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Als Midi wird in etwa das südliche Drittel Frankreichs bezeichnet. Seine vielfältigen und farbenfrohen Landschaften werden von Hochgebirgen, weitläufigem Bergland und Meeren begrenzt. In großen Teilen des Südens wurde statt mit "oui" - wie im Norden üblich - mit "oc" bejaht, so in der Provinz Languedoc (aus "langue do´c"), das heute zusammen mit dem Roussillon und den Midi-pyrénées die Region Okzitanien mit Hauptstadt Toulouse bildet. Der Autor begibt sich auf eine Reise durch viele Städte und Landstriche des Midi. Seit 1969 hat er mit Begeisterung und ungeschmälertem Interesse Land und Leute, Sprache und Kultur, Geschichte und Lebensart sowie kulinarische Überraschungen eines liebenswerten Stücks Südeuropas mit aufregender Geschichte und mildem, besänftigendem Klima erlebt. Wir lesen über die Pyrenäen mit dem "Balkon" Canigou, die Vorgebirge mit ihren Katharerfestungen, die romanische Kunst und Architektur und den Wein der Corbières, die wunderbaren Küsten der Meere, vielleicht auch das Einatmen kühler, trockener Luft auf den großflächigen Kalk-Hochebenen der Causses. Auch das Erleben provenzalischer Lebensart gehört dazu. Die Erfahrungen und Beobachtungen erwecken Neugier und Respekt für das Andere in unser Nachbarländer und können durchweg mit Spannung verfolgt werden.
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Seitenzahl: 106
Veröffentlichungsjahr: 2023
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Küstenlandschaft im Languedoc
(Photo: Stefan C. Müller)
Als ich in meinem betagten VW-Käfer, noch aus dickem Blech gebaut und mit kleinem Heckfenster, am späten Nachmittag vom Campus der Universität Paul Sabatier in die Innenstadt von Toulouse fahren wollte, klopfte jemand plötzlich an das Beifahrerfenster. Ein hübsches Gesicht blickte mich an und ich rollte das Seitenfenster sofort herunter. Auf Deutsch mit gewissem französischem Akzent hörte ich fragen: „Allo, Du kommst von Wolfenbüttel, n’est-ce pas? Wirklisch?“ In der Tat stand auf meinem Nummernschild WF… „Ich bin da schon gewesen bei einer befreundeten Familie, was machst Du denn ihr?“ Das war Christine, der ich nun als ihr neuer Bekannter sagte, was sie wissen wollte. Sie erzählte, sie sei aus Carcassonne und besuche in Toulouse eine höhere Schule, heute offensichtlich mit einem Termin auf dem Campus in Rangueil. Ihr Autostop-Versuch war erfolgreich, denn ich nahm sie gern ins Stadtzentrum mit, allerdings nicht ohne Verabredung für ein nächstes Treffen.
Das war vor 52 Jahren. Wir sind uns seitdem sehr häufig begegnet und haben uns seit dem Sommer 1972, als meine Zeit in Toulouse endete, gegenseitig in Deutschland oder Frankreich besucht. Während all dieser Jahre habe ich Frankreich kennen und lieben gelernt, bin in vielen Orten und Landesteilen gewesen: als Tourist, als Freund oder wegen beruflicher Kontakte. Dabei habe ich recht passables Französisch gelernt, eine wundervolle, anschmiegsame Sprache! Das Land erscheint mir bis heute wie eine Schatulle für Schmuckstücke aller Art und Couleur, gefüllt mit edlen Steinen, unter denen das Midi für mich wohl der edelste ist. Besonders angetan bin ich seit langem von seinem glitzernden Leuchten und den vielfältigen Farbtönen, mit denen sich diese südliche Landschaft präsentiert.
Eines Tages sagte mir Christine, ich solle doch mal etwas zu den Pfaden schreiben, die ich in ihrem Heimatland gegangen bin (ich hatte gerade ein anderes Reisebüchlein „Wenig betretene Pfade“ [1] über eher exotische Unternehmungen mitgestaltet). Dieser Anregung folgend begann ich, in all den alten Dokumenten, Notizen und Photographien zu kramen und mich an Dinge zu erinnern, die einer Mitteilung wert sein könnten, dabei besonders angetan von Erlebnissen und Erfahrungen im Midi.
Christine hat zu dieser Geschichten-Sammlung wichtige und wertvolle Ergänzungen und Korrekturen aus französischer Sicht eingebracht. Wir hatten viel Spaß beim Durchforsten gemeinsamer Erinnerungen und können uns vorstellen, dass dies zu einer neugierigen interkulturellen Rezeption beitragen wird.
