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Wie können wir die Philosophie dekolonisieren? Einen wichtigen Beitrag zu diesem Projekt kann ihre Geschichtsschreibung leisten, und gerade der Blick auf Afrika bietet Ansätze für eine Transformation in globaler Perspektive. Die Auseinandersetzung mit dem Kontinent – vom alten Ägypten über Westafrika bis zur afrikanischen Diaspora – wirft nämlich grundlegende Fragen zum Umgang mit Denktraditionen oraler Gesellschaften sowie mit alternativen Quellen und philosophischen Praktiken auf. Ebenso stellen sich ethische Fragen nach der Rolle von Religion, Rassismus und Sklaverei in der Philosophie oder der Deutung und Aneignung von intellektuellem Erbe. Anhand der Philosophiegeschichte Afrikas entwirft Anke Graneß in ihrem großen Buch die Grundlinien einer neuen Philosophiegeschichtsschreibung.
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Seitenzahl: 1161
3Anke Graneß
Philosophie in Afrika
Herausforderungen einer globalen Philosophiegeschichte
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2024
Der vorliegende Text folgt der 2. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2390
© Suhrkamp Verlag AG, Berlin, 2023Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.
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Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-77446-5
www.suhrkamp.de
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Informationen zum Buch
Cover
Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung
1. Die Herausforderungen der Gegenwart
2. Warum Afrika?
3. Methodische Vorüberlegungen
4. Gliederung
5. Zu einigen Begrifflichkeiten
Kapitel 1 Mechanismen des Ausschlusses gestern und heute
1.1. Philosophiegeschichtsschreibung und Philosophiebegriff
1.2. Konsequenzen für Afrika
1.3. Mechanismen des Ausschlusses heute
Kapitel 2 Bisherige Periodisierungs- und Klassifizierungsmodelle der Philosophiegeschichte Afrikas
2.1. Der chronologische Ansatz
2.2. Unterteilung in eine vor-systematische und eine systematische Ära
2.3. Die Einteilung entlang von Sprachgrenzen
2.4. Die Einteilung nach Strömungen
Kapitel 3 Diskursraum Philosophie in Afrika
3.1. Was und wo ist Afrika?
3.2. Was ist afrikanische Philosophie?
3.3. Wer ist eine afrikanische Philosophin, wer ein afrikanischer Philosoph?
3.4. Was ist der ›Westen‹?
Kapitel 4 Der Kampf um den Anfang oder die Macht des Ursprungs
4.1. Ursprungsdebatten in Europa
4.1.1. Die Entstehung der These vom Ursprung im antiken Griechenland
4.1.2. Weitere Ursprungsmodelle
4.2. Die »afrozentrische« These
4.2.1. Cheikh Anta Diop
4.2.2. Martin Bernal
4.2.3. Théophile Obenga
4.2.4. Maulana Karenga
4.2.5. Molefi Kete Asante
4.2.6. Zur Kritik der afrozentrischen These
4.3. Ursprung oder Ursprünge?
Kapitel 5 Manuskripte aus dem Alten Ägypten
5.1. Das Konzept der Ma’at
5.2. Die Lehre des Ptahhotep
Die Habgier
5.3. Die Lehre des Ani
5.4. Die Klagen eines Bauern
5.5. Das Gespräch eines Lebensmüden mit seinem Ba
5.6. Exkurs: Zur Stellung der Frau im Alten Ägypten
5.7. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 6 Philosophie in mündlichen Traditionen
6.1. Der Ursprung der Philosophie in der Oralität?
6.2. Muntu – Philosophie in oralen Traditionen
6.3. Philosophische Feldarbeit: Die Weisheitsphilosophie
6.4. Philosophie in traditionellen Überlieferungen: Sokrates und Òrunmìlà
6.5. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 7 Frühchristliche Texte in Nordafrika und Äthiopien
7.1. Gehören frühchristliche Texte in eine Geschichte der Philosophie?
7.2. Verflechtungen oder: Die Bedeutung des Ortes
7.3. Exkurs: Nubien
7.4. Das Alte Äthiopien
7.4.1. Zur Geschichte und Schrift des aksumitischen Reiches
7.4.2. Christliche Philosophie im Alten Äthiopien
7.5. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 8 Philosophie in Äthiopien im 17.Jahrhundert: Von Fälschungen und Missdeutungen
8.1. Zär’a Yaqob und die Frage nach der Authentizität von Texten
8.1.1. Die
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atäta
des Zär’a Yaqob
8.1.2. Die
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atäta
des Waldä Heywat
8.1.3. Zur Rezeption
8.1.4. Zur Authentizität des Textes
8.1.5. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
8.2. Walatta Petros und die Aneignung äthiopischer Texte im ›westlichen‹ Diskurs
8.2.1. Das Leben der Walatta Petros (1592-1642)
8.2.2. Rezeption, Missdeutungen und der Umgang mit Manuskripten aus anderen Traditionen
8.2.3. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 9 Das 18.Jahrhundert: Europäische Expansion, Rassismus und Philosophiegeschichtsschreibung
9.1. Afrikanische Intellektuelle in Europa und Nordamerika
9.1.1. Anton Wilhelm Amo
9.1.2. Sklaverei oder Freiheit
9.2. Das Bild des Afrikaners bei Kant
9.2.1. Zum Begriff ›Race‹ bei Kant
9.2.2. Eine Wende in Kants Denken?
9.3. Hegels Afrika-Bild
9.3.1. Hegel und Haiti
9.3.2. Afrika in der Philosophie der Weltgeschichte
9.4. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 10 Arabisch-islamische Philosophie: Das Beispiel A
ḥ
mad Bābā aus Timbuktu
10.1. Die Bibliotheken von Timbuktu
10.2. A
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mad Bābā und die Frage der Sklaverei
10.2.1. Haltungen zur Sklaverei in der islamischen Welt
10.2.2. Der Mi
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lūb as-Sūdān
10.3. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 11 Frauen in der Philosophiegeschichte
11.1. Herausforderungen einer feministischen Philosophiegeschichtsschreibung
11.2. Walatta Petros, Phillis Wheatley, Nana Asma’u – und der Kanon der Philosophie
11.2.1. Der Fall Nana Asma’u
11.2.2. Wer ist eine Philosophin? – Zu den Fallbeispielen
11.3. Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung
Kapitel 12 Philosophiegeschichtsschreibung der Zukunft
12.1. Zusammenfassung der dargelegten Probleme
12.2. Konsequenzen für den Philosophiebegriff
12.3. Konsequenzen für eine Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive
Wissenschaftsethische Konsequenzen:
Namenregister
Fußnoten
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Afrika wird in diesem Buch als Paradigma herangezogen, um die bisher überwiegend eurozentrische Philosophiegeschichtsschreibung unter den Bedingungen des 21.Jahrhunderts zu überdenken, zu kritisieren und zu kontextualisieren. Dass dafür auf die spezifische Problemlage und auf ausgewählte Beispiele eines Kontinents zurückgegriffen wird, der in der Philosophie der Gegenwart kaum eine Rolle spielt und in der Philosophiegeschichtsschreibung der letzten 200 Jahre keine Beachtung fand, mag verwundern. Afrika eröffnet jedoch als Forschungsfeld auf einer philosophiehistorischen Metaebene grundlegende methodische Fragen und Probleme, denen sich eine Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive heute stellen muss, so die Hauptthese der vorliegenden Arbeit.
Es handelt sich dabei um methodische Probleme, die bisher wenig reflektiert wurden, die für eine Philosophiegeschichtsschreibung, die den Anforderungen einer postkolonialen und zunehmend globalisierten Welt gerecht werden will, jedoch von zentraler Bedeutung sind. Neuere Ansätze regionaler (zum Beispiel afrikanischer, chinesischer oder indischer) ebenso wie globaler Philosophiegeschichtsschreibung diskutieren methodische Probleme kaum. Die Mehrzahl dieser selbstverständlich sehr wichtigen historiographischen Arbeiten, die zu einem Zuwachs an Wissen über die Geschichten philosophischer Traditionen in verschiedenen Regionen der Welt wesentlich beigetragen haben, folgt den Denklinien der europäischen Philosophiegeschichtsschreibung und bereichert diese um Erzählungen aus anderen Regionen.[1] So orientieren sich auch die meisten Arbeiten afrikanischer Kolleg:innen 10am europäischen Modell der Philosophiegeschichtsschreibung und seinen Methoden. Eine Auseinandersetzung mit regional spezifischen Herausforderungen findet dabei ebenso wenig statt wie mit alternativen Varianten der Philosophiegeschichtsschreibung aus anderen Regionen der Welt. Die zentrale Referenz ist und bleibt Europa, das damit jenseits der im Einzelnen unterschiedlichen Ansätze in seiner leitenden Rolle für die Geschichte der Philosophie letztlich bestätigt wird. Demgegenüber müsste grundlegend die Frage gestellt werden, ob das bisher vorherrschende – in weiten Teilen eurozentrische – Narrativ der Philosophiegeschichtsschreibung einfach um Traditionen aus anderen Regionen zu erweitern ist oder ob eine Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive beziehungsweise zu außereuropäischen Regionen nicht anderer Methoden und Begrifflichkeiten bedarf sowie andere Quellen und Ausdrucksformen philosophischen Wissens aufgreifen muss.
