Philologie der Weltliteratur - Erich Auerbach - E-Book

Philologie der Weltliteratur E-Book

Erich Auerbach

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Beschreibung

Auerbachs Kenntnis der europäischen Literaturen, ihrer Geschichte und Wechselbeziehungen war immens – gerade darum aber vermochte er auch an unscheinbaren formalen und stilistischen Details übergreifende Zusammenhänge zu entfalten, die ideologische Frontlinien ebenso einschließen wie spezifische Erwartungshaltungen des Publikums. Seine auch sprachlich eleganten Arbeiten zeigen, was Philologie vermag, wenn sie ihre fachwissenschaftlichen Begrenzungen sprengt. Dabei war jedoch Auerbach kein Verfechter großer theoretischer Entwürfe, sondern ein Meister der unpolemischen, gleichsam lautlosen und diskreten Erkenntnisarbeit, die sich erst im Kopf des Lesers vollendet. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Erich Auerbach

Philologie der Weltliteratur

Sechs Versuche über Stil und Wirklichkeitswahrnehmung

FISCHER E-Books

Inhalt

Dante und VergilDer Schriftsteller MontaigneÜber Pascals politische TheorieGiambattista Vico und die Idee der PhilologieÜber den historischen Ort RousseausPhilologie der Weltliteratur

Dante und Vergil

… vielleicht hat euer Guido ihn verachtet.

Inf.10, 63

Man wird heute nicht mehr behaupten wollen, daß die antike Tradition in der Völkerwanderung unterging und erst durch die Humanisten wieder auferstand: die klassische Latinität der ausgehenden Republik und der augusteischen Epoche ist uns nicht mehr die Antike schlechthin, und wir bemühen uns, von ihrem Fortleben andere Spuren zu entdecken als ciceronianisches Latein und philosophischen Eklektizismus. Vielmehr scheint uns die Geschichte und Geistesbewegung des frühen Mittelalters als ein zwar oft getrübtes, aber doch schließlich siegreiches Wirken spätantiker Gedanken und Einrichtungen, als ein zwar oft sinnwidriges, aber eben darum tief historisches und organisches Weiterbilden derselben. So wie man immer mehr zu der Einsicht gelangt, daß die Geschichte der romanischen Sprachen die eigentliche Geschichte des Lateinischen ist, das klassische Latein dagegen ein Kunstgebilde und seine Nachahmung ein ästhetisches und historistisches Unternehmen – so wie die mittelalterliche bildende Kunst uns heut als deutliche Fortsetzung, Weiterbildung, unablässige Umformung der antikmediterranen Überlieferung erscheinen will –, so greift auf allen Gebieten frühmittelalterlicher Forschung die Neigung um sich, die Erscheinungen als Zeichen einer weiterfließenden, zwar oft versickernden, oft ins Unkenntliche verbildeten, aber doch letzten Endes herrschenden antiken Tradition zu deuten, als eine Art Vulgärantike also, wenn das Wort gestattet ist; wobei, ebenso wie bei dem vielumstrittenen Wort Vulgärlatein, das Wort vulgär keine soziologisch abschätzige Bedeutung hat, nicht etwa nur die Antike oder das Latein des niederen Volkes bedeutet, sondern lediglich das Unbewußte, Historische, Organische im Gegensatz zum Bewußten, Historistischen und Gelehrten ausdrücken soll.

