Phantome des Terrors - Adam Zamoyski - E-Book

Phantome des Terrors E-Book

Adam Zamoyski

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Beschreibung

Mit seinen Napoleon-Büchern "1812“ und "1815“ ist Adam Zamoyski auch in Deutschland zum Bestsellerautor geworden. Nun erzählt der polnisch-britische Historiker, wie nach dem Ende Napoleons aus der Angst der Herrschenden vor Terror und Revolution eine paranoide Politik der Unterdrückung wird. Spannend wie immer schildert Zamoyski das Ringen zwischen den Kräften der Reaktion und der liberalen Bewegung. Und er lässt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite er steht: Auf der Seite der Freiheit. Für die Herrschenden und Besitzenden waren die Jahre nach der Französischen Revolution und Napoleon ein Zeitalter höchster Besorgnis. Die gekrönten Häupter lebten in der permanenten Furcht vor erneuten Rebellionen und waren überzeugt davon, dass ihre Macht auf dem Spiel stand. So entstand eine Politik, die mit einem immer aufwendigeren System von Bespitzelung, Zensur und Repression gegen reale und imaginäre Feinde vorging. Doch das Resultat war anders, als es sich die Mächtigen erhofft hatten. Der Polizeistaat und eine verfehlte Politik brachten – damals wie heute - genau das hervor, was sie verhindern wollten.

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Adam Zamoyski

Phantome

des Terrors

Die Angst vor der Revolution und die Unterdrückung der Freiheit

1789–1848

Aus dem Englischenvon Andreas Nohl

C.H.Beck

Zum Buch

Mit seinen Napoleon-Büchern «1812» und «1815» ist Adam Zamoyski auch in Deutschland zum Bestsellerautor geworden. Nun erzählt der polnisch-britische Historiker, wie nach dem Ende Napoleons aus der Angst der Herrschenden vor Terror und Revolution eine paranoide Politik der Unterdrückung wird. Spannend wie immer schildert Zamoyski das Ringen zwischen den Kräften der Reaktion und der liberalen Bewegung. Und er lässt keinen Zweifel daran, auf wessen Seite er steht: Auf der Seite der Freiheit.

Für die Herrschenden und Besitzenden waren die Jahre nach der Französischen Revolution und Napoleon ein Zeitalter höchster Besorgnis. Die gekrönten Häupter lebten in der permanenten Furcht vor erneuten Rebellionen und waren überzeugt davon, dass ihre Macht auf dem Spiel stand. So entstand eine Politik, die mit einem immer aufwendigeren System von Bespitzelung, Zensur und Repression gegen reale und imaginäre Feinde vorging. Doch das Resultat war anders, als es sich die Mächtigen erhofft hatten. Der Polizeistaat und eine verfehlte Politik brachten – damals wie heute – genau das hervor, was sie verhindern wollten.

Über den Autor

Adam Zamoyski wuchs in England auf und studierte Geschichte und Sprachen in Oxford. Seine adlige Familie floh 1939 nach der deutschen und sowjetischen Invasion aus Polen. Er lebt als freier Autor und Historiker in London und ist Fellow der Society of Antiquaries, der Royal Society of Arts und der Royal Society of Literature. Seine Bücher «1812. Napoleons Feldzug in Russland» (102012)und «1815. Napoleons Sturz und der Wiener Kongress» (2014) waren international erfolgreich und wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt.

Inhalt

Vorwort

1: Exorzismus

2: Angst

3: Ansteckungsgefahr

4: Krieg gegen den Terror

5: Regieren durch Hysterie

6: Ordnung

7: Frieden

8: Hundert Tage

9: Spitzelwesen

10: Britische Schreckgespenster

11: Moralische Ordnung

12: Mystizismus

13: Deutschtümelei

14: Selbstmordterroristen

15: Zersetzung

16: Das Reich des Bösen

17: Synagogen des Satans

18: Comité directeur

19: Der Herzog von Texas

20: Das Apostelamt

21: Meuterei

22: Säuberung

23: Konterrevolution

24: Jupiter tonans

25: Skandale

26: Kloaken

27: Das China Europas

28: Ein Fehler

29: Polonismus

30: Der entfesselte Satan

31: Nachspiel

Anhang

Anmerkungen

Abkürzungen

1. Exorzismus

2. Angst

3. Ansteckungsgefahr

4. Krieg gegen den Terror

5. Regieren durch Hysterie

6. Ordnung

7. Frieden

8. Hundert Tage

9. Spitzelwesen

10. Britische Schreckgespenster

11. Moralische Ordnung

12. Mystizismus

13. Deutschtümelei

14. Selbstmordterroristen

15. Zersetzung

16. Das Reich des Bösen

17. Synagogen des Satans

18. Comité directeur

19. Der Herzog von Texas

20. Das Apostelamt

21. Meuterei

22. Säuberung

23. Konterrevolution

24. Jupiter tonans

25. Skandale

26. Kloaken

27. Das China Europas

28. Ein Fehler

29. Polonismus

30. Der entfesselte Satan

31. Nachspiel

Literatur

Quellen

Literatur

Bildnachweis

Personenregister

Vorwort

Die Schlacht bei Waterloo war das letzte Urteil über Napoleon und zugleich die Niederlage jener Kräfte, die von der Französischen Revolution 1789 entfesselt worden waren. Die Revolution hatte die Grundlagen der gesamten sozialen Ordnung und alle politischen Strukturen Europas erschüttert und die Büchse der Pandora grenzenloser Möglichkeiten und Schrecken geöffnet. Das Heilige wurde entweiht, das Gesetz mit Füßen getreten, ein König und seine Königin wurden rechtsförmig (in einem Prozess vor dem Nationalkonvent) ermordet und Tausende Männer, Frauen und Kinder niedergemetzelt oder Opfer der Guillotine ohne einen ernsthaften Grund. In den darauf folgenden zweieinhalb Kriegsjahrzenten stürzten Throne, verschwanden Staaten, und Institutionen aller Art wurden ausgehöhlt, während die subversiven Ideen der Revolution durch Europa und seine Kolonien fegten.

Die politische Neuordnung des Kontinents durch die Mächte, die 1815 über Napoleon triumphiert hatten, setzte sich zum Ziel, all dies zu revidieren. Die Rückkehr zu einer sozialen Ordnung, die auf Thron und Altar gründete, wollte die alten christlichen Werte wiederherstellen. Das Europäische Konzert, ein Pakt zwischen den Herrschern der führenden Mächte, sollte sicherstellen, dass solche Wirren sich niemals wiederholten.

Doch die folgenden Jahrzehnte waren durchdrungen von der Furcht, dass die Revolution weiterlebte und jederzeit wieder ausbrechen konnte. In Briefen und Tagebüchern aus jener Zeit findet sich immer wieder das Bild einer vulkanartigen Eruption, welche die gesamte soziale und politische Ordnung verschlinge; sie drücken eine geradezu pathologische Angst davor aus, dunkle Mächte unterminierten das moralische Fundament, auf dem diese Ordnung beruhte. Dies kam mir sonderbar vor, und ich begann zu forschen.

Je tiefer ich in die Materie eindrang, desto klarer zeigte sich, dass diese Panik in gewissem Maß von den damaligen Regierungen selbst geschürt wurde. Mir wurde bewusst, in welchem Umfang der angeblich notwendige Schutz der Ordnung die Einführung neuer Kontroll- und Repressionsmethoden begünstigte. Ich fühlte mich an jüngere Beispiele erinnert, in denen es den jeweiligen Machthabern opportun erschien, Angst in der Bevölkerung zu schüren – vor Kapitalisten, Bolschewisten, Juden, Faschisten oder Islamisten – und durch Maßnahmen, die die Bürger vor einer unterstellten Bedrohung schützen sollten, die individuelle Freiheit zu beschneiden. Der Wunsch, mehr über dieses Phänomen von historischer Tragweite – so erschien es mir jedenfalls – zu erfahren, verwandelte sich unter der Hand zu einem immer ernsteren Projekt, als mir klar wurde, dass das Thema enorme Bedeutung für unsere Gegenwart hat.

Gleichwohl habe ich der zuweilen starken Versuchung widerstanden, im Text auf Parallelen zwischen Fürst Metternich und Tony Blair oder George W. Bush und den russischen Zaren hinzuweisen. Abgesehen von der damit unweigerlich verbundenen Gefahr, ins Lächerliche abzugleiten, schien es mir für die Leser reizvoller, ihre eigenen Parallelen zu ziehen.

Um eine Überhäufung des Texts mit störenden Fußnoten zu vermeiden, habe ich alle Anmerkungen, die sich auf Zitate und Fakten beziehen, in einer einzigen Ziffer zusammengefasst, die sich am Ende des jeweiligen Absatzes befindet. Aus Gründen der Einfachheit habe ich durchgängig den gregorianischen Kalender verwendet, auch wenn es um russische Geschehnisse oder Quellen ging. Nicht ganz so konsequent war ich bei der Transkription russischer Namen, wo ich die Schreibweise wählte, von der ich glaube, dass sie dem Leser am vertrautesten ist; die Familie Golizyn ist über dreihundert Jahre in lateinischer Schrift als Galitzin aufgetreten, weshalb ich diese Schreibweise beibehalten habe, die sie übrigens selbst immer noch gebraucht.

Aus Zeitmangel konnte ich nicht so ausgiebig in den Archiven forschen, wie ich es gern getan hätte, und so war ich gezwungen, mir Unterstützung zu suchen. Ich möchte Pauline Grousset dafür danken, dass sie manchen meiner Hinweise in den Archives Nationales in Paris nachgegangen ist; Veronika Hyden-Hanscho dafür, dass sie mehrere Fährten in Wiener Archiven verfolgt hat; Philipp Rauh dafür, dass er eine große Zahl von Büchern auf deutsch gelesen hat; Thomas Clausen für sein enthusiastisches Durchforsten der Archive in Stuttgart, Wiesbaden und Darmstadt; Hubert CzyŻewski für seine sorgfältige Arbeit im Nationalarchiv in Kew; Sue Sutton für weitere Arbeiten dort und Jennifer Irwin für ihre Recherche im Public Record Office of Northern Ireland.