Mit dem Aufzeigen der spezifischen Herausforderungen, die sich im Hinblick auf Afrika stellen, und anhand der Erörterung ausgewählter Fallbeispiele aus afrikanischen Philosophietraditionen argumentiere ich in diesem Buch dafür, grundsätzliche Überlegungen zur Veränderung der Disziplin der Philosophiegeschichtsschreibung anzustellen. Mechanismen, die zum Ausschluss außereuropäischer Philosophietraditionen aus der Geschichtsschreibung der Philosophie allererst geführt haben, können nur auf diese Weise aufgedeckt, analysiert und überwunden werden. Nicht zuletzt muss diskutiert werden, ob und inwieweit diese Ausschlüsse strukturell bedingt und tief in die Disziplin, ihre Institutionen und ihre Methoden eingeschrieben sind. Denn dies würde eine grundlegende Transformation der Philosophiegeschichtsschreibung erforderlich machen, die weit über ein additives Hinzufügen bisher vernachlässigter Traditionen hinausgeht. Die komplexen Fragen, die sich im Zusammenhang mit einer Philosophiegeschichtsschreibung für Afrika stellen, verweisen auf grundsätzlichere Probleme mit überregionaler und letztlich globaler Bedeutung, die dazu auffordern, die Philosophie und ihre Geschichtsschreibung in ihrer Gesamtheit neu zu betrachten.
Ein zweiter Fokus dieser Arbeit liegt auf einer weiteren zentralen Herausforderung der Philosophiegeschichtsschreibung im 21.Jahrhundert, nämlich der Integration von Philosophinnen, deren Wirken bislang in europäischen ebenso wie außereuropäischen Zusam11menhängen marginalisiert bleibt. Die Bearbeitung eines auf diese Weise intersektionell konzipierten Forschungsfeldes ermöglicht die Herausarbeitung von Exklusions- und Inklusionsmechanismen, die jenseits ihrer jeweiligen Spezifik zahlreiche Ähnlichkeiten und Überschneidungen aufweisen und sich oft wechselseitig verstärken. Diese Ausrichtung ermöglicht es, die Philosophiegeschichtsschreibung als im eigentlichen Sinne globale Herausforderung zu begreifen, die mehr als eine geographische und quantitative Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs erfordert. Denn die verschränkte Analyse von »blinden Flecken« in der Philosophiegeschichte ist am besten geeignet, den Blick für Engführungen und Irreführungen in den vorherrschenden Narrativen zu schärfen, um so mögliche Ansätze für ihre Überwindung zu konzipieren.
Erzählungen der Philosophiegeschichte haben einen entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung und das Verständnis von Philosophie, auf die Art und Weise wie sie betrieben wird, auf die akademische Institutionalisierung als Disziplin und schließlich auch darauf, welche philosophischen Werke und Autor:innen früherer Jahrhunderte gelesen werden. Mit dem Sammeln von Biographien, Werken, Konzepten und Theorien, dem Ordnen, Kommentieren und Interpretieren des gesammelten Materials trägt Philosophiegeschichtsschreibung maßgeblich zur Formierung unseres Verständnisses von Philosophie und der Entstehung eines wirkmächtigen Kanons philosophischer Werke bei. Damit beeinflussen die Erzählungen der Vergangenheit des philosophischen Denkens die philosophische Arbeit der Gegenwart und der Zukunft in entscheidendem Maße. Es ist somit von grundlegender Bedeutung, einen kritischen Blick auf die bisherige Philosophiegeschichtsschreibung zu werfen, gegenwärtige philosophiegeschichtliche Arbeiten zu prüfen und über zukünftige Methoden und Wege nachzudenken. Eine kontinuierliche Selbstvergewisserung über Grundsätze und Methoden, aber auch deren kritische Prüfung sollten Bestandteil jeder guten wissenschaftlichen Praxis sein. Für die Philosophiegeschichte hat dies heute jedoch eine besondere Dringlichkeit aufgrund der Tatsache, dass die Philosophie als Disziplin – später als 12andere geisteswissenschaftliche Disziplinen – gerade erst anfängt, sich den Herausforderungen einer zunehmend globalisierten Welt und der damit verbundenen umfangreichen und schwierigen Aufgabe einer Dekolonisierung zu stellen.[2]
Kolonialismus, rassistische sowie patriarchale Strukturen haben bis heute Auswirkungen auf unser Denken. Auch die Philosophie und ihre Geschichtsschreibung blieben davon nicht unberührt, sondern haben sich zum Teil instrumentalisieren lassen für das koloniale und neokoloniale Abenteuer Europas: Das Absprechen der Fähigkeit zu Vernunft, Logik und abstraktem Denken, wenn nicht gar zu Moral und der Fähigkeit zur Bildung komplexer politischer Gemeinwesen war Teil der Legitimationsstrategie der Kolonisierung im Sinne eine Zivilisierung und Erziehung ›unterentwickelter‹ Völker und Regionen der Welt, die erst durch die Intervention Europas mit Bildung, Aufklärung und eben auch Philosophie in Berührung gekommen seien. Dabei kann die Konstruktion einer überlegenen europäischen oder ›westlichen‹ Philosophietradition zwar harmlos idealistisch formuliert werden, sie geht aber letztlich auch mit rassistischen oder nationalistischen Ressentiments einher, wie der Annahme einer Unmündigkeit anderer Völker, auf denen letztlich auch die Vorstellung von der zivilisatorischen Mission Europas, von der «Bürde des weißen Mannes«,[3] das heißt der Umdeutung des Kolonialismus zu einem humanitären Akt, beruht. So sind es unter anderem auch philosophische Theorien, die Kolonialismus und Neokolonialismus ideologisch und politisch möglich gemacht und legitimiert haben. Unter diesem Aspekt sind Fragen nach dem Anfang von Philosophie und Wissenschaft und die Rekonstruktion philosophischer Traditionen in den verschiedenen Regionen der Welt durchaus politisch aufgeladen. Eine Auseinandersetzung mit der tief verwurzelten Hegemoniestruktur einer bestimmten, heute vorherrschenden Vorstellung von Philosophiegeschichte und den Einschreibungen von Eurozentrismus, Rassismus und Sexismus in diese hat allenfalls erst begonnen. Die Schwerfälligkeit der Disziplin der Philosophie im Umgang mit diesen Problemen wird von Philosoph:innen und anderen Akademiker:innen außerhalb Europas zunehmend und mit Recht als Ausdruck einer gewissen ›westlichen‹ Ignoranz oder auch Arroganz verstanden sowie als Blindheit gegenüber der eigenen Partikularität gedeutet. Ein unkritisches Fortschreiben der Geschichte der Philosophie nach einem seit etwa 200 Jahren vorherrschenden teleologischen Entwicklungsmodell, das, wie im Kapitel 1 und 4 näher erläutert wird, die vielfältigen Verflechtungen philosophischen Denkens von den verschiedenen Ursprüngen an aus der Erzählung der Philosophie herausgeschrieben hat, zeichnet ein Bild, das den überregional verschlungenen Wegen philosophischer Ideen und Theorien nicht gerecht wird. Ein- und Rückwirkungen von gesellschaftlichen Veränderungen, historischen Ereignissen, von Ideen und Konzepten aus anderen Kontexten auf die Entstehung dessen, was heute als europäisches Erbe der Philosophie betrachtet wird, werden kaum berücksichtigt. Philosophischen Denkleistungen in anderen Regionen der Welt wird mithin keine Anerkennung, geschweige denn Wertschätzung entgegengebracht.
Von der «Bürde des weißen Mannes« ist heute kaum noch die Rede. In der Gegenwart haben wir es eher mit einer Haltung der Ignoranz gegenüber Philosophien aus anderen Regionen der Welt zu tun, ein Umstand, der im Jahr 2016 die beiden amerikanischen Philosophen Jay Garfield und Bryan van Norden dazu motiviert hat, einen – inzwischen oft zitierten – Artikel unter dem Titel »If Philosophy Won’t Diversify, Let’s Call It What It Really Is«[4] für die New York Times zu verfassen. Die beiden Autoren argumentieren, dass trotz vermehrter Arbeiten zu außereuropäischen Philosophietraditionen in den letzten Jahren die Philosophie als akademische Disziplin noch immer ein ernsthaftes Problem mit kultureller Diversität habe, das sich auch auf die Einbeziehung von Frauen oder Vertreter:innen von Minderheitengruppen auf allen institutionellen Ebenen erstreckt, von den Studierenden bis zu den Professor:innen der Institute und Fakultäten. In den USA werde die philosophische Forschung und Lehre weiterhin von kanonischen Texten ›weißer‹ Männer aus Europa und Nordamerika dominiert. Bis auf den heutigen Tag verteidigen Philosophieinstitute, so Garfield und van Norden weiter, ein euroamerikanisches Konzept der Philosophie und lehnen es ab, nicht‑›westliche‹ Wissenstraditionen in ihre Lehrpläne aufzunehmen. Daher sei es weiterhin möglich, Philosophie in Lehre und Forschung so zu betreiben, als gäbe es keine Philosophien in Afrika, Asien oder Lateinamerika.[5] Eine ähnliche Situation begegnet uns auch in Europa,[6] letztlich aber auf der gesamten Welt. Denn ein kurzer Blick in die Lehrpläne von Philosophieinstituten in Afrika, Südamerika oder Asien zeigt, dass der größte Teil von Lehre und Forschung auch in diesen Regionen den Theorien, Begriffen und Vertretern[7] der ›westlichen‹ Philosophie gewidmet ist. Philosophietraditionen außereuropäischen Ursprungs werden nur am Rande thematisiert.[8] Das bedeutet, dass heute (fast) jede akademische Sozialisation in der Philosophie damit beginnt (und in vielen Fällen auch endet), europäische und nordamerikanische Traditionen zu studieren. Das von Garfield und van Norden beschriebene Problem ist also in Wirklichkeit ein globales.