Eine Mischung von so vielem: Frankreichs Süden – Le Midi – in Erlebnissen und Erfahrungen seit 1969
Meine Tramptour durch das Midi
Chinon und die Schlösser der Loire
Toulouse
Die romanischen Kirchen
Der Canigou - schönster Berg der Pyrenäen
Nach Katalonien
Die Vorgebirge der Pyrenäen
Entlang der Mittelmeerküste
Die Causses und die Cevennen im Rouergue
In einem Dorf der Provence
Ausflüge nach Burgund und in den Jura
Einige Jahrzehnte später
Ein Deutscher in Okzitanien
Literatur
Danksagung
Schon in jungen Jahren, als ich voller Erwartungen mit dem Finger durch meinen Diercke-Weltatlas und damit durch die ganze Welt gereist bin, gehörte unser Nachbarland Frankreich zu den faszinierenden Zielen, da man auf vergleichbar unkomplizierte Weise dorthin fahren können würde, während andere lohnende Ziele noch länger auf einen Besuch zu warten hätten. Und da waren die wechselvollen Beziehungen zu diesem Land im Verlauf der Geschichte, von denen ich schon als Schuljunge vieles gelernt hatte. Wegen eines gewissen Grades an Exotik erschien mir dabei der Süden Frankreichs besonders reizvoll, da schon etwas weiter entfernt und damit anziehender erscheinend für jemand, der im nüchterneren Norden Deutschlands aufwuchs. So wurde mein Wunsch, den Teil im Süden - Midi genannt - kennenzulernen, bald einer der drängendsten unter der ganzen Palette meiner Wunschziele. In den kommenden Jahren habe ich mich häufig dorthin begeben und einige Zeit verbracht, auch wenn mich zahlreiche andere Gegenden unserer Welt ebenfalls in ihren Bann gezogen haben [2 - 4].
Oft gilt der 45. Breitengrad als nördliche Grenze des Midi de la France, umfasst also nur einen kleineren Teil Südfrankreichs (Abb. 1). Dieser Bereich deckt sich weitgehend mit der Sprachregion des Okzitanischen (wobei für uns das „languedocien“ als Dialekt - das „patois“ - von vorrangigem Interesse ist). Diese Breite verläuft nördlich von Bordeaux über das Zentralmassiv, Valence an der Rhone zur Barre des Ecrins in den Französischen Alpen. Geographisch wird das Midi in das Midi atlantique, dem wir in diesen Erzählungen erst relativ spät begegnen, und das Midi méditerranéen unterteilt, bestehend aus Seealpen, Provence mit weiteren Gebirgsregionen, unteres Rhonetal mit Delta, sowie Languedoc und Roussillon, unseren vorerst prominenten Schauplätzen (Abb. 1). Als wichtiger Unterschied zwischen diesen zwei Bereichen ist das Klima zu nennen: eben atlantisch oder mediterran.
Abb. 1 Le Midi: Frankreich südlich des 45. Breitengrades; rote Punkte markieren einige Orte, die im Text eine besondere Rolle spielen (original map by Maximilian Dörrbecker, CC BY-SA 3.0)
Zum Midi gehören in dieser Abgrenzung die heutigen Verwaltungsregionen Provence-Alpes-Côte d’Azur, Occitanie (2016 hervorgegangen aus der Fusion der Regionen Languedoc-Roussillon und Midi-Pyrénées) sowie die bis 2015 bestehende Region Aquitaine (heute zu Nouvelle-Aquitaine gehörend). Dazu kommt der Süden der ehemaligen Region Rhône-Alpes (heute Teil von Auvergne-Rhône-Alpes, vgl. Kartenskizze in Abb. 2). Für unsere Erzählung spielt zusätzlich die Region Bourgogne-Franche-Compté eine gewisse Rolle, wie wir weiter unten merken werden.
Recht erhellend mag sein, sich einen Eindruck über die Entwicklung von geographischer Abgrenzung, Besiedlung, historischer und kultureller Identität und damit auch der Namensgebung der früheren „régions naturelles“ zu verschaffen, als da sind in Frankreichs südlicher Hälfte: Aquitanien, Zentralmassiv, südliches Burgund und Auvergne, Jura und ganz „unten“ als schmaler Streifen niedrigen Landes die Côte d‘Azur und das Languedoc sowie das Roussillon, eingerahmt von Mittelmeer, Biskaya, Alpen, Zentralmassiv und Pyrenäen.