Es ist selbstverständlich, daß in der Vulgärantike die einzelnen klassischen Autoren und ihre Texte nur eine geringe Bedeutung haben – denn dieses Fortleben vollzieht sich nicht durch Lektüre und Studium, sondern durch Institutionen, Gewohnheiten und mündliche Überlieferung, und sein entscheidendes Merkmal, im Gegensatz zu der Texttreue und Mnemosyne des Historismus, ist unaufhörliche Weiterbildung des überlieferten Stoffes und Vergessen seiner Ursprünge. Es war die Bildung und gebildete Gelehrsamkeit, die tatsächlich abbrach; von den großen Autoren der Antike erhielt sich gar keine oder doch nur eine wirre, immer mehr verblassende Vorstellung. Vergil macht als einziger eine Ausnahme; zwar wird auch bei ihm die wirkliche Kenntnis seines Lebens und seines Werkes verworren und ungenau; sie unterliegt, wie die gesamte antike Überlieferungsmasse, sonderbaren und unerwarteten Umbildungen, aber gewisse Elemente seines Wesens bleiben lebendig wirksam, er wird zu einer populären Sagenfigur, die bei aller Entfernung von dem Urbild doch nie ganz die Verbindung zu ihm verliert und die schließlich, in der Danteschen Gestaltung, in tieferer Wahrheit und reinerer Treue zu ihm zurückfindet, als die nur gelehrte und positiv exakte Forschung es vermocht hätte. Dieses außergewöhnliche und mit keinem anderen antiken Schriftsteller vergleichbare Schicksal Vergils hat schon sehr früh das Interesse der modernen Forschung erregt; seit den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts, also zu einer Zeit, als noch niemand daran dachte, sich mit dem mittelalterlichen Fortleben der Antike zu befassen, erschienen eine ganze Anzahl von Schriften über den Gegenstand, und die Summe dieser Forschungen zog Domenico Comparetti in seinem 1872 erschienenen Buche Virgilio nel medio evo, das noch heute viel benutzt und zitiert wird; seine Gelehrsamkeit und bedeutende Materialkenntnis wird aber beeinträchtigt durch ein politisches Vorurteil und noch mehr durch die mangelnde innere und äußere Gliederung des gewaltigen Zeitraums »Mittelalter«.

Der fast paradoxe Tatbestand, daß gerade der durch Bildung, Erudition, formale Kultur und gesellschaftliche Stellung gleichmäßig ausgezeichnete und durchaus nicht im gewöhnlichen Sinne populäre Vergil zu einem Dichter des Volkes und schließlich zu einer Sagengestalt wurde, hat zunächst äußere Ursachen. Vergil war der Dichter des römischen Weltreichs; er setzte an die Stelle des alten römischen Nationalgefühls, das in seiner stadtstaatlichen Beschränkung und seiner italischen Bauerntugend längst seine Geltung verloren hatte, die Ideologie von der Weltmission Roms; er vollendete die Verknüpfung der politischen Lage seiner Zeit mit der sagenhaften Urgeschichte der alten Welt und schuf den Mythos eines planvollen göttlichen Weltlaufs mit dem Ziel der pax romana, des universalen Friedens unter cäsarischer Herrschaft. Durch diese seine Bedeutung gelangte er in den Elementarunterricht und behauptete darin ganz natürlich den ersten Platz, solange das Imperium des weströmischen Reiches bestand. Inzwischen war er zu einer gleichsam mechanischen Popularität gelangt, der Unterricht in der Grammatik beruhte vielfach auf Beispielen aus seinem Text und auf Kommentaren zu seinem Werk. Der Schulbetrieb des Elementarunterrichts hielt ihn aufrecht in den freilich nicht allzu langen Zeiträumen, in denen der eigentliche Gehalt seiner Dichtung bedeutungslos war. Diese Zeiträume waren kurz, vielleicht ist in manchen Gegenden Italiens, in Neapel ganz gewiß, die inhaltliche Wirkung nie ganz verlorengegangen. Der Traum vom römischen Weltreich war sehr bald von den Barbarenvölkern aufgegriffen worden, und seine Verbindung mit politischen Plänen und apokalyptischen Visionen während des ganzen Mittelalters ist gerade in letzter Zeit mehrfach dargestellt worden. Sie beruht auf der eigentümlichen Doppelstellung Roms als traditioneller Inhaberin der irdischen Weltherrschaft und als Sitz des Nachfolgers Petri. Und von neuem schien gerade das Werk Vergils die Idee des sacrum imperium zu legitimieren und die planvolle Kontinuität der Weltgeschichte zu erweisen. Die allegorische Ausdeutung, die im Spiritualismus der Spätantike und des ganzen Mittelalters eine so große methodische Bedeutung besitzt, hatte sich seiner bemächtigt und fand schon seit dem vierten Jahrhundert in den Versen der vierten Ekloge, die den Anbruch eines neuen glücklichen Weltzeitalters verkünden, eine Prophezeiung des bevorstehenden Erscheinens Christi. Allmählich wurde so Vergil gleich der Sibylle zu einem heidnischen Propheten, zu einem heimlichen Christen oder doch wenigstens zu einem unbewußt inspirierten Künder der göttlichen Wahrheit. Sein auch in einem heutigen Sinne berechtigter Ruhm als eines Dichters, dem tiefste und geheimste Weisheit anvertraut ist, hat diesen frommen Irrtum vorbereitet und bestärkt; der Gang in die Unterwelt im sechsten Buch der Aeneis und die überall in seine Dichtung verflochtenen eschatologischen Mythen umgaben seine Person mit dem Nimbus des Magiers, dem die Geister der Höhe und der Tiefe zu Dienst stehen; in der neapolitanischen Lokaltradition (deren Spuren sich später weit verbreiteten) wurde er zu einer Art Schutzheiligen oder Schutzgeist der Stadt, zu einem echten Zauberer, dessen große und wohltätige Magie rein praktischen Zwecken diente. Als Weiser und als Prophet Christi galt er allgemein, und aus dieser Voraussetzung erklärt sich die Wirkung, die er auf die weltgeschichtliche Spekulation des späten Mittelalters ausübte. Der Dichter des römischen Kaisertums und Verkünder der christlichen Wiedergeburt schien ein Zeuge für die Deutung des Wortes von der erfüllten Zeit; der Heiland war erschienen, als die Zeit erfüllt war, als die Welt unter Cäsars Herrschaft den Frieden gefunden hatte; dies schien der natürliche Zustand der irdischen Welt, sie würde genesen und bereit sein für Christi Wiederkunft, wenn sie von neuem geeint unter kaiserlicher Herrschaft im Frieden leben dürfte. So etwa ist der allgemeinste Ausdruck der Lehren, die gerade zur Zeit des endgültigen Verfalls des mittelalterlichen Kaisertums leidenschaftlich verfochten wurden; unter den Streitschriften, die sie vertreten, ist Dantes Monarchie die bedeutendste und berühmteste, und eines der vielen Gesichter der Komödie selbst ist das einer Streitschrift für das vergilische Weltkaisertum.