Ein eurozentrisches Verständnis von Geschichte und Gegenwart der Philosophie wird heute allerdings nicht mehr nur durch die Einsprüche dekolonialer und postkolonialer Theoretiker:innen,[9] von Philosoph:innen aus Afrika, Asien, Südamerika und weiteren Regionen der Welt sowie von Vertreter:innen der interkulturellen Philosophie in Frage gestellt. Wichtige Impulse kommen auch von den Studierenden. Seit Beginn des 21.Jahrhunderts sind weltweit zunehmend Proteste von Studierenden zu verzeichnen, die sich explizit gegen Lehrpläne richten, die nahezu ausschließlich Theorien, Ideen, Errungenschaften und Erfindungen ›weißer‹ Männer enthalten und Wissen aus anderen Regionen der Welt ebenso wie die Beiträge von Frauen zur Wissensproduktion ignorieren.[10] Solche Bewegungen haben unter anderem in den USA zur Arbeit an einer gezielten Diversifizierung der Lehrpläne und der philosophischen Institute geführt.[11] Zudem ist ein wachsender gesellschaftlicher Druck zu verzeichnen, wie er zum Beispiel in den medial geführten Debatten zum Thema »Kant und Rassismus« in der Folge der Black-Lives-Matter-Bewegung in den Jahren 2020/21 deutlich wurde. Es scheint also an der Zeit, die Disziplin der Philosophiegeschichtsschreibung, ihre Grundlagen, ihre Methoden und ihre Zielsetzung neu und aus globaler Perspektive zu überdenken.
Dass die Philosophiegeschichtsschreibung heute vor neuen Herausforderungen steht, wird zunehmend anerkannt[12] und schlägt sich unter anderem im Bemühen großer Publikationshäuser nieder, außereuropäischen Philosophietraditionen mehr Raum in ihren Programmen zu geben. So wurden in den letzten Jahren vermehrt mehrbändige Geschichten der Philosophie veröffentlicht, die auch Bände zur islamischen Philosophie, zu Indien, China oder Japan enthalten oder Handbücher zur Weltphilosophie, die manchmal sogar Abschnitte zu Afrika und Südamerika umfassen.[13] Dies sind erste sehr wichtige Ansätze, um das heute vorherrschende Narrativ, nämlich die Erzählung, dass die Philosophie eine im Wesentlichen europäische Form des Denkens sei, zu korrigieren.
Insbesondere Philosoph:innen aus den aus dieser Erzählung bisher ausgeschlossenen Regionen der Welt, Theoretiker:innen der post- und dekolonialen Theorie, aber auch die feministische Kritik haben bereits seit längerem mit einer eurozentrischen und in Teilen rassistischen und sexistischen Erzählung gebrochen, die alle Regionen außerhalb des europäischen und nordamerikanischen Kontextes entweder nur am Rande (wie Persien oder das alte China) beziehungsweise in der Funktion als Wissensüberträger (wie die arabische Philosophie) behandelt oder sogar vollständig ignoriert (wie Afrika oder Südamerika). Aber auch die Ergebnisse der Philologie, der Altertumswissenschaften und der sogenannten Regionalwissenschaften, wie der Indologie, der Sinologie oder auch der Ägyptologie, um hier nur einige zu nennen, haben wesentlich dazu beigetragen, das Wissen um außereuropäische philosophische Traditionen zu erweitern, und führen deutlich vor Augen, dass ein Umdenken in der Philosophie und ihrer Geschichtsschreibung notwendig ist. Und nicht zuletzt die noch relativ jungen Richtungen der interkulturellen, transkulturellen oder auch komparativen Philosophie haben in den letzten Jahrzehnten nicht nur daran gearbeitet, ein neues Bewusstsein für die bisherigen Ausgrenzungen in der Disziplin der Philosophie zu schaffen, sondern auch das Wissen über eine breite Vielfalt an philosophischen Traditionen weltweit zu vermehren und diese Traditionen in einen Dia- beziehungsweise Polylog miteinander zu bringen.
In den letzten Jahrzehnten wurden Anstrengungen in drei Bereichen unternommen, die Konsequenzen für die Philosophiegeschichtsschreibung der Gegenwart und Zukunft mit sich bringen: die kritische Rekonstruktion der Ausgrenzungsmechanismen in der europäischen Philosophiegeschichte,[14] die Erweiterung des Wissens über außereuropäische Philosophietraditionen (auf Basis der geleisteten Forschungs- und Übersetzungsarbeit in anderen akademischen Disziplinen) und der kritische (bildungs-)politische Einspruch feministischer, post- und dekolonialer Theoretiker:innen gegen eine fortgesetzte Marginalisierung außereuropäischer Wissenstraditionen und des philosophischen Schaffens von Frauen.
Gerade der drittgenannte Punkt verweist darauf, dass wir es hier mit einem durchaus politischen Prozess zu tun haben: Es wird deutlich, dass eine neue Philosophiegeschichte, wie letztlich jede Art der Historiographie, nicht unabhängig von politischen Implikationen entsteht oder gedacht werden kann. Im Allgemeinen steht eine Disziplin wie die Philosophiegeschichtsschreibung nicht im Verdacht, besonders politisch involviert zu sein. Allerdings ist Geschichtsschreibung – welcher Disziplin auch immer – nie ein gänzlich ›objektiver‹, von Interessen der jeweiligen Geschichtsschreiber:innen oder ihrer Auftraggeber:innen und den politischen und ideologischen Bewegungen der eigenen Zeit unabhängiger Prozess. Insbesondere im Zusammenhang mit der europäischen Kolonialexpansion und dem transatlantischen Sklavenhandel waren Geschichtsschreibung und Disziplinen zur Erforschung fremder Völker wie die Ethnologie Teil einer mit den Mitteln der Wissenschaft konstruierten Begründung und Legitimation der Unterwerfung außereuropäischer Gesellschaften. Insofern muss die Aufarbeitung der Verstrickung europäischer geisteswissenschaftlicher Forschungen in Unterwerfungs- und Herrschaftspraktiken Teil einer neuen Philosophiegeschichtsschreibung sein.[15] Dabei wird auch von Interesse sein, welche Konzepte, Autoren:innen oder Texte mit welchen Begründungen in die »großen Erzählungen« eingeschlossen und, vor allem, welche ausgeschlossen wurden.
Ausschlusstendenzen in der Philosophiegeschichtsschreibung, insbesondere wenn sie die Ausgrenzung ganzer Kulturen, Völker oder bestimmter Menschengruppen (Frauen, People of Colour) betreffen, können ein Beispiel epistemischer Ungerechtigkeit sein. Miranda Fricker, die diesen Begriff in den geisteswissenschaftlichen Diskurs in feministischer Perspektive eingeführt hat, definiert epistemische Ungerechtigkeit als ein Unrecht, das jemandem bezüglich seiner oder ihrer Fähigkeit, ein:e Wissensträger:in sein zu können, angetan wird.[16] Dieses Unrecht besteht in erster Linie darin, dass einer Person oder einer ganzen sozialen Gruppe Fähigkeit und Kompetenz, über ein bestimmtes Wissen zu verfügen, abgesprochen wird. Fricker kritisiert mit diesem Konzept vor allem die Nicht-Anerkennung des Wissens von Frauen, ein Punkt, der auch mit Blick auf die Philosophiegeschichtsschreibung von Interesse ist. Boaventura de Sousa Santos spricht im Zusammenhang mit dem Ausschluss ganzer Wissenskulturen, wie etwa im Falle der Dominanz der modernen westlichen Wissenschaft und der Marginalisierung der Ideengeschichte indigener Völker, auch von kognitiver Ungerechtigkeit.[17] Die Begriffe epistemische oder kognitive Ungerechtigkeit beziehen sich auf Hierarchien und Dominanzverhältnisse zwischen einzelnen Wissenskulturen oder Wissenstraditionen bis hin zum völligen Verschwinden solcher Traditionen oder Wissensträger. Den Prozess des Auslöschens ganzer Wissenstraditionen bezeichnet Santos als epistemicide.[18] Dabei manifestiert sich diese Ungerechtigkeit in verschiedenen Formen, »[…] beispielsweise durch die entwürdigende Repräsentationsweise einzelner Subjekte, durch einen Prozess der Entmündigung nicht als Wissensautorität gelten zu dürfen, oder durch das Unterworfensein gegenüber Beschreibungsweisen einer privilegierten Elite, die den eigenen Bedürfnissen und Interessen zuwiderlaufen«, wie Franziska Dübgen es treffend zusammenfasst.[19] Dazu gehören aber ebenso ungleiche Partizipationschancen an der (hegemonialen) Wissensproduktion, das Degradieren eines Wissensträgers zum Objekt der Wissensgenerierung oder das Infragestellen der Glaubwürdigkeit von Wissensträger:innen. Auch falsche oder fehlerhafte Darstellungen von Wissenstraditionen oder gar deren Verschweigen und Versuche, Wissensträger:innen oder ganze Traditionen zum Schweigen zu bringen, sind Beispiele epistemischer Ungerechtigkeit.[20]
Im Falle Afrikas haben solche Ausschlusstendenzen hinsichtlich der Wahrnehmung der Ideengeschichte dieses Kontinents und ganz speziell im Hinblick auf philosophische Konzepte und Traditionen im Afrika südlich der Sahara eine besonders destruktive Rolle gespielt. Da sich bestimmte historische Imaginationen als zäh und langlebig erwiesen haben, sind Vorstellungen von der ›Geschichtslosigkeit‹ des Kontinents bis heute mit dafür verantwortlich, dass Afrika und seine Ideengeschichte in einschlägigen Übersichtsdarstellungen keine Rolle spielen. Während Indien, China, Japan und weitere Teile Asiens ebenso wie der Mittlere Osten als Orte mit philosophischen Traditionen inzwischen weitgehend rehabilitiert sind, wird Afrika südlich der Sahara bis heute nicht als Ort und Quelle philosophischen Wissens wahrgenommen.