Auch möchte ich Chris Clark Dank sagen für seine Beratung in deutschen Fragen, Michael Burleigh für seine moralische Unterstützung in einem Augenblick, als die surreale Qualität meines Themas mich an meiner geistigen Gesundheit zweifeln ließ, Charlotte Burdenell, die meine Aufmerksamkeit auf den Ausbruch des Vulkans Tambora lenkte, sowie Shervie Price für die kritische Lektüre des Manuskripts.

Großen Dank schulde ich meiner Verlegerin Arabella Pike für ihre Geduld, ihr außerordentliches Vertrauen in meine Arbeit und ihre ansteckende Begeisterung; ebenso Robert Lacey, dessen akribisches und kluges Lektorat nicht seinesgleichen kennt; und natürlich Helen Ellis, die aus der mühsamen Aufgabe des Buch-Promoting ein Vergnügen macht. Ebenso tief dankbar bin ich meinem Agenten und Freund Gillon Aitken für seinen unermüdlichen Beistand. Schließlich möchte ich meiner Frau Emma danken für ihre Geduld, ihr Verständnis und für ihre Liebe.

Adam Zamoyski

Mai 2014

1

Exorzismus

Am 9. August 1815, einem Mittwoch, lichtete die HMSNorthumberland in Plymouth ihre Anker und setzte Segel in Richtung der Insel St. Helena im Südatlantik, um den Mann aus Europa fortzuschaffen, der den Kontinent fast zwei Jahrzehnte lang dominiert hatte. Alle, die vor dem «Ungeheuer» in Angst und Schrecken gelebt hatten, atmeten erleichtert auf. «Unglücklicherweise», schrieb der Philosoph Joseph de Maistre, «ist aber nur seine Person verschwunden, seine politische Moral hat er uns hinterlassen. Sein Genie war wenigstens in der Lage, die Geister zu zügeln, die er rief, und sie nur so viel Schaden anrichten zu lassen, wie er für nötig hielt: diese Geister sind noch unter uns, nur gibt es keinen mehr, der die Macht hat, sie in die Schranken zu weisen.»[1]

Besagter Mann, Napoleon Bonaparte, einst Kaiser der Franzosen, hatte sich ähnlich geäußert. «Wenn ich fort bin», so hatte er einem seiner Minister erklärt, «wird die Revolution – oder vielmehr die Ideen, die sie inspirierten – ihr Werk mit erneuter Kraft fortsetzen.» Während er «halb watschelnd und halb großtuerisch» an Deck auf und ab ging, wie Charles Ross, der Kapitän des 74-Kanonen-Kriegsschiffs, schrieb, schien er sich keine Sorgen wegen der Dämonen zu machen, die er zurückließ. Ihn bekümmerte eher seine Behandlung durch die Briten, denen er sich ergeben hatte und die es ablehnten, seinen Titel anzuerkennen. Er wurde als «General Bonaparte» angeredet, und ihm wurden keine größeren Ehren bezeigt als sie einem Gefangenen dieses Rangs zukamen. Zwei Tage zuvor hatte man ihn, unter heftigstem Protest seinerseits, kurzerhand von der HMSBellerophon, mit der er an die Küste Englands gebracht worden war, an Bord der Northumberland überstellt, wo der Konteradmiral Sir George Cockburn, Befehlshaber der Flottille, die ihn zu seinem neuen Domizil bringen sollte, seine Flagge gehisst hatte. An Bord hatte man ihn einer sorgfältigen Leibesvisitation unterzogen und sein Gepäck gründlich durchsucht; Kapitän Ross notierte, er besitze «ein prächtiges versilbertes Service und vielleicht das kostbarste und schönste Porzellan-Service, das je hergestellt wurde, sowie eine kleine Feld-Bibliothek, eine leidliche Auswahl an Garderobe sowie etwa viertausend Napoleons in bar», die konfisziert und der britischen Schatzkammer zugeführt wurden. Staatsmännische Würde war nie die starke Seite Napoleons gewesen, und seine Versuche, die seinem kaiserlichen Status gemäße Ehrerbietung einzufordern, waren zum Scheitern verurteilt. Sonderliches Mitgefühl rief er nicht hervor, außer bei der Gruppe eingeschworener Anhänger, die beschlossen hatte, ihm in die Gefangenschaft zu folgen. Bei ihrer ersten Begegnung fand Kapitän Ross ihn «blässlich» und «schmerbäuchig»: «insgesamt ein unangenehmer Bursche, von priesterlichem Aussehen». Auch durch nähere Bekanntschaft auf der Reise milderte sich seine Einschätzung nicht. Admiral Cockburn beschrieb Napoleons Benehmen, insbesondere seine Angewohnheit, mit den Fingern zu essen, als «ungehobelt».[2]

Napoleon und sechs Männer seiner Entourage, die sich mit Bediensteten und den Kindern einiger Begleiter auf insgesamt siebenundzwanzig Personen belief, dinierten am Tisch des Kapitäns, gemeinsam mit dem Admiral und dem Obersten des Infanterieregiments, das ihn bewachen sollte. Er gab es bald auf, sich einen «unangemessenen Rang anzumaßen», indem er etwa die britischen Offiziere so sehr in Verlegenheit zu bringen suchte, dass sie ihre Kopfbedeckung abnahmen, wenn er es tat, oder die Tafel verließen, wenn er sich erhob. Nach dem Abendessen spielte er Schach mit Leuten aus seinem Gefolge oder Whist und Siebzehnundvier mit den britischen Offizieren, bei denen er Englischunterricht nahm und die er gerne mit Anekdoten aus seinem ereignisreichen Leben unterhielt, insbesondere aus seinen Feldzügen in Ägypten und Russland, wobei er sich nicht selten in langatmigen Erklärungen und Selbstrechtfertigungen erging. Manchmal wirkte er antriebslos und abwesend, und gelegentlich indisponiert durch Seekrankheit oder andere Unannehmlichkeiten einer Schiffsreise, doch im Ganzen war er gut gelaunt und machte den Eindruck, nicht nur seine Ambitionen hinter sich gelassen zu haben, sondern sein gesamtes Interesse an der Zukunft des Kontinents, den er so lange in Atem gehalten hatte. Am Abend des 11. September, fünf Wochen, nachdem sie in See gestochen waren, und keine drei Monate, seit er als Befehlshaber einer beeindruckenden Armee auf dem Schlachtfeld von Waterloo gestanden hatte, las er der Gesellschaft über zwei Stunden aus einem Buch mit persischen Märchen vor.[3]

An just diesem Abend dankte der Mann, der entscheidend zu Napoleons Sturz beigetragen hatte, Zar Alexander I. von Russland, seinem Schöpfer für den schönsten Tag seines Lebens. Auf einer Ebene nahe dem Städtchen Vertus in der Champagne hatte er eine außerordentliche Demonstration militärischer Macht und religiöser Inbrunst vorgeführt, die den Beginn einer neuen Epoche universellen Friedens und harmonischen Zusammenlebens einläuten sollte. Angefangen hatte sie am Tag zuvor mit einer Parade von über 150.000 seiner Soldaten und 520 Kanonen, die sich, laut dem Herzog von Wellington, «mit der Präzision einer Maschine» bewegten. Darauf folgte ein gargantueskes Mahl, zubereitet vom berühmten Chefkoch Carême, den der Zar zu diesem Anlass von dem Gourmet Fürst Talleyrand ausgeliehen hatte. Die dreihundert Gäste, zu denen der Kaiser von Österreich und der König von Preußen gehörten (sowie eine glänzende Reihe von Diplomaten, Generälen und Ministern), nahmen Platz an Tischplatten unter einem geräumigen Zelt im Garten von Dr. Poisson, einem ortsansässigen Arzt, in dessen Haus Alexander sein Hauptquartier eingerichtet hatte. Da der Ort durch den Krieg ausgeplündert war, musste das Essen für das Bankett und die Verpflegung für die Soldaten aus Paris herangeschafft werden.[4]

Am 11. September, dem Fest des russischen Nationalheiligen Alexander Newski und Namenstag des Zaren, versammelten sich die Soldaten erneut und bildeten Karrees um sieben Altäre, die über Nacht auf der Ebene in Form eines griechisch-orthodoxen Kreuzes aufgestellt worden waren. Alexander ritt zum Altar in der Mitte, stieg ab und neigte das Haupt. In diesem Augenblick begannen die Priester an allen sieben Altären unisono eine Messe zu zelebrieren, die über drei Stunden dauerte. Alexander schritt von Altar zu Altar, geführt von einer sentimentalen Schriftstellerin, die sich zur frommen Mystikerin gewandelt hatte: Juliane von Krüdener, die mit einer langen schwarzen Kutte kostümiert war. Der Gottesdienst nahm ihn vollständig gefangen, und «seine Haltung strahlte die echte Hingabe und Demut eines ernsten Christen aus», wie es eine englische Augenzeugin formulierte.[5]

Alexander sah in der Parade und im Gottesdienst ein Geschehen von weltumfassender Bedeutung, das nicht nur den Triumph über die von der Revolution und Napoleon heraufbeschworenen Teufel besiegelte, sondern zugleich den Untergang der alten und die Geburt einer neuen Welt ankündigte. Nach einer langen spirituellen Odyssee war er nun an dem Punkt angelangt, Gottes Allgewalt zu erkennen. Die Parade auf der Ebene von Vertus war zugleich eine Demonstration seiner weltlichen Macht und deren Unterwerfung unter den göttlichen Willen. Er sah sich und die beiden anderen Monarchen, die Napoleon bezwungen hatten – Kaiser Franz I. von Österreich und König Friedrich Wilhelm III. von Preußen – in einer Linie mit den heiligen drei Königen aus dem Morgenland, die die Herrschaft Jesu Christi erkannt hatten. Diese Vorstellung wollte er mit Substanz füllen, indem er alle Souveräne verpflichtete, sich den Übeln der Zeit mit einer neuen Art von Staatsführung entgegenzustellen, nämlich einer, die ihre Legitimation aus dem Wort Gottes ableitete. Unter Hintanstellung der genaueren Ausgestaltung dieser Herrschaftsform schlug er vor, gemeinsam eine Erklärung zu unterzeichnen, in der man gelobte, in einem neuen Geist zu regieren, in einem Heiligen Bund (die «Sainte Alliance» wird im Deutschen gewöhnlich mit «Heilige Allianz» übersetzt, aber der französische Begriff bezieht sich auf den biblischen Bund Gottes), der sie verpflichtete, das Königtum Gottes auf Erden anzuerkennen.[6]