Inzwischen aber war den Menschen eine andere Bedeutung Vergils, die eigentlich künstlerische, reiner greifbar und zugänglich geworden. Es ist bedeutsam und lehrreich, daß der Minnesang zu den Werken der damals bekannten antiken Dichter keine unmittelbare Beziehung fand, daß ihm sogar Ovid nichts bot als Stoff – daß aber seine Begegnung mit Vergil die Dichtung der Göttlichen Komödie erzeugte und damit wohl das folgenreichste Ereignis der nachantiken Dichtungsgeschichte wurde. »Von dir allein«, sagt Dante zu Vergil, »empfing ich den schönen Stil, der mir Ehre brachte.« Hier schließt sich der Kreis des vergilischen Geschicks. Er war ein Bauernsohn, aus einem Landstädtchen bei Mantua; ländlich sind die ersten Gegenstände seiner Dichtung; die reine und formvolle Einfachheit des italischen Landes und die Sitten seines maßvollen Lebens begleiteten ihn auf den Höhen der gesellschaftlichen Stellung, die er erreichte, und ihr Geist lebt in den gelehrten und mythischen Tiefen seines Werkes. Seine kunstvolle und von den Geheimlehren der Mittelmeervölker durchtränkte Dichtung traf so sehr das allgemeinste Gefühl, daß an ihr jahrhundertelang den Kindern die Norm der Muttersprache gelehrt wurde und daß sie noch lange darüber hinaus, weit mehr als ein Jahrtausend nach seinem Tode, die Phantasie der Menschen entzündete. Und als die neuen Völker eine eigene Dichtung geschaffen hatten, da war es die Macht der vergilischen Form, der es gelang, die neuen Kräfte unter sich und mit der europäischen Überlieferung zu verbinden. Um das zu erweisen, ist es nötig, das Wesen der eigentlich poetischen Erziehung, die Dante durch Vergil empfing, deutlich zu machen. Dante stammt aus einer Bewegung italienischer Poesie, die er den Süßen Neuen Stil nannte und die mit einer in der Dichtungsgeschichte beispiellosen Plötzlichkeit des Wachstums aus dem Nichts die Vollendung zauberte. Die Blüte mittelalterlicher Dichtung, die im ersten Viertel des zweiten Jahrtausends auf französischem, deutschem und spanischem Boden entstand, war Italien fremd geblieben; es gab dort, einige späte und unbedeutende Nachahmungen ausgenommen, weder Volksepos noch höfischen Roman, noch Minnesang. Erst im dreizehnten Jahrhundert entstand in Mittelitalien aus der franziskanischen Bewegung eine besondere Form der religiösen Volksdichtung, die Lauden. Und ebenfalls in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts erscheint die aristokratische Liebesdichtung des Neuen Stils, zu der Dantes Jugendwerke gehören und aus dem auch die Komödie entstand. Die Quellen des Neuen Stils, der eine Art des Minnesangs darstellt, liegen in der provenzalischen Lyrik, besonders in ihren späteren Dichtern, die an Stelle der vergleichsweise naiven und scheinbar voraussetzungslosen Frische ihrer Vorgänger eine komplizierte Dialektik des Gefühls und eine Sprache in dunklen und sonderbaren Bildern bevorzugten. Auch die Dichtung des italienischen Neuen Stils ist dunkel; ihre Dunkelheit scheint weniger launenhaft, systematischer und in engerer Beziehung zu den Methoden der zeitgenössischen scholastischen Philosophie; aber trotzdem sind die meisten und gerade die augenscheinlich schönsten dieser Gedichte so schwer zu deuten, daß manche Gelehrten auf die Idee verfallen sind, es handle sich um eine dechiffrierbare Geheimsprache, durch die gefährliche Gedanken den kirchlichen und politischen Mächten verborgen werden sollten. Auch Dantes Jugendgedichte sind schwer verständlich; selbst einige der berühmtesten, die fast jeder kennt und in rein gefühlsmäßiger Weise deutet, scheinen weniger bequem zu interpretieren, wenn man sie neben einige andere hält, die etwas augenscheinlich ganz Ähnliches auf eine höchst sonderbare Weise ausdrücken. Immerhin unterscheidet sich Dante von vornhinein ziemlich stark von seinen Genossen. Wenn er vermutlich ebenso wie sie außer dem wörtlichen Sinn seiner Gedichte einen allegorischen Sinn oder sogar mehrere Arten allegorischer Sinne meint, so ist doch der wörtliche Sinn oder die Anschauung nicht so oft in absurder Weise vernachlässigt wie bei den andern; der wörtliche Sinn gibt fast überall eine poetische Anschauung, und das etwa darunter Verborgene scheint weniger rational darunter verborgen als darin enthalten, so daß man es im wörtlichen Sinne bereits aufgenommen hat und es im Aufnehmenden zu wirken beginnt, bevor oder ohne daß man es exakt deutete. Darin offenbart sich die dichterische Kraft des Danteschen Genies, und ich wünschte nicht in der Weise mißverstanden zu werden, als wollte ich dem Einfluß Vergils zuschreiben, was der natürlichen Anlage Dantes verdankt wird. Allein diese wunderbare und alle Zeitgenossen überstrahlende Anlage zeigt sich auch in der Art, wie er die zu Gebote stehenden Bildungskräfte der Vergangenheit aufnimmt und sich nutzbar macht. Den anderen Dichtern des Neuen Stils bedeutete die Antike nichts, und den zeitgenössischen Gelehrten war sie nur ein durch mangelhafte Überlieferung getrübter Wissensstoff. Dies letztere war sie zunächst auch für Dante, der ausgeprägter und systematischer als die anderen Genossen des Neuen Stils sich zu