Die neu erkannte Notwendigkeit einer Integration marginalisierter oder ignorierter Denktraditionen in anderen Regionen der Welt fordern die Disziplin ebenso heraus, ihre bisherigen Kriterien, Methoden und Begriffe zu überdenken, wie die Einbeziehung der neuen Perspektiven einer feministischen Philosophiegeschichte. Aber die grundlegenden Fragen einer Philosophiegeschichtsschreibung der Zukunft umfassen nicht nur methodische Probleme, sondern sie sind auch politischer Natur: Wie wird die Unterscheidung zwischen einzuschließenden und auszuschließenden Traditionen begründet und legitimiert? Wie sind diese Unterscheidung und der Ausschluss anderer Philosophietraditionen institutionell verankert? Wie werden sie in der akademischen Praxis realisiert? Wie wird die Frage nach den zu behandelnden Themen und Methoden entschieden? Hegemoniale Philosophietraditionen ignorieren diese Fragen zumeist und verschleiern damit zum einen die Rolle, die (bildungs- und wissenschafts-)politische Machtverhältnisse für die Dominanz bestimmter philosophischer Schulen spielen, und zum anderen die historische Kontingenz dieser Dominanz. Angesichts der komplexen Mechanismen des Ausschlusses von Philosophietraditionen ist allerdings ebenso zu untersuchen, welche historischen Entwicklungen dazu geführt haben, dass heute nach dem Platz der Philosophien Afrikas, Asiens oder Südamerikas in der globalen Philosophiegeschichte erneut gefragt wird.
Die mit der Forderung nach einer globalen Öffnung und Dekolonisierung der Wissenschaften verbundenen Herausforderungen für die Disziplin der Philosophiegeschichtsschreibung stehen im Mittelpunkt der folgenden Untersuchungen – und zwar anhand ausgewählter Beispiele aus der Geschichte der Philosophie Afrikas. Warum fiel die Wahl nun gerade auf Afrika, den Kontinent, der in der Disziplin der Philosophie eine völlig marginale Rolle spielt? Tatsächlich ist Afrika eine Weltregion, über deren philosophische Traditionen – mit der Ausnahme der arabisch-islamischen Traditionen Nordafrikas – kaum etwas bekannt ist, so dass bisweilen ganz grundsätzlich die Frage gestellt wird: Gibt es überhaupt Philosophie in Afrika?
Afrikanische philosophische Schulen, Traditionen und Konzepte sowie deren Träger:innen werden im internationalen philosophischen Diskurs erst seit kurzem und sehr zögerlich am Rande der Disziplin wahrgenommen. Dies unterscheidet Afrika von anderen außereuropäischen Philosophietraditionen. Während Indien bereits in antiken Quellen der europäischen Philosophiegeschichte eine Rolle spielte und auch später von bekannten europäischen Philosophen wie zum Beispiel Friedrich Schlegel aufgegriffen wurde, die mittelalterliche Philosophie ohne die Entwicklungen der Philosophie in arabischer Sprache gar nicht entstanden wäre und man im 17. und in der ersten Hälfte des 18.Jahrhunderts geradezu von einem Boom der chinesischen Philosophie in Europa sprechen kann, spielte Afrika über Jahrhunderte im philosophischen Diskurs schlichtweg keine Rolle. Dies gilt insbesondere für das Afrika südlich der Sahara. Dieser Teil des Kontinents trat auch als letzte größere Region in den internationalen akademischen Diskurs ein, nämlich erst auf dem 16. Weltkongress für Philosophie im Jahr 1978.[21] Die marginale Stellung des philosophischen Erbes dieses Kontinents ebenso wie des hier produzierten philosophischen Wissens der Gegenwart manifestiert sich bis heute sehr deutlich in der Publikationslandschaft, in der Forschung und in der Lehre. Während arabische, chinesische oder indische Philosophietraditionen in den letzten Jahrzehnten einen Aufschwung in der Forschung erfahren haben, der sich in einer Reihe einschlägiger Publikationen[22] sowie in einem zunehmenden Interesse in der Lehre niederschlägt, trifft dies für das Afrika südlich der Sahara nicht zu.
Diese Ignoranz gegenüber dem philosophischen Schaffen Afrikas übersieht, dass sich in philosophiegeschichtlicher Hinsicht gerade hier eine Reihe von interessanten Herausforderungen und Fragen stellen, die so im europäischen beziehungsweise ›westlichen‹ Kontext bisher nicht gestellt wurden, allerdings über diese Region hinaus von grundlegender Bedeutung sind und Afrika zu einem Modell für eine globale Philosophiegeschichtsschreibung der Zukunft machen könnten. Dafür sprechen wichtige methodische und systematische Gründe: So finden sich auf dem afrikanischen Kontinent sowohl sehr alte Schriftkulturen, deren ideengeschichtliches Erbe erst in Ansätzen aus philosophischer Perspektive aufgearbeitet wurde, als auch Gebiete, in denen bis ins 20.Jahrhundert hinein eine mündliche Überlieferung der ideengeschichtlichen Traditionen üblich war. Damit kann hier eine ganze Bandbreite an spezifischen Herausforderungen einer Philosophiegeschichtsschreibung erörtert werden, die globalen Anforderungen gerecht werden will. Dazu gehört, dass bisherige Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung sowie bestimmte vorherrschende Grundannahmen überprüft und möglicherweise grundlegend revidiert werden müssen. So steht die in der europäischen Tradition rein textbasierte Disziplin der Philosophiegeschichte vor der Frage nach dem Umgang mit nicht textbasierten Praktiken des Philosophierens und mit dem philosophischen Erbe in Gemeinschaften mit oraler Traditionsvermittlung. Dies sind Probleme, die weit über den afrikanischen Kontinent hinaus Bedeutung haben und generell die Frage danach, welche Quellen, welche Genres und Praktiken für eine Philosophiegeschichte überhaupt relevant sind, neu aufwerfen. Die Frage nach der Quellenbasis trägt allerdings eine noch viel grundlegendere Frage in sich, nämlich die Frage nach unserem Philosophieverständnis.
Von grundlegender Bedeutung für eine Philosophiegeschichtsschreibung Afrikas ist ebenso die Frage nach dem Umgang mit der Geschichte der Philosophie in Regionen mit kolonialer Erfahrung und den damit im Zusammenhang stehenden ideengeschichtlichen, sprachlichen und kulturellen Brüchen. Was bedeutet eine Kolonisierungserfahrung für das Philosophieren? Und was bedeutet es, in der Kolonialsituation, aber auch nach dem Ende des politischen Kolonialismus weiterhin in der Sprache des Kolonisators, die zur Sprache der höheren Bildung geworden ist, zu denken und zu philosophieren? Im Zusammenhang mit diesen Fragen muss zugleich eine kritische Aufarbeitung der Verwicklungen der europäischen Philosophie in die Institution der Sklaverei und die Prozesse der Kolonisierung weiter Teile der Welt thematisiert werden. Wie haben sich Philosoph:innen gegenüber diesen Institutionen und Prozessen verhalten? Wie spiegelt sich dies in ihren Theorien wider – und wie wurde darauf von Philosoph:innen aus den kolonisierten und versklavten Regionen der Welt reagiert?