Der ursprüngliche Entwurf, formuliert in einer an die Apokalypse gemahnenden Sprache, sah die Vereinigung Europas in einer christlichen Föderation vor, de facto «eine Nation» mit «einer Armee». Dies wurde aufgrund des Einspruchs von Franz und Friedrich Wilhelm abgeändert, doch die endgültige Version enthielt das Bekenntnis der Herrscher, sie hätten «die innere Überzeugung gewonnen, dass es notwendig ist, ihre gegenseitigen Beziehungen auf die erhabenen Wahrheiten zu gründen, die die unvergängliche Religion des göttlichen Erlösers lehrt». Sie versprachen, «ihren unerschütterlichen Entschluss zu bekunden, als die Richtschnur ihres Verhaltens in der inneren Verwaltung ihrer Staaten sowohl als in den politischen Beziehungen zu jeder anderen Regierung alleine die Gebote der Gerechtigkeit, der Liebe und des Friedens gelten zu lassen, die, weit entfernt, nur auf das Privatleben anwendbar zu sein, erst recht die Entschließung der Fürsten direkt beeinflussen und alle ihre Schritte lenken sollen.»[7]

Kaiser Franz war skeptisch; Friedrich Wilhelm fand die Angelegenheit lachhaft; der britische Außenminister Lord Castlereagh und der Herzog von Wellington hatten alle Mühe, ihre Heiterkeit zu unterdrücken, als ihnen der Zar das Dokument vorlegte. Sie waren aber durchaus bereit, diese in ihren Augen harmlose Schrulle, dieses in den Worten des österreichischen Außenministers Fürst Metternich «lauttönende Nichts» geduldig zu ertragen. Das Dokument war kein staatlich bindender Vertrag und würde hoffentlich in den Archiven ihrer Kanzleien verschwinden, denn eine Veröffentlichung, so fürchteten sie, würde sie der Lächerlichkeit preisgeben. Es wurde ordnungsgemäß von Alexander, Franz und Friedrich Wilhelm am 26. September, dem Vorabend von Alexanders Krönungsjubiläum, unterzeichnet. Im Laufe der Zeit wurde es aufgrund der Beharrlichkeit des Zaren von jedem Monarchen in Europa unterschrieben, mit Ausnahme des englischen Königs George III. (aus verfassungsrechtlichen Gründen) und des Papstes (aus Gründen der katholischen Glaubenslehre). Doch niemand machte sich in vollem Umfang bewusst, welche Bedeutung der Zar ihm beimaß.[8]

Alexander war einer der wenigen europäischen Herrscher seiner Zeit, der eine nennenswerte Erziehung genossen hatte. Es war eine ungewöhnliche Erziehung, keineswegs ausgerichtet auf seine zukünftige Rolle als Alleinherrscher eines riesigen Imperiums, sie vermehrte noch die Widersprüche, die seiner Position innewohnten, und unterschied ihn deutlich von den anderen Monarchen. Seine Großmutter, Zarin Katharina II., hatte sich mit großer Sorgfalt um die Auswahl seiner Lehrer gekümmert und wollte sein Erziehungsprogramm selbst bestimmen, doch Alexanders Französischlehrer, der Schweizer Philosoph Frédéric César de La Harpe, nahm bald das Heft in die Hand. La Harpe pflanzte dem jungen Prinzen seine eigene Weltsicht ein, er bestritt die Idee des Gottesgnadentums und lehrte ihn, dass alle Menschen gleich seien.[9]

Katharina hoffte, Paul, ihren Sohn und Alexanders Vater, aus der Erbfolge ausschließen zu können, und bestand deshalb darauf, dass der Junge die meiste Zeit nicht bei seinen Eltern, sondern an ihrem Hof zubrachte. Seine Erziehung und persönliche Neigung ließen ihn diesen korrupten und unmoralischen Hof, der für das 18. Jahrhundert typisch war, verabscheuen, und er schätzte um so mehr die kurzen Momente, die er mit seiner Mutter und seinem Vater verbringen konnte, deren Lebensumstände auf Schloss Gattschina schlicht und – sie waren deutscher Abstammung! – auf tröstliche Weise gemütlich waren. Während seine Großmutter ihn auf die Ausübung der Macht vorbereitete, träumte er von einem geruhsamen Leben als Privatier irgendwo in Deutschland.

Zar Alexander I., der hoffte, dass eine von christlichen Prinzipien geleitete Regierung die von der Französischen Revolution entfesselten Kräfte des Bösen besiegen wird. Porträt von George Dawe.

Katharina befürchtete, die Frauen würden Alexander nachstellen, und er könnte sich zu einem Libertin entwickeln, deshalb bestand sie darauf, dass er in vollkommener Unschuld aufwuchs, abgeschottet von den «Geheimnissen der Liebe». Seine Entourage war auf Prüderie eingeschworen, und als der jugendliche Alexander eines Tages auf einem Spaziergang zwei Hunde bei der Paarung sah, erklärte ihm der Tutor, dass sie miteinander kämpften. Doch bereits in frühem Alter wurde er mit einer deutschen Prinzessin verheiratet, und obgleich er sich durchaus in seine Kindsbraut verliebte, war es für ihn schwierig, die Ehe zu vollziehen. Sein ganzes weiteres Liebesleben war belastet von Schuldgefühlen, und er betrachtete den frühen Tod aller seiner Kinder als Strafe Gottes.[10]

Als Katharina im November 1796 starb, bestieg ihr Sohn Paul den Thron und verfolgte prompt einen Kurs, der ihn zu einem der unbeliebtesten Herrscher in der russischen Geschichte werden ließ. Er verbot fast den gesamten Kanon der französischen Literatur und richtete in jedem Hafen Zensurbüros ein, um importierte Schriften auf ihren subversiven Inhalt überprüfen zu lassen. Er verbot ausländische Musik und den Gebrauch von Wörtern wie «Citoyen», «Club», «Société» und «Revolution». Russen wurde untersagt, im Ausland zu studieren. Er erließ einen Ukas nach dem anderen, in denen Sitten und Essenszeiten, Haartrachten, Bärte, Koteletten und Kleidung vorgeschrieben wurden. Und häufig revidierte er diese Dekrete wieder. Oftmals stellten die Menschen fest, dass der Stil ihrer Garderobe verboten war, und dann mussten sie hastig Rockschöße und -aufschläge abschneiden, Taschen anbringen oder abnehmen und Hüte in die vorgeschriebene Form beulen, ehe sie auf die Straße gehen konnten.

Allmählich erkannte Alexander, dass er die vom Schicksal für ihn vorgesehene Verantwortung übernehmen musste. «Ich glaube, wenn ich je an die Macht kommen sollte, täte ich besser daran – statt ins Ausland zu gehen –, mein Land zu befreien und es in Zukunft davor zu bewahren, von Irren als Spielzeug missbraucht zu werden», schrieb er an La Harpe. Er sah die Aufgabe seines Lebens zunehmend darin, die russische Autokratie in eine konstitutionelle Monarchie umzuwandeln und die Leibeigenschaft aufzuheben. Seine Stunde schlug 1801, als Paul ermordet wurde, woran der Sohn eine passive Mitschuld trug. Er setzte politische Häftlinge auf freien Fuß, widerrief viele der repressiven Gesetze seines Vaters, hob Zensur und Reisebeschränkungen auf, brachte Bildungsreformen auf den Weg, gründete Universitäten, berief eine Kommission zur Kodifizierung der Gesetze ein und beauftragte seinen Freund Alexander Woronzow, nach dem Vorbild der französischen Erklärung der Menschenrechte eine Charta für das russische Volk zu entwerfen.[11]

Im Jahre 1804 regte er bei den Verhandlungen über ein Bündnis mit England an, die europäischen Staaten in eine harmonische Föderation umzuwandeln, die jeden weiteren Krieg überflüssig machen würde. Drei Jahre später, anlässlich der Unterzeichnung des Vertrags mit Napoleon in Tilsit, war er überzeugt, in eine große Allianz der kontinentalen Supermächte einzutreten, die Frieden und Fortschritt sichern würde. Erst langsam änderte er seine Einschätzung und begann den Kaiser der Franzosen als Ausbund des Bösen zu betrachten. Napoleons Invasion in Russland 1812 überstand er mit Bibellektüre und inbrünstigen Gebeten, während seine Armee geschlagen wurde und Moskau brannte, und für die Vertreibung der französischen Eindringlinge dankte er dem Herrn. Statt mit Napoleon Frieden zu schließen, einen Frieden, den er sehr zum Vorteil Russlands hätte diktieren können (wie viele in seiner näheren Umgebung hofften), setzte Alexander den Krieg fort. «Mehr denn je unterwerfe ich mich dem Willen Gottes und folge seinem Ratschluss blind», verkündete er im Januar 1813, als er daranging, Europa von dem französischen «Ungeheuer» zu befreien: Er war davon überzeugt, nur ein Werkzeug in den Händen des Allmächtigen zu sein. Als er dann das Ziel erreicht hatte, Napoleon zur Abdankung zu zwingen, demonstrierte er (in einer Weise, die die Verbündeten 1815 teuer zu stehen kam) den Geist christlicher Nächstenliebe, indem er Napoleon unter großzügigen Bedingungen die Herrschaft über die Mittelmeerinsel Elba einräumte.[12]

Er hielt weiterhin orthodoxe Gottesdienste ab, kombinierte sie aber manchmal – wie am 10. April 1814, als nach dem Julianischen wie nach dem Gregorianischen Kalender Ostern auf den gleichen Tag fiel – mit Elementen der katholischen und protestantischen Liturgie. In London, wo sich die alliierten Siegermächte nach der Niederlage Napoleons trafen, besuchte er Zusammenkünfte der Bible Society und ging mit Quäkern zum Abendmahl. Im badischen Bruchsal, auf seinem Weg zurück nach Russland, wurde er mit dem deutschen Pietisten Johann Heinrich Jung-Stilling bekannt gemacht, mit dem er lange Gespräche darüber führte, wie sich das Reich Gottes auf Erden errichten lasse.