einem Gelehrten entwickelte, und seine Gelehrsamkeit zeigt alle Merkmale des Bildungswesens seiner Zeit: Aufnahme der vorhandenen getrübten und zufälligen Überlieferung ohne Prüfung auf Echtheit und Wert, Unfähigkeit, sich die Voraussetzungen und die historische Lage der Antike vorzustellen, mittelalterliche Methode, jeden Text auf allegorische Weise zu deuten. Aber außerdem bedeuteten die antiken Dichter, und besonders Vergil, für Dante auch etwas anderes, nämlich eine Kunstlehre, und diese Bedeutung hatten sie damals für ihn allein. Die unablässige Vergil-Lektüre hatte in seiner für Sprache und Vers unvergleichlich empfänglichen Seele zum ersten Male nach langer Zeit die poetische Stimme Vergils erweckt, und es war für ihn unmöglich geworden zu dichten, ohne diese Stimme zu hören. Sie gab ihm etwas, was dem Neuen Stil fehlte und dessen er doch sehr bedurfte, nämlich die Einfachheit. Seine ursprüngliche naive Reinheit des Ausdrucks hatte der Minnesang schon in der Provence verloren, er war längst zu einer traditionsbeladenen und gleichsam gelehrten Dichtung geworden, die äußerst subtile Vorgänge und Empfindungen in einer sehr kunstvollen und dabei durchaus konventionellen Terminologie darstellte. Im Neuen Stil Italiens hatte sich die Neigung zur Künstlichkeit und Dunkelheit noch gesteigert; die aristokratische Gesinnung der italienischen Dichter, die teils auf ihrer sozialen Stellung – sie stammten alle aus den führenden Kreisen ihrer Städte –, teils auf ihrer besonderen und nur wenigen zugänglichen Geistesform beruhte, dokumentierte sich in antithetisch zugespitzten Formulierungen, in der Liebe zu dunklen Bildern und in der Bemühung, die Hauptbegriffe des Liebesdienstes fast scholastisch zu definieren. Dante lernte von Vergil die Kunst des eigentlich dichterischen Gedankenausdrucks, in dem das Gedachte und poetisch zu Lehrende nicht mehr als ein sonderbares, die Dichtung störendes und lähmendes Fremdgebilde auftritt, sondern in das Mythisch-Dichterische eingeschmolzen und in der dichterischen Substanz selbst enthalten ist. Gegenüber einer vielverbreiteten modernen Anschauung, die vielleicht schon nicht mehr sehr modern ist, nach welcher das lehrende Element der Göttlichen Komödie als undichterisch auszuscheiden und die eigentlich poetischen Stellen davon loszulösen und als solche zu genießen wären, muß eindringlich betont werden, daß es solche im modernen Sinne unabhängig poetischen Stellen in der Komödie nicht gibt, daß für Dante die poetische Schönheit identisch ist mit der Erschauung göttlicher Wahrheit und daß darum das legitime Wissen schön, die legitime Schönheit wahr ist; und jeder Vers seines großen Gedichts ist von dieser Ästhetik getragen. Sie ist in der besonderen Danteschen Ausprägung aus der Hochscholastik erwachsen, aber ihre Praxis, die aktuelle Durchdringung des Wissens mit dichterischer Form, verdankt er Vergil. Für ihn war Vergil ebensosehr ein Weisheitslehrer wie ein Dichter; wie weit er sich darin täuschte, ist hier gleichgültig, im einzelnen irrt er oft, im ganzen seiner Anschauung vielleicht nicht so sehr, wie wir zu glauben uns gewöhnt haben. Das im vergilischen Werk enthaltene Lehrgebilde – Zusammenhang der providentiellen Weltgeschichte in ihren Ursprüngen und Zielen, Lehre von der irdischen Mission Roms, Prophezeiung Christi – war aber in seinen Gedichten nicht dogmatisch oder allegorisch vorgetragen, sondern in die Anschauung erzählter Ereignisse verflochten; die Weisheit der Götter durchdrang die Bilder des Lebens, sie bedurfte keiner dogmatischen Mühe, um deutlich zu werden; und die hohe Kunst der Sprache, obwohl sie festen und aus der Überlieferung entsprungenen Gesetzen gehorchte, war in ihrer Wirkung einfach, sie gab keine Rätsel auf und bot sich dem ungelehrten, ja kindlichen Verständnis zwar auf andere Weise, aber in sich ebenso vollkommen wie der meditierenden Erkenntnis ihres tieferen Gehalts. Die Einfachheit im Erhabenen, das Fehlen alles nur spielerischen Tiefsinns, die vollendete Aufsaugung der Lehre im bedeutenden Geschehen erschienen Dante als Muster des Hohen Stils, den er erstrebte; unter vergilischem Einfluß befreite er die Poetik des Neuen Stils von der pedantischen und snobistischen Dunkelheit; wenn die Komödie bei aller Schwierigkeit der inhaltlichen Deutung und Bedeutung selten formal dunkel ist, wenn ihre Sätze und Satzverbindungen eindeutig und fest, ihre Metaphern fast überall konkret und anschaulich sind – so ist das zwar zunächst seinem Auge und seinem Griff zu danken –, doch daß diese Anlage ihren Weg fand und nicht wie die seines genialen Freundes Guido Cavalcanti im Abstrakten, Launenhaften und Fragmentarischen steckenblieb, ist das Verdienst der Stimme Vergils. Dantes Gegenstand und die Verschiedenheit des Temperaments haben ihm nicht gestattet, die leichte und durchsichtige Reinheit seines Meisters zu erreichen, den er an leidenschaftlicher Größe weit hinter sich läßt; aber die echte Hingabe an das Wirkliche und jene natürliche Ordnung, die den Sätzen das Gepräge des Notwendigen, Unveränderlichen, ein für allemal Gefügten gibt, ist beiden gemeinsam.