Dies sind unbequeme Fragen, denen sich die europäische und nordamerikanische Philosophie bis heute kaum gestellt hat – und wenn, dann unter dem Druck außereuropäischer oder afrikanisch-amerikanischer Philosoph:innen sowie der postkolonialen und dekolonialen Theorie, die diese Fragen zum Gegenstand ihrer Forschung gemacht haben. Unbequem sind solche Fragen, da sie rassistische Vorurteile und Stereotype in der Philosophie und ihrer Geschichtsschreibung deutlich machen und zudem auf die Verstrickungen der Philosophie in die koloniale Expansion Europas seit 1492 verweisen – ein Aspekt, der bisher wenig aufgearbeitet wurde.[23] Erstaunlich ist dieser Umstand vor allem deshalb, weil die europäische Expansion und die Entwicklung der Moderne – über die seit dem 18.Jahrhundert ein umfangreicher Diskurs entstanden ist – eng miteinander verflochten sind und im Grunde nicht unabhängig voneinander betrachtet werden können.[24] Gerade postkoloniale und dekoloniale Theoretiker:innen weisen darauf hin, dass die frühe europäische Expansion in die Amerikas nicht nur den Grundstein für die heutige Weltordnung, sondern auch für die heute herrschende Wissensordnung gelegt hat. Im Gegensatz zu Modernetheorien, die die Moderne als einen »epochalen Durchbruch der Vernunft« betrachten, »der sich im verstetigten Fortschritt einer methodisch orientierten Wissenschaft und der Idee einer rationalen Rechtfertigung normativer Geltungsansprüche manifestiert«[25] und vor allem durch die Industrielle Revolution, zunehmende Arbeitsteilung und Säkularisierung geprägt wurde, betonen post- und dekoloniale Theoretiker:innen die Verwurzelung der Moderne in Kolonialismus, Sklaverei und Plantagenwirtschaft.[26] Kritisiert 24wird, wie im folgenden Zitat des argentinisch-mexikanischen Philosophen und Begründers der »Philosophie der Befreiung« Enrique Dussel, eine Vorstellung vom Ursprung der Moderne, die diese
als eine Bewegung zwischen dem 15. und dem 17.Jahrhundert konstruiert, die vom Süden Europas nach Norden und vom Osten nach Westen schreitet. Im Konkreten handelt es sich um eine Bewegung, die (a) von der italienischen Renaissance des Quattrocento, über (b) die lutherische Revolution und (c) die wissenschaftliche Revolution des 17.Jahrhunderts verläuft und schließlich (d) in der bürgerlichen politischen Revolution in England, Nordamerika und Frankreich kulminiert. […] Diese ›aufgeklärte‹ Geschichtskonstruktion zum Entstehungsprozess der Moderne müssen wir widerlegen, denn es handelt sich um eine ›intra‹-europäische, eurozentrische und ideologische Sicht, die von der Zentralität Nordeuropas ausgeht und sich ab dem 18.Jahrhundert bis in unsere Zeit hinein durchgesetzt hat.[27]
Dussel und in der Folge viele weitere Vertreter:innen der dekolonialen Theorie argumentieren, dass ohne die durch die Eroberung und Unterwerfung der Amerikas ab 1492 und insbesondere im 16.Jahrhundert generierte primäre Akkumulation erheblicher Reichtümer weder die technisch-wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Europa noch die spätere Expansion Europas in den Osten und Süden möglich gewesen wären.[28] Aus diesem Grund spricht Dussel davon, dass das ego conquiro (1492) der Konstitution moderner Subjektivität im Descartschen ego cogito (1636) voraus25geht.[29] Damit ist die Moderne nicht nur ein Projekt, das in Gewalt und Unterdrückung wurzelt, sondern sie konstituiert und nährt sich von Beginn an durch die europäische Expansion, die das europäische Denken nachhaltig geprägt hat. Auch die moderne Wissenschaft und Philosophie werden als untrennbar in der kolonialen Expansion verankert betrachtet.[30] Die dekoloniale Theorie spricht daher auch vom Begriffspaar Modernität/Kolonialität als zwei untrennbar miteinander verwobenen Prozessen.[31] Trotz solcher Kritik kommt Philosophiegeschichtsschreibung bisher weitgehend ohne eine Reflexion auf das Verhältnis der Philosophie zu Sklavenhandel und Kolonialismus aus.[32] Eine kritische wissenschaftstheoretische Selbstreflexion der Philosophie auf diese Teile ihrer Geschichte sowie auf die Wirkungsweisen von Wissen(schaften) im Kontext globaler Macht-, Herrschafts- und Gewaltverhältnisse wäre allerdings unabdingbarer Bestandteil einer neuen Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive.
Ein weiterer wichtiger Punkt, der Afrika unter philosophiehistorischer Perspektive interessant macht, ist die enge Verflechtung verschiedenster philosophischer Traditionen, die auf dem afrikanischen Kontinent durch die Jahrhunderte hinweg besonders deutlich wird; sei es das Geflecht philosophischer Traditionen im Mittelmeerraum, das sich in der antiken und frühchristlichen Welt von 26Europa über Asien und Nordafrika bis nach Nubien und Äthiopien erstreckte; die Verflechtung arabisch-islamischer Philosophie und indigener Konzepte in West-, Ost- und auch im südlichen Afrika; oder das Zusammentreffen von christlichen, islamischen und jüdischen Denktraditionen und Philosophien mit indigenen Konzepten im Alten Äthiopien. Insbesondere Verknüpfungen und der enge Austausch mit der islamischen Welt lassen sich über den ganzen Kontinent, von der Atlantikküste der Sahara über die Sahelzone bis zum Roten Meer und den östlichen Rändern des südlichen Afrika und Madagaskar nachweisen, ebenso zwischen dem islamischen Persien und der Ostküste Afrikas.[33] Auch die gewaltsame Überführung von Menschen (und ihren Vorstellungswelten) durch den transatlantischen Sklavenhandel in die Karibik und die Amerikas oder die Rückkehr der Nachfahren dieser Menschen mit ihren nunmehr durch die Erfahrung von Sklaverei und Rassismus, Christentum und Kapitalismus geprägten Vorstellungswelten nach Afrika bilden einen wichtigen Bestandteil dieser Verflechtungsgeschichte. Gleiches gilt für das Zusammentreffen von europäischer Philosophie mit afrikanischen Denktraditionen und Philosophien in den Köpfen all jener afrikanischen Intellektuellen, die nach der vollständigen europäischen Kolonisierung des Kontinents ab der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts durch ein europäisch geprägtes Bildungssystem gegangen sind.
Bestandteil der Kolonisierung waren die bewusste Zerstörung einheimischer Praktiken der Wissensgenerierung und -weitergabe sowie einheimischer Archive des Wissens und das Aufzwingen des europäischen Bildungssystems bei gleichzeitiger Einschränkung des Zugangs zu Bildungsinstitutionen (insbesondere für Mädchen und Frauen). Ab dem Ende des 19.Jahrhunderts entstanden die modernen philosophischen Strömungen in Afrika in einer unvermeidlichen kritischen Auseinandersetzung und bewussten Abset27zung von der europäischen und nordamerikanischen Philosophie einerseits und einer Neuaneignung afrikanischer Denktraditionen andererseits. Die Neuaneignung philosophischer Konzepte erfolgte allerdings bereits über ›westliche‹ Terminologie beziehungsweise im Rahmen eines durch die ›westliche‹ akademische Sozialisierung vorstrukturierten epistemischen Rahmens. Insbesondere seit dem 20.Jahrhundert wurde Philosophie in Afrika aufgrund der durch die weltweite koloniale Expansion vorangetriebenen Dominanz der europäischen und nordamerikanischen Philosophie stets in einem interkulturellen Setting betrieben, das heißt in einer dynamischen Interaktion zwischen europäisch-nordamerikanischen Philosophien und philosophischen Strömungen und Konzepten, die auf dem afrikanischen Kontinent entstanden sind, sowie zwischen europäischen und afrikanischen Sprachen, Kulturen und Epistemen. Für gegenwärtige afrikanische Philosoph:innen ist es keine Frage der Wahl, ob sie interkulturell arbeiten wollen, sondern sie sind je schon in eine Situation hineingeworfen, die durch das Zusammentreffen verschiedener kultureller und ideengeschichtlicher Traditionen geprägt ist und die eine Auseinandersetzung mit philosophischen Traditionen und Fragen aus unterschiedlichen Kontexten unvermeidlich macht. Oder wie es der ghanaische Philosoph Kwasi Wiredu (1931-2022) auf den Punkt bringt: »Interkulturalität […] ist gegenwärtig ein fast unfreiwilliger Aspekt des afrikanischen akademischen Philosophierens.« Wiredu wirft auch die durchaus interessante Frage auf: »Durchdringt sie [die Interkulturalität, A.G.] das philosophische Denken in anderen Kulturen in ähnlicher Weise wie das afrikanische philosophische Denken?«[34]
Es ist diese Konstellation, die Afrika zu einem interessanten Beispiel für die Anwendung eines verflechtungsgeschichtlichen Ansatzes macht, der gerade für eine Philosophiegeschichtsschreibung in globaler Perspektive vielversprechend scheint, da damit regionale oder nationale Rahmen überschritten werden können, ja geradezu müssen. Darüber hinaus machen die beschriebenen Herausforderungen das Untersuchungsfeld Afrika zu einem tragfähigen Modell für eine dekolonisierte globale Philosophiegeschichtsschreibung der Zukunft. Denn die Frage nach dem Umgang mit kolonialen 28Brüchen und die Frage nach dem Umgang mit nicht-textbasierten Praktiken des Philosophierens betreffen viele Regionen der Welt, von Nord- und Südamerika über die pazifische Region bis zum Kaukasus und Sibirien.
Meine Untersuchung ist keine Philosophiegeschichtsschreibung im eigentlichen Sinne, das heißt, ich werde hier nicht den Versuch unternehmen, eine Geschichte der Philosophie Afrikas zu erzählen. Vielmehr trägt diese Studie propädeutischen Charakter für eine noch zu leistende Philosophiegeschichtsschreibung Afrikas, für die – so die These dieser Arbeit – neue Modelle entwickelt werden müssten, da das vorherrschende, im 18.Jahrhundert in Europa entstandene teleologische und schriftzentrierte Modell der Philosophiegeschichtsschreibung den spezifischen Herausforderungen Afrikas, wie auch weiterer außereuropäischen Regionen der Welt, nicht gerecht werden kann. Diese Untersuchung bewegt sich damit auf einer Metaebene: Anhand ausgewählter Beispiele und Problemfälle der Philosophie in Afrika werden grundlegende Fragen einer global orientierten Philosophiegeschichtsschreibung der Zukunft diskutiert. Die Mehrzahl der im Folgenden behandelten Fälle wurde auf die eine oder andere Weise bereits als Philosophie betrachtet und in Erzählungen einer afrikanischen Philosophiegeschichtsschreibung aufgenommen. Die damit im Zusammenhang stehenden methodischen Fragen wurden dabei allerdings kaum berührt und sollen deshalb in dieser Arbeit im Zentrum stehen.