In den nächsten Monaten folgte Alexander einem Weg, der ihm seiner Ansicht nach von Gott aufgetragen war. Frustriert von den praktischen Schwierigkeiten, die er auf dem Wiener Kongress erlebte, glaubte er, dass Napoleons Flucht von Elba Gottes Strafe für das nachgiebige Verhalten der Teilnehmer, einschließlich seiner selbst, war. In Heilbronn, auf seinem Weg zu Wellington, dem er sich vor der Schlacht von Waterloo anschließen wollte, lernte er die Baroness Krüdener kennen, die ihn davon überzeugte, dass er von Gott auserwählt sei und seine ganze Kraft darauf konzentrieren müsse, den Willen des Herrn auszuführen. Zu dieser Zeit war Alexander fasziniert von einem Buch des deutschen Philosophen Karl von Eckartshausen, der mit der These aufwartete, manche Menschen, sogenannte «Lichtträger», seien mit der Fähigkeit begabt, die Göttliche Wahrheit durch Wolken zu sehen, die sie vor der gemeinen Masse verbargen. Dies und die Worte der Baroness bestärkten ihn nur in seinem Gefühl, vom Allmächtigen auserkoren zu sein. Sie und er knieten gemeinsam nieder, um für die Nachricht von Napoleons Niederlage bei Waterloo zu danken, und sie folgte ihm anschließend nach Paris, wo sie ein Haus gleich neben dem Élysée-Palast bewohnte, in dem er Quartier bezogen hatte. Sie sahen sich täglich, sie beteten und hielten oft bizarre Gottesdienste ab, die ihren Höhepunkt in dem spirituellen Rummel auf der Ebene von Vertus fanden.[13]

Wellington, Castlereagh und viele andere hatten den Eindruck, der Zar sei ein wenig verrückt geworden. Metternich hielt ihn schon lange für einen Kindskopf, der gefährlichen Schwärmereien anhing. Als zynischer Pragmatiker hatte der österreichische Außenminister keine Zeit für solchen Firlefanz, zumal er davon ausging, dass alles wieder ins Lot kommen würde, wenn Napoleon erst einmal von der Bildfläche verschwunden war. Doch im Jahre 1815 war Alexander wahrscheinlich der einzige unter den Monarchen und hochrangigen Ministern auf dem Kontinent, der ein Gespür für die Sehnsüchte und Ängste hatte, die Europas Gemüter umtrieben, und der verstand, dass viele Menschen mehr wollten als bloß Frieden, Ordnung und einen vollen Bauch.

Seine Heilige Allianz war der ernsthafte Versuch, die Welt auf einen richtigen Weg zu bringen. Er war überzeugt, dass nur ein auf christlicher Moral basierendes System die Wunden, die durch die Ereignisse des letzten Vierteljahrhunderts geschlagen worden waren, heilen und Harmonie in einer zutiefst zersplitterten Welt wiederherstellen konnte. Zwar mag sein Vorhaben naiv und seine Lösung unausgegoren erscheinen, doch er erkannte als einziger unter den Monarchen und Ministern, die die Schlussakte des Wiener Kongresses aushandelten, dass kein Friedensvertrag, wie gerecht auch immer, alleine den Abgrund überbrücken konnte, der sich 1789 aufgetan hatte.

2

Angst

Als sich die Nachricht von der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 in Europa und über den Atlantik bis in die Vereinigten Staaten und die europäischen Kolonien in Amerika verbreitete, wirkte sie wie ein elektrischer Schlag. Obwohl es sich bei dem Ereignis um nicht viel mehr als um einen beunruhigenden Ausbruch von Gewalt, Meuterei und Pöbelherrschaft handelte, wurde es weltweit als stellvertretend für etwas anderes gesehen und gewann eine enorme symbolische Bedeutung. Der englische Staatsmann Charles James Fox erklärte es zum «größten Ereignis der ganzen Weltgeschichte». Statt abzuwarten und sich vor einer abschließenden Meinung die weitere Entwicklung anzuschauen, nahmen die meisten gebildeten Menschen sofort eine von zwei diametral entgegengesetzten Positionen ein. Es war, als hätten sie ein lang erwartetes Menetekel gesehen.[1]

Wer sich mit der Ideenwelt der europäischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts identifizierte, für den stellte die düstere alte Festung (zum größten Teil unnütz geworden) das emotional belastete Symbol des unterdrückerischen und ungerechten Ancien Régime dar, dessen Institutionen und Herrschaftspraktiken für den modernen Geist inakzeptabel waren. Die Bastille stand für alles, was verkehrt war in der Welt. Ihr Fall wurde daher als Vorbote eines neuen Zeitalters empfunden, das unendlich viel gerechter und in jeder Hinsicht moralischer sein würde als das gegenwärtige. Schlüssig oder durchdacht war diese Reaktion keineswegs.

«Obwohl die Bastille nicht die geringste Bedrohung für irgendeinen Bewohner von Petersburg dargestellt hat», schrieb der französische Botschafter am russischen Hof, «lässt sich kaum der Enthusiasmus beschreiben, den die Erstürmung dieses Staatsgefängnisses unter Ladenbesitzern, Händlern, dem städtischen Publikum und einigen jungen Leuten aus höheren Kreisen auslöste.» Er schilderte dann, wie sich die Menschen auf der Straße umarmten, als wären sie plötzlich «von einer unermesslich schweren Kette befreit, die sie niedergedrückt» habe. Selbst der junge Großfürst Alexander nahm die Nachricht begeistert auf.[2]

Aus London schrieb der Anwalt und Rechtsreformer Sir Samuel Romilly an seinen Freund Étienne Dumont in Genf: «Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, wie sehr ich mich über die Revolution gefreut habe, die stattgefunden hat. Ich denke an nichts anderes und male mir mit Vergnügen einige der wichtigen Konsequenzen aus, die in ganz Europa erfolgen müssen … die Revolution hat hier eine sehr ehrliche und allgemeine Freude ausgelöst … selbst die Zeitungen, obwohl sie nicht von sonderlich liberalen oder philosophisch gebildeten Männern geleitet werden, stimmen ausnahmslos in das Lob der Pariser Bevölkerung ein und jubeln über ein Ereignis, das für die Menschheit von so großer Bedeutung ist.»[3]

Diese Ansicht fand ihren Widerhall auch in Deutschland, wo Dichter wie Klopstock und Hölderlin die Revolution als größte Tat des Jahrhunderts begrüßten. Zahlreiche Deutsche brachen nach Paris auf, um die Luft der Freiheit zu atmen. «Das Scheitern dieser Revolution würde ich für einen der härtsten Unfälle halten, die je das menschliche Geschlecht betroffen haben», schrieb der preußische Staatsbeamte Friedrich von Gentz am 5. Dezember 1790 in einem Brief an seinen Freund Christian Garve. «Sie ist der erste praktische Triumph der Philosophie, das erste Beispiel einer Regierungsform, die auf Prinzipien und auf ein zusammenhängendes, konsequentes System gegründet wird. Sie ist die Hoffnung und der Trost für so viele alte Übel, unter denen die Menschheit seufzt.»[4]

Insbesondere für junge Menschen hatte die plötzliche Explosion der Energien in der französischen Hauptstadt eine gewaltige Strahlkraft, die ihre kollektive Phantasie entfachte. Dem jungen Dichter Robert Southey schien sich «eine visionäre Welt … zu eröffnen», und laut Mary Wollstonecraft «waren mit einem Schlag sämtliche Leidenschaften und Vorurteile Europas in Umlauf gebracht». Die Nachrichten aus Paris wurden mit einer fast religiösen Inbrunst aufgenommen, und William Wordsworth sprach für viele seiner Generation, als er schrieb: «Eine Gnade war es, in dieser Morgenröte zu leben.» Die Wiederkunft des Messias hätte kaum eine größere Ekstase auslösen können.[5]

Die allgemeine Erregung wurde von Emotionen eher spiritueller Natur gespeist – ähnlich denen, die so viele junge Menschen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritiklos in die Arme eines «Sozialismus» trieben, den sie in der Regel nicht definieren konnten, von dem sie aber glaubten, er enthalte das Versprechen einer besseren Welt. In der Überzeugung, dass dies für die Menschheit der «richtige» Weg in die Zukunft sei, versuchten die leidenschaftlichen Befürworter der Französischen Revolution nicht nur, ihre schlimmsten Gräuel zu rechtfertigen, sondern sie brandmarkten diejenigen, die ihren Glauben nicht teilten, als «Volksfeinde».

Für Letztere war die Nachricht vom Aufstand in Paris nicht nur ein entsetzlicher Schock, sondern auch Bestätigung dafür, dass ein von langer Hand vorbereiteter Angriff auf die ideologischen Grundfesten ihres Universums begonnen hatte. Der britische Geschäftsträger in Wien berichtete von «Zornesausbrüchen» des österreichischen Kaisers, der, als er von den Vorgängen erfuhr, «mit der schärfsten Rache drohte». Der schwedische König konnte, nachdem er einschlägige Berichte gelesen hatte, nicht mehr schlafen, und die Zarin von Russland stampfte vor Wut mit dem Fuß auf.[6]

Kaum zurückhaltender waren die Reaktionen vieler anderer, bei denen es um viel weniger ging. «Wird das französische Delirium nicht gebührend in die Schranken gewiesen, wird es sich für das Zentrum Europas als mehr oder weniger verhängnisvoll auswirken», warnte der Schriftsteller Melchior Baron von Grimm, «denn die verpestete Luft muss unvermeidlich alles verheeren und zerstören, dem sie nahekommt.» In England donnerte Edmund Burke gegen das «Gift», ausgespien von den «Reptilien-Seelen», wie er die französischen Revolutionäre beschrieb, «die sich in einem Pfuhl finsterer Sünden wälzen, dem sie entstammen». Selbst im weit entfernten Nordamerika ging ob der Neuigkeiten ein Riss durch die Gesellschaft zwischen denjenigen, die – mit den Worten von Edmund Quincy aus Massachusetts – in dem Geschehen «einen neuen Stern im Osten, den Vorboten von Frieden und Güte auf Erden» aufgehen sahen, und denjenigen, für die es «ein unheilvoller Komet war, der ‹aus seinem grausigen Schweif Pestilenz und Krieg schüttelte› und im Guten wie im Bösen seine Auswirkungen auf die Neue Welt ebenso wie auf die Alte entfaltete». Die Revolution «löste Entsetzen oder Freude aus, je nachdem, ob man auf ihren Fortgang voller Vertrauen oder Angst blickte, ob man Leben oder Tod erwartete», schloss er.[7]

Bemerkenswert war an der Kluft, die sich aufgetan hatte, dass die Debatte, wenn man sie denn so nennen kann, zwar von Menschen mit beträchtlichen Geistesgaben geführt wurde, aber zugleich in komplett irrationalen Bahnen verlief. Während die Parteigänger der Revolution sowohl ihre Fehler als auch ihre Vorzüge in poetischen und quasi-religiösen Begriffen priesen, antworteten ihre Feinde in der Sprache der Inquisition.

