Laster erst seit kurzer Zeit ergeben haben; er hätte es auch jetzt noch nicht gewagt, nur ihre Wangen zu berühren, sie waren frisch und sanft von feiner Röte überhaucht; ja, sie war schön.

 

Reglos stand er vor ihr und war bereit, in aller Unschuld fort zu träumen, wie bisher. Die Schöne aber schien das ewige Schweigen langweilig zu finden; sie lächelte bedeutungsvoll und sah ihm fest und offen in die Augen. Doch ihr Lächeln hatte etwas hässlich Freches, es wirkte wunderlich bei ihr und passte zu dem reizenden Gesicht so schlecht, wie frommer Augenaufschlag zu der Fratze eines Halsabschneiders und wie ein Kontobuch zu einem Dichter passt. Ein Zittern fasste Piskarjow. Sie tat den schönen Mund auf und begann zu sprechen, doch was sie sagte, klang gemein und dumm. Es war, als ob der Mensch mit seiner Lauterkeit auch den Verstand verlöre! Er wollte lieber nichts mehr hören. Er war verwirrt und hilflos wie ein Kind. Statt ihr Entgegenkommen auszunützen, statt sich an diesem Glücksfall zu erfreuen, wie es wohl jeder andere gehalten hätte, lief er Hals über Kopf davon gleich einer wilden Steppenziege und rannte aus dem Haus.

 

Trübselig ließ er Kopf und Hände hangen, als er daheim in seiner Stube saß. So muss sich wohl ein armer Teufel fühlen, der eine wundervolle Perle aus dem Meer gefischt hat und sie dann gleich wieder in das Wasser fallen lässt. »So schön; das göttliche Gesicht! Und da, an diesem Ort ...!« Das war alles, was er sagen konnte.

 

Und es ist wahr: nie fasst uns stärkeres Bedauern, wie wenn der Fäulnishauch des Lasters eine schöne Frau umgibt. Ja, wenn ein Scheusal sich dem Laster hingibt ... Eine Schönheit aber, eine zarte Schönheit, die können wir in unseren Gedanken nur mit Lauterkeit und Keuschheit in Verbindung bringen. Die Schöne, die den armen Piskarjow so ganz verzaubert hatte, war in der Tat ein wundervolles, ungewöhnliches Geschöpf. Und dass sie in den trüben Bodensatz der menschlichen Gesellschaft hatte sinken können, schien noch viel ungewöhnlicher. All ihre Züge waren von so reiner Bildung, der Ausdruck ihres lieblichen Gesichts war von so hohem Adel ... Man konnte es sich überhaupt nicht denken, dass schon das Laster seine grimmigen Klauen in das holde Kind geschlagen hätte. Sie wäre einem liebenden Gemahl der köstlichste Besitz, sein Paradies und seine Welt, sein ganzer Reichtum und sein Glück gewesen, ein schöner, stiller Stern im traulichen Familienkreise, fern der Welt, und hätte mit der leisesten Bewegung ihrer schönen Lippen ihr kleines Reich so süß und sanft regiert. Sie wäre die geborene Göttin für einen menschenvollen Saal gewesen, auf spiegelndem Parkett, beim Glanz der Kerzen, umhuldigt von der stummen Andacht der Verehrer, die sie sich scharenweise zu Füßen zwingen müsste. Doch wehe über sie: der finstere Wille eines Höllengeistes, erfüllt vom Durst, die Harmonie der Welt zu schänden, der Böse hatte sie mit grimmigem Hohn gepackt und in den fürchterlichen Pfuhl gestürzt.