Ein zentrales methodisches wie inhaltliches Problem jeder Philosophiegeschichtsschreibung ist der jeweils vorausgesetzte Philosophiebegriff, mit dem an eine Fülle vorliegenden Materials aus vergangenen Jahrhunderten herangetreten wird und auf dessen Basis ein Selektionsprozess erfolgt, in dem bestimmte Personen anhand der Art und des Inhalts ihres Denkens oder auch der gewählten Ausdrucksformen (zum Beispiel nur schriftlich und nicht mündlich) in eine Erzählung eingeschlossen oder aus ihr ausgeschlossen 29werden. Aber nicht nur Personen, sondern auch nicht an bestimmte Autor:innen gebundene überlieferte Konzepte oder (Körper-)Praktiken werden aufgrund eines bestimmten Philosophieverständnisses in eine Erzählung der Philosophiegeschichte ein- oder aus ihr ausgeschlossen. Wo Philosophie an Autorschaft gebunden wird, fallen alle nicht auf einen Autor oder eine Autorin rückführbaren Konzepte aus der Erzählung heraus. Dieses Problem wird insbesondere in Kapitel 1, das sich mit den Ausschlussmechanismen in der europäischen Philosophiegeschichtsschreibung beschäftigt, näher erläutert.
Die vorliegende Untersuchung arbeitet zunächst mit einem vorläufigen, möglichst offenen, prozessualen Philosophiebegriff als einem heuristischen Mittel, mit dessen Hilfe sich den konkreten Einzelfällen angenähert wird. Mit diesem Begriff soll es einerseits möglich sein, bisher aus der vorherrschenden Philosophiegeschichtsschreibung ausgeschlossene Denkformen und -traditionen oder Ausdrucksformen in das Thema einzubeziehen, ohne andererseits eine Abgrenzung zu anderen Formen des Wissens völlig aufzulösen und den Begriff der Philosophie damit der Beliebigkeit preiszugeben. Praktikabel für einen solchen Vorbegriff scheint mir der Ansatz von Franz M. Wimmer zu sein, der vorschlägt, Konzepte, Theorien und Ideen, die sich auf die Erkennbarkeit von Wirklichkeit, die Begründbarkeit von Normen oder die Suche nach der Grundstruktur von Wirklichkeit richten, als Zeugnisse philosophischen Denkens zu betrachten.[35] Diese zunächst einmal inhaltliche Bestimmung macht eine Abgrenzung zu anderen Themen und Formen des Wissens möglich, enthält sich aber weiterer Kriterien wie Ausdrucksformen oder Methoden, die diesen Erkenntnisbereich weiter einschränken könnten. Ein möglichst offener, nicht an bestimmte Ausdrucksformen wie zum Beispiel die Schrift gebundener Philosophiebegriff ist unter anderem nötig, um die Frage nach der Relevanz mündlicher Überlieferungen für die Philosophiegeschichtsschreibung überhaupt in den Blick nehmen zu können. Die Frage, die dann im weiteren Verlauf geklärt werden kann und muss, ist die, ob es sich dabei um ›philosophisch relevantes Material‹ handelt, das für weiterführende Überlegungen und Analysen geeignet ist, oder um ›Philosophie‹ und damit einen Teil 30einer Philosophiegeschichte. Diese Fragen werden in Kapitel 6 ausführlicher diskutiert. Letztlich wird sich die Frage, was Philosophie ist – als Grundfrage jeder Philosophiegeschichtsschreibung –, aber durch alle Kapitel der vorliegenden Arbeit ziehen. Dabei werden die verschiedensten Aspekte eines Philosophiebegriffs ebenso beleuchtet wie die Auswirkungen, die ein bestimmtes Philosophieverständnis auf mögliche Erzählungen der Philosophiegeschichte hat. Insofern konstituiert sich der Gegenstand unserer Untersuchung (die Philosophie und ihre Geschichte) in der Durchführung ebendieser Untersuchung. Eine Prüfung der Ergebnisse findet zusammenfassend im abschließenden Kapitel 12 statt.
Angesichts der Schwierigkeiten der Bestimmung des Untersuchungsgegenstandes einer Philosophiegeschichte in globaler Perspektive, die offensichtlich mit dem Verständnis und den Methoden der bisherigen europäischen Philosophiegeschichtsschreibung nicht zu erfassen ist, stellt sich die Frage, warum überhaupt das Schreiben einer Philosophiegeschichte – eine Disziplin mit bestimmten Methoden und Vorannahmen, die im Wesentlichen im 18.Jahrhundert in Europa geformt wurde und diese Form bis heute behalten hat – fortgesetzt werden soll. Wäre es nicht sinnvoller, diese Form einer Geschichtsschreibung im engen disziplinären Rahmen aufzugeben und sich dem übergreifenden Unternehmen einer Ideengeschichte oder einer ›intellectual history‹ in globaler Perspektive zu widmen?
In den heutigen Diskursen finden wir zur Bezeichnung der Geschichte intellektueller Entwicklungen und Formen des Wissens eine Vielzahl von Begriffen, die ohne klare Abgrenzung und oft synonym gebraucht werden: Ideengeschichte, Wissensgeschichte, Geistesgeschichte (oder im Englischen intellectual history[36] oder history of ideas,[37] history of knowledge). Gebraucht werden diese 31Begriffe, um die Entwicklung der Ideen der Menschheit in der Geschichte nachzuzeichnen, und zwar jenseits disziplinärer Grenzen, die oft als zu eng betrachtet werden, um die Entwicklung von Wissen und Denktraditionen in früheren Jahrhunderten, in denen akademische Disziplinen als solche noch gar nicht oder ganz anders unterschieden wurden, oder in außereuropäischen Regionen nachzuzeichnen. Philosophiegeschichte, Wissenschaftsgeschichte oder Literatur- und Kunstgeschichte werden dann als Unterdisziplinen verstanden, die zur umfassenderen Ideengeschichte oder eben intellectual history beitragen. Wo genau jeweils die Grenzen zu ziehen sind, bleibt auch hier umstritten. So betont Peter E. Gordon, dass Vertreter:innen der intellectual history dazu neigen, die Grenze zwischen philosophischen Texten und nicht-philosophischen Kontexten entspannter zu überschreiten und die Unterscheidung zwischen »Philosophie« und »Nicht-Philosophie« als etwas zu betrachten, das selbst historisch bedingt und nicht ewig feststehend ist. Sie lehnen die Annahme ab, dass es rein philosophische Bedeutungen gebe, die nicht von ihrer Umgebung beeinflusst wurden. Gordon betont, dass sich intellectual history aus einer Reihe von guten Gründen deutlich von der Philosophiegeschichte unterscheide. Am wichtigsten dabei sei, dass die Philosophie dazu neige, kontextuelle historische oder kulturelle Unterschiede außer Acht zu lassen, um sich fast ausschließlich auf die innere Kohärenz der philosophischen Argumente selbst zu konzentrieren – ein Vorgehen, das er ablehnt. Vertreter:innen der intellectual history dagegen seien an Ideen aller Art interessiert und nicht nur an Ideen, wie sie in den aktuellen Richtlinien der akademischen Philosophie definiert werden.[38]
Eine solche Kritik zielt im Wesentlichen auf ein Philosophieverständnis, wie es seit dem Ende des 18.Jahrhunderts vorherrschend wurde. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass das Verständnis von Philosophie und auch deren Geschichtsschreibung in den Jahrhunderten zuvor weitaus breiter war. Denn über Jahrhunderte hat sich Philosophie als eine Art »Weltwissen« oder »Weltweisheit«[39] 32verstanden und Philosophiegeschichtsschreibung in diesem breiten Sinne betrieben. Eine Verengung des Philosophiebegriffs im Rahmen einer Orientierung der Philosophie als Wissenschaft an den Methoden der Naturwissenschaften und die Herauslösung der einzelnen uns heute bekannten Disziplinen ist ein neueres Phänomen, das im 18.Jahrhundert seinen Anfang nahm und im 19.Jahrhundert zur Begründung der Philosophie als akademischer Disziplin führte,[40] so wie sie heute im Wesentlichen noch betrieben wird. Insofern wurde Philosophiegeschichte lange Zeit als Ideengeschichte – nämlich als Schnittpunkt von Kulturgeschichte, Geschichte der Aufklärung und Wissenschaftsgeschichte – verstanden.
Erste Abgrenzungsversuche finden sich bei Christoph Meiners, der in seinem Grundriß der Geschichte der Weltweisheit (1786) schreibt:
Die Geschichte der eigentlichen Philosophie macht eigentlich nur einen kleinen Theil der Geschichte des menschlichen Geistes aus. Sie gränzt an die Geschichte vieler andrer Wissenschaften, besonders an die Geschichte der Naturkunde, der Naturhistorie, der Mathematik, selbst der Gesetzgebung und Religionen, wovon man sie aber sorgfältig trennen muß, wenn man ihr nicht einen ungeheuren, oder auch unzweckmäßigen Umfang geben will.[41]
Noch deutlicher werden diese Abgrenzungen dann im weiteren Verlauf, zum Beispiel in den Philosophiegeschichten von Dietrich Tiedemann[42] und Wilhelm Gottlieb Tennemann[43] aus den Jahren 1791 beziehungsweise 1798 bis 1819, in denen ein weiter verkleinerter Ausschnitt des »Weltwissens« als Philosophie verstanden wird (dazu mehr in Kapitel 1).