In seinen Reflections on the Revolution in France («Betrachtungen über die Revolution in Frankreich»), erschienen 1790, warnte Edmund Burke, dass alles, was in Paris geschehe, eine Verletzung grundlegender Gesetze darstelle und die beiden Säulen, auf denen die soziale Ordnung Europas ruhe, Religion und Eigentum, unterminiere. Der Verlauf der Ereignisse sollte seine Voraussage bewahrheiten, dass der Weg, den die Revolutionäre eingeschlagen hatten, zu unsagbaren Gräueltaten und schließlich zu einer brutalen Diktatur führen würde. Doch schon lange bevor es so weit war, änderte sich seine Tonlage, und seine kritischen Ausfälle verkamen mehr und mehr zu hysterischen Schimpftiraden.

Ein weiterer prominenter Verteidiger des Ancien Régime, der savoyische Adelige, Anwalt, Diplomat und Philosoph Joseph de Maistre, legte eine religiös gefärbte Deutung der Ereignisse vor. Als strenggläubiger Katholik war er in seiner Jugend ein begeisterter Anhänger der Amerikanischen Revolution gewesen und hatte sogar den Fall der Bastille begrüßt, bevor er das dahinter lauernde Böse entdeckte. Jetzt verdammte er die Aufklärung in toto und argumentierte, Gott stehe der natürlichen Ordnung der Dinge vor, von der sich abzukehren widernatürlich sei, und der katholische Glaube sei «die Mutter alles guten und wirklichen Wissens in der Welt». Seiner Überzeugung nach würde das 18. Jahrhundert einst von der Nachwelt «als eine der beschämendsten Epochen in der Geschichte des menschlichen Geistes» betrachtet werden. Die Französische Revolution war in seinen Augen ein «unfassbares Delirium», «ein Greuel», «eine schamlose Prostitution der Vernunft» und eine Beleidigung aller Vorstellungen von Gerechtigkeit und Tugend. «Die Französische Revolution», so schloss er, «hat einen satanischen Charakter, der sie von allem unterscheidet, was wir kennen, und vielleicht von allem, was wir je erleben werden.»[8]

Wie die Schriften von Burke, die viele Auflagen erlebten und in die wichtigsten europäischen Sprachen übersetzt wurden, spiegelten die von de Maistre die Empfindungen vieler Menschen, die das Voranschreiten der Aufklärung mit Misstrauen betrachteten. Die Entwicklung der Ereignisse in den 1790er Jahren bestärkte sie in ihrer Ablehnung der Schriften Voltaires, Rousseaus und anderer Philosophen des 18. Jahrhunderts. Im Nachhinein konnten sie genau nachzeichnen, wie die Verbreitung dieser Lehren zu der Katastrophe geführt hatte, die ihre Welt erschütterte.

Während einige darin einen unglücklichen, von gottlosen oder irregeleiteten Intellektuellen geförderten Prozess sahen, handelte es sich für andere um eine Verschwörung, die sich nicht nur gegen die herrschende politische Ordnung richtete, sondern gegen das gesamte Fundament der europäischen Gesellschaft und Zivilisation. Voltaire hatte einen lebenslangen ans Pathologische grenzenden Kampf gegen die katholische Kirche geführt, die er als «L’Infâme» bezeichnete. Sein Einfluss ließ sich ohne Zweifel in der virulent anti-christlichen Grundtendenz der Revolution erkennen. Manche brachten sie nicht nur in Zusammenhang mit seinen Schriften und den Säkularisierungseffekten der Aufklärung: Louis de Bonald sah die Welt nach den Geburtswehen der Reformation im 15. Jahrhundert sich schrittweise dem Abgrund nähern. Andere gingen noch weiter zurück und verfolgten die Fäulnis zurück bis zu Jan Hus, John Wyclif und den Lollarden.[9]

Auch wurde verschiedentlich darauf hingewiesen, dass das Datum des Sturms auf die Bastille, der 14. Juli, das Gleiche war wie das, an dem Jerusalem im Ersten Kreuzzug 1099 fiel – damit insinuierend, dass es sich um eine Art Rache der Ungläubigen handeln könnte. Für die Phantasievolleren war der Sturz der französischen Monarchie das Ergebnis «des Fluchs der Templer», deren Orden annähernd fünf Jahrhunderte zuvor von eben dieser Monarchie aufgelöst worden war. Die Templer existierten nicht mehr, aber es gab die Theorie, dass der letzte Großmeister des Ordens, während er 1314 auf seine Hinrichtung in der Bastille wartete, vier Freimaurerlogen gegründet habe, die die Auflösung des Ordens und seinen Tod an der französischen Königsfamilie rächen sollten.

Die Freimaurerei war zu Beginn des 18. Jahrhunderts in Schottland entstanden und hatte sich rasch in allen Ländern Europas verbreitet. Da die Bewegung die intellektuellen Eliten anzog, waren ihre Mitglieder überwiegend säkular und freigeistig gesinnt – eine lose zusammenhängende Bruderschaft, die sich unverbindlich der Besserung der Menschheit durch die Verbreitung von Vernunft, Bildung und humanen Werten verschrieben hatte. Ihre Mitglieder waren in Logen organisiert, wo sie zu Vorträgen und Diskussionen über das gesamte Themenspektrum von sozialen Problemen bis zu den neuesten Entwicklungen in der Kunst zusammenkamen. Manche wollten Kontakte knüpfen, andere verfolgten handfestere Interessen wie Trinken oder Sex. Dazu gehörte ein reichlich albernes Ritual, das vorgab, sich aus mittelalterlichen oder sogar biblischen Ursprüngen herzuleiten. Die Freimaurer trafen sich oft in Tempeln, Krypten oder künstlichen Grotten mit leicht okkultistischer Anmutung; bei ihren Initiationsriten wurden den Novizen die Augen verbunden, und sie mussten feierliche Eide schwören, umgeben von altertümlichen Requisiten – darunter Umhänge, Dolche, Äxte, Feuerschalen und Becher voller Rotwein, der Blut symbolisierte, wobei mitunter sogar echtes Blut genommen wurde.

Da die Logen als Zusammenschluss von Gleichgesinnten gegründet und nicht von einem Delegierten- oder Bevollmächtigtensystem organisiert wurden, entwickelten sich recht unterschiedliche Formen. In Frankreich ging es bei der Freimaurerei im Allgemeinen um Geselligkeit mit oft eher frivolen Zügen. In Ländern wie Polen und Russland hatte sie mehr mit dem Nachäffen französischer Moden als mit sonst etwas zu tun. Doch in Deutschland wurde sie sehr ernst genommen. Sie spiegelte und berührte sich teilweise mit religiösen Tendenzen, die eine Rückkehr zu einer «reineren» Form des Christentums und eine aufrichtige Spiritualität anstrebten.

Adam Weishaupt, Professor für kanonisches Recht an der Universität in Ingolstadt, gründete 1776 einen Studentenbund, den «Bund der Perfektibilisten». Das war nicht weiter bemerkenswert, da an deutschen Universitäten solche Bruderschaften regelrecht aus dem Boden schossen. 1778 änderte er den Namen in «Illuminatenorden» und führte verschiedene Grade sowie ein ausgeklügeltes System von «Correspondenz-Vorschriften» ein. Für Personen und Orte gab es Geheimnamen: Bayern war «Griechenland», München «Athen» und Weishaupt selbst «Spartakus».

Ab 1780 begann ein neues Mitglied, Freiherr Adolph von Knigge alias «Philo», den Orden mit seiner eigenen Doktrin neu auszurichten, nach der alle Staaten unnatürliche und verderbte Gebilde waren, die besser heute als morgen verschwänden. Sie sollten durch eine Mischung aus gegenseitiger Achtung und Liebe ersetzt werden, die zu universellem Glück führen würde. Dieses vermeintliche Wundermittel gegen die Übel der Welt fand eine große Zahl von Anhängern und drang in das Netzwerk der deutschen Freimaurer ein und von dort in die Österreichs, Böhmens, Ungarns, Norditaliens und sogar Frankreichs. Zu den Eingeweihten gehörten Goethe, Herder und einige andere bedeutende Männer.