Es gab noch eine andere Seite des vergilischen Werkes, die eine natürliche Verwandtschaft mit dem Minnesang, und gerade zu seinen späteren, stärker reflektierenden Formen begründete: das ist der Roman der Dido. Das Altertum hat den sentimentalischen und ans Übersinnliche streifenden Liebesbegriff, den der Minnesang schuf, nicht gekannt; es ist in der Darstellung der Liebe, die ihm der mächtigste der Triebe, aber doch nichts als ein Trieb war, natürlicher, unpersönlicher und kälter – selbst der Liebeswahnsinn ist in der Antike nicht gefühlvoll. Die Geschichte Didos in der Aeneis macht eine Ausnahme, oder vielmehr sie bereitet die spätere Wandlung vor. Das Persönliche, Sentimentalische und Romanhafte ihrer Liebestragik stand der hohen Minne weit näher als etwa die Liebesdichtung Ovids – zugleich aber wendet die Wirkung der Geschichte Didos den Minnesang zurück zum Konkreten und Persönlichen. Im Neuen Stil war von dem eigentlichen Gegenstand, der Liebe, kaum noch etwas Wirkliches übriggeblieben, sie verbarg sich vollkommen unter Abstraktionen und war so stark sublimiert, daß ihre Substanz sich verflüchtigte; die Episode von Francesca da Rimini konnte nur ein Dichter schreiben, dem das vierte Buch der Aeneis den Schlüssel solcher Kunst gegeben hatte.