Historisch betrachtet liegen die Wurzeln der heutigen Ideen-, Wissens- oder Geistesgeschichte (oder auch intellectual history oder 33history of ideas) in der Philosophiegeschichtsschreibung, die einst in genau jener Breite verstanden wurde wie die unter den genannten Begriffen versammelten neueren Ansätze. Erst nach der Wende in der Philosophiegeschichtsschreibung vor etwa 200 Jahren können Unternehmungen, die heute mit Ideengeschichte, Geistesgeschichte oder Wissensgeschichte bezeichnet werden, umfassenderen Charakter reklamieren und die Philosophiegeschichte als enger gefasste Teildisziplin unterordnen.[44] Philosophiegeschichte wird heute so verstanden, dass sie die Entwicklung einer ganz spezifischen Wissensform zu dokumentieren und nachzuzeichnen habe, in immer neuer Abgrenzung zu anderen Formen des Wissens und Disziplinen. Dabei ist eine klare Grenzziehung selbst mit einem streng an Wissenschaftlichkeit und Vernunft orientierten Philosophiebegriff kaum möglich, wie im Rahmen der europäischen Philosophiegeschichte die vielfältigen Überlappungen mit der Literatur (siehe Bergson, Dostojewski), der Psychologie (Freud), der Physik (Heisenberg, Boltzmann, Einstein) und natürlich der Theologie zeigen.
Insofern könnte der Versuch einer kritischen Erneuerung oder auch Transformation der Philosophiegeschichtsschreibung auch im Rückgriff auf europäische Ansätze aus früheren Jahrhunderten erfolgen und als eine Art Rückkehr zu den Wurzeln verstanden werden – allerdings eine durch neuere Entwicklungen weitaus besser informierte Rückkehr zu pluralen Ansätzen. Denn der Wissenstand in Bezug auf außereuropäische Denktraditionen und die Möglichkeiten, auf einen Fundus an Manuskripten zurückgreifen zu können und hervorragende Übersetzungen zu nutzen, hat sich in der Zwischenzeit um ein Vielfaches erweitert.
Der vorliegende Versuch verortet sich nun im Rahmen einer Philosophiegeschichtsschreibung und sieht sich der Erneuerung 34dieses Diskursfeldes verpflichtet. Damit werden Auseinandersetzungen, Abgrenzungen und Definitionsfragen weiterhin wichtig bleiben, die im Feld einer Ideengeschichte oder intellectual history keine größere Rolle spielen. Auf solchen Abgrenzungen zu bestehen und Philosophiegeschichte weiter als solche zu betreiben, scheint mir wichtig und sinnvoll, da die philosophische Perspektive eine bestimmte Perspektive auf diese Welt bietet, die andere Formen des Denkens und damit verbundene Perspektiven nicht in der gleichen Weise leisten. Es wäre ein Verlust, die Geschichte der philosophischen Perspektive in ihren verschiedenen Ausformungen nicht mehr zu erzählen und ihre Spezifik im Rahmen einer intellectual history aufzulösen. Bei der vorliegenden Untersuchung handelt es sich in gewisser Weise um ein Austesten dessen, was im Rahmen einer erneuerten Philosophiegeschichtsschreibung möglich sein kann, ohne diese in einer Ideengeschichte aufgehen zu lassen. Dass dieser Versuch dabei immer wieder an Grenzen stößt, wird im Folgenden ebenfalls deutlich werden.
Da es im heutigen Diskurs so üblich geworden ist, verwende ich den Begriff ›Ideengeschichte‹ im Folgenden als einen breiteren, übergreifenden Begriff, Philosophiegeschichte dagegen als einen enger gefassten, der sich mit der Spezifik philosophischer Perspektiven auf diese Welt beschäftigt.
In der Disziplin der Geschichte, insbesondere der neueren Richtung der Globalgeschichte, wird eine verflechtungsgeschichtliche Perspektive schon häufig praktiziert. Dabei werden alte Einteilungen und Grenzziehungen durchbrochen zugunsten einer globalen Perspektive. Ein Beispiel dafür ist die Histoire croisée von Bénédicte Zimmermann und Michael Werner,[45] die in Absetzung zu vergleichenden Ansätzen mit einer multiperspektivischen Geschichtsschreibung auf die Überwindung der Begrenzungen einer nationalstaatlichen Perspektive zielt. Im Fokus stehen hier wechselseitige Transfers zweier oder mehrerer Vergleichsobjekte (zum Beispiel Nationen, Zivilisationen, Regionen usw.), um den historischen Prozesscharakter gegenseitiger Einflussnahmen und Rezeptionsme35chanismen zu untersuchen. Dabei geht dieser Ansatz von einem Analyseverfahren aus mehreren Blickrichtungen aus und löst damit den in der Komparatistik traditionell üblichen singulären Beobachtungspunkt ab. Durch den Blick aus verschiedenen Perspektiven soll dem wechselseitigen Verhältnis der gegebenen Untersuchungsobjekte Genüge getan werden. Nach Werner und Zimmermann entsteht mit der Pluralität der Beobachtungspunkte automatisch ein reflexiver Erklärungszusammenhang, in dem systematisch die eigene Position befragt und je nach Konstellation korrigiert werde. Durch den ständigen Wechsel der Sichtweisen werde die methodische Genauigkeit des Historikers ermöglicht.
Ein weiterer in diese Richtung gehender Ansatz ist die sogenannte entangled history,[46] die die Verbindungen und die Austauschbeziehungen zwischen den verschiedenen Weltregionen in den Mittelpunkt stellt. Auch dieser Ansatz kritisiert den Vergleich, geht aber noch weiter als die Histoire croisée, da er die Verflechtung beziehungsweise das entanglement voneinander weit entfernter Einheiten wie Japan und Deutschland untersucht. Darüber hinaus betonen die Vertreter:innen der entangled history, dass Transferprozesse nicht nur von kolonisierenden Ländern in die kolonisierten stattfanden, sondern auch von den Kolonien in die kolonisierenden Länder.
In der Philosophiegeschichtsschreibung haben verflechtungsgeschichtliche Ansätze bisher kaum Beachtung gefunden.[47] Hier 36überwiegen bis heute Doxographien und Biographien, Bibliographien, Problem-, Begriffs- und Wirkungsgeschichten oder auch Institutionengeschichten. Philosophiegeschichte wird also zumeist personenorientiert, werkorientiert oder problemorientiert angegangen, selten jedoch unter der Perspektive der Verbindungen, des Austauschs und der Rezeption zwischen Philosophietraditionen aus verschiedenen Regionen, Kulturen oder Religionen. Die folgende Untersuchung will nun die Anregungen aus den Geschichtswissenschaften aufnehmen und auf die Philosophiegeschichtsschreibung anwenden. Ein verflechtungsgeschichtlicher Ansatz versteht Philosophiegeschichte als einen Prozess[48] des Austauschs von Gedanken und Konzepten über die Grenzen von Regionen, Sprachen, Kulturen und Religionen hinweg – ein Prozess, der im Prinzip nicht abgeschlossen werden kann. Verflechtungsgeschichte bedeutet, die Beziehungen und den Austausch zwischen verschiedenen Traditionen deutlich zu machen, und ist damit eine Perspektive, in der Übersetzungs- und Rezeptionsprozesse im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen. Ich verwende den Begriff ›verflechtungsgeschichtlich‹ nun um:
die Verbindungen und den Austausch zwischen den verschiedenen Weltregionen mit Bezug auf die Philosophie und die zentrale Bedeutung Afrikas im Rahmen dieses Austauschprozesses deutlich zu machen.
Perspektiven afrikanischer Kolleg:innen einzubringen, aber auch aus verschiedenen anderen Regionen der Welt (Asien, Nord- und Südamerika, pazifische Region), um damit einen Perspektivwechsel möglich zu machen.
Fragen der Rekonstruktion der Geschichte der Philosophien in Afrika werden im Folgenden also in einer verflechtungsgeschichtlichen und globalen Perspektive diskutiert. Das bedeutet, dass Afrika und 37seine Philosophiegeschichte von vornherein nicht als abgeschlossener Raum betrachtet wird, sondern die vielfältigen Verbindungen über geographisch-kontinentale Grenzen hinweg explizit hervorgehoben werden. Ein solches Vorgehen macht deutlich, dass Afrika philosophiegeschichtlich alles andere als eine Randerscheinung ist, vielmehr sogar eine zentrale Rolle im Rahmen einer Philosophiegeschichtsschreibung spielt. Ziel dieses Ansatzes ist es, den Diskursraum ›Geschichte der Philosophie Afrikas‹ zu öffnen und die Diskussion wesentlich breiter anzulegen, als dies in vorangegangenen Arbeiten getan wurde, die sich häufig auf einen sehr begrenzten geographischen Raum beschränkten (zumeist ausschließlich auf das Afrika südlich der Sahara). Auch wenn die Rekonstruktion einer Philosophiegeschichte in einzelnen Regionen der Welt kleinteilig erfolgen muss, um das vorhandene Material zu sichten und auszuwerten, darf eine verflechtungsgeschichtliche Perspektive letzten Endes nicht aus dem Blick geraten. Denn Diskurse entwickeln sich nicht entlang geographischer oder nationaler Grenzen. Ihre Entwicklung kann nur verstanden und nachvollzogen werden, wenn die Verknüpfungen von Denktraditionen über regionale, kulturelle, sprachliche, religiöse und nationale Grenzen hinweg nachgezeichnet werden.