Im Jahre 1785 verbot der Kurfürst von Bayern den Orden, womit er diesem eine Anerkennung und Berühmtheit verlieh, die er kaum verdiente. Haarsträubende Geschichten über die okkulten Ziele des Ordens machten die Runde. Ein anonymes Buch mit dem Titel Essai sur la secte des Illuminés, in Paris am Vorabend der Revolution publiziert, führte dessen Ursprung auf die Freimaurer zurück, verbreitete sich genüsslich über die Einführungsriten und Prüfungen und beschrieb, wie okkulte Symbole mit dem eigenen Blut des Novizen auf seinen Körper gemalt wurden und so weiter. Das Buch enthüllte, dass die Illuminaten außerhalb von Paris ein Schloss mit unterirdischen Kerkern unterhielten, in die Mitglieder, die Ordensgeheimnisse verraten hatten, geworfen und dort vergessen wurden. Der Autor behauptete, dass die Sekte «einen Plan gefasst hat, die Herrschaft über das Bewusstsein zu übernehmen; es werden keine Königreiche, keine Provinzen erobert, sondern der menschliche Geist», und zwar mit dem letztgültigen Ziel, alle Throne und Regierungen zu zerstören und dann die Gesellschaft selbst. Der Orden funktioniere über ein Zusammenspiel von Zirkeln in jedem Land, die wiederum untergeordnete Zirkel kontrollierten. Diese listete er akribisch auf und erweckte damit den Eindruck, ganz Europa sei unterwandert.[10]

Dem kam eine zeittypische Faszination für den Okkultismus und für antike orphische und ägyptische Kulte entgegen, für eleusinische und rosenkreuzerische «Mysterien» sowie für Geheimgesellschaften jeder couleur. Ihr berühmtester Ausdruck war Mozarts Zauberflöte. In Deutschland führte dies zu einem neuen literarischen Genre, dem «Bundesroman», zu dem Schiller, Jean Paul und Goethe beitrugen. Das kommerziell erfolgreichste Werk in diesem Genre war Carl Grosses Roman Der Genius (1791–95): Zu den pikaresken Abenteuern des jungen adeligen Protagonisten gehören nicht nur abwegige sexuelle Aktivitäten, sondern auch die Mitgliedschaft in einem Orden, der ihn zwingt, den König von Spanien zu ermorden. Solche Bücher trugen dazu bei, den Glauben an die Allgegenwart und Allmacht von Geheimgesellschaften, die unsichtbar im Dunkeln operieren, zu befördern. Ein ganzes Regal von weniger romanhaften Tatsachenberichten wies eine Verbindung zwischen den Geheimgesellschaften und der Politik nach, was für viele Menschen dadurch bestätigt wurde, dass die Hauptakteure in der Französischen Revolution überwiegend Freimaurer waren. Manche versicherten, das ideologische Kraftzentrum der Revolution, der Club des Jacobins – benannt nach dem ehemaligen Dominikanerkloster, in dem sie sich trafen (die Dominikaner wurden in Frankreich Jakobiner genannt) – sei in Wahrheit ein Ableger der Freimaurerei. «Die politischen Komitees, aus denen sich der Jakobiner-Club entwickelte, hatten ihren Ursprung im Illuminismus, der in Deutschland seinen Anfang nahm; und weit davon entfernt, vernichtet zu sein, operieren sie im Untergrund und sind gefährlicher denn je», schrieb Leopold Alois Hoffmann. Er hob hervor, dass einer der führenden Illuminaten, Johann Christoph Bode, zwei Jahre vor Ausbruch der Revolution Paris besucht hatte, um sich mit französischen Freimaurern auszutauschen, und dass der berühmte Revolutionär Marquis de Mirabeau kurz vor dem Fall der Bastille in Berlin gewesen war.[11]

Als der schwedische König, Gustav III., am 16. März 1792 auf einem Maskenball erschossen wurde, war für viele Menschen in Europa klar, wer dahinter steckte. Und als noch im selben Jahr der Herzog von Braunschweig – ein ehemaliger Freimaurer, der die österreichischen und preußischen Truppen bei ihrer Invasion in Frankreich zur Niederschlagung der Revolution kommandierte – nach der ergebnislosen Schlacht von Valmy den Rückzug antrat und der Revolutionsarmee den Triumph überließ, lag es auf der Hand, dass er einen okkulten Befehl von oben befolgte. Eine Flut sensationslüsterner «Enthüllungsliteratur» sprach von schwarzen Künsten, Geheimnissen, Zauberei und Gift und deren ursächlichem Anteil am unerwarteten Tod verschiedener Könige. Warf man den Autoren Mangel an Genauigkeit vor, so deuteten sie dunkel an, ihr Leben sei in Gefahr, womit sie den ohnedies wachsenden Mythos der Omnipräsenz und Omnipotenz der «Sekte» weiter nährten.

Während viele der Bücher und Pamphlete nur die bereits Bekehrten ansprachen, wurde eine breitere Leserschaft durch das einflussreiche Werk des ehemaligen Jesuiten Abbé Augustin Barruel in den Dunstkreis dieser Überzeugung gezogen.[12] Barruel hatte die Aufklärung seit 1781 in Wort und Schrift bekämpft und hielt seine Kritik in den ersten Jahren der Revolution aufrecht. Er sah in ihr eine Gottesstrafe für die Franzosen, weil sie eine falsche Philosophie toleriert und übernommen hatten. 1792 floh er nach England, wo er seine zweibändigen Mémoires pour servir à l’histoire du Jacobinisme publizierte. Das Werk wurde innerhalb eines Jahres sechsmal aufgelegt, in alle wichtigen europäischen Sprachen übersetzt und blieb über Jahrzehnte im Buchhandel. Barruels Stil zeichnete sich durch einen autoritären Ton aus, der kein Widerwort duldete, und seine Behauptungen, so weit hergeholt und unwahrscheinlich sie auch sein mochten, wirkten überzeugend.

Gleich im ersten Satz erklärt er, die Französische Revolution sei die Frucht einer weitläufigen Verschwörung, organisiert von einer Sekte, die jüngst den Namen der Jakobiner angenommen habe. Ihr Ziel sei es, sämtliche bestehenden Throne und Altäre zu stürzen und die Anarchie zu entfesseln. Barruel zufolge bestand sie aus 300.000 aktiven Anführern, denen weitere zwei Millionen folgten. «Bei dieser Französischen Revolution war alles, einschließlich der schrecklichsten Verbrechen, vorhergesehen, vorausgeplant, wohlbedacht, beschlossen, verfügt», versicherte er, «alles war die Konsequenz tiefgreifender Perfidie, denn alles wurde von Männern vorbereitet und durchgeführt, die alleine Kenntnis von der seit Langem in Geheimgesellschaften geplanten Konspiration hatten und die die Umstände herbeizuführen und zu ergreifen wussten, welche ihren Plänen dienlich waren.»[13]

Für Barruel hatte alles in den späten 1720er Jahren mit Voltaire begonnen, der die Unterstützung Friedrichs II. von Preußen gewonnen sowie d’Alembert und Diderot rekrutiert hatte, die Herausgeber der Encyclopédie, die unter dem Deckmantel wissenschaftlicher Erkenntnis und Vernunft die Religion, die Gesellschaftsordnung und die meisten Institutionen unterminierten. Der nächste Schritt war die Auflösung des Jesuitenordens, bewerkstelligt durch die Manipulation der Öffentlichkeit und der Staatsmänner. Für Barruel waren die gutwilligen, an menschlicher Wohlfahrt interessierten Freimaurer «nützliche Idioten», die halfen, die Gesellschaft zu destabilisieren, indem sie zweifelhafte Hierarchien schufen und existierende Institutionen, insbesondere die Kirche, mit ihrer pseudoreligiösen Torheit schwächten. Die Illuminaten waren zielgerichteter und Weishaupts Philosophie gefährlicher. Barruel beschrieb sie folgendermaßen: «Gleichheit und Freiheit sind wesentliche Rechte, die der Mensch in seinem ursprünglichen und primitiven Zustand von der Natur empfangen hat; der erste Schlag gegen die Gleichheit wurde vom Eigentum geführt; der zweite Schlag gegen die Freiheit durch die Vergesellschaftung und die Bildung von Regierungen; die einzigen Grundlagen sowohl für das Eigentum als auch für die Regierungen sind die religiösen und bürgerlichen Gesetze; wenn man also den Menschen wieder in seine ursprünglichen Gleichheits- und Freiheitsrechte einsetzen will, muss man die Religion und die bürgerliche Gesellschaft zerstören und dies am Ende durch die Abschaffung des Eigentums besiegeln.»[14]

Laut Barruel waren die Illuminaten gut organisiert und informiert. Um nützliche Konvertiten für ihre Sache zu gewinnen, sammelten sie Informationen über einflussreiche Personen, zeichneten sorgfältig ihre Vorlieben und Abneigungen, Essensgewohnheiten, sexuellen Vorlieben und so weiter auf, um sie auf die bestmögliche Weise ansprechen, manipulieren oder sogar erpressen zu können. Sie hatten auch vor, Frauen in ihren Orden aufzunehmen, und zwar zwei Kategorien: eine bestehend aus tugendhaften hochgeborenen Damen, die helfen sollten, Konvertiten zu machen und Geld zu beschaffen, die andere aus liederlichen Frauen und Prostituierten, die zur sexuellen Befriedigung der Mitglieder vorgesehen waren.

Barruels Buch war nicht als Geschichtswerk gedacht, es war eine Fanfare, die zum Handeln aufrief. Er warnte, dass «die Französische Revolution für die Sekte nicht mehr als eine Kraftprobe darstellt; ihr konspiratives Unwesen überzieht die ganze Welt». Sie bereitete angeblich schon den Umsturz anderer Staaten vor, entsandte Boten und nutzte freimaurerische Netzwerke in Ländern, in denen die Franzosen eine Invasion planten – er behauptete, in London warteten fünfhundert Anhänger nur auf ein Zeichen, um aktiv zu werden. «Es ist immer noch möglich, diese Sekte zu zerschlagen, die geschworen hat, euren Gott, euer Vaterland, eure Familien und das gesamte Gebäude eurer Gemeinschaft zu zerstören», warnte er seine Leser, doch die Zeit werde knapp und man müsse der Bedrohung ins Gesicht sehen. «Die Gefahr ist gewiss, sie besteht fort, sie ist entsetzlich, und sie bedroht alle und jeden von euch», orakelte er.[15]

Der anglikanische Geistliche und angesehene Astronom Francis Wollaston, Fellow der Royal Society, stimmte aus ganzem Herzen zu. «Zu Freiheit und Gleichheit der ursprünglichen Freimaurerei, zum erbitterten Hass Voltaires und seiner selbsternannten Philosophen gegen Jesus Christus und seine Religion, zu den demokratischen Prinzipien Rousseaus und seinen wirklichkeitsfremden Vorstellungen vom Ursprung der Staatsgewalt» hätten die Jakobiner «den Zorn von Weishaupt und seiner angeblich aufgeklärteren Anhänger hinzugefügt gegen alle Könige oder eher gegen all diejenigen, die unter irgendeinem Titel Regierungsgewalt über andere ausüben».[16]