Doch Vergil ist nicht nur Dantes Lehrer und Meister in der Dichtung, er ist auch sein Führer durch die Unterwelt und auf dem Berg der Buße und damit eine der drei Hauptfiguren des großen Gedichts. Er ist es, der dem verirrten und bedrängten Dante erscheint, um ihn auf dem Wege durch die Unterwelt ans Licht zu führen; ihn hat Beatrice aus dem Limbo, dem Sitz der heidnischen Helden und Weisen, zu dieser Rettungstat gerufen. Welch sonderbare Vorstellung für unser Gefühl! Um einen Christen, der den rechten Weg verloren hat, zurückzuführen und ihn für die ewige Seligkeit zu retten, um ihn bereitzumachen für das Anschauen Gottes, senden die himmlischen Gnadenspenderinnen einen heidnischen Dichter: die ganz einzigartige Stellung Vergils im Mittelalter, von der wir oben gesprochen haben, wird in dieser Mission deutlich, und in der Rolle, die ihm Dante in der Komödie zuweist, geschieht eine Synthesis und ein Ausgleich all der Sagen und Überlieferungen, mit denen dreizehn Jahrhunderte seine Person umgeben und gleichsam zugedeckt hatten; die Person selbst wird wieder eine konkrete Einheit, zwar unleugbar sehr verschieden von dem historischen Urbild, aber doch aus ihm erwachsen, eine historische Wandlung jenes Urbilds, in der es deutlich erhalten bleibt.

In der Komödie ist Vergil zunächst ein Weiser: sogar der Nimbus des magischen Zauberers, der populäre Volksglaube, ist geblieben, denn Vergil weiß den Weg in die Unterwelt, er kennt die Geister der Tiefe und hat Macht über sie. Aber solche Macht ist ihm nun vom Christengott anvertraut, damit er die christliche Mission der Rettung einer Seele vorbereiten kann. Was die Sibylle seinem Helden an geheimer Weisheit überlieferte, in seinem sechsten Buch der Aeneis,