Darüber hinaus ist es ein wesentliches Anliegen meiner Untersuchung, von vornherein feministische Perspektiven auf die Philosophiegeschichte, ihre Vergangenheit und Zukunft, organisch zu integrieren. Dabei geht es nicht allein darum, auf die Werke und das philosophische Wissen von afrikanischen Frauen in den verschiedenen Jahrhunderten aufmerksam zu machen oder auf Arbeiten gegenwärtiger afrikanischer Philosophinnen zu den entsprechenden Themen zurückzugreifen, sondern vielmehr darum, meinem philosophiehistorischen Ansatz eine feministische Perspektive zugrunde zu legen. Damit ist gemeint, dass es nicht genügt, Frauen dem bisherigen philosophiegeschichtlichen Narrativ additiv hinzuzufügen. Vielmehr müssen Methoden, die das Wissen von Frauen systematisch ausgeschlossen haben, kritisch in Frage gestellt und neue Methoden entwickelt werden. Dies ist ein Punkt, der in den bisherigen Arbeiten zur Philosophiegeschichte Afrikas vernachläs38sigt wurde, die in erster Linie darauf zielten, die marginalisierte Stellung Afrikas zu kritisieren und auf philosophische Traditionen dieses Kontinents in den verschiedenen Jahrhunderten aufmerksam zu machen. Hier wiederholen afrikanische Philosophen (philosophiegeschichtliche Werke wurden bisher fast ausschließlich von Männern und ohne feministisches Methodenbewusstsein verfasst) den Fehler der europäischen (aber auch chinesischen oder indischen) Philosophiegeschichtsschreibung. Ein Blick in Handbücher und andere Überblickswerke zur Philosophie in Afrika, die in den letzten 30 Jahren entstanden sind, offenbart, dass trotz aller Abgrenzungsbemühungen von Europa ein Bild von Philosophie reproduziert wird, wie es in Europa lange üblich war. Nicht nur, dass die Philosophielandschaft sich als männlich dominiert darstellt, sie wird auch anhand einschlägiger (europäischer) Bereiche wie Metaphysik, Logik, Erkenntnistheorie, Ethik etc. strukturiert und weiterentwickelt. Feministische Philosophie bleibt ein angehängter Sonderbereich und teilt damit das Los weiterer marginalisierter Bereiche, wie der Untersuchung nichtsprachlicher Praktiken des Philosophierens (Meditation, Tanz, Gesang, Kunst), die in Überblickswerken kaum oder gar nicht behandelt werden.
Mit Bezug auf das philosophische Wissen von Frauen muss dabei genau untersucht werden, wo die Wirkungsstätten von Frauen waren, denen eine Beteiligung an Bildungssystemen oder anderen Formen der institutionalisierten Wissensvermittlung oft nicht gestattet war, und in welchen Formen sich das Wissen von Frauen manifestierte. Wie die bisherige Forschung zur Geschichte der Philosophinnen zeigt (vgl. Kapitel 11), müssen neben der philosophischen Abhandlung auch andere Genres in Betracht gezogen werden, wie literarische Texte, Briefe, Lebensgeschichten, mystische Texte und Erfahrungen, Widerstandsformen in Theorie und Praxis oder orale Traditionen. Hier gibt es vielfältige Überschneidungspunkte zwischen Forschungsrichtungen, die sich der Aufarbeitung marginalisierten philosophischen Wissens widmen, und der feministischen Forschung. Gerade zur Rekonstruktion von Wissenstraditionen sozial ausgegrenzter Gruppen (aufgrund zum Beispiel von Geschlecht, Hautfarbe, nationaler oder ethnischer Zugehörigkeit) müssen andere Räume und Praktiken der Wissensproduktion und -vermittlung mit in Betracht gezogen werden.
Kein akademisches Fach kann für sich in Anspruch nehmen, frei von Einflüssen und Denktraditionen aus anderen Disziplinen zu sein – das trifft auch auf die Philosophie zu. Dass für eine philosophische Arbeit ein mehrere Disziplinen umfassender Ansatz extra betont werden muss, ist ohnehin eine eher jüngere Entwicklung der letzten 200 Jahre. Erst gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19.Jahrhunderts entstand die bis heute übliche beziehungsweise immer noch weiter fortschreitende Ausdifferenzierung von Fachdisziplinen, die bis dahin integraler Bestandteil der Philosophie waren.[49] Erinnert sei daran, dass noch Kant Vorlesungen zur physischen Geographie oder Anthropologie gehalten hat. Trotz des philosophiegeschichtlichen Fokus dieser Arbeit werden disziplinäre Grenzen bewusst überschritten, Resultate und Diskurse aus anderen Disziplinen einbezogen und die Verwobenheit von wissenschaftlichen Debatten und Konzepten deutlich gemacht. So werden zur Diskussion der einzelnen Probleme Forschungsergebnisse und Werke aus sehr unterschiedlichen philosophischen und kulturellen Kontexten herangezogen, deren bisherige Vorgehensweisen und Ansätze dabei einer kritischen Prüfung in Bezug auf ihre Anwendung im Rahmen einer global ausgerichteten Philosophiegeschichte unterzogen werden. Im Mittelpunkt stehen Arbeiten afrikanischer Philosoph:innen sowie Literatur aus dem europäischen und nordamerikanischen akademischen Kontext, und zwar aus verschiedenen Jahrhunderten. Allerdings werden ebenso Debatten zu den methodischen Problemen aus dem japanischen, chinesischen, indischen und pazifischen Kontext vergleichend in die Untersuchung einbezogen. Aufgenommen werden darüber hinaus Forschungsergebnisse aus verschiedenen Disziplinen, wie der Philologie, der Ägyptologie, der Geschichtswissenschaft, der Kirchengeschichte und Theologie, aus den Afrikawissenschaften oder den Islamwissenschaften, die zu einer wichtigen Erweiterung der Quellenlage beigetragen haben. Eine Änderung der philologischen Forschungslage und des zugänglichen Textbestands kann nicht ohne neue philosophiegeschichtliche Wertungen erfolgen beziehungsweise darf für die Philosophiegeschichtsschreibung nicht 40unbeachtet bleiben. Leider gehört eine Zusammenarbeit von Philosophiehistoriker:innen mit anderen Fachdisziplinen (bis auf die Philologie und die Altertumswissenschaft) nicht zum Standard philosophiegeschichtlicher Grundlagenarbeit beziehungsweise der Publikation einschlägiger Überblickswerke zur Philosophiegeschichte, die damit oft nicht den Forschungsstand abbilden, sondern lediglich vorherrschende Narrative der eigenen Disziplin neu erzählen. So nimmt der Gesamtentwurf dieser Arbeit, in dem auch historische und politische Bezüge hergestellt werden, einen grundlegend interdisziplinären Charakter an.
In der vorliegenden Studie werden anhand sehr unterschiedlicher Fallbeispiele und Problemfälle aus dem Diskursraum Afrika verschiedene Aspekte einer Philosophiegeschichtsschreibung unter globaler Perspektive erörtert. Dies bedarf eines breiten methodischen Instrumentariums. So arbeite ich komparativ und hermeneutisch (insbesondere in Kapitel 5), überwiegend jedoch diskurskritisch. Die Methode der Diskursanalyse im Sinne Foucaults hat in der postkolonialen/dekolonialen Theorie, in modernen Philosophien aus Afrika,[50] aber auch in der feministischen Theorie eine breite Anwendung gefunden und sich als fruchtbar erwiesen, um Macht- und Ausgrenzungsstrukturen sichtbar zu machen. Ziel einer Diskursanalyse ist eine konsequente Kontextualisierung von Theorien, Ideen und Konzepten. Damit wendet sie sich gegen die Vorstellung der ›großen Erzählungen‹ von einem auf ein Ziel ausgerichteten stetig voranschreitenden Erkenntnisprozess der Menschheit. Achim Landwehr definiert die auf dieser Methode beruhende Diskursgeschichte auch als »die historische Forschungsrichtung, welche die empirische Untersuchung von Diskursen in ihrem geschichtlichen Wandel zum Gegenstand hat«.[51] Und weiter fasst er prägnant zusammen:
41Die historische Diskursanalyse geht grundsätzlich vom Konstruktionscharakter soziokultureller Wirklichkeiten aus und fragt vor diesem Hintergrund nach den Arten und Weisen, mit denen im historischen Prozess Formen des Wissens, der Wahrheit und der Wirklichkeit hervorgebracht werden. Als Diskurse werden dabei geregelte und untrennbar mit Machtformen verknüpfte Ordnungsmuster verstanden, in denen diese Konstruktionsarbeit organisiert wird. Sie lassen sich häufig in sprachlicher Form fassen, jedoch können prinzipiell alle Elemente soziokultureller Wirklichkeit zum Gegenstand entsprechender Analysen gemacht werden, denn es gibt kein Medium, keine Praxis und keinen Gegenstand, die nicht zur Formierung mindestens eines Diskurses beitragen würden. Diskurse wirken dabei sowohl produktiv als auch restriktiv, sie sind strukturiert und bringen ihrerseits Strukturen hervor. Da solchen Diskursen Regelhaftigkeiten unterliegen, können sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung gemacht werden. Die historische Perspektive gewinnt hierbei besondere Relevanz, weil Diskurse keine andere Basis haben als ihre eigene Historizität.[52]