Wenn schon gebildete Menschen das Geschehen in so widersprüchlicher Weise wahrnehmen konnten, ist es kaum verwunderlich, dass die Ungebildeten und die Landbevölkerung an noch weitergehende Theorien glaubten. Während einige die neuen Schlagworte von Freiheit und Volksherrschaft vor sich her trugen, sahen andere darin einen teuflischen Frevel, der alles gefährdete, was ihnen lieb und teuer war. Gerüchte und Phantasien erzeugten im 18. Jahrhundert eine Hysterie, die ein Historiker kürzlich mit der «Angst vor einer Marsinvasion» verglichen hat. Der Begriff «Jakobiner» verband sich im konservativen Schreckenskanon mit dem der «Freimaurer» und «Illuminaten» und meinte schließlich jedes Mitglied der zunehmend nur noch als «Sekte» bezeichneten Organisation. Blinde Angst drückte unbelegten Behauptungen das Siegel der Glaubwürdigkeit auf, und in dem vorherrschenden Meinungsklima hatte jede zufällige Übereinstimmung Beweiskraft: Es gibt einen Punkt, an dem Angst sozialpathologisch wird und keiner Beweise mehr bedarf. Die feste Überzeugung, dass eine umfassende Konspiration im Gange sei, affizierte das konservative Denken. Die Idee einer okkulten Vereinigung, die am Umsturz der Gesellschaftsordnung arbeitete, bemächtigte sich der Vorstellung der Menschen, um sie nie wieder zu verlassen.[17]

Nachdem er die Gefahr an die Wand gemalt hatte, überlegte Barruel, wie ihr zu begegnen sei. Da die Jakobiner «einen geheimen Krieg der Verblendung, Irreführung und Dunkelheit» gegen die Vernunft führten, sollten die Menschen mit «Weisheit, Wahrheit und Licht» reagieren. Da «Gottlosigkeit und Korruption» auf den Glauben gehetzt wurde, sollten die Gläubigen mit Moral und Tugend antworten und versuchen, den Feind zu bekehren. «Die Jakobiner führen gegen Fürsten und Regierungen der Völker, gegen das Gesetz und die Gesellschaft einen Krieg des Hasses und der Zerstörung, und ich wünsche mir, dass Ihr Euch ihnen mit Zivilität, Humanität und konservativem Geist entgegenstellt», schrieb er.[18]

Allerdings beherzigten die Fürsten und Regierungen seinen Rat nicht. Ihre Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich war fast ausschließlich von Angst diktiert, und Angst gebiert Irrationalität und Aggression. Sie nährt sich von der Vorstellung, neben einer identifizierbaren Gefahr gäbe es noch andere, die im Dunkeln lauern. Es entwickelt sich ein zwanghaftes Bedürfnis, solchen ungreifbaren Bedrohungen auf die Spur zu kommen. Dies und die Notwendigkeit, gegen die Quelle ihrer Ängste vorzugehen, sollte über weite Strecken des nächsten halben Jahrhunderts die Politik bestimmen und eine entscheidende Rolle bei der gesellschaftlichen Neuordnung Europas spielen.

3

Ansteckungsgefahr

Kein europäischer Staat war auch nur annähernd auf die Herausforderungen vorbereitet, die die Französische Revolution darstellte, ganz zu schweigen von den Gefahren, die Barruel und andere Verschwörungstheoretiker an die Wand malten. Herrscher und Regierungen griffen nur geringfügig in das Leben ihrer Untertanen ein: die Städte verwalteten sich selbst, und auf dem Lande wirkten der lokale Adel, Gemeindebehörden, religiöse Zucht und Brauchtum zusammen, um den Anschein der Ordnung aufrechtzuerhalten. Zentrale Kontrollorgane existierten kaum. Die französische Monarchie hatte 1544 eine Truppe ins Leben gerufen, deren Hauptzweck es war, Unruhen zu unterdrücken, die Maréchaussée, ein Korps berittener Männer, das für die Sicherheit auf den Straßen sorgte und achtgab, wer sie benutzte. Paris bekam 1667 eine Polizeibehörde, um der Pest, die damals im Land wütete, Herr zu werden. In St. Petersburg wurden 1718 Polizeikommissare ernannt, 1742 in Berlin und 1751 in Wien. Doch ist der Begriff «Polizei» irreführend.

In seinem monumentalen vierbändigen Werk Traité de la police, das zwischen 1705 und 1738 in Paris publiziert wurde, erklärte Nicolas de la Mare, dass «Polizei» die Ordnung des öffentlichen Raums zum Nutzen aller bedeute, die sich in ihm bewegten. Zu ihrem Aufgabenbereich gehörte die Festsetzung der Breite, Länge und Trassierung der Straßen, die Art und Weise, wie sie beschildert, beleuchtet, repariert, gereinigt und an heißen Tagen mit Wasser besprengt wurden; wie die Häuser gebaut und wie sie bewohnt werden sollten, damit niemand in Gefahr geriet (die Bewohner waren angehalten, keine Blumentöpfe auf ihre Fenstersimse zu stellen, weil sie hinunterfallen und Verletzungen verursachen konnten). Das Wort «Polizei» stand für präzise Anweisungen, wie Nahrungsmittel hergestellt, transportiert, verarbeitet und verkauft werden sollten; wie Tiere zu schlachten und auszunehmen waren; wie, wo und mit welchem Gerät Fische gefangen und wie sie gesalzen und konserviert werden mussten; wie Gärten angelegt und was in ihnen angepflanzt werden durfte; wie Feuerholz und Kohle zu erwerben und zu lagern waren; welche Vorkehrungen gegen Hochwasser zu treffen waren; wie Manufakturen im städtischen Raum betrieben werden mussten; wie Weinläden und Esslokale geführt werden durften; welche Hygiene-Standards in Bordellen einzuhalten waren und wie Prostituierte auf Krankheiten hin untersucht werden mussten – mit anderen Worten, für alles, was nötig war, um Ernährung, Gesundheit und Sicherheit der Bürger zu gewährleisten.[1]

Im Laufe des 18. Jahrhunderts erweiterte die Polizei von Paris ihre Kompetenzen, errichtete und kontrollierte die Markthallen, die Börse, die Feuerwehr, eine Veterinärschule und ein Krankenhaus. Sie regelte jedes Gewerbe und Handwerk und verlangte von den Betreibern, ihre plaque d’identité zu tragen. Sie gründete den Mont de Piété, ein landesweites Netz von Leihhäusern, in denen die Armen nicht betrogen wurden. Sie griff in Familienstreitigkeiten ein und sperrte Störenfriede und brutale Ehemänner hinter Gitter. Um die Ausbreitung von Geschlechtskrankheiten einzudämmen, klassifizierte sie Prostituierte danach, wer sie wie, wann und wo rekrutiert hatte, nach ihrem Alter, Gesundheitszustand und ihren besonderen Spezialitäten und Freiern – und gab sich alle Mühe, diejenigen ohne Lizenz aufzugreifen.[2]

Nur ausnahmsweise dehnten Regierungen den Kompetenzbereich der «Polizei» auch auf das Politische aus. Unter der Herrschaft von Elisabeth I. setzte Sir Francis Walsingham «Geheimdienstler» ein, um Verschwörungen gegen die Königin aufzudecken. Kardinal Richelieu und später Mazarin unterhielten ähnliche Nachrichtendienste, um die adeligen Abweichler der Fronde zu kontrollieren. Die russische Monarchie erließ Gesetze, die ihre Untertanen anhielt, sich gegenseitig zu denunzieren. Die Habsburger gründeten 1713 eine reguläre Geheimpolizei. Doch diese Behörden kümmerten sich um die Aufdeckung von Konspirationen des unbotmäßigen Adels, nicht um die Gedanken der einfachen Untertanen. Die jeweiligen Landeskirchen waren eher mit solchen Dingen beschäftigt, doch da der Staat immer mehr an ihre Stelle als Wächter für Moral und Gewissensfragen trat, fiel der Polizei auch zunehmend eine seelsorgerische Funktion zu. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, als nicht mehr nur eine kleine, gebildete Elite, sondern weitere Kreise der Bevölkerung über die Gesellschaftsordnung diskutierten, begannen sich die Behörden für die Ansichten dieser Kreise zu interessieren.

Um die Verbreitung unerwünschter Gesinnungen zu verhindern, konfiszierte die Pariser Polizei unzensierte Bücher. Bücher, welche die orthodoxe Sicht auf Religion, Gesetz, Monarchie, Geschichte, Philosophie, Wissenschaft und Moral untergruben, wurden verboten, beschlagnahmt und verbrannt. Ihre Autoren und Verleger konnten verhaftet werden, doch betraf das nur wenige. Die meisten zogen einer solchen Aussicht einen mehrmonatigen Aufenthalt im Ausland vor, und der Vollzug dieser Gesetze gehörte zu den unbeliebtesten Aufgaben der Polizei.[3]

Die Pariser Polizei rühmte sich, hinsichtlich der Vorgänge in der Hauptstadt auf dem neuesten Stand zu sein. Die Routinekontrollen in Kneipen, Weinläden, Esslokalen und Bordellen brachten Informationen darüber, was in diesen Etablissements gesagt und getrieben wurde, während ein ganzes Netz von Spionen – mouches (Fliegen) und später mouchards genannt – für zusätzliche Informationen sorgte. Ein Generalleutnant der Polizei im 18. Jahrhundert prahlte angeblich, dass von drei Leuten, die sich unterhielten, mit Sicherheit einer zu seinen Agenten gehörte. Diese zeigten einen ausgesprochenen Appetit, Priester auf Abwegen oder prominente Adelige in flagranti zu erwischen und anschaulich zu beschreiben, was sie mit ihren Partnerinnen anstellten. Antoine de Sartine, Generalleutnant der Polizei zur Zeit Ludwigs XV., war in dieser Hinsicht besonders aktiv. Er «spionierte die peinlichsten Geheimnisse» seiner Untertanen aus, «um den König, der noch freizügiger eingestellt war als er selbst, mit der ganzen Nacktheit des Lasters zu unterhalten», wie ein späterer Polizeikommissar schrieb, der sich (mit offensichtlichem Genuss) in die Berichte versenkt hatte.[4]