Die régions naturelles sind bedeutsam für die sich über die Jahrhunderte entwickelten administrativen Strukturen. Bis 1789 gab es auf dem europäischen Festland 39 Provinzen. Von diesen lagen im Süden: Aquitaine, Dauphiné, Languedoc, Roussillon, Grafschaften Foix, Béarn, päpstliches Lehen Venaissin (Avignon), Provence, Grafschaft Nizza. Diese wurden nach der Revolution aufgelöst und durch die Départements ersetzt, die alle etwa dieselbe Größe haben sollten, meist nach Flüssen und Gebirgen benannt wurden und deren Hauptstädte ähnlich weit voneinander entfernt waren (insgesamt 96 auf dem Kontinent).
Die Namen vieler Provinzen leben als geographische Bezeichnungen fort. Letztlich wurde bei Verwaltungsreformen in der Benennung neu geschaffener, größerer Regionen auf einige dieser Namen zurückgegriffen. Wie zu Anfang erwähnt, konstituieren etwa vier von diesen zusammen das Midi.
Besonders der südlichste Teil des Midi ist ein sonnenverwöhnter Streifen Landes. Fruchtbare Erde mit Weinbau, aber auch kargen Flächen breiten sich längs der französischen Mittelmeerküste aus. Hochgebirge begrenzen ihre Enden und die weniger schroffen Berge des Zentralmassivs bilden eine Barriere im Norden. Dabei gibt es zwei ausgeprägte Durchbrüche zum Golfe du Lion: der eine längs der Garonne und der Rinne östlich von Toulouse, der andere längs der Rhone.
Dabei spielt die Seuil de Naurouze (deutsch: Schwelle von Naurouze) eine wichtige Rolle: der höchste Punkt, den Verkehrswege von Narbonne auf dem Weg nach Toulouse überschreiten müssen. Tatsächlich ist das Küstengebiet am Mittelmeer zum Zentrum des Landes hin weitgehend durch Gebirge abgeschirmt. Am westlichen Abschnitt der Küste, im Languedoc, besteht die Begrenzung im südlichen Bereich aus den Pyrenäen mit den Corbières als ihrem nordöstlichsten Ausläufer. Im nördlichen Bereich besteht eine Begrenzung durch das Massif central mit der Montagne Noire als deren südwestlichster Ausläufer. Zwischen diesen Bergen verbleibt eine längliche Senke in Ost-West-Richtung, die von Narbonne aus nach Westen über Castelnaudary zur lediglich 194 Meter hohen Seuil de Naurouze aufsteigt und von dort wieder in die Ebene um Toulouse abfällt (somit auch Wasserscheide zwischen Atlantik und Mittelmeer).
Spätestens die Römer nutzten diese Verbindung, um über ihre Via Aquitania vom Mittelmeer zum Atlantik zu gelangen. Im 17. Jahrhundert wurde der Canal du Midi für eine durchgehende Schifffahrt vom Mittelmeer zur Garonne angelegt. Und heute haben wir dort die Autoroute des Deux Mers („Autobahn der beiden Meere“).
Die geographische Senke um diese Schwelle hat spürbaren Einfluss auf die Richtung der Winde: Bei Hochdruck in der Toulouser Ebene und Tiefdruck am Mittelmeer entsteht der Cers, der oft mit großer Stärke zum Mittelmeer bläst. Ist die Verteilung des Luftdrucks umgekehrt, verwandelt sich der eher feuchte Marin am Mittelmeer durch die Kanalisation entlang der Gebirge in den Autan, dann bei Toulouse aus Südosten bläst. Im Kapitel 7 wird ebenfalls das Auftreten der Winde Tramontane und Mistral erläutert.
Abb. 2 Regionen Frankreichs auf dem europäischen Kontinent (vor 2015). Rote Grenzen für die südfranzösischen (original map by TUBS, CC BY-SA 3.0)
In meiner Familie bestand seit jeher ein großes Interesse und gebührender Respekt für andere Länder, die Menschen dort, ihre Geschichte und Kultur. Dabei herrschte bei Mutter und ältestem Bruder eine ausgeprägt anglophile Ausrichtung vor, insbesondere wenn es um kulturell/sprachliche Themen ging. Meinen Vater zog es hingegen eher nach Frankreich, und er liebte die französische Sprache sehr. Das war wohl der relativ glücklichen Zeit während des ansonsten so fürchterlichen Weltkriegs geschuldet, die er in Frankreich verbracht hatte, wo die Schlösser aus dem fruchtbaren Boden sprießen – an der Loire (darüber im folgenden Kapitel). Er sprach, solange ich zurückdenken kann, häufig von einer Reise, die er bald mit meiner Mutter dorthin machen wolle. Lange Jahre hindurch blieb das ein Versprechen, über das sich die Familie oft mokierte, aber letztendlich haben sie beide diesen und mehrere andere Besuche unseres Nachbarlandes unternommen! Mein Vater hat dann sogar Französisch als Schulfach unterrichtet.
Meinen Eltern in ihren Fußstapfen folgend hatte ich als Schuljunge schon Pläne, auch Lehrer wie sie zu werden, und zwar für Englisch (meiner Mutter zuliebe) und für Erdkunde, da es mich in die Welt hinauszog, wenn auch vorerst nur in die Nachbarschaft, z.B. nach Frankreich. Die notwendigen Erkundigungen wurden mittels Zeigefinger im allgegenwärtigen Schulatlas eingesammelt, in dem ich manchmal auch in unerhörten Entfernungen landete, so am (oder im?) Titicacasee oder in Neuguinea. Allerdings blieb es lange Zeit bei einer europäischen Nähe, so eben auch bei Frankreich als Zielland.
Übrigens habe ich dann Physik studiert und bin nie Lehrer geworden.
Meine erste konkrete Begegnung mit französischer Erde hatte ich im Juli 1969 während eines zweiwöchigen Urlaubs vom Militärdienst. Ich entschied mich für eine Tramptour ans französische Mittelmeer und in die Pyrenäen. Französisch konnte ich ein klein wenig aufgrund eines Wahlkurses am Gymnasium, in dem allerdings viel Zeit dafür aufgewendet wurde, heimlich Mohrenköpfe unter der Schulbank zu verspeisen. Immerhin nahm ich von diesem Kurs die notwendigsten Worte zur Durchführung dieser Reise mit.
Praktischerweise gab es das Angebot meines Bruders, ich könne seine Frau und ihn bei einer Autofahrt in Italiens Norden begleiten, was ich mit Freude annahm. So kam ich bequem und billig bis nach La Spezia, wo ich an einem Straßenrand an der Riviera mir selbst überlassen wurde. Hoch motiviert mit vollgepacktem Rucksack bewaffnet unternahm ich dort meine ersten Trampversuche. Allerdings versiegte nach kurzreichweitigem Beginn meine Erfolgshoffnung, denn zwar war die Küstenstrecke Richtung französischer Grenze gut befahren, jedoch in dieser Sommerzeit auch übervölkert, was in den meisten Autos nur wenig Platz ließ. Wenn man mit Familie auf Urlaubsreise ist, bleibt die Bereitschaft, jemanden mitzunehmen, buchstäblich auf der Strecke.
Nach einem erfolglosen Tag besorgte ich mir kurz entschlossen ein Bahnticket über die Grenze bis Cannes, um wenigstens schon mal im „richtigen“ Land zu landen. In mein Abteil stiegen hinter Genua zwei deutsche Frauen etwa meines Alters zu, die auch ans französische Mittelmeer bei Cannes wollten, um dort zu zelten. Fehlte noch das Zelt, das sie als getrennte Fracht aufgegeben hatten und bei ihrer Ankunft abholen wollten. Ich könne ihnen helfen und dann im Zelt mit übernachten. Das Problem war nur, dass dieses Zelt noch nicht eingetroffen war – was also tun? Wir entschlossen uns, gemeinsam am Strand nach einem Dach über unseren Köpfen zu suchen, und hatten unerwarteten Erfolg: wir fanden – schon im Dunkeln - eine offenbar unbewohnte Baracke, die vermutlich zum Unterstellen von Booten oder anderem Material diente. Dort gab es wenigstens einen recht großen Raum, in dem wir unsere Schlafstelle mit Pullover und anderen Kleidungsstücken als Unterlage einrichteten. Es gab allerdings in einer Ecke einen anderen Kleiderhaufen, der möglicherweise auf einen weiteren Bewohner hinwies. Daher machten wir einen Plan für „Wachdienst“, den ich begann, nicht ohne mein Fahrtenmesser in Griffweite zurechtzulegen – wir waren ziemlich nervös. Und dann, nach knapp zwei Stunden passierte es: ich hörte Geräusche und sah eine Gestalt, die (durch ein angelehntes Fenster) einstieg und sich in Richtung der erwähnten Ecke bewegte. Nun bemerkte uns der Unbekannte! Jedoch war er offenbar deutlich erschrockener als wir. Er stotterte irgendetwas Unverständliches, besann sich dann wohl auf seine Französischkenntnisse, und es entspann sich ein kurzes klärendes Gestikulieren – ohne Vorstellung, aber gut genug zur gegenseitigen Beruhigung. Wir schliefen daraufhin einigermaßen fest und verließen mit dem Morgenlicht diese doch eher unwirtliche Unterkunft.