Sowohl der Chef der Pariser Polizei, der am Ende des Jahrhunderts 1200 wie Soldaten bewaffnete Männer kommandierte, als auch die vier inspecteurs, die den mouches vorstanden, kauften ihre Posten von der Krone, und ihr Hauptinteresse war, ihre Investition wieder hereinzubekommen und durch Bestechungsgelder ein Vermögen anzuhäufen. Mit den Worten des Historikers Richard Cobb, der sich auf diesem Gebiet wie kaum ein anderer auskannte, ging es dem «inspecteur vor allem um ein ruhiges Leben, er wollte nur in Frieden gelassen werden mit den schwangeren Mädchen, den Säufern, den toten Pferden und überfahrenen Botenjungen, den filles de joie, den von zuhause ausgerissenen Kindern und den ewigen plaques d’identité». Die Polizei war eher ein privat geführtes Überwachungsunternehmen als ein Instrument der staatlichen Kontrolle. Wenn die Hauptstadt mehr und mehr der Regulierung und Aufsicht unterlag, so galt das nicht für die anderen Städte, und ländliche Gegenden sahen bestenfalls gelegentlich eine Truppe der Maréchaussée die Straße entlangmarschieren.[5]

Der einzige andere große Staat, der über einen organisierten Polizeiapparat verfügte, war Österreich oder vielmehr die Habsburgermonarchie. Nach der Niederlage gegen Preußen Mitte des achtzehnten Jahrhunderts erkannte Kaiserin Maria Theresia die dringende Notwendigkeit, die Verwaltung ihrer Herrschaftsgebiete zu modernisieren, wozu eine Ausdehnung der staatlichen Kontrolle gehörte. Auch sie wollte wissen, was gedacht und gesprochen wurde. Während die Polizei sich auf Schnüffler stützte, auch als «Maulwürfe» bekannt, hatte sie einen direkten Aufruf an ihre Untertanen ergehen lassen, diesen zu helfen und über alles und jedes, das von Interesse sein könnte, anonym Informationen einzusenden. Die Reaktion der Menschen war enthusiastisch. Ihr Nachfolger Joseph II. baute darauf auf und schuf einen Polizeiapparat, der in Europa seinesgleichen suchte.[6]

Dieser verdankte seine Struktur Johann Anton Graf von Pergen, nach dessen Überzeugung der Staat nur richtig funktionieren konnte, wenn er jeden Aspekt des Lebens seiner Untertanen kontrollierte. Es bestand daher für jeden die Pflicht, sich mit seiner Adresse registrieren zu lassen; Hausbesitzer hafteten für ihre Mieter und Gäste. Pergen wollte alles wissen, was sie taten, und seine Spione lauerten in Läden, Kaffeehäusern, Parks, Theatern und überall sonst, wo Menschen zusammenkamen. Sie wurden aus jeder Gesellschaftsschicht rekrutiert, und Angehörige des Adels gehörten ebenso dazu wie Priester, Ärzte, Ladenbesitzer, Prostituierte und Bedienstete aller Art. Außerdem waren die einfachen Bürger aufgefordert, über ihre Standesgenossen zu berichten, und diese Praxis wurde ein entscheidendes Element der polizeilichen Informationsbeschaffung.[7]

Kaiser Joseph II. glaubte, seine Untertanen vor dem seiner Ansicht nach irreleitenden Denken und dem «Fanatismus» der Aufklärung beschützen zu müssen. Er schränkte das Bildungssystem ein, ließ 1782 die Grazer Universität schließen. Er verschärfte die bereits strenge Zensur, was ihm bei seiner Verachtung für die «Schreiberlinge» durchaus leichtfiel. Die Zensur sollte nicht nur die üblichen Themenbereiche wie Religion und Monarchie abdecken, sondern sich ebenso um die Beförderung «des richtigen Denkens» kümmern. Zutiefst misstraute er den «Sekten», wozu er fast jede Vereinigung von Freimaurerlogen bis hin zu Lesegesellschaften zählte, und zwar in der Überzeugung, dass sie «Irrtümer» verbreiteten. Ausländer sahen sich dem größten Argwohn ausgesetzt, sie wurden beharrlich beobachtet, ebenso die Geistlichen.[8]

Andernorts in Europa war die polizeiliche Überwachung meist auf Städte beschränkt und lag in den Händen von Zünften und Magistratsbeamten. In Italien war die einzige Instanz, die gegen Kriminalität vorging, die der Sbirren, die beim Senat einer Stadt oder bei regionalen Herrschern in Dienst standen. Sie wurden als «ruchlos», «lasterhaft» und «korrupt» beschrieben; ihr Verhalten unterschied sich nur wenig von dem der Briganten, die sie bekämpfen sollten. Im Bedarfsfall wurde die Ordnung von Soldaten hergestellt, meist von der Leibgarde des Herrschers, die in der Hauptstadt stationiert war, oder auch von einer mehr oder weniger freiwilligen Gemeindemiliz oder Wachgesellschaft.[9]

In England hatte sich auf diesem Gebiet seit dem Mittelalter nicht viel verändert. Nach dem Statut von Winchester aus dem Jahre 1285 war jede Gemeinde und Stadt für die Aufrechterhaltung der Ordnung selbst zuständig. Magistratsbeamte oder Friedensrichter, die den besitzenden Klassen und häufig dem geistlichen Stand entstammten, ernannten Konstabler, gewöhnliche Bürger, die eine einjährige Amtszeit im Rotationsverfahren ableisteten. Die Magistratsbeamten hatten die Machtbefugnis, zusätzliche Konstabler anzustellen und Haftbefehle gegen einzelne Personen zu erlassen. Sie konnten auch Menschenversammlungen auflösen, indem sie den Riot Act von 1714 verlasen und Freibauern aus der Umgegend, die Miliz oder reguläre Soldaten zu Hilfe riefen, wenn ihrer Anweisung nicht innerhalb einer Stunde Folge geleistet wurde. Der andere Repräsentant der Obrigkeit war der Lord Lieutenant oder Statthalter, eine Einrichtung aus der Tudorzeit. Meist handelte es sich um den bedeutendsten Grundbesitzer der Grafschaft; er repräsentierte die Krone und führte bei Magistratssitzungen den Vorsitz.

Die Durchsetzung von Gesetz und Ordnung erfolgte in den Städten auf einer ähnlich archaischen Basis, und nur in London, der bevölkerungsreichsten Stadt Europas, war sie von Sir John Fielding (dem Halbbruder des Romanautors Henry Fielding) modernisiert worden. Sir John war Friedensrichter und übernahm 1748 den Vorsitz des Magistrats, der in der Bow Street tagte. Er überredete ausscheidende Konstabler, im Dienst zu bleiben, und schuf eine Truppe von etwa 150erfahrenen und besoldeten «runners», wie sie genannt wurden, unterstützt von über achthundert Freiwilligen. Das Ungenügen dieser Kräfte wurde bei den Gordon-Unruhen von 1780 offenbar, als Volksmassen tagelang randalierten. Erst nach dem Eingreifen von Soldaten wurde die Ordnung wiederhergestellt: 210 Randalierer kamen zu Tode und 245 wurden verletzt, von denen weitere fünfundsiebzig in der Folge starben. Der Sachschaden für die Hauptstadt wurde laut einer neueren Studie erst durch die Bombardierung von London in den 1940er Jahren übertroffen. Im Jahre 1785 legte die Regierung einen Gesetzentwurf vor, der die Gründung einer regulären Polizeitruppe vorsah, doch wurde er vom Parlament abgeschmettert, da eine solche Behörde mit den englischen Freiheiten nicht vereinbar sei.[10]

Dass die Revolution in Frankreich mit solcher Leichtigkeit gesiegt hatte, bewies, dass die Behörden trotz ihrer Prahlerei, über jedes Geschehnis in Paris Bescheid zu wissen, vollkommen überrascht worden waren. (Das war Wasser auf die Mühlen derer, die an eine Verschwörung der Illuminaten glaubten und die meinten, der Erfolg der Revolution sei nur möglich gewesen, weil die Polizei nicht wusste, was sich da, von einer effizienten und weit verzweigten Geheimorganisation gesteuert, zusammenbraute.) Die Machthaber wurden auf unangenehme Weise ihrer eigenen Verwundbarkeit gewahr. Zwei Tage nach der Erstürmung der Bastille trat der Chef der Polizei zurück, und die Aufrechterhaltung der Ordnung wurde den bewaffneten Zivilisten der neu gebildeten Nationalgarde anvertraut.

Keine zehn Tage nach dem Fall der Bastille erließ die Nationalversammlung ein Gesetz über das Verbrechen der lèse-nation, des Hochverrats gegen die neue Staatsgewalt. Dies führte zu einer neuartigen Entwicklung in der politischen Kultur Europas: Da die Nation von der jeweiligen Regierung verkörpert wurde, nahm diese Regierung automatisch den Status des Souveräns in Anspruch und so auch einige der numinosen Eigenschaften, die damit verknüpft waren. Jeder Angriff auf die Regierung war ein Angriff auf die Nation, und ihre Kritiker per definitionem des Hochverrats schuldig. Dass die Nation selbst unter keiner identifizierbaren Bedrohung stand, war ein Zeichen von Stabilität: Doch verborgene Gefahren konnten überall lauern, und es war die heilige Pflicht der Regierung, alle dunklen Machenschaften aufzudecken und zu eliminieren. Dies erlaubte, ein Klima der Angst zu erzeugen, in dem sich niemand mehr sicher fühlte und die Massen sich zu aggressiven Aktionen anstiften ließen. Es verwandelte zugleich die Polizei in ein politisches Instrument, dessen Aufgabe es war, alle ausfindig zu machen, die möglicherweise mit der Regierung nicht einverstanden waren. Am 28. Juli schuf die Nationalversammlung ein Comité de recherches, das das Spitzelsystem und Personal des ehemaligen Polizeichefs übernahm. Sein Auftrag war es, die Kontrolle über die turbulente politische Situation in der Hauptstadt zurückzugewinnen. Mit der Zeit entwickelte sich daraus das Comité de salut public, der Wohlfahrtsausschuss. Nach dem Sturz von Robespierre im Juli 1794 wurden dessen Funktionen schrittweise der zentralen Kontrolle unterworfen, und im Januar 1796 gründete